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Der ändert durchaus nichts an seinem Gesicht, an seiner Haltung, an seinen Manieren, an seiner Ausdrucksweise.
Ab uno disce omnes.
(Zu deutsch. Wer einen Hahnrei kennt, kennt alle)
Wollet ihr euch einen Begriff von der unaufhörlichen Bewegung der Menschenmasse machen, welche, um Paris zu sehen, kommt, sich aufhält, hin- und herfährt und wieder abzieht, von der zahllosen Menge Ausländer, Provinzler, Landleute, die sich nach der Hauptstadt Frankreichs verfügen, weil sie für die Einen der einzige Ort ist, wo sie ihr Glück machen können, für Andere die einzige Stadt, wo man auf angenehme Weise sein Vermögen verzehren kann, (für diese Alle ist nämlich Paris das achte Weltwunder, welches sie schon darum kennen lernen wollen, weil es den Meistern von ihnen allzu schwer werden würde, die sieben andern zu sehen) so gehet zu den großen Eilwagen-Anstalten in der Straße Notre-Dame des Victoires und ihr werdet eine Vorstellung von der endlosen Bewegung des Kommens und Gehens erhalten, ihr werdet Personen von jedem Stand, jedem Alter, jedem Rang zu Gesicht bekommen.
In der Regel langen die Gesichter hoffnungstrahlend an und reisen oft langgezogen und traurig wieder ab; denn wenn Paris der Sitz der Täuschungen ist, so ist es zugleich auch der der Enttäuschungen.
Man findet dort nicht, was mau zu finden hoffte; die Tauben stiegen nicht gebraten in den Mund der naiven Provinzler, welche in den Straßen umherlaufen, große Augen machen, und dabei seufzen, daß nicht Alles ihnen gehört, was sie bewundern.
In derselben Straße findet man auch die Eilwagen der Compagnie von Lafitte und Caillard nebst vielen andern Beförderungsunternehmungen, auf denen man zuweilen sehr weit fahren kann, wenn man nämlich nicht umgeworfen wird – was indeß ein Ereigniß ist, auf das sich jeder Reisende gefaßt machen muß.
Man kann keine fremden Länder sehen, ohne daß es Einen Etwas kostet.
Weltanschauung und Erfahrung erwirbt man nicht ungestraft; das Touristenmetier ist gefährlich.
Kehren wir zu den großen Eilwagen-Anstalten zurück! Denn hier gibt es komische Scenen, interessante und originelle Gruppen und Bilder die Menge.
Man kann keine zehn Minuten daselbst verweilen, ohne eine anziehende Beobachtung in den Kauf zu bekommen.
*
Vorerst also stellet euch einen unermeßlichen, bei Weitem mehr langen als breiten Hof vor, der von der Straße Montmartre bis in die Straße Notre-Dame des Victoires läuft.
Längs beider Seiten hin befinden sich die Bureaus, wo man sich Plätze bestellen kann, wenn nämlich noch einer übrig ist an den Ort, wohin man sich begeben will; denn das ist nicht immer der Fall.
Man reist heutzutage gar viel, nicht nur in Geschäften, sondern auch zum Vergnügen oder auf ärztlichen Befehl.
Wenn die Aerzte nicht mehr wissen, was sie ihren Patienten geben sollen, so schicken sie sie bekanntlich auf Reisen ... häufig als Vorschmack der letzten, längsten Reise.
Wenn ihr in den unermeßlichen Eilwagenhof von der Straße Notre-Dame des Victoires her eintretet, so gehet ihr unter einem Bogen durch, ihr habt sogar die Wahl unter drei Bogen: da jedoch die Wagen nur durch den mittleren fahren können, so find die Fußgänger gewöhnlich so frei, sich mit den beiden andern zu begnügen.
Rechts befindet sich die Verwaltung; ganz daneben sieht man das Bureau der Auszahlungen: ein reizendes Bureau, wo man fast niemals ein trauriges Gesicht trifft, wo man entzückt ist, Geschäfte zu haben.
Denn die Eilwagen dienen nicht bloß zur Personenbeförderung, sie belasten sich auch mit den berühmtesten Produkten der Landstriche, durch die sie kommen. Endlich führen sie das Geld spazieren, das, glücklicher als die Lebensmittel, stets unverdorben anlangt.
Euer Vater, euer Oheim, euer Pathe dürfen euch kecklich Geldrollen schicken, das macht euch wenigstens eben so viel Vergnügen, als eine Pastete, und braucht keine lange Ueberlegung.
Wenn ihr von der Straße Montmartre in den Hof eintretet, so gehet ihr vor dem Kaffeehaus für Reisende vorüber, und gegenüber bemerkt ihr die Rauchanstalt für Reisende, denn man bläst bisweilen Wolken aus, wenn man in Paris anlangt, und öfter noch, wenn man es verläßt.
Durch ein stets offenstehendes Gitterthor tretet ihr in den Eilwagenhof.
Eben sind einige Wagen angekommen und andere im Begriff, abzufahren.
Habt ihr euch, statt bloß Beobachter, Pflastertreter oder Vorübergehender zu sein, mit der Absicht dahin begeben, eine Diligence zu nehmen, so schauet ihr rings um euch: ihr suchet das Bureau, an welches ihr euch wenden müßt.
Die Mauern sind mit so viel Städtenamen überkleistert, daß euch die Augen vergehen; ihr verlieret jeden Anhaltspunkt und seufzet: »Mein Gott! wie soll ich den Ort finden, wohin ich reisen will? Und doch darf ich mich nicht irren, ich habe keine Lust, mich dahin führen zu lassen, wohin mich kein Geschäft ruft.« Eine Nachlässigkeit, die nur zu oft beiden Stadtomnibus vorkommt; aber in einem Eilwagen könnte das Quidproquo zu weit führen.
Ihr entschließt euch, in das nächste beste Bureau hineinzugehen. Ihr tretet höchst artig zu einem Angestellten vor, der gar nicht zu bemerken scheint, daß ihr ihn mit einem graziösen Lächeln beglückt; dessen ungeachtet spielet ihr den Angenehmen, indem ihr zu ihm saget: »Mein Herr, ich wünschte nach Saint-Malo zu reisen.«
Der Angestellte antwortet, ohne euch anzusehen: »Saint-Malo? West ... Straße nach der Bretagne.«
Ihr wußtet sehr gut, daß Saint-Malo auf der Straße nach der Bretagne liegt, und die Antwort dieses Herrn bringt euch um kein Haar breit weiter, aber der Commis scheint so sehr in Anspruch genommen und so einsilbig, daß ihr keine Frage weiter an ihn wagt.
Glücklicher Weise hat ein Lastträger, der eben Päcke bringt, Mitleiden mit eurer Verlegenheit; er nähert sich euch und sagt: »Sie sind hier auf der Straße nach Italien; gehen Sie dorthin ... weiter unten werden Sie gleich das rechte Bureau finden.«
Ihr danket dem Manne und befindet euch wieder in dem Hof. Da man euch sagte, ihr würdet es gleich finden, so tretet ihr in das nächste Bureau, das ihr bemerket, ein, und bringt eure Phrase bei einem Angestellten an, der noch viel beschäftigter aussieht als der andere.
»Mein Herr, ich wünschte einen Platz nach Saint-Malo.«
Diesmal sieht euch der Commis mit höhnischer Miene an und entgegnet: »Saint-Malo ... West ... auf der Straße nach der Bretagne.« Dann bedient er andere Reisende und bekümmert sich nicht mehr um euch.
Jetzt fanget ihr an, in eine peinliche Stimmung zu gerathen; ihr hättet sehr Lust, zornig zu werden, wenn es euch voran hülfe, nun aber begnügt ihr euch, aus dem Büreau hinauszugehen und zornig mit dem Fuße zu stampfen, in der Hoffnung, daß dies den Angestellten ärgern werde; dieser aber hat es nicht einmal bemerkt.
Ihr kehrt in den Hof zurück, indem ihr vor euch hinmurmelt: »Da stehe ich, fest entschlossen, nach Saint-Malo zu reisen ... aber wie soll ich die Straße nach der Bretagne mitten unter diesen Wagen, Reisenden und Packen entdecken?«
Die Schrift sagt: »Suchet, so werdet ihr finden.«
Indeß gibt es in der Welt eine Menge Dinge, die man niemals findet, wenn man sie noch so lange sucht. Lesen wir also Alles, was auf diesen Mauern angeschrieben steht.
Ihr höret damit auf, womit ihr hättet anfangen sollen; ihr leset und sehet auf einer Seite: Viertes Bureau, Osten, Deutschland.
Weiter entfernt ist das Bureau nach Ronen und Dieppe, welches mit den Dampfschiffen von Boulogne und Calais, die nach Dower und London gehen, in Verbindung steht.
Endlich, wofern ihr mit Aufmerksamkeit verfahret, begehet ihr keine Mißgriffe mehr: ihr findet das Bureau, wo ihr euer Billet löset, dann gehet ihr in den Saal für Reisende, um euch auszuruhen, und treffet dort in der Regel Niemand an, weil die Reisenden sich lieber in dem Hofe aufhalten, und zwar darum, weil er immer belebt und ergötzlich ist, dieser Hof, in dem Leute aus allen Theilen der Welt anlangen.
Dort ladet man das Gepäcks auf einen Wagen, der sogleich abgehen wird.
Bewundert ihr nicht die Behendigkeit und Kraft der Männer, welche die Koffer, die Säcke, die Pakete in den obern Raum bringen?
Diese Leute klettern auf die Decke eines Wagens wie das Eichhorn auf einen Baum.
Hier ist eben eine Diligence angelangt, die man von Allem, was den Reisenden angehört, entlastet.
Diese sind neben dem Wagen stehen geblieben; die Mehrzahl mit unruhiger, argwöhnischer Miene. Der Eine verlangt seinen Koffer, der Andere seinen Reisesack: er fürchtet, seine Effekten möchten sich verirrt haben, weil man ihn versicherte, daß in Paris sich Alles verirre.
Ein Anderer läuft einem Commissionär nach, der, ohne ihn um Erlaubniß gefragt zu haben, bereits seinen Koffer auf seine Schultern geladen hat und sich durch die Straße Montmartre mit seiner Last entfernt.
»Holla, Commissionär!« ruft der nacheilende Reisende; »wo lauft ihr denn mit meinem Koffer hin? So haltet doch! Ich habe euch Nichts fortnehmen heißen!«
Der Offiziant setzt seinen Weg fort, indem er antwortet: »Seien Sie ruhig, guter Herr, ich kenne die besten Hotels in Paris; ich werde Sie an einen Ort führen, wo Sie wie zu Hause sein sollen.«
Der Reisende, der zu Hause sehr schlecht versorgt ist, schreit: »Ich will nicht dorthin gehen ... ich will besser daran sein als zu Hause! ... Zudem werde ich mein Absteigequartier zuerst bei einem Freunde nehmen; also lasset meinen Koffer los.« – So will ich ihn zu Ihrem Freunde tragen. – »Aber das ist unnöthig; ich nehme einen Fiaker.« – Nun ja, so trage ich denselben in den Fiaker. – »Aber dazu brauche ich keinen Offizianten; das hätte der Kutscher besorgt.« – Ei, Herr, glauben Sie denn, die Kutscher von Paris tragen die Koffer? Dazu sind sie meistens zu stolz.«
Der Reisende mag sagen, was er will, er muß seinen Koffer von dem Commissionär tragen lassen, der ihn die Kreuz und Quere in der Straße umherführt, um ihm einen Fiaker zu suchen, den er ein Paar Schritte davon finden könnte, und ihm sein Gepäck nicht eher abläßt, als bis er ihn in einen Wagen geladen und eine sehr starke Belohnung dafür erhalten hat, daß er den Koffer wider den Willen seines Eigenthümers auf unnöthigen Umwegen spazieren trug.
Hier bemerkt ihr einen andern Reisenden, der den Commissionären glücklicherweise entronnen ist: unter dem einen Arm schleppt er zwei Reisetaschen, einen Nachtsack, eine Schachtel, einen Regenschirm, unter dem andern seine Frau, eine kleine Provinzialin mit sehr aufgewecktem Gesicht, welche überglücklich darüber erscheint, daß sie in Paris ist.
Sie zieht ihren Mann am Arme fort, indem sie sagt: »Nun, lieber Mann, sollen wir denn mit unsern Paketen in diesem Hofe stehen bleiben? Ich schmachte vor Begierde, Paris zu sehen, ich muß mich amüsiren ... ich will mich amüsiren; was machen wir denn hier?« – Aber, meine Beste, ich weiß nicht, in welchen Gasthof ich Dich führen soll; ich habe vergessen, mich zu erkundigen, wo wir gut aufgehoben sein würden. – »Und das seht Dich in Verlegenheit? Ei, mein Gott, fragen wir nach dem besten ... dem Hotel der Prinzen oder der Gesandten.« – Dazu, liebe Freundin, müßte ich die Apanage eines Prinzen oder die Gage eines Gesandten haben, denn Du weißt, daß ich meine Berechnungen nach bürgerlichem Fuße gemacht habe. Wir wollen zehn Tage in Paris zubringen ... und haben zu diesem Behufs täglich zehn Franken auszugeben, mit Inbegriff der Theater, der Fiaker, kurz aller Vergnügungen, die man sich in dieser Stadt machen kann: diese Summe scheint mir hinreichend, um sich sattsam zu erlustigen. Wir haben also hundert Franken in Paris springen zu lassen; mehr als diese Summe und was der Rückweg kostet, habe ich nicht zu mir genommen. – »Eben darum, mein Bester! Zehn Franken des Tags, das ist ja horrend! ... damit können wir ohne Anstand in den besten Gasthof von Paris gehen und leben wie unser Unterpräfekt!«
Der Mann läßt sich von seiner Frau beschwatzen, welche einem Commissionär befiehlt, ihnen den besten Gasthof zu zeigen.
Man führt das Paar in ein Hotel der Straße de la Paix.
Hier gibt man ihnen ein prachtvolles Zimmer, servirt ein kostbares Diner; des Abends verlangen die beiden Ehegatten einen Wagen, nehmen ein Paar Gläser Gefrorenes im Palais Royal und begeben sich sofort in die Oper.
Am andern Tage laßt sich der Mann, nach einem guten Gabelfrühstück, die Rechnung über sein seit gestern Verzehrtes geben, um zu erfahren, ob sie nicht vielleicht länger als zehn Tage in Paris bleiben könnten.
Die Ausgabe im Theater und Kaffeehaus miteingerechnet, findet es sich, daß bereits neunundneunzig Franken ihren Herrn gefunden haben. Der arme Ehemann muß schleunigst seine Pakete und seine Frau wieder unter den Arm nehmen und zwei Plätze in der Diligence bestellen, die noch am gleichen Tage von Paris abfährt.
*
Kehren wir mit dem Pärchen in den Eilwagenhof zurück.
Eine Dame und Kinder umringen einen aussteigenden Reisenden.
Man hielt Wache bis zu seiner Ankunft; man erwartete ihn mit Ungeduld. Kaum ist er aus der Diligence heraus, so drücken, umschlingen, umklammern ihn verschiedene Arme. Er empfangt die Liebkosungen seiner Frau und Kinder.
Glücklich Derjenige, dessen Rückkehr so viel Freude verursacht und der bei seiner Ankunft die Wonne auf allen Gesichtern leuchten sieht! Dieser muß die Glückseligkeit in Paris finden, denn es ist selten, daß man nicht selber das findet, was man Andern bringt.
Aber schauet dort in der Ecke jenen blassen, abgemagerten Mann mit traurigem und erloschenem Blick.
Sobald er aus dem Wagen stieg, hat er seine Augen rund umher geworfen: überall hat er gespäht, aber vergeblich. Niemand ist ihm entgegengekommen ... Niemand!
Seine Rückkehr ist also nicht ersehnt; wahrscheinlich sagt er sich das, indem er traurig seine Blicke zu Boden schlagt, und doch hat dieser Mann Frau und Kinder.
Man würde sich irren, wenn man sich einbildete, daß in dem Eilwagenhof alle Episoden heiter sein müssen; man weint dort auch, und dort sind die Thränen aufrichtig. Ost befindet sich daselbst eine Mutter, eine Schwester, eine Tochter, welche den Gegenstand ihrer innigsten Neigung bis au den Wangen begleiten und reichliche Thränen vergießen, wenn sie sich trennen.
Wann wird man sich wiedersehen?
Die Zeit der Rückkunft ist nicht immer gewiß und wer kann überhaupt für die Zukunft stehen?
Darum sagt Bérat in einem seiner hübschen Lieder, worin er das Wiedersehen am häuslichen Herde schildert:
»Oft sind zu einem längern Weg,
Die, die wir liebten, hingegangen,«
Leute, die über Alles scherzen, über Alles lachen, Alles in's Komische ziehen, begreifen nicht, wie man über die Trennung von seiner Frau oder seiner Tochter weinen kann, und da ihnen die Natur eine fühlende Seele für die schönsten Empfindungen des Herzens verweigert hat, so wissen sie nichts Besseres zu thun, als sich darüber lustig zu machen.
Aber neben diesen Spöttern von der sogenannten guten Gesellschaft werdet ihr noch Männer aus der großen Welt finden, die sich ihrer Rührung bei dem Abschied von einem geliebten Wesen nicht schämen, und so verkehrt man auch in Paris sein mag, die Zahl der Letzteren übersteigt doch noch die Zahl der Ersteren.
*
Viele Peitschenhiebe knallen, das Stampfen der Pferde, das Gerassel der Räder, das Hurrah der Postillone verkündet die Ankunft einer Diligence; die Diligence von Bordeaux fährt in den Hof ein. Eine neue Bewegung gibt sich kund und belebt das Gemälde.
Die Commissionäre eilen zu den Reisenden, um ihnen ihre Pakete abzunehmen; die Offizianten der Anstalt bringen Leitern herbei, um die Effekten abzuladen, und viele Leute vorher spazieren gehend oder auf steinernen Bänken sitzend, umgeben den Wagen.
Der Süden schickt nach Paris warme, lebhafte, eindrucksfähige Köpfe. Da ist ein Jüngling, der ohne Zweifel das Recht zu studiren kommt; sein erstes Wort beim Absteigen von der Diligence lautet: »Das Palais Royal? Wo ist das Palais Royal? Ich will es sogleich sehen.«
In dem Eilwagenhof fehlt es nicht an Menschen, welche sich des Neuangekommenen zu bemächtigen suchen, um seine Unerfahrenheit zu benützen und sich eine Zeitlang auf seine Kosten gütlich zu thun, indem sie seine Börse und sein Vertrauen ausbeuten. Glücklich noch, wenn es damit sein Bewenden hat, denn bei solchen eingefleischten Robert-Macaires liegt die Furcht sehr nahe, daß Einer, neben dem Aerger, von ihnen geprellt worden zu sein, auch sonst noch zu bedauern haben werde, ihren treulosen Lockungen nachgegeben zu haben; in Paris macht man leider Riesenschritte auf dem schlechten Pfade.
Jünglinge, die ihr in der Hauptstadt Frankreichs mit einem rechtschaffenen Herzen, einer glühenden Seele und dem für euer Alter so natürlichen Wunsche, die Vergnügungen von Paris kennen zu lernen, anlanget, mißtrauet jenen gefälligen Menschen, denen ihr im Eilwagenhof begegnet und die – sich stellend, als kämen sie so wie ihr eben erst in der Hauptstadt an – nicht ermangeln werden, auf einen Freund zu stoßen, der sich ihnen und euch zugleich zum Cicerone anbietet.
Diese Menschen und ihr Freund sind weiter nichts, als ein Paar Beutelschneider, welche bereits euern Reisesack beschnüffeln.
Vertrauet euch nur den Kommissionären zum Tragen eurer Effekten an, und dabei abermals nur denjenigen, welche das polizeiliche Zeichen haben.
Man sieht in den Eilwagen-Anstalten Gesichter aus allen Ländern; sie sind nothwendig das Stelldichein für alle Fremden die nicht mit der Staatspost anlangen.
Sie tragen noch die Anzüge ihrer verschiedenen Länder, aber natürlich etwas verschossen, zerknittert und verdorben durch die Reise. Den Stand und das Gewerbe einer Menge Personen kann man durch die bloße Betrachtung ihrer Haltung und Wendung herausfinden.
So werdet ihr eine Schauspielerin aus der Provinz, welche eine Anstellung in Paris zu suchen kommt, an ihrem mit alten Blumen, alten Federn und Bandschleifen überladenen Hut und an tausend kleinen Beimengseln erkennen, womit sie ihre Toilette verschönern zu müssen glaubt, die aber nur auf den Bühnen getragen werden und nicht einmal auf den Pariser Bühnen.
Der junge Mann, welcher seine Studien zu machen kommt, hat eine ganz passende Kleidung, eine ziemlich bescheidene Toilette, eine ehrliche und fast furchtsame Miene. Die Ermahnungen seiner Eltern schweben ihm noch in der Erinnerung vor; wenn ihr ihm aber in einigen Tagen begegnetet, würdet ihr ihn nicht wieder erkennen: Landpartieen, Rauchanstalten und die Weinkneipe bringen rasche und zum Unglück, vollständige Veränderungen hervor.
Sehet dort eine junge Person, die allein aus dem Wagen steigt: sie ist einfach, aber anständig gekleidet; ihr Gepäck besteht nur in einem kleinen Felleisen und sie hält in der Hand einen Brief, dessen Adresse sie betrachtet, um sich dieselbe zeigen zu lassen.
Armes junges Mädchen, das ohne Zweifel ein Unterkommen in Paris sucht und statt aller Mittel ein Empfehlungsschreiben besitzt. Möchte sie gut adressirt worden sein!
Schon nähert sich ein hübsches Herrchen, das einen Theil seiner Zeit in dem Eilwagenhof zubringt, um derartige weibliche Reisende auszukundschaften, der Jungfrau, und macht ihr den Vorschlag, sie an das Haus zu geleiten, das auf ihrem Briefe bezeichnet ist; aber fast in demselben Augenblicke eilt ein dicker Auvergnate, Commissionär bei der Eilwagen-Anstalt, gleichfalls herbei, indem er in seiner naiven Aussprache sagt: »Kommen Sie mit mir, Mamsellchen, ich zeige Ihnen den rechten Weg und führe Sie nicht an der Nase herum, wie dieser Herr thun könnte.«
Das schöne Herrchen sieht ergrimmt aus; er scheint dem Commissionär drohen zu wollen, dieser aber mißt ihn von oben bis unten und sagt: »O, ich fürchte Sie nicht! Nehmen Sie sich vielmehr vor mir in Acht. Schon lange beobachte ich Sie ... sobald Sie wieder einen Streich machen, werde ich Sie von dem Herrn Polizei-Commissär zwicken lassen.«
Wie er von dem Commissär sprechen hört, verschwindet der Herr, und das junge Mädchen entfernt sich mit dem Auvergnaten, dem sie für seinen Beistand dankt.
Ohne diesen braven Mann hatte in der That die Zukunft der jungen Person verloren sein können; denn in dem Leben eines Frauenzimmers hängt oft Alles von einer einzigen Unvorsichtigkeit ab.
Dort ist ein ungeheurer Engländer, der nach Paris eilt, um eine Menge Sachen zu verschlingen, die man in England nicht hat. Dieser Sterbliche übt gar kein Mitleiden an seinem Riesenbauch.
Aber hier, welches glückliche Angesicht, welche befriedigte Miene bei diesem noch jungen Herrn, der leicht aus der Diligence springt und schon Blicke voll Wonne um sich wirft!
Gewiß hat er eben eine bedeutende Erbschaft gemacht; er ist noch nicht an den Reichthum gewöhnt und will es versuchen, ihn in Paris durchzuschlagen. Man wird es ihm an Mitteln und Wegen dazu sicherlich nicht fehlen lassen.
*
Es ist noch nicht lange her, daß man in diesem Hofe unaufhörlich einem Manne von etwa vierzig Jahren begegnete, der armselig, aber nicht abgerissen gekleidet war.
Sein ganzes Wesen deutete eher auf Unglück und Kummer als auf Elend, denn in Paris ist das Elend mitunter lustig: es lacht unter seinen Lumpen, singt in den Dachkammern, und seine Sorglosigkeit scheint das Glück, das vor ihm flieht, und die Reichen, die es zurückstoßen, zu verhöhnen.
In Paris sind viele arme Philosophen, was ein großes Glück ist; Frohsinn und Gesundheit bildenden Reichthum Derer, welchen Reichthümer mangeln.
Kommen wir auf unsern Mann in dem Eilwagenhof zurück.
Sein blasses, langes Angesicht, seine eingefallenen Wangen und seine hohlen Augen, in welchen man nur ein unbestimmtes Hinstarren zu erkennen vermochte, flößten Interesse und Mitleid ein. Es war etwas Seltsames an ihm und man errieth leicht, daß dieser Unglückliche kein Pariser sei.
Um welche Stunde man sich auch in den Hof der Messagerien begeben mochte, man durfte darauf rechnen, dieses sonderbare Wesen zu finden. Auf einer Steinbank sitzend, den Kopf auf die Brust gehängt, schien der Mann in traurige Gedanken versenkt und sah von der ganzen Menschenfluth, welche ihn umwogte, Nichts, gar Nichts.
Sobald aber das Geräusch eines in den Hof einfahrenden Wagens zu seinen Ohren gelangte, stand er eiligst auf, näherte sich der Diligence und betrachtete jeden absteigenden Reisenden mit ängstlichen, suchenden Blicken.
Nach dieser Prüfung stieß er einen tiefen Seufzer aus und kehrte mit noch traurigerer Miene zurück, um sich auf die Steinbank zu setzen, auf der er zuweilen bis tief in die Nacht hinein verweilte.
Dieser Mann, dem man immer begegnete, mußte nothwendig die Aufmerksamkeit erregen und die Neugierde reizen. Fragte man die Angestellten der Anstalt, wer dieser unvermeidliche Gast sei, und welcher Beweggrund ihn alle Tage an den gleichen Ort zurückführe, so entsprachen diese mit folgender Erzählung: Eines Morgens hatte der Eilwagen von Bayonne diesen Mann, der damals gut gekleidet war, und so zufrieden als gesund aussah, in dem Hof der Messagerien abgesetzt. Von der Imperiale, wo er genistet hatte, herabsteigend, sah man ihn allerlei Luftsprünge und heitere Bewegungen machen, wobei er in einem Kauderwälsch, das man zuerst nur mit Mühe verstand, hernach aber als die Mundart der Bewohner von Nieder-Navarra erkannte, ausrief: »O, welches Vergnügen! Da bin ich ... endlich habe ich Bordeaