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Drittes Kapitel

1

Tagebuchaufzeichnung des Kanoniers Adolf Reisiger:

Sonntag, den 9. Mai 1915, 4 Uhr früh: Von gestern abend 8 bis heute früh ½ 3 an einer neuen Batteriestellung gearbeitet. Schanzarbeiten, neue Unterstände. Eine dolle Schufterei. Jetzt eben, 4 Uhr, ins Stroh. Aber heute ist ja Sonntag und kein Dienst. Wir werden bis zum Mittagessen schlafen. Ich bin froh, daß ich nun endlich fest zur 1. Batterie gehöre. – Wir liegen bei Mercatel, südlich Arras.

2

Am Sonntag, dem 9. Mai, 9 Uhr früh, wurde die Batterie 1 F.A.R. 96 alarmiert. Die Mannschaften, vom Stellungsbau erschöpft, schimpften und fluchten, als man sie aus dem Stroh holte.

Alarm? Was soll der Quatsch! Soll man schließlich nach so viel Nächten noch Exerzierübungen machen?

Man packte provisorisch einige Sachen in die Packtaschen und in die Protzsäcke, setzte den Helm auf, schnallte das Koppel um und ging auf den Parkplatz. Hauptmann Mosel und Oberleutnant Busse waren bereits dort. Außerdem erschien ein Leutnant von Stork, der der Batterie seit vorgestern zugeteilt war.

Wie üblich, tauchten sehr bald Gerüchte auf und flogen von Geschütz zu Geschütz. »Latrinenparolen.« Niemand glaubte ihnen. Nur eins fand Beachtung: die Batterie käme nach Rußland. – Fabelhaft: in Rußland ist der Krieg sowieso ziemlich zu Ende! Jetzt gibt es also endlich eine anständige Zeit!

Doch dann verstummten plötzlich alle Gespräche: Der Regimentskommandeur erschien mit seinem Adjutanten. Er ritt langsam die Batterie ab, kaute am Schnurrbart, sah geradeaus. Mosel galoppierte ihm entgegen und meldete. Die Offiziere stellten sich seitwärts und beugten sich über eine Karte. Der Oberst sprach schnell, die Rechte schlug mehrmals durch die Luft.

Er brach ab, drückte den Batterieoffizieren die Hand und ritt Galopp querfeldein.

»Batterie marsch!«

Die Batterie fuhr im Schritt aus dem Dorf.

Es war schönes Wetter. Die Maisonne schien warm. Man machte den Rockkragen auf, flegelte sich in Sätteln und Sitzen und rauchte.

Rußland? – Unsinn. Dann wäre die Bagage sicherlich auch in Marsch gesetzt worden. Also, natürlich, gottverdammtes Batterieexerzieren auf Wunsch des Regimentskommandeurs. Vielleicht hat er letzte Nacht schlecht geschlafen.

Aber wo exerzieren? Der Acker hier rechter Hand war der gewöhnliche Tummelplatz dafür. Warum biegt der Hauptmann nicht ab?

Die Batterie erreichte das Nachbardorf, das Quartier der Leichten Munitionskolonne, zu der Reisiger monatelang gehört hatte.

Es gab eine Überraschung: marschbereit stand die Kolonne auf dem Marktplatz. Und: sie schloß sich an, als die Batterie an ihr vorübergezogen war.

Abtransport nach Rußland? Exerzierübung?

Die Geschützführer murmelten mit den Alten Leuten. Man legte alle Zweifel ab. Es dämmerte: Wir gehen ins Gefecht.

Zwei Stunden fuhr man.

Die Sonne stand hoch. Um diese Zeit ist im allgemeinen Essenausgabe. Man hatte Hunger. Beim Alarm heute früh war zum Kaffeekochen und Frühstücken keine Zeit geblieben.

Die Batterie blieb im Marsch.

Es ging durch unbekanntes Gelände. Die Chaussee war zerfahren, hatte Schlaglöcher mit zersplitterten Steinrändern, und Risse. Es mußten viele Kolonnen hier gezogen sein, daß der Schritt der Fußtruppen, das Stampfen der Pferde, das Mahlen der Geschütze und die Walze der Lastautos so tiefe Spuren geprägt hatten.

Man fuhr durch Dörfer. Sie hockten armselig und geheimnisvoll geduckt zu den Seiten der entstellten Straße. Die Häuser fast alle blind, fensterlos, mit grauen Giebeln; die Hecken der Vorgärten vorsichtig mit Grün getupft.

Und wenn die Batterie eingangs rasselte und klirrte, schlichen neugierige Bewohner an die Tore, alte Männer, die den Blick nicht hoben, Frauen mit verlegenem Lächeln oder offenem Spott. Zuweilen traten Kinder an die Marschkolonne heran und winkten.

Militär sah man nicht. An allen Häusern hingen Tafeln mit den Bezeichnungen deutscher Truppenteile, aber es ließ sich kein Soldat blicken.

Es wurde 1 Uhr, 2 Uhr nachmittags.

3

10. Mai 1915

Großes Hauptquartier

Westlicher Kriegsschauplatz

Südwestlich Lille setzte der als Antwort auf unsere Erfolge in Galizien erwartete große französisch-englische Angriff ein . . . Der Feind – Franzosen sowie weiße und farbige Engländer – führte mindestens vier neue Armeekorps in den Kampf neben den in jener Linie schon längere Zeit verwendeten Kräften.

4

Die 1. Batterie F.A.R. 96 steht auf einer Chaussee vor einer Höhe. Diese Höhe erhebt sich eigenwillig und unmotiviert aus dem Gelände, schwarz gegen den gelblichen Himmel.

Hinter der Batterie wartet die Kolonne, vor der Batterie Infanterie. Dauernd rasen Motorradfahrer vorbei, Reiter schlagen im Galopp über das Pflaster.

Geschützfeuer brüllt aus dem Horizont.

Einmal kommt in scharfem Tempo ein höherer Stab zu Pferde. Einer schnappt ein Wort auf: »Vimy«. Ein anderer hört: »Loretto«. Ist damit etwas anzufangen, kann man es deuten? Die Worte gehen blitzschnell durch die ganze Batterie. Loretto? Jaja, schon gehört. Dicke Luft!

Jetzt wissen alle Bescheid.

Fahrer und Kanoniere sind abgesessen und laufen zwischen den Geschützen mit langsamen Schritten hin und her. Man beißt nervös an der Zigarre. Der Magen knurrt, alle sind seit gestern ohne Essen. Manche haben ein Stück Brot im Stiefel oder in der Manteltasche; das wird jetzt mit den Nebenmännern geteilt.

Man sieht nicht gern nach vorn. Da, wo die Chaussee einen Knick macht, sich hart an das Dunkel der Höhe legt, schlagen ab und zu mit dumpfem Krach schwarze Wolken aus einem Dorf.

Die Fahrer kümmern sich um die Pferde. Die Tiere sind müde. Zuweilen läßt eins den Kopf sinken. Aber das dauert nur Augenblicke; dann wirft es die Mähne wieder hoch. Nähe der Schlacht.

Sie kauen lebhaft am Gebiß. Sie scharren auf dem Boden. Durst und Hunger. – Im verstaubten Chausseegraben läßt sich nur kümmerlich borstiges Gras rupfen.

An der Spitze der Batterie warten abgesessen die Offiziere.

Endlich: von vorn kommt ein Reiter. Herum um den Knick, Galopp. Und dann, Galopp, näher. Und durchpariert den Gaul. Einen weißen Zettel an den Hauptmann.

Er liest ihn. »Batterietrupp!«

Keinem Mann entgeht die Schnelligkeit: Wachtmeister Hollert, ein Unteroffizier, zwei Mann des Fernsprechtrupps traben an. Galopp! Hinter dem Hauptmann her! Nach vorn.

Am Knick. Verschluckt von einer schwarzen Wolke. – Es ist 4 Uhr nachmittags.

5

Noch um 6 Uhr wartet die Batterie an derselben Stelle. Müde von Sonne und Hunger. Die Mannschaften haben sich in den Chausseegraben gelegt. Manche schlafen. Die meisten dösen vor sich hin. Was soll werden?

