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Erster Teil

Erstes Kapitel

1

Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw. verordnen auf Grund des Artikels 68 der Verfassung des Deutschen Reiches, was folgt: Das Reichsgebiet, ausschließlich der Königlich bayrischen Gebietsteile, wird hierdurch in Kriegszustand erklärt. Diese Verordnung tritt am Tage ihrer Verkündigung in Kraft. Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrücktem Kaiserlichen Insiegel.

Gegeben Potsdam, Neues Palais,
den 31. Juli 1914

Wilhelm I. R.
von Bethmann Hollweg

Mobilmachung

Ich bestimme hiermit:

Das Deutsche Heer und die Kaiserliche Marine sind nach Maßgabe des Mobilmachungsplans für das deutsche Heer und die kaiserliche Marine kriegsbereit aufzustellen.

Der 2. August 1914 wird als erster Mobilmachungstag festgesetzt.

Berlin, den 1. August 1914

Wilhelm I. R.
von Bethmann Hollweg

Deutsche Kriegsfreiwillige

Auf Grund des § 98 der Heer- und Wehrordnung kann sich jede Persönlichkeit, die ihrer Dienstpflicht noch nicht genügt hat, bei Ausbruch der Mobilmachung einen Truppenteil (Ersatzbataillon usw.) nach Belieben wählen. Wenn er dies nicht tut, wird bei der bald einsetzenden Aushebung über ihn verfügt. Als Kriegsfreiwillige können sich solche Leute bei einem Ersatztruppenteil melden, die keine gesetzliche Verpflichtung zum Dienen haben, ferner jugendliche Personen zwischen 17 und 20 Jahren, soweit sie sich nicht in solchen Bezirken aufhalten, in denen der Landsturm aufgeboten wird. (1. August 1914.)

2

Der Student Adolf Reisiger, geb. am 1. April 1893 zu Henthen, ist heute militärisch auf seine Militärdiensttauglichkeit untersucht worden.

Befund: Größe 1,72

Brustumfang: 78/87

Fehler: H B 85

1 A 55 links

1 A 75 Plattfüße

H = 1

S = mit – 66/6

Tauglich.

Dr. Jakowski, 16. Aug. 14
Kgl. Preuß. Feldartill.-Reg. 96/Ersatz-Abtg.

3

Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches

Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, daß die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewußtsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist lebt nicht nur in Preußen, sondern ist derselbe in allen Landen des Deutschen Reiches. Er ist der gleiche in Krieg und Frieden. Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur in Deutschland. Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche »Militarismus« erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes. – Berlin, den 16. Oktober 1914.

4

An den Kriegsfreiwilligen Adolf Reisiger
F.A.R. 96
Regimentsstab

Feldpost
23. Oktober 1914.

Mein lieber Junge! Nun bist Du schon eine Nacht und einen Tag von uns fort. Und wenn diese Zeilen Dich erreichen, wirst Du vermutlich längst am Feinde sein. Wir wissen ja nicht, wie lange der Krieg dauert, und ich hätte es ja am liebsten gesehen, wenn ich Dich nicht mehr hätte herauslassen müssen, aber ich muß ja andererseits verstehen, daß es für Euch junge Menschen keine Ruhe gibt, und ich kann nur wünschen und hoffen, daß Du gesund zurückkehrst.

Mir ist der Abschied gestern doch sehr schwer geworden. Natürlich ist das alles anders, wenn man wie gestern auf dem Bahnhof von dem Gedanken getröstet wird, daß ich ja nicht die einzige Mutter bin, die ihr Kind jetzt an den Feind schicken muß.

Und dann hatte ich den Eindruck, daß Du mit Deinen Kameraden auch sehr vergnügt im Zug gesessen hast. Wir sind, als der Zug fort war, auch gleich nach Hause gefahren, weil Vater noch zu tun hatte. Ich habe aber fast gar nicht schlafen können. Du weißt ja, daß von unserer Wohnung aus der Lärm, der vom Bahnhof kommt, nachts sehr laut zu hören ist, und das war in der vorigen Nacht besonders schlimm. Ein Transportzug nach dem anderen rollte nach dem Westen. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, wo diese großen Massen von Soldaten, die Deutschland jetzt auf die Beine bringt, alle herkommen, und wie dieser ganze Betrieb funktioniert.

In der Zeitung stand gestern Abend von besonders heftigen Kämpfen nordwestlich und westlich von Lille. Du wirst verstehen, daß ich mit großer Sorge daran denke, ob Euer Transport am Ende nicht gerade dort ausgeladen wird.

Vater habe ich heute morgen nur kurz gesprochen, aber er läßt Dir sagen, daß er sehr stolz darauf ist, seinen Jungen nun auch im Feld zu wissen. (Ich hätte lieber, Du könntest weiter studieren.) Ich sprach übrigens heute Mittag den Bürgermeister. Alle meinen, daß der Krieg bestimmt noch vor Weihnachten zu Ende ist.

Bitte schreib, sowie Du diese Zeilen bekommen hast, und vergiß nicht, daß Du mir versprachst, jeden Tag ein Lebenszeichen zu schicken.

In Liebe

Deine Mutter

5

Der Brief wurde dem Kriegsfreiwilligen Reisiger ausgehändigt, als er mit einem Ersatztransport das Stabsquartier des aktiven Regiments Feldartillerie 96 erreicht hatte.

Nachmittags kam man dort an.

Hundemüde wurde das Kommando in einen Garten getrieben und in zwei Gliedern aufgestellt, die Front zu einer großen weißen Villa; auf der Veranda saßen Offiziere beim Kaffee.

Wo ist denn nun der Krieg, dachte Reisiger. – Sind wir jetzt an der Front? Vor zwei Tagen mußten wir unsere Waggons verlassen, weil die Züge nicht weiter fahren durften. Dann: Fußmarsch, durch zertrümmerte Dörfer. Dann: des nachts, in der Scheune, dumpfes Zittern in den Ohren: Hört ihr, da wird geschossen. – Und nun? Die Offiziere in Litewka, ohne Waffen? Und wo sind die Geschütze? Wo ist der Feind?

»Stillgestanden! Augen – rechts!«

Ein älterer Offizier kommt die Treppe der Veranda herab, jüngere folgen ihm. Aha, der Regimentskommandeur. Hinter ihm, ein dickes Notizbuch vor der Brust, die Wachtmeister der Batterien.

Jetzt wird man uns begrüßen, denkt Reisiger. Als Nachschub, als Kameraden, die den Kämpfenden zu Hilfe kommen.

Nein. – Der Kommandeur läßt rühren, steckt sich eine Zigarette an, besieht sich die Neulinge prüfend. Aber er sagt nichts. Kein Wort. Er winkt schließlich mit der Hand. »Also los, die Batteriewachtmeister!«

Was jetzt geschieht, gleicht einer Auktion überflüssiger und lästiger Waren. Die Wachtmeister gehen die Front ab, durchmustern die Reihe, tippen dem einen und anderen vor die Brust: »Sie kommen zur Ersten Batterie.« – »Sie kommen zur Vierten.« – »Sie kommen zur Leichten Kolonne.«

So geht das hin und her, unfreundlich, uninteressiert.

Reisiger sieht, daß alle Kriegsfreiwilligen bereits beschlagnahmt sind. Einer nach dem andern tritt aus der Reihe und stellt sich seitwärts auf, Nur er steht noch. Steht schließlich ganz allein.

Hat man mich vergessen? Ich habe mich doch freiwillig hierher gemeldet. Das ist doch nicht möglich, daß alle Wachtmeister einfach an mir vorüber gehen. Und die andern marschieren schon ab . . .

Der dickste der Wachtmeister steckt ihm den dicken Zeigefinger erst in den Rockkragen und dann in das Koppel: »Kriegsfreiwilliger, was? Man merkt’s.«

Reisiger schießt Blut in den Kopf. Bin ich denn ein Museumsstück? Alle grinsen mich an. – Er blickt in lauter fett lachende Gesichter. Muß schlucken, um seine Erregung zu verbergen.

Der dicke Wachtmeister gibt ihm einen Stoß vor die Brust: »Also gut, ich nehme dich mit. Vielleicht kann man doch noch einen Soldaten aus dir machen. Leichte Munitionskolonne 2, verstanden?«

Damit wendet er sich ab und redet mit dem Leutnant, der in der Nähe steht.

Reisiger hat zum erstenmal, seit er Soldat war, das Gefühl, ganz allein zu sein. Und viel zu jung und gänzlich hilflos. – Das ist also das Soldatenleben an der Front? Das ist die Kameradschaft vor dem Feind?

Er steht immer noch stramm und starrt gegen die weiße Villa.

Die Offiziere gehen gelangweilt auf die Veranda zurück. Der dicke Wachtmeister folgt ihnen.

Nach einer Weile erscheint ein bärtiger Soldat. »Na dann komm man, Kamerad«, sagt er. »Du nimmst den Karabiner. Ich trage deinen Tornister. So, ich gehe vorweg.«

6

. . . Ist nicht alles zugegangen, wie es in der Fibel steht? Der gute, noble, treue, deutsche Michel; der schwarze, niederträchtige Russe, der zu Unrecht den Ehrentitel Europäer führt; der Engländer, verdächtig zuwartend, und unten im Südosten der Balkane, der Bomben wirft, mordet und verrät: alles wie in der Fibel! Man kann das politisch bedauern, – aber muß man nicht ein Volk segnen, dafür, daß es sich aus Treue und Vertrauen betrügen ließ, heute in dieser mechanisierten Zeit genau wie vor Jahrhunderten? Keine ‚Kriegsbegeisterung‘, kein ‚Feuer‘, wie es die Romanen haben, nicht der Schwung immer beschwingter Seelen, – aber aus Zweifel und Mißbehagen aufbrechend ein Gefühl männlicher Abwehr, schlicht, nobel, lautlos beinahe, kühn – im höchsten Grade moralisch scheint mir der Antrieb zu sein, der dies schwer bewegliche Volk in solch unerhörte Bewegung trieb. (Emil Ludwig, »Der moralische Gewinn«. Berliner Tageblatt, 5. 8. 1914)

7

Standort der 2. L.M.K.: ein kleines Dorf südlich Arras. Reisiger tritt mit seinem Kameraden aus dem Garten des Stabsquartiers auf die Straße.

Hier ist kein Krieg. Kinder und Frauen laufen herum, sitzen vor den Haustüren, lachen die beiden Soldaten an, grüßen mit deutschen Brocken »gutten Ahm.«

»Hier wird’s dir schon gefallen. Bei uns ist ein ganz anständiges Leben«, sagt der Kamerad zu Reisiger. »Na, du wirst schön müde sein. Erstmal ordentlich pennen.« Dann erzählt er. Daß er seit Anfang hier draußen ist. Und berichtet von seiner Familie. Er sei Bierkutscher, aus dem Harz. Franz Zeitler sei sein Name. Ja, und vor der Mobilmachung habe er zwei Pferde gehabt, von einer Brauerei, Prachttiere. Und daß er sich von denen habe trennen müssen, sei schlimmer gewesen als von Frau und den fünf kleinen Kindern. »Die Alte hat den ganzen Tag gekeift. – Na, hier haben wir Ruhe. Der Krieg hat schon sein Gutes.«

Er schiebt Reisiger in einen Hauseingang. »Hier ist unsere Wohnung.« Er öffnet die Tür: »Das war früher die Schule.«

Ein weißgekalktes großes Zimmer, mit einer schwarzen Tafel an der Wand. Schulbänke fehlen. In der Mitte steht ein Tisch, um ihn herum einige Stühle und große Kisten. Dahinter noch das Katheder auf einem hohen Podest. Im Zimmer zwei Soldaten.

Reisiger schloß die Tür, sagte »Guten Abend.«

Niemand antwortete. Die beiden sahen nicht einmal vom Tisch auf. Sie hatten Feldbecher vor sich, und Papier mit Wurst, und aßen ihr Abendbrot.

Jeder hatte ein Messer in der Hand, mit dem Wurst und Brot in Würfel geschnitten und dann in den Mund geschoben wurden.

Reisiger spürte eine hilflose Müdigkeit. Außerdem fühlte er rote Hitze im Gesicht. Verlegen: was soll ich denn jetzt tun? Noch einmal guten Abend sagen? Oder mich vorstellen? Oder jedem einfach die Hand schütteln?

Da bekam die stumme Gesellschaft plötzlich Bewegung.

Zeitler hatte aus einer Zeitung ein großes fettes Stück Schweinefleisch gewickelt und es vor sich hingelegt. Das erschütterte. Die drei Schweigsamen erwachten aus ihrem Dämmern.

»Franz, du machst ja wieder richtig Fettlebe«, sagte der eine.

»Franz hat ne neue Braut, man merkt’s«, sagte der zweite.

Zeitler blähte sich auf, strich seinen Bart: »Tja.« Er schnitt einen langen Fettstreifen ab und zog ihn mit blanken Lippen in den Hals.

Er schluckte und leckte sich die Finger ab. Dabei bemerkte er, daß Reisiger noch immer keine Anstalten machte, auch sein Abendbrot auszupacken. »Nanu, hast du keinen Kohldampf?« fragte er. Dann: »Mensch, wir haben vergessen, für dich Verpflegung abzuholen. Die gab’s ja beim Regiment!« Er sprang auf. »Aber sei man friedlich, Pappa hat’s ja.«

Er holte eine zweite Schachtel. Nahm eine Wurst heraus. »So, nun hau feste rein, wir sind ja hier nicht bei armen Leuten. Da ist Brot; nun papp.«

Reisiger taute auf vor dieser Freundlichkeit. Er aß. Er aß ohne aufzusehen. So gut hatte es ihm lange nicht geschmeckt.

Inzwischen hatten die andern die Reste ihres Essens wieder sorgfältig in Zeitungen gewickelt. Sie steckten sich Zigarren an und stützten den Kopf in die Hände. Und dann begann ein Verhör.

»Du bist wohl Student, was?«

»Ja.«

»Na, da wirst du bei unserm Wachtmeister wenig erben. Studierte hat er gefressen. – Ich bin Milchhändler.«

Der das sagte, hieß Julius Stöckel. Er sah aus wie ein Seehund. Hatte kleine schwarze Borsten auf dem Kopf, einen langen herabhängenden schwarzen Schnurrbart, verschmitzte kleine Augen, die lustig umherblickten. Er schien der Witzbold des Quartiers zu sein. Im Laufe der Unterhaltung wurde er immer lebendiger und erzählte schließlich bis in alle Details seine Ehegeschichte. Bei Stellen, die ihm besonders komisch vorkamen, schlug er jedesmal knallend auf Reisigers Schenkel oder kratzte sich mit dem offenen Taschenmesser, mit dem er vorher gegessen hatte, leidenschaftlich den Kopf.

Sein Hauptpartner war Robert Strümpel, ein Bäckermeister, mit wasserhellen Augen; blaß, aufgeschwemmtes Gesicht.

Der tat fein. Mit jedem Wort betonte er den Standesunterschied zwischen sich und einem gewöhnlichen Milchhändler. Sein hannoverscher Dialekt half ihm dabei. Das Wichtigste, was er Reisiger zu erzählen hatte, war die Geschichte seiner Kriegstrauung. Rührend. Wenn man ihm auch nur fünfzig Prozent Glauben schenkte, so hatte man immerhin das gute Recht, sich auszumalen: der Bäckermeister habe seine Frau so ungefähr aus einem regierenden Fürstenhaus geholt, und nun tummele sich dieses zarte Mädchen trotz Kriegszeiten und trotz der Aufsicht über die Bäckerei Tag und Nacht in seidenen Hemdchen.

Und Zeitler? Wie er Strümpels plastische Erzählung ungeduldig bis zu Ende angehört hatte, fühlte er sich animiert. Bei ihm sei ein anderer Ton üblich. Er habe eine »Zanktippe« zur Frau. Ein dolles Biest. Einmal täglich müsse sie Prügel haben, sonst sei nicht mit ihr auszukommen. Aber dann lebe eine Schwägerin bei ihm. Eine Schwägerin, schön wie die Sonne! Na und so.

Erst als die Kerze auf dem Tisch im Stearinsee unterzugehen drohte, stand Zeitler auf. Zeit, schlafen zu gehen!

Für Reisiger eine neue Ratlosigkeit: Wie geht man hier im Felde schlafen? In der Garnison hatten sie gelernt, daß der Soldat vor dem Feind zum mindesten Rock und Stiefel anbehält und auch das Koppel nicht abschnallen darf.

Ja, und nun? Er beobachtete die andern.

Sie dachten nicht daran, sich an die Vorschriften zu halten. Den Rock hatten sie ja schon vor dem Essen abgelegt. Jetzt zogen sie die Stiefel aus und hängten sie sorgfältig an Nägeln auf, die am Kopfende in die Wand geschlagen waren. Dann wurde bei jedem Platz auf das Stroh ein Woilach gebreitet. Und als alle laut schnaufend sich darauf ausgestreckt hatten, wickelten sie sich mit einem zweiten ein.

Reisiger hatte nur eine Decke aus der Garnison mitbekommen. Sollte er sich also ins bloße Stroh legen? – Aber Zeitler hatte auch jetzt einen Rat. »Du, Reisiger, morgen klaue ich für dich einen pikfeinen Woilach. Heute werden wir einfach beide unter meiner Zudecke liegen. Komm, hau dich hin.«

Reisiger zog sich die Stiefel aus. Seit fünf Tagen das erstemal; die Füße brannten. Aber er fühlte sich wohl, als er lag. Es war nur etwas ungewohnt, mit einem fremden Menschen unter einer Decke.

Er schlief trotzdem schnell ein.

Einmal in der Nacht wachte er auf, lauschte. Er hörte in der Ferne ein dumpfes Grollen. Dazwischen ab und zu ein etwas helleres Geräusch . . . . Er war sofort wach. Er hätte sich gern aufgerichtet. Aber er wollte Zeitler nicht stören! Das ist der Krieg und da muß die Front sein, dachte er. Eine intensive Sehnsucht überkam ihn, nach vorn, nach vorn! Als sich nach einigen Minuten dieses dumpfe Grollen immer noch nicht gelegt hatte, überwand er alle Scheu, schob leise die gemeinsame Decke beiseite und tastete sich zum Fenster, dessen Kreuz schwarz gegen den Himmel stand. Draußen war nichts zu sehen.

Schließlich stieg er auf die Fensterbank. Da blitzte der Horizont von Zeit zu Zeit in einem rötlichen Licht auf, war manchmal von weißen breiten Streifen beschienen.

Lange stand Reisiger da oben.

Erst als die Kälte ihn schüttelte, kroch er ins Stroh zurück.

8

Unser Kronprinz telegraphiert um Rum!

12 Tassen guter Tee mit Rum im Feldpostbrief, 15 solche postfertige Feldpostbriefe zum Wiederverkauf. 1 Postkollo M. 9.–.

Thür. Ess.-Fabrik, Berlin.

(Berliner Tageblatt, 30. 9. 14.)

9

Am nächsten Morgen beginnt der Dienst. Und rollt Tag für Tag nach gleichem Schema.

Bald nach dem Kaffeetrinken wird Appell abgehalten. Er besteht meistens darin, daß man zehn Minuten wartet, bis der Wachtmeister erscheint; dann werden Beschäftigungen für den Vormittag eingeteilt, vor allem das tägliche Waschen des Munitionswagens. Dieser Wagen wird zwar nie von der Stelle bewegt und hat infolgedessen auch keine Möglichkeit, schmutzig zu werden, aber das ist gleichgültig. Von zehn bis eins wird er mit Eimern von Wasser übergossen und mit Putzlappen, die am Abend vorher ausgekocht werden müssen, auf das sorgfältigste abpoliert. Und wenn endlich einmal durch den vielen Wassergebrauch an irgendeiner Stelle die graue Farbe abgerieben ist, dann wird sie feierlich durch eine neue graue Farbe ersetzt, die man in weiteren acht Tagen von zehn bis eins täglich mit weiteren Eimern von Wasser behandelt, abreibt und durch neue ersetzt. Das nennt man Dienst.

Reisiger wurde täglich deprimierter. Soldat? Kriegsfreiwillig?

10

Der Reichskanzler eröffnete die Verhandlungen mit einer kurzen Ansprache. Er begrüßte die Kommission und bezeichnete die Kriegslage auf beiden Fronten als durchaus günstig. Er wolle heute nur diese kurze Erklärung abgeben, da er morgen im Plenum ausführlichere Mitteilungen machen wolle. Natürlich bleibe noch viel zu tun übrig. Er hoffe, daß der Reichstag wieder volle Einmütigkeit zeigen werde, da gerade diese Einmütigkeit am geeignetsten sein werde, die Truppen zu weiteren höchsten Kraftanstrengungen anzufeuern.

Der Reichskanzler trat durchaus zuversichtlich auf. Freilich wies er auf die Möglichkeit einer längeren Kriegsdauer hin und riet dem deutschen Volke, beizeiten den Schmachtriemen anzuziehen. Aber er gab zugleich seiner festen Überzeugung auf den endlichen Sieg Ausdruck. Sein dringender Wunsch war es, daß die Einigkeit des Reichstages auch diesmal in die Welt leuchten möge. (Vossische Zeitung Nr. 611, 1. 12. 1914.)

11

Kriegsministerium 2. 2. 14. Nr. 4141/14 G.K.M.

Die Wiedergabe der Ausführungen des Reichskanzlers in Vossischer Zeitung Nr. 611 vom 1. 12. 14, betr. Dauer und Folgen des Krieges, ist entstellt und beruht auf grobem Vertrauensbruch, Weiterabdruck und Erörterungen dazu unterdrücken. Exemplar der Zeitung Nr. 611 beschlagnahmen.

12

Die im Auftrage Seiner Majestät des Kaisers von dem Reichskanzler geleitete auswärtige Politik darf in dieser kritischen Zeit, die über ein Jahrhundert entscheidet, durch keine offene und versteckte Kritik gestört und behindert werden. Zweifel an ihrer Festigkeit zu äußern, schadet dem Ansehen des Vaterlandes. Das Vertrauen in sie muß gehoben und darf ebensowenig erschüttert werden, wie das Vertrauen in die militärische Führung.

(Zusammenstellung von Zensurverfügungen des Kriegsministeriums, des Stellv. Generalstabs u. d. Oberzensurstelle des Kriegspresseamts Berlin, Leitsätze, zu Nr. 3620/14 g. A. 1)

13

Gegen die Schwarzseher

Der stellvertretende kommandierende General des 7. Armeekorps v. Gayl veröffentlicht in den Zeitungen seines Korpsbezirks eine Mahnung zum Ausharren und Vertrauen. »Ist es wahr«, fragt er, »daß dieses Vertrauen hie und da zu wanken beginnt? Daß Schwarzseher am Werke sind, um in ihren Kreisen flau zu machen und die frohe Zuversicht zu dämpfen?« Und er gibt darauf folgende Antwort:

»Sollte das so sein, dann mag es mit aller Deutlichkeit gesagt werden: Weder jetzt noch je haben wir irgendwelche Ursache, in dem Vertrauen auf den glücklichen Ausgang des Krieges uns beirren zu lassen. Vor 44 Jahren hat unser Schwert sieben Monate nicht gerastet; heute aber sind die Verhältnisse der Kriegsführung, die Zahl der Kämpfer, die Ausdehnung der Fronten ins Ungemessene gewachsen. Und Feinde ringsum! Die Abrechnung mit ihnen, an der uns treue Verbündete helfen, ist aber wahrlich im besten Gange. Im Sturme haben wir, dem Gebote der Notwehr folgend, Belgien erobert; unsere Truppen stehen unbezwinglich in Ost und West auf fremdem Boden, unsere Schiffe sind der Schrecken der Feinde. Ein Krieg freilich, in dem jeder Tag einen neuen Sieg brächte, in dem es keinen Wechselfall, keinen Rückschlag gäbe, wäre in der Tat ein merkwürdiger Krieg! Die beste Gewähr für einen glücklichen Ausgang ist der herrliche Geist unserer Truppen. Je näher am Feind, desto stürmischer ihr Kampfesmut, ihre Begeisterung, ihr Wille zum Siege. Und unter uns, die wir hinter der Front wie im Schatten des Friedens leben, sollte einer verzagen? Tue ein jeder in erhöhtem Maße seine Pflicht und helfe er vor allem wirtschaftlich mit an der Stärkung unserer Kriegsrüstung: dann dürfen wir alle mit fester Zuversicht auf den Sieg unserer guten Sache hinübertreten ins neue Jahr! Gott schütze Kaiser und Reich!«

General v. Gayl hat mit seiner Aufforderung zur Festigkeit durchaus recht. Aber vielleicht wäre diese Predigt gegen die Flaumacher nicht nötig gewesen, wenn sich einzelne Kreise beim Beginn des Krieges in der Verteilung von Vorschußlorbeeren etwas größere Zurückhaltung auferlegt hätten.

14

Die Verbreitung unwahrer Siegesnachrichten strafbar

Das Generalkommando des 10. Armeekorps teilt dem »Hann. Courier« mit: Verschiedene Vorgänge in der letzten Zeit machen es notwendig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß auch Ausstreuungen und Verbreitungen nicht erweislich wahrer Siegesnachrichten unter die Strafbestimmung der Bekanntmachung vom 15. Nov. 1914 fallen. Sie sind im hohen Grade geeignet, die Bevölkerung zu beunruhigen und das Vertrauen in die oberste Heeresleitung zu erschüttern. Gegen die Urheber solcher falscher Nachrichten wird unnachsichtlich vorgegangen werden; sie werden, wenn die Gesetze nicht eine höhere Freiheitsstrafe bestimmen, mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft. Die Verhängung einer Geldstrafe ist ausgeschlossen. In mehreren Fällen ist ein Strafverfahren bereits eingeleitet. (Berliner Tageblatt, 29. 12. 1914)

15

Restaurant »Central-Hotel«
Silvester-Feier
Beginn des Festessens 9 Uhr
Speisenfolge:
Austernpastetchen
Klare Schildkrötensuppe in Tassen
Lendenschnitten mit verschiedenen Gemüsen
Holländer Hummer, kalt, mit Tiroler Tunke
Junge Pute mit Kastanien gefüllt
Escarolsalat und Dunstobst
Berliner Pfannkuchen
Käsebissen – Näschereien
Überraschungen

(Inserat vom 31. 12. 1914)

16

Circus Alb. Schumann
Bei kleinen Preisen
Ost und West
Großes patriotisches Schaustück aus der Gegenwart
in 4 Akten
1. Akt. Die Russen in Galizien
2. Akt. Deutsche in Belgien
3. Akt. Unsere Helden in Frankreich (Kriegsepisoden)
4. Akt. Angriff auf eine Festung
Die phänomenale Schluß-Apotheose
400 Mitwirkende. 2 Musikkapellen. Sängerchor

(Berliner Tageblatt, 27. 12. 1914)


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