Blick zum Dorf: Dort spritzen die Rauchfontänen jetzt häufiger als früher auf. Der Krach brüllt härter durch die Luft. Einmal wird ein Haus gegen den Himmel geschleudert, brüchige Balken überschlagen sich brennend. Donnerwetter! Das Dorf liegt von hier doch höchstens tausend Meter ab. Jetzt fehlt es bloß noch, daß der Feind hierher schießt.

Die Bewegung in den aufgereihten Kolonnen schwillt an. Es gibt nichts Verfluchteres als Warten!

Wie spät? – 6 Uhr 15.

Von der Spitze der Batterie her werden Stimmen hörbar. Aha, die Infanterie rückt vor. Mann hinter Mann, im Gänsemarsch eng an die Seiten der Chaussee gedrückt, einer den Blick im Genick des anderen. Das Gewehr um den Hals gehängt. Die Tritte schurren schwer über den Schotter.

Wohin? Es ist doch unmöglich, die Infanteristen durch das brennende Dorf zu führen. Noch dazu, wo das Feuer stärker wird. – Auf jeden Fall ist es besser, Artillerist zu sein. Wir fahren, wenn nötig, im Galopp. Da kann es uns nicht so schnell erhaschen. Arme Kerle. Bei dieser Hitze traben.

Sie verschwinden hinter dem Knick der Chaussee.

6 Uhr 30.

Oberleutnant Busse ist unruhig. Er nimmt immer wieder das Fernglas an die Augen: Wo bleibt Nachricht vom Hauptmann? »Stork, können Sie sich das erklären? Ich finde die Angelegenheit wird allmählich unangenehm. Ich weiß ja gar nicht, wie lange wir hier noch stehen sollen –«

Von Stork schweigt. Er ist vor acht Tagen erst ins Feld gekommen, war Kadett, mußte noch das Notexamen machen. Vor acht Tagen noch in Lichterfelde. Schöner Anfang, gleich ins Schlamassel!

Er sieht ebenfalls durch sein Glas. Aber ihn interessiert weniger die Nachricht vom Hauptmann, als das Feuer, das im Dorf liegt.

Ob die Batterie nachher ausgerechnet da hindurch muß?

Busse: »Ob ich die Batterie einfach vorrücken lasse? Was meinen Sie, Stork?«

Stork: »Wie Herr Oberleutnant befehlen. Ich glaube nur, der Anmarschweg ist nicht ganz einfach – ich meine, wenn wir dort auf die Höhe sollen.«

6 Uhr 40.

Rufe aus der Batterie: »Wachtmeister kommt – Wachtmeister kommt.«

Aus dem Dorf bricht ein Pferd hervor, zwischen Staub und Feuer. Der Reiter liegt tief auf seinem Hals. Wachtmeister Hollert. Galopp, Galopp, prescht um die Biegung, Galopp. Man hört schon den Schlag der Hufe, hart im Gleichtakt. Galopp, und näher und näher. Die Kartentasche pendelt. Die Arme sind nicht gewinkelt, lassen die Zügel lang. Immer näher. Und er pariert durch, dicht vor den Offizieren, daß das Pferd in den Gelenken knickt. »Meldung an Herrn Oberleutnant: Batterie geht sofort in Stellung. Herr Oberleutnant übernimmt das Kommando, ich führe.«

Busse aufs Pferd. »Batterie aufgesessen!«

»Batterie marsch!«

Er stößt die Faust zweimal in die Luft. Das Zeichen geht von Geschütz zu Geschütz weiter: »Batterie Trab!«

Die Munitionskolonne bleibt zurück, erwartet eigenen Befehl.

6 Uhr 55.

6

Es gibt keine andere Möglichkeit, die befohlene Stellung zu erreichen, als durch das Dorf zu fahren.

Wie die Batterie, dicht aufgeschlossen, etwa hundert Schritt vor dem Dorfeingang steht, läßt Busse die Geschützführer zu sich kommen. Granate nach Granate fegt auf die Straße. Das Krachen haut gegen die Ohren, jagt das Blut. »Wir müssen durch! Die Geschützführer handeln selbständig! Also los! Batterie sammelt sich wieder hundert Meter hinter dem Dorfausgang. Machts gut!«

Er gibt seinem Pferd die Sporen, daß es hochsteigt. Springt an. Der Leutnant und der Wachtmeister folgen. Zwischen zwei Schüssen, die herabfauchen, sind sie verschwunden.

Es gibt nichts mehr zu überlegen. Das Erste Geschütz macht sich bereit. Der Geschützführer stellt sich neben den Vorderreiter. Er winkt noch einmal nach hinten. Als wieder eine Rauchwolke aufspritzt, schreit er: »Galopp, marsch, marsch!« Die Pferde springen sofort an. Als man zwanzig Meter vom ersten Haus entfernt ist, kracht ein neuer Schuß. Die Vorderpferde bäumen sich auf und versuchen nach der Seite auszubrechen. Aber der Fahrer hat damit gerechnet. Und als nach Sekunden der nächste Schuß auf dieselbe Stelle schlägt, ist das Geschütz bereits in der Dorfstraße und rast weiter.

Das wiederholt sich. Ab geht das Zweite Geschütz. Das Dritte macht sich fertig. Auf dem Dritten, im Sitz der Lafette, hocken Reisiger und Jaenisch. Der Geschützführer, Unteroffizier Gellhorn, reitet an ihnen vorbei.

Reisiger ist so in Spannung, daß es ihm unmöglich wird, auf seinem Sitz zu bleiben. Es ist unerträglich, den Rücken gegen die Fahrtrichtung zu haben. Als die Pferde angaloppieren, dreht er sich um, steht auf der Fußstütze.

Galopp, fünf, sechs Sprünge!

Da spritzt der Erdboden auf. Der Schuß liegt etwa zehn Meter neben dem Geschütz.

Galopp weiter! Die Kanoniere ziehen den Kopf gegen die Brust.

Galopp weiter, schon mitten zwischen zerfetzten Häusern, Rauch und Brand.

Jetzt etwa plötzlich das Geschütz zum Halten zu bringen, ist völlig ausgeschlossen.

Völlig ausgeschlossen ist das, denkt Reisiger. Völlig ausgeschlossen. Wenn jetzt also der nächste Schuß, nächste Schuß, nächste – unberechenbar – dahin – da hin haut – dann sind wir alle im Arsch –

Reisiger beißt die Zähne aufeinander und klammert sich wie im Krampf an die Griffe des Sitzes.

Da faucht ihn ein heißer Sturm an. Ein Druck schlägt ihm gegen die Brust. Eine Flamme stößt hoch. Aus ihr platzt ein irrsinniger Krach auf.

Die Pferde werden aus dem Lauf geschleudert, schwanken gegeneinander. Rasen weiter.

Da sagt Jaenisch: »Durch sind wir.«

Das letzte Haus des Dorfes liegt hinter ihnen. Vor ihnen das Zweite Geschütz. Halt!

Wenn es doch nur weiterginge! Das Warten hier ist zum Kotzen!

Linker Hand: dunkler Wald. Da werden Bäume gefällt. Immer wieder springt Feuer aus den mannsdicken Stämmen. Dann schwanken sie unsicher, heben sich, zersplittern, brechen kreischend zusammen. Und überall kreischt das Echo.

Noch stehen die ersten drei Geschütze aufgeschlossen.

Es saust und pfeift und saust und pfeift.

Die Pferde schnauben, zeigen verzerrte rote Nüstern.

Die Menschen schielen gegen den rauchenden Wald. Was tun? Kopf einziehen? Es ist unsinnig. Wens treffen soll, den triffts.

Warum wartet Busse? Es wäre besser, die Geschützführer dürften nach eigenem Kommando die Flinten auf die Höhe bringen.

Aha, das Vierte Geschütz prallt auf.

Wenn es doch weiterginge!

Ein Schuß macht einen blöden Scherz: er haut direkt, haarscharf, vor die Füße von Busses Gaul. Einen halben Meter davor. Ssssss –. Alle reißen die Köpfe hoch. Jetzt ists aus mit Busse – – Na, wo bleibt der Aufschrei? – Da blubbert es ganz dumpf, rülpst. Blindgänger, nicht krepiert. So ein Schwein!

Busse ist weiß im Gesicht, Stirn und Backen glänzen speckig.

»Das letzte Geschütz ist da«, schreit von Stork.

Verluste? – Nein.

Weder Mann noch Pferd hat auch nur die kleinste Schramme.

Wenn es doch weiterginge!

Keine Verluste? Ach. Das ist sinnloser Zufall. Gefahr ist sinnloser Zufall, Rettung ist sinnloser Zufall. Man versteht durchaus nicht, warum es keine Verluste gibt, wo alle mitten durch das Feuer mußten, mitten im Feuer warten. Man versteht das durchaus nicht.

Das Nachdenken wird gestoppt: »Batterie links schwenkt – marsch!«

Durch den Wald. Rauf auf die Höhe. Ach du lieber Gott, ist das eine Sauerei! Dieser Weg! Loch an Loch im zerstaubten Mahlsand, daß die Geschütze torkeln und streckenlang nur auf einem Rad fahren.

Los, Galopp, hier werden Bäume gefällt, mit Feuerwerk und Paukenschlag. Festgehalten die Kanoniere. An die Sitze gekrampft. Augen zu, Kinn an die Binde.

Verdammter Krach. Dieses elende Jaulen und Reißen in der Luft. Schlecht kann einem werden, weil es stinkt, nach Schwefel, erstickend.

Die Pferde rutschen fast auf dem Bauch, ziehen.

Der Höhenkamm ist erreicht.

Es geht durch ein Birkenwäldchen. An seinem Rand, feindwärts, steht der Fernsprechunteroffizier, der mit dem Batterietrupp vorweggeritten war.

»Batterie halt! – Nach vorwärts protzt ab!«

Runter von den Geschützen, die Flinten abhaken, Geschoßkörbe aus den Protzen reißen, Decken, Gepäck, das ganze Gelumpe.

Befehl für die Protzen: Deckung suchen unten am Dorfrand, irgendwo. Pferde bleiben angeschirrt. Kommando übernimmt Hollert. – Ab!

7

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8

Die Batterie steht in einer Linie, Abstand von Geschütz zu Geschütz dreißig Schritt. Die kleinen Birken geben einen guten Schutz gegen Fliegersicht.

Die Beobachtungsstelle ist im Infanteriegraben. Telephon zur Feuerstellung ist bereits gelegt. Busse läßt sich mit dem Hauptmann verbinden. Mosel: »Ziemlich finster, was? Keine Verluste? Na das ist tüchtig, Busse. – Hier vorn ist Ruhe jetzt. Die Infanterie glaubt nicht an Angriff. Ich komme gleich zur Stellung. Schicken Sie mir einen Telephonisten als Nachtwache herauf. – Und dann noch eins: Ich verbiete alle Schanzarbeiten in der Batterie. Haben Sie verstanden? – Nein, es darf nicht geschanzt werden. Also auch keine Deckungslöcher buddeln. Die Flieger sollen hier verflucht emsig sein. Und wir dürfen uns nicht verraten. – Gut.«

Der Kriegsfreiwillige Raschke wird als Telephonist in den Graben kommandiert. Er verabschiedet sich von den Kameraden. Das ist ungewöhnlich, und man neckt ihn deshalb. Wie er Reisiger die Hand gibt (sie sind im gleichen Transport ins Feld gekommen), sagt der: »Himmel, Doktor, sind Sie feierlich.«

Raschke hat ein zerfrorenes Lächeln am Mund. Er dreht sich um, sagt »Tja« und geht ab.

Als der Hauptmann in der Stellung eintrifft, ist es dunkel. Die Bedienungen der Geschütze haben sich in Decken gewickelt, hocken nebeneinander. Es ist kalt. Außerdem haben alle Hunger. Aber woher soll man hier etwas zu essen bekommen?

Der Hauptmann geht von Geschütz zu Geschütz. »Hat jemand Brot?« – Nein. – Da muß etwas geschehen. Mosel schickt einen Unteroffizier bergab. Soll die Protzen suchen und Wachtmeister Hollert bestellen, daß umgehend Brot und irgend etwas Heißes zu trinken heraufgebracht wird.

Das ist ein Trost.

Das feindliche Feuer hat aufgehört. Es ist seit langem kein Schuß mehr ins Hintergelände gejagt. Also mag Hollert sehen. Unten liegt vielleicht noch Infanterie, die borgen kann.

Ja. Es kommen nach kurzer Zeit zwei Fahrer. Sie bringen einen Sack mit Brot und zwei Kannen mit Kakao. Der Hauptmann kümmert sich persönlich darum, daß alles gerecht verteilt wird. »So, Jungs, eßt und versucht zu schlafen. Wache ist nicht nötig. Telephon bleibt besetzt. – Ihr habt euch anständig benommen heute. Hoffentlich bleibt es morgen ebenso.«

Die Stimmung ist gut. Man wickelt sich nach dem Essen fester ein, rückt eng aneinander. Manche schlafen sofort. Eine schöne Nacht. Mit Vollmond. Mit leisem Wind in den Birken. Einmal ist ein Flieger über der Stellung. Ein Franzose, wie man an dem Singen seines Motors hört. Er muß sehr hoch sein. Es klingt freundlich, das Singen.

Sonst ist fast völlige Ruhe. Auch vorn, in Richtung auf den Graben. Manchmal kläfft eine Handgranate. Aber das macht auf niemanden Eindruck.

Der Hauptmann geht mit Busse und Stork hinter den Geschützen auf und ab. Sie plaudern, lachen, als sei man im Manöver. Schließlich setzen sie sich unter einen dickeren Baum. Das Gespräch verstummt.

Als es gegen drei Uhr morgens hell wird, kommt neue Bewegung in die Batterie. Der Hauptmann ruft Reisiger. Er nimmt ihn beiseite: »Reisiger, eben wird gemeldet, daß Raschke gefallen ist. Kommen Sie mit mir. Wir gehen auf die Beobachtung. Besorgen Sie sich Leitungsdraht, damit wir unter allen Umständen Verbindung mit der Batterie behalten.«

Raschke gefallen? Der Doktor Raschke gefallen? Der erste Kriegsfreiwillige?

Reisiger muß schlucken. Raschke ist gefallen. Merkwürdig. Es war doch eine so ruhige Nacht. Die paar Handgranaten. Die paar Gewehrschüsse. Man konnte beruhigt darüber einschlafen. Und nun hats doch einen getroffen. Merkwürdig.

»Ja, Handgranate. Er ist sofort tot gewesen.« Reisiger hört das, wie er vom Fernsprechunteroffizier eine Rolle Kabeldraht abholt. »Schade, war ein ganz anständiger Kerl«, sagt der Unteroffizier. Dann drückt er Reisiger noch Isolierband in die Hand. »Ja, das geht schnell. Bums bist du weg. – Na, Reisiger, denn man los. Der Hauptmann ist schon abgetrabt. Lassen Sie sich nicht erwischen. Eben habe ich die Morgenmeldung der Infanterie gehört: siebzehn Tote. Jaja.«

9

Die Philosophische Fakultät der Berliner Universität hat eine nachahmungswürdige Ergänzung zu ihren Promotionsbestimmungen getroffen. Sie hat beschlossen, solchen Kandidaten, die das Doktorexamen bestanden haben, aber vor erfolgter Promotion im Kampf fürs Vaterland gefallen sind, nachträglich in aller Form die Würde eines ‚Doktors der Philosophie und Magisters der freien Künste‘ zu verleihen, um auf diese Weise ihr Andenken in den Annalen der Universitätsgeschichte lebendig zu erhalten. – Das veränderte Diplom, dessen Fassung, wie wir vernehmen, von den Professoren U. v. Willamowitz-Moellendorf und Ed. Norden herrührt, beurkundet nach der üblichen Einleitung mit Erwähnung des Kaisers und dem Namen des zeitigen Rektors die Tatsache der Promotion mit folgenden Worten: »Der Dekan der Philosophischen Fakultät hat den angesehenen, gelehrten und tapferen . . . . . . (Name), der, nachdem er das philosophische Examen mit (großem, sehr großem) Lobe bestanden und eine (sehr) lobenswerte Dissertation mit dem Titel . . . . . . unter Behelligung der Fakultät herausgegeben hatte, durch seinen Tod fürs Vaterland sich einen über alles Lob erhabenen Ruhm verdiente, die Auszeichnungen und Ehren eines Doktors der Philosophie verliehen, um dadurch sein Andenken zu weihen.« (Vossische Zeitung vom 12. 5. 1915)

Die Eltern des Kriegsfreiwilligen Raschke gehören zu den ersten, die der nachahmungswürdigen Ergänzung zu den Promotionsbestimmungen der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität teilhaftig werden.

10

London, 9. Mai (Meldung des Reuterschen Büros): Nach Mitteilung der Geretteten von der »Lusitania« war es ein heiterer, ruhiger und sonniger Nachmittag, als das Schiff torpediert wurde. Die meisten Passagiere hatten eben gefrühstückt und standen auf Deck, um nach der irischen Küste auszuspähen, als plötzlich ein weißer Streifen gesehen wurde, der sich durchs blaue Wasser dem Schiffe näherte. Ein schrecklicher Krach folgte, das ganze Schiff bebte und begann zu wenden, in der Hoffnung, die Küste zu erreichen. Da wurde es von einem zweiten Torpedo getroffen. Es neigte sich scharf auf die Seite und sank in 20 bis 25 Minuten nach der ersten Explosion. Die Boote an der Backbordseite konnten nicht niedergelassen werden, weil der Dampfer schief lag. Einige Seeleute sahen einen Augenblick lang ein Unterseeboot, dieses tauchte rasch und erschien nicht wieder. (Rheinisch-Westfälische Zeitung, 10. 5. 1919)

11

Rotterdam, 10. Mai: Dem »Nieuwe Rotterd. Courant« wird aus London gemeldet: Es steht jetzt fest, daß von der »Lusitania« fast 1500 Menschen umgekommen sind. (Berliner Tageblatt, 11. 5. 1915)

12

Zirkus-Varieté Schumann. Kleine Preise.
Täglich von 8 bis 11 Uhr
Zirkus-Varieté-Vorstellungen sowie
Torpedieren der » Lusitania«
Rauchen gestattet.

(Vossische Zeitung, 14. 5. 1915)

13

W. Amtlich. Berlin, 14. 5. Aus dem Bericht des Unterseebootes, das die »Lusitania« zum Sinken gebracht hat, ergibt sich folgender Sachverhalt: Das Boot sichtete den Dampfer, der keine Flagge führte, am 7. 5. 2 Uhr 20 Minuten m. e. Z. nachmittags an der Südküste Irlands bei schönem klarem Wetter. Um 3 Uhr 10 Minuten gab es einen Torpedoschuß auf »Lusitania« ab, die an Steuerbordseite in Höhe der Kommandobrücke getroffen wurde. Der Detonation des Torpedos folgte unmittelbar eine weitere Explosion von ungemein starker Wirkung. Das Schiff legte sich schnell nach Steuerbord über und begann zu sinken. Die zweite Explosion muß auf eine Entzündung der im Schiffe befindlichen Munitionsmengen zurückgeführt werden.

Der stellvertretende Chef des Admiralstabes
(gez.) Behncke

14

Von der Feuerstellung 1/96 führt ein Laufgraben bis zur Beobachtung.

Als Reisiger in der Beobachtung ankommt, steht der Hauptmann bereits am Scherenfernrohr. – Die kalkige Wand des Grabens ist mit Blut bespritzt. Unten liegt etwas unter einer Zeltbahn. Reisiger meldet sich. Der Hauptmann behält die Augen am Glas, sagt: »Den Raschke schaffen wir nachher weg. Nehmen Sie das Telefon an die Ohren.«

Reisiger schnallt die Kopfhörer um, hockt sich nieder. Leitungsprobe: die Feuerstellung meldet sich. In Ordnung.

Im Graben ist alles auf den Beinen. Mann steht neben Mann. Alle sehen bewegungslos nach vorn. Die Gewehre sind durch die Schutzschilde gesteckt. Geschossen wird nicht.

Mosel spricht ab und zu etwas. »Hm hm – sieh da –« Er spricht mit sich selber.

Der Kompagnieführer kommt, begrüßt ihn. Sie unterhalten sich über das Gelände. Der Kompagnieführer bestätigt die Meldungen der Patrouillen, die heute Nacht im Vorgelände waren: der Feind hat seine Drahtverhaue ohne Zweifel an mehreren Stellen weggeräumt. Er habe das auch bei den Nachbarkompagnien gehört. Allgemein herrsche die Ansicht, in kurzer Zeit käme der Angriff.

Das genügt. Der Hauptmann entschließt sich zum Einschießen. Reisiger ruft die Feuerstellung an, gibt Kommandos durch.

»Batterie feuerbereit –« – »Schuß!«

Der Schuß fegt über die Beobachtung. Krach!

Mosel ist sehr gründlich. Das Feuer der sechs Geschütze wird so verteilt, daß jede Flinte auf drei verschiedene Punkte des feindlichen Grabens festgelegt ist.

Die Aufschläge liegen schon nach kurzem mitten im Ziel.

Reisiger kann in seinem Loch von der Wirkung nichts sehen. Aber er hört die lebhaften Beifallsrufe der Infanterie. »Hah – Volltreffer! Feste, gib ihm Saures!«

Der Feind läßt sich das nicht lange gefallen.

Reisiger nimmt eine Meldung von der Feuerstellung auf: »Feind schießt. Sucht offenbar die Batterie. Aber die Schüsse liegen weit dahinter, ungefähr auf halber Höhe.«

Plötzlich kommt ein Leutnant der Infanterie: »Herr Hauptmann, wir haben soeben Meldung vom Bataillon bekommen, daß der Angriff 5 Uhr 30 zu erwarten ist.«

Mosel beugt sich zu Reisiger: »Fragen Sie an, wieviel Munition in der Feuerstellung lagert?« –

Meldung aus der Batterie: pro Geschütz ungefähr 400 Schuß! – Mosel reißt Reisiger den Apparat aus der Hand, verlangt Oberleutnant Busse und schreit ihn an, er habe gefälligst dafür zu sorgen, daß auf allerschnellstem Wege für jedes Geschütz 1000 Schuß besorgt werden! – Dann sieht er nach der Uhr. Es ist 5 Uhr 20. Der Infanterist steht noch immer neben ihm. »Woher stammt die Meldung, Herr Leutnant?«

»Angeblich Überläufer, Herr Hauptmann.«

Mosel zeigt mit dem Finger vor die Stirn: »Das hieße in 10 Minuten! Dann haben die Lümmels entweder geschwindelt, oder sie meinen heute abend 5 Uhr 30. Glauben Sie doch nicht, daß der Feind so blödsinnig ist, ohne Artillerie anzugreifen.« Der Infanterist zuckt die Schultern.

5 Uhr 30. Nichts geschieht. Der Feind ist zwar ein wenig reger mit seiner Artillerie. Haut manchmal auch in den Graben. Aber von Angriff keine Spur.

Schließlich geht der Infanterieleutnant bekniffen ab. Alarmbereitschaft wird aufgehoben. Es bleiben nur einzelne Posten. Die übrigen Infanteristen verkriechen sich in den Unterständen.

Mosel kontrolliert noch einmal den Abschnitt mit dem Glas.

Langweilig.

»Reisiger, Sie setzen sich ans Scherenfernrohr. Ich gehe zur Feuerstellung. Wenn etwas los ist, melden Sie das.«

15

Blick durchs Scherenfernrohr.

Du siehst, daß alle Dinge, die für das bloße Auge in weiter Ferne liegen, plötzlich nahe an dich herangerückt sind.

Der feindliche Graben, eine schmale weiße Linie im Gelände, fußhoch, zeigt sich dir plötzlich als ein Gebirge.

Ein Berg ist vom anderen durch ein kleines Tal getrennt.

In jedem Tal sitzt ein schwarzes Loch. Aus dem Loch starrt ein rundes glänzendes Etwas: das sind die Mündungen der feindlichen Gewehre. Zuweilen rucken sie an und blitzen auf. Niemand weiß warum.

Vor diesen Bergen siehst du einen Wald mit gewaltigen Stämmen und scharfgezackten Zweigen, die ineinander übergreifen: Drahtverhaue.

Wenn du das Scherenfernrohr drehst, nach rechts und nach links, siehst du, daß sich dieser Wald unübersehbar erstreckt. Dein Auge findet keine Grenzen.

Manchmal ist ein Stamm eingeknickt, manchmal sind die Äste abgerissen.

Manchmal liegt im Wald ein Hügel. Bläulich, rot abgesetzt. Oh, ein Mensch!

Man könnte glauben, da liegt ein Mensch in der Sonne und sieht in den blauen Maihimmel, die Arme weit ausgestreckt, weil der Morgen schön ist und weil die Lerchen singen. Seine beiden Hände fassen in den frischen Klee. Aber nein: diese Menschen sehen den Himmel nicht und hören die Lerchen nicht. Diese Menschen sind gefallene Feinde. Drei Schritte von ihnen, bei den Bergen, stiert ihr Bruder durch das schwarze Loch, schlägt, durch ihres Bruders Hand, zuweilen das glänzende Etwas vor ihnen hoch. Das ist die einzige Unterhaltung, seit Wochen, für Wochen.

Du drehst das Scherenfernrohr weg von ihnen. Nicht wahr, die lebenden Geheimnisse hinter den Bergen sind doch leichter ergründbar als die schweigenden davor? –

Reisiger glaubt lebende Geheimnisse entdeckt zu haben. Hinter den Bergen nämlich ist unaufhörliches Kommen und Gehen. Blaue Kappen huschen vorbei, eine nach der andern. Man muß sie zählen! Aber es sind zu viele, viel zu viele.

Reisiger preßt die Augen hart ans Glas.

Noch etwas Merkwürdiges geschieht, etwas Unerklärliches. Der Wald mit den Zweigen verschiebt sich an verschiedenen Stellen. Ist das die Faust eines Riesen, die Bäume beiseite rücken kann?

Aber man darf doch hier nicht träumen! Was geschieht? Um Himmels willen: an unsichtbaren Angeln werden behutsam die Drahtverhaue immer näher an den Graben herangezogen. Dann greifen viele Hände über die Brüstung. Und die Drahtverhaue verschwinden in der Tiefe!

Da pumpt sich das Blut in Reisiger hoch. »Hallo, Batterie, Batterie! Sofort dem Hauptmann melden, daß der Feind Drahtverhaue wegräumt. Aber dalli!«

Und die Antwort: »Hauptmann kommt. Kompagnieführer Meldung machen. Schluß.«

Mosel kommt mit Unteroffizier Uhlig und Kanonier Germer. »Reisiger und Germer, ihr nehmt Raschke mit in die Stellung. Reisiger, Sie halten sich bereit, den Unteroffizier abends wieder abzulösen.«

Ein Toter ist viel schwerer als ein Lebender. Und die Hitze, im engen Graben. Sie müssen Raschke mehrmals hinlegen und sich verschnaufen.

Hinter der Feuerstellung ist ein ausgetrockneter Bach. Da hinein schaffen sie die Leiche. Man kann sie heute nacht zu den Protzen bringen.

16

Der Mittag geht hin. Der Nachmittag geht hin. Nichts geschieht.

Reisiger hört, daß alle Kameraden seit heute früh Munition geschleppt haben. Die Kolonnen konnten nur bis zur halben Höhe anfahren. Von da aus also mußte jeder einzelne Korb – 25 Pfund an jeder Hand – heraufgetragen werden. Das war kein Vergnügen! – »Hier – beide Hände blutig – aber die Kolonnen haben ja immer die Hosen voll, feige Luders!«

Man sitzt neben den Geschützen, läßt sich von der Sonne bescheinen.

Reisiger muß vom Graben erzählen. »Jaja, solch Scherenfernrohr ist eine fabelhafte Erfindung.« – »Lauter Franzmänner persönlich gesehen? Na, paß auf, dann haben wir bald den schönsten Schlamassel!«

Das Erzählen macht müde. Vielleicht auch der Hunger. Mit Pennen kommt man am besten darüber hinweg. Und gegen Abend soll ja wieder Brot geschickt werden.

Reisiger legt sich hin und schließt die Augen.

Er hört noch, wie Unteroffizier Gellhorn zu ihm sagt, daß er jetzt wieder Richtkanonier sein soll. Und dann fängt er ein halblautes Gespräch. Jaenisch, Hohorst und Jahn unterhalten sich über irgendwelche Dinge aus der Heimat. Im Halbtraum verwischt sich das alles so, daß er schließlich nicht mehr weiß, wo er eigentlich ist. Dann schläft er.

Plötzlich schreckt er hoch. Irgendwo kracht eine Salve von vier Schüssen. Er will aufspringen. Da hält ihn Gellhorn lachend am Knie fest: »Warum so nervös? Hinter uns ist heute eine schwere Batterie aufgefahren, hier gleich auf halber Höhe, die wird sich jetzt einschießen.«

Der ersten Salve folgt die zweite, folgen viele, von überallher. Jahn erzählt, daß insgesamt acht Batterien in der letzten Nacht angekommen sind, fünf leichte und drei schwere: »Der Franzmann tut besser, im Graben zu bleiben! Sonst beharken wir ihn, daß er die Puste verliert.«

Reisiger reckt sich: »Bei denen geht es genau so wie bei uns: Was befohlen wird, wird gemacht. Vielleicht müssen sie angreifen, und wenn hier fünfzig Batterien stehen.«

Gellhorn biegt das Gespräch ab: »Ihr quatscht ja Blech. Mir könnt ihr nichts erzählen. Sowie jetzt das Wetter besser wird, hört der ganze Zinnober so wie so auf. Front marsch, marsch! Und dann rennen wir die ganzen krüppligen Hunde da drüben über den Haufen. Damit der Mist endlich zu Ende kommt.«

Das Einschießen der Batterien hat sich allmählich so gesteigert, daß man kaum noch das Wort des Nachbarn verstehen kann. Aber man gewöhnt sich an den Krach. Er zerrt nicht an den Nerven, sondern bringt sie in Schwingungen, die wohltun. Das sind Wir! Jawohl, das sind Wir! – Reisiger steht auf, breitet die Arme aus. Wir können stolz darauf sein, daß wir Soldaten sind! Ich gehöre zu einer Batterie, die hier regelrecht vorm Feinde steht!

Er will sich wieder setzen, da faucht es in der Luft. Nanu? Er sieht, daß die Kameraden, halb erschrocken, halb neugierig zusammenrücken. Etwa achtzig Meter hinter der Feuerstellung spritzen vier Rauchwolken auf. Und gleichzeitig brechen vier bellende Detonationen los.

Der Feind schießt!

Das verändert die Situation. Das Einschießen der eigenen Batterien fällt plötzlich verdammt auf die Nerven. Man flucht. »Daß das blödsinnige Geknalle von der schweren Batterie hinter uns auf die Dauer nicht gut gehen würde, konnte ich mir ja denken«, sagt beleidigt Gellhorn.

Reisiger will antworten. Da bricht bereits ein neues Fauchen heran und zwingt ihn dazu, mit den Kameraden dicht hinter das Geschütz zu kriechen. Krach! Einen Augenblick später zieht der Gestank einer schwarzen Wolke über das Gras. Da flucht niemand mehr. Man hat die Vorstellung, in einer Falle zu sitzen. Aufstehen kann man nicht mehr, weil es unsinnig erscheint, den Kopf über den Schutzschild zu heben. Scherzen kann man nicht mehr, weil irgend etwas im Halse würgt. Man versucht zu reden. Aber das glückt auch nicht, weil die Einschläge jetzt so dicht fallen, daß man immer wieder ganz zu Boden muß.

Die Batterien haben das Feuer nach den ersten Salven des Feindes eingestellt. Ihn bewegt das nicht zum Stoppen. Im Gegenteil. Man kann feststellen, daß zwei seiner Batterien systematisch den ganzen Kamm der Höhe absuchen. Bald müssen sie 1/96 erwischt haben. Näher heran! Weiter weg! Weiter weg! Näher! Wieder näher! Noch näher!

Endlich hauen vier Schüsse direkt am rechten Flügel der Stellung ein.

Reisigers Rücken schmerzt. Gellhorn und Jahn waren ganz dicht an ihn herangekrochen und legen sich nun mit der Last ihrer Körper immer wieder schwer auf seine Schultern. Nur wenn alle die Köpfe heben, um den Einschlag zu sehen, wird ihm leichter.

Gellhorn gibt dann kurze Erläuterungen. Die spricht er mit zusammengebissenen Zähnen. »Sechzig Meter hinter uns! – Donnerwetter, die liegen aber schon brenzlich nahe. – Kopf weg!«

Wie gerade eine Gruppe von Schüssen einhaut, springt ein Mensch zwischen Gellhorn und Reisiger. Sie schielen hoch: Leutnant von Stork. »Wenn wir doch bloß auch schießen könnten«, sagt er mit bebender Stimme.

Das wirkt beruhigend. Alle spüren: Das wäre eine Erlösung! Das ist fast eine zwangsweise Koppelung Wenn der Feind schießt, mußt du auch schießen dürfen. Das Warten ist unerträglich! – Aber der Hauptmann gibt keinen Befehl.

Der Feind hat inzwischen die Taktik geändert: Er streut willkürlich in schnellen Abständen, mit lauter einzelnen Schüssen.

Eine Rauchwolke nach der andern umtanzt die Stellung. Davor und dahinter, näher und weiter, einmal so nahe, daß mit einem gewaltigen Krach vier Birken vor dem linken Flügelgeschütz entwurzelt hochfliegen und sich stöhnend auf die Seite legen.

Die Minuten werden immer qualvoller. Wenn wir doch auch schießen dürften! An allen Geschützen liegen die Mannschaften auf dem Bauch, die Hände ins Gras gekrallt, und warten auf den Feuerbefehl.

Endlich gibt es eine Ablenkung: eine schwere Batterie halblinks hinter 1/96 nimmt das Gefecht auf.

Die erste Salve gegen den Feind! Nach zwei Minuten folgt die nächste. Und Schuß auf Schuß.

Eine Erlösung.

Der Feind vereinigt automatisch sein Feuer und legt es mehr auf den Hang hin, weg von 1/96.

Man kann sogar den Kopf heben. Man kann sogar aufrecht knien. Ach was, das Feuer liegt ja ganz hinten, bei den Fußern. Man kann sich sogar erheben.

Von Stork geht mit betont langsamen Schritten zum Fernsprecherloch. Dort sitzt Busse, das Telephon am Ohr.

Sekunden später kommt das Kommando »Geschütze feuerbereit machen!«

Jetzt ist man dem Leben wiedergegeben. Jetzt weiß man, wozu man da ist. Vom Fernsprecher her kommen die ruhigen Befehle des Oberleutnants. Es wird gerichtet, geladen.

Die Batterie schießt die erste Salve.

Alle Gesichter entspannen sich.

»Auf 28-hundert langsam weiterfeuern.«

Gottseidank, man hat Beschäftigung!

»Schüsse liegen gut«, schreit Busse.

»Man müßte wenigstens sehen können, wohin man schießt«, sagt Reisiger.

»Du sollst lieber deine Schnauze halten und anständig richten«, antwortet Gellhorn. »Alles andere geht dich einen Dreck an.«

Da kommt der Leutnant: »Reisiger, wir haben keine Verbindung mehr mit dem Hauptmann. Los, Leitung flicken – nehmen Sie Jordan mit. Gellhorn, Sie müssen sich solange selber behelfen.«

17

Reisiger macht sich mit Jordan auf den Weg. Sie haben einen Fernsprechapparat bei sich, Draht und Isolierband.

Sie ziehen den Kopf ein und machen Laufschritt. Die Schüsse des Feindes fauchen über sie hinweg. Aber daran hat man sich gewöhnt. Das ist nicht weiter unangenehm.

Die Leitung kann man gut verfolgen. Sie ist zwischen die Äste der kleinen Büsche gelegt, die im Vorgelände stehen.

Alles in Ordnung. Laufschritt weiter.

Dann sind sie ungedeckt. Noch zehn Meter bis zum Annäherungsgraben.

Jordan läuft vorweg. Im Sprung zeigt er mit der Hand: »Dicke Luft. Meine Fresse, wird da geharkt!« Er ist schon im Graben.

Reisiger stoppt einen Augenblick. Donnerwetter! Unübersehbare weiße und schwarze Rauchwolken brodeln da vorn. Brennt denn die ganze Erde? Grauenhaft. Aber wir müssen wohl –

Er springt mit einem Satz hinter Jordan her, taumelt gegen die Grabenwand.

Fürs erste fühlen sie sich in Sicherheit.

Der Draht ist hier in Schulterhöhe mit kleinen Holzpflöcken befestigt. Man kann ihn leicht übersehen.

Dann ist der Graben eingeschossen. Ein Kalkberg versperrt den Durchgang.

Reisiger nimmt das Seitengewehr heraus und buddelt. Jordan kniet sich daneben hin. »Da haben wirs ja. Kaputt geschossen. Die Ochsen können nicht zielen.«

Aber der Draht ist ganz. Beide nehmen ihn auf, lassen ihn durch die Hand gleiten. »Denn nicht«, grollt Jordan. »Also weiter. Quatsch bei der Hitze. Nun mach schon endlich, daß wir weiterkommen. – Junge, Junge da vorne rauchts.«

Der Graben macht verschiedene Windungen.

Endlich haben sie den Schaden. Der Draht hängt zerrissen mit beiden Enden am Boden. Jordan spuckt aus: »Da hast dus wieder. Nicht mal zerschossen. Den hat irgendein Affe von der Infanterie mitnehmen wollen. Vielleicht zum Wäschetrocknen . . .«

Sie schließen den Fernsprecher an, summen. Gottseidank, die Feuerstellung meldet sich. »Ja, hier Leitungspatrouille.«

Her das andere Ende. Summen. »Hallo, Beobachtung 1/96.« Das ist Uhligs Stimme. »Herr Unteroffizier, bleiben Sie am Apparat. Wir verbinden gleich.«

Sie wollen die beiden Drähte zusammendrehen. Da hören sie schräg vor sich ein bestialisches Pfeifen. Und wie sie sich platt auf den Bauch werfen, schlägt ein Schuß kurz vor ihnen direkt auf die Sohle des Grabens.

Reisiger spürt ein schüttelndes Zittern in den Gliedern. Eiskalt wird ihm. Er kann sich nicht rühren. Er muß bewegungslos hören, wie mit widerlichem Zirpen die Sprengstücke durch die Luft fliegen. Dann schlagen sie sachlich gegen die Grabenwand.

Aber da stößt ihn Jordan. »Wenn die so weiter machen, werden sie noch mal einen treffen«, sagt er. Das soll wohl komisch klingen. Doch es mißglückt. Jordan merkt es selber. »Ich glaube, wir hauen ab. Laß doch die Leitung. Wir suchen uns einen Unterstand, bis der Franzmann ausgetobt hat.«

Nun hat Reisiger wieder Mut. »Die ganze Arbeit dauert ja nur ein paar Sekunden. Mach schon, Jordan.« Er stellt sich mit dem Rücken gegen den Feind und verbindet die beiden Drahtenden. Summen. »Hallo – Batterie!« Verflucht noch einmal. Keine Antwort. »Hallo, Hallo, Batterie!!«

Aus. Also muß inzwischen eine andere Stelle auch noch unterbrochen sein.

Jordan entreißt Reisiger den Apparat. »Es ist zum Knochenkotzen. Laß mich mal. Oder wollen wir erst noch einmal Uhlig anrufen. – Hallo, ist dort Beobachtung 1/96?«

Eine überlaute Stimme gellt aus dem Hörer. Das ist ja der Hauptmann. »Herr Hauptmann, hier Leitungspatrouille.«

»Schert euch hierher!« brüllt Mosel. »Sofort hierher! Laßt die blöde Flickerei, verstanden. Aber sofort hierher kommen.«

Sie zerren den Apparat vom Draht und sehen sich an.

»Das hat uns noch gefehlt«, sagt Jordan.

Reisiger zuckt die Achseln und nimmt die Kabelrolle unter den Arm. »Hilft ja nichts.«

Sie rennen los.

Nach einigen Schritten sitzt ein Schuß kurz vor ihnen auf der Grabenwand. Reisiger sieht im Niederwerfen, daß ein großes Stück aus dem Kalkboden herausgerissen wird. Das Geröll wäre beinahe über sie gefallen. Sie springen auf, darüber hinweg. Dann liegen sie schon wieder. Und die nächsten fünfzig, sechzig Schritt kriechen sie auf dem Bauch. Soweit sie sehen können, brechen gelbliche Feuer auf und schwarze Wolken. Das Krachen ist so laut, daß die Ohren schmerzen. Immer wieder machen sie einen Sprung vorwärts. Immer wieder liegen sie, die Hände und das Gesicht so fest wie möglich in den Kalk gepreßt.

Endlich sehen sie die vordere Linie. Noch zwanzig Schritt! Da ist der Hauptmann! Nicht mehr am Fernrohr, Er kauert halb gebückt neben dem Loch, in dem Uhlig sitzt. Zuweilen verdeckt ihn das Schwarz der Rauchwolken. – Einmal, als Reisiger gerade wieder zu einem Sprung ansetzt, verschwindet er in einem Blitz. Aber als Reisiger wieder aufsieht, kauert er noch unbeweglich in der gleichen Haltung. Er winkt, legt die Hände an den Mund, und schreit. Man kann es nicht verstehen.

Mit dem nächsten Satz sind sie bei ihm. Reisiger versucht, stramm zu stehen und eine vorschriftsmäßige Meldung zu machen. Da fliegt er plötzlich gegen den Hauptmann. Ihre beiden Köpfe schlagen zusammen. Dann liegen sie im Telephonloch, unter sich Uhlig und über sich Jordan. Wie sie sich endlich entwirren, schreit Mosel mit der ganzen Kraft seiner Lungen zornig und flehend: »Rennt zurück, die Batterie soll Schnellfeuer 26-hundert schießen! Oberleutnant Busse soll versuchen, Relais zu legen!«

Zurück? Jetzt? Darauf gibt es nichts zu antworten.

Reisiger sieht im Abstürzen die Infanterie, Schulter an Schulter, Gewehr im Anschlag, zwischen Rauch und Feuer.

Da jagt Jordan bereits vor ihm her. Er folgt. Hinwerfen, ein kurzer Sprung, hinwerfen, Strecken auf dem Bauch kriechen, angefaucht von heißen Flammen, angespuckt von beißendem Qualm, über sich Güsse von Kalk und Dreck. Endlich die Batterie! Hier gibt es keine Formen mehr und kein Besinnen auf militärische Haltung. Reisiger springt auf den Oberleutnant los: »Schnellfeuer auf 26-hundert!« Dann jagt er an Busse vorbei zu seinem Geschütz, wiederholt halb irre und völlig außer Atem: »Schnellfeuer 26-hundert!« und schiebt Gellhorn vom Richtsitz weg. Und schon, Signal einer gellenden Trompete, die Stimme von Busse: »Ganze Batterie Schnellfeuer sechsundzwanzighundert!«

18

Die Batterie wird zur Maschine.

Auf das Kommando »Schnellfeuer sechsundzwanzighundert« stellen an sechs Geschützen sechs Mann sechs Geschosse mit den Zündern auf die Entfernung sechsundzwanzighundert.

Auf das Kommando »Schnellfeuer« richten an sechs Geschützen sechs Richtkanoniere auf die Entfernung: sechsundzwanzighundert.

Das Kommando »Schnellfeuer« bewirkt, daß in einer Batterie von sechs Geschützen mit der Präzision von sechs Maschinenhebeln die Arme von sechs Kanonieren sechsmal in sechzig Sekunden die Verschlüsse aufreißen, daß sechs andere Kanoniere sechsmal sechs Geschosse in sechs Rohre stecken, daß zur gleichen Sekunde sechs Verschlüsse zugeworfen werden, daß sechs rechte Hände sechsmal die Detonation von sechs Schuß auf sechsundzwanzighundert vollziehen. Sechs Rohre schießen dann sechsmal in sechzig Sekunden nach rückwärts, daß die Geschütze wie geschlagene Tiere sich aufbäumen.

Es wird geladen, es wird gerichtet, es wird abgeschossen.

»Schnellfeuer«, das heißt: nach zehn Minuten ist der Pulsschlag der Menschen verdoppelt. Das Herz schlägt nicht mehr in der Brust, sondern im Hals. Erst hat der Puls die Glieder zittern lassen. Dann stemmen sie sich gegen sein Kommando, werden wie Eisen und werden Teil der großen Maschine: Sechs Geschütze: Eine Batterie.

»Schnellfeuer«, das heißt, daß nach einer halben Stunde mit automatischer Bewegung die Mannschaften von sechs Geschützen ihre Röcke aufreißen. Daß nach einer Stunde die Mannschaften die Röcke ausziehen, das Hemd öffnen, die Ärmel hochkrempeln.

»Schnellfeuer«, das heißt, daß nach einer Stunde die Mannschaften der Batterie Blässe des Todes in den Gesichtern haben, über die Ruß und Pulverschleim ein dickes Schwarz schmieren.

»Schnellfeuer«: Die Menschen versuchen einander zuweilen etwas zuzurufen. Nach kurzem ist jeder Versuch verstummt. Bricht der Versuch neu auf, wird aus jedem Zuruf ein tierischer Schrei.

»Schnellfeuer«: Die Wut der Menschen überträgt sich auf die Geschütze. Sechs metallene kalte Rohre geben mit Sachlichkeit sechsmal in sechzig Sekunden den Tod von sich. Nach kurzem fauchen sie weißlichen Dampf, schwitzen wie die Menschen, die arbeitenden Menschen an der Maschine. Dann bekommt die Maschine Blut: die Rohre sind heiß wie Fieber.

»Schnellfeuer«: Das Fieber wird zur ansteckenden Krankheit. Das Fieber vergiftet den Erdboden. Einmal war der Erdboden grün, erstes Grün. Nach sechzig Minuten ist das Grün zerstampft, zertreten, zermahlen. Die Erde hat sechsmal zwei tiefe Wunden, in denen erbarmungslos sechsmal in sechzig Sekunden die Geschützräder schneidend wühlen.

Es wird geladen, es wird gerichtet, abgeschossen, geladen gerichtet abgeschossen.

19

So schießt 1. F.A.R. 96 seit anderthalb Stunden Schnellfeuer auf 2600.

So schießen alle Batterien auf dem Kamm der Höhe. Der Befehl »Schnellfeuer« muß sie alle erreicht haben. Fußartillerie Schuß auf Schuß, Feldartillerie Schuß auf Schuß, hinüber zum Feind.

Es ist unmöglich, zu unterscheiden, ob er antwortet.

Einmal ist Reisiger, als spüre er dicht über sich einen heißen Hauch. Stammt der von drüben? Er will sich umsehen, den Einschlag suchen, aber dazu bleibt keine Zeit. Schnellfeuer, Schnellfeuer! Gellhorn sieht besorgt nach rechts und links. Munition? Die leeren Körbe häufen sich. Aber einstweilen ist noch kein Mangel.

Als eben wieder der scharfe Qualm vom Mündungsfeuer zurückschlägt und das Geschütz sich bäumt, zittert eine Gruppe von Birken halb links. Reisiger sieht, daß das ganze Bündel in die Höhe fliegt und die Wurzeln gegen den Himmel hebt. Also doch, der Feind schießt auch! Der Schuß lag zehn Meter vor uns.

Er will Gellhorn darauf aufmerksam machen. Er kommt nicht dazu. Von Stork steht plötzlich neben ihm und schreit mit einer Stimme, die gar nichts Menschliches mehr hat: »Sie sind durch! Feuer auf achtzehnhundert legen!«

Sie sind durch? 1800? Da tönt ein gellender Schrei. Und wie man noch auf die Entfernung 1800 einstellt, und wie noch die Munitionskanoniere die erste Granate mit 1800 laden, sehen sie alle, daß Leutnant von Stork gekrümmt an der Erde liegt, die rechte Gamasche aufgerissen. Ein Blutstrahl sprudelt aus dem Knie.

Schnellfeuer! »Aber da muß doch einer helfen«, sagt Reisiger zu Gellhorn. Doch der hat längst selbst eine neue Granate genommen und schiebt sie in den Lauf. Los, Schnellfeuer!

Was ist denn nun schon wieder? Die beiden rechten Flügelgeschütze haben ja plötzlich die Richtung geändert, eine Viertelwendung gemacht. Was bedeutet denn das?

Eine Stimme schreit, man weiß nicht von wem und woher: »Der Feind schießt von rechts mit Maschinengewehr in unsere Flanke!« – Hört denn Gellhorn den Schrei nicht? Reisiger will ihn darauf aufmerksam machen. Da sieht er, daß Oberleutnant Busse zum Leutnant springt. Will er ihn verbinden? Hergott: er wirft beide Arme in die Höhe, macht einen Hopser, fällt zuckend auf den Rücken.

»Herr Unteroffizier . . .«

»Schnellfeuer achtzehnhundert, los, los!«

Schnellfeuer auf 1800. Das Geschütz ist inzwischen so ausgeschossen, daß der Rücklauf versagt. Reisiger und Hohorst müssen nach jedem Schuß das glühende Rohr wieder zurechtschieben.

Aber sonst bleiben alle Bewegungen maschinenmäßig, Schnellfeuer!

Gellhorn hat jetzt den Leutnant gesehen. Der ist völlig zusammengekrümmt, hält den Deckel seiner Mütze vor das Knie. Das Blut tropft langsamer. Busse liegt lang, rührt sich nicht mehr.

»Kinder, die Batterie ist ohne Offizier«, sagt Gellhorn.

Da steht wie eine Erscheinung der Hauptmann in der Stellung.

Einen Augenblick macht alles eine Feuerpause. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet.

Er hat ein kalkweißes bewegungsloses Gesicht.

»Schnellfeuer!«

Er geht aufrecht von Geschütz zu Geschütz. »Schnellfeuer, Kerls!« Zu Gellhorn sagt er: »Schießt doch! Auf sechzehnhundert! Und wenn der Feind da ist, müssen wir sehen, wie wir hier rauskommen.«

Schnellfeuer.

Nach wenigen Schüssen brüllt ein Krachen auf, wie Reisiger es noch nie erlebt hat.

Er merkt, daß er vom Sitz gleitet.

Dann ist es völlig dunkel.

Wie das Dunkel sich wieder hebt, träumt Reisiger. Er spürt, daß er in einem See liegt. Das Wasser des Sees ist sehr warm. Kann man denn hier nicht schwimmen? Er hat die Beine und die Arme ausgestreckt, aber er kann nicht schwimmen, weil eine Last ihn bedrückt.

Der See schlägt mit seinen Wellen laut gegen das Ufer.

Dieses Wellenschlagen wird immer heftiger, immer drohender! Und jagt ihm schließlich eine Angst ein. Ich muß schwimmen, sonst werde ich ja erdrückt! – Er hebt seine Brust und stemmt die Ellbogen gegen den Grund des Sees.

Da ist er plötzlich wach und reißt die Augen auf. Er hört entsetzliches Krachen auf allen Seiten und spürt einen Druck über sich.

Und wie er die Augen hebt, sieht er überall scharfe Zacken vor sich. Und wie er die Augen höher hebt, sieht er, daß sein Geschütz auf der einen Achse über ihm zusammengebrochen ist. Das Rohr bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Und wie er nach seinen Kameraden sucht, findet er neben sich Gellhorn ohne Kopf und Hohorst mit abgerissenen Armen. Und hinter ihm liegt ein einzelnes Bein. Das ist alles. Er schiebt den Unteroffizier vorsichtig von sich weg und kniet sich hin. Er sieht nach rechts. Da feuern zwei Geschütze Schnellfeuer. Er sieht nach links. Da feuert ein Geschütz. Er will aufstehen. Aber er fällt wieder zusammen. Er beißt die Zähne aufeinander und versucht es ein zweites Mal.

Da hat ihn der Hauptmann bemerkt, springt zu ihm, sagt: »Gehen Sie runter und suchen Sie die Protzen. Aber es kann sein, daß es schon zu spät ist. – Batterie Schnellfeuer neunhundert –!«

Reisiger läuft die Höhe herunter. Aber als er kaum hundert Meter von der Batterie entfernt ist, scheint ihm jeder Versuch, die Protzen zu erreichen, vollkommen sinnlos. Die riesigen Eichen rechts und links der Wege sind zusammengehauen, und überall kracht es, und es brechen weitere Stämme. Fontänen aus ungeheuren Erdklumpen werden gegen den Himmel geschleudert. Wo man auch hinsieht, schießen feurige Flammen aus dem Boden.

Reisiger versucht alle Möglichkeiten, um vorwärts zu kommen. Er kriecht auf dem Bauche, schiebt sich von Trichter zu Trichter. Er springt, duckt sich hinter Baumstämmen. Er schnellt hoch, um nach einigen Schritten wieder zu kriechen.

Manchmal bleibt er liegen, schließt die Augen: wenn es mich doch endlich träfe!

Bis der nächste Schuß neben ihm aufheult und ihn weiterjagt.

Endlich ist er an der Sohle des Berges. Links brüllt ein Sperrwall von Einschlägen, rechts sind brennende Häuser. Vielleicht, denkt er, finde ich dort die Protzen. Er hält sich also rechts. Wie er wieder einmal liegen bleibt, keuchend, mit einem schwarzen Schleier vor den Augen, wird der Gedanke »Protzen« nachdrücklicher: Ich muß die Protzen holen, sonst ist die ganze Batterie verloren! Rafft sich auf und bricht zusammen. Wieder auf. Im nächsten Augenblick wird er von einem Schuß, der direkt hinter ihm liegt, durch die Luft gerissen. Dann klatscht er mit dem Schädel in ein Wasser.

Dort bleibt er einen Augenblick unbeweglich. Jetzt wird ihm kühler, und das ist gut. Der Druck hebt sich von der Stirn. Ihm wird plötzlich wieder klar, was er hier unten sucht. Ich muß die Protzen holen, sonst ist die ganze Batterie verloren! Das sagt er halblaut vor sich hin. Er wundert sich darüber, wie er mit sich selber redet. Er lacht einen Augenblick. Dann steht er auf und läuft weiter.

Dicht vor den brennenden Häusern sieht er an eine rauchende Mauer geklemmt Wachtmeister Hollert. Er stürzt auf ihn los und schreit: »Protzen ran!« Hollert erschrickt. Da fügt Reisiger hinzu: »Herr Wachtmeister, vom Dritten Geschütz alle tot außer mir.« Dann bricht er zusammen. Er hört neben sich den Galopp von Pferden und das Gerassel von Wagen.

20

Meldung des Oberstabsarztes Dr. Dülberg an F.A.R. 96:

Im Dorf Farbus fand ich gestern den 11. Mai 7,15 Uhr den Kanonier Adolf Reisiger 1/96. Identität aus Soldbuch und Erkennungsmarke.

Ich stellte fest: Rock vorn zerrissen, blutig. Auf Brust handtellergroße blutig suggillierte Stelle rechts 3.-8. Rippe. Einschußöffnung nicht vorhanden. An Mund und Nase geronnenes Blut. Puls klein, Frequenz 130. Ohne Bewußtsein.

R. lag vor einer brennenden Lazarettstation, die verlassen war, da heftiges Art.-Feuer zur Räumung des Dorfes gezwungen hatte. Ich habe R. auf mein Pferd genommen, ihn später aber, da mein Pferd abgeschossen wurde, vorbeifahrendem San.-Auto zur Einlieferung ins Feldlazarett übergeben.

21

Meldung von 1/96 an Regiment:

Verluste am 11. Mai: Tot: zwei Offiziere, drei Unteroffiziere, 11 Mann. Verwundet: 4 Mann. Vermißt: ein Mann.

22

Der Feind vor uns scheint nur über einige Divisionen zu verfügen. Wir sind viermal so stark als er und haben eine Artillerie, so furchtbar, wie sie noch nie auf einem Schlachtfeld erschienen ist. Es handelt sich heute nicht mehr darum, einen Handstreich zu wagen oder einen Graben zu nehmen. Es handelt sich darum, den Feind zu schlagen. Darum gilt es, ihn mit äußerster Heftigkeit anzugreifen und mit einer unvergleichlich zähen Erbitterung zu verfolgen, ohne uns um Ermüdung, Hunger, Durst oder Leiden zu kümmern. Nichts ist erreicht, wenn der Feind nicht endgültig geschlagen wird. So möge denn jeder – Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten – davon überzeugt sein, daß das Vaterland von dem Augenblick an, wo der Befehl zum Angriff gegeben, bis zum endgültigen Erfolg, jede Kühnheit, jede Kraßanstrengung und jedes Opfer von uns fordert. Der Kommandierende General des XXXIII. Armeek., gez. Petain


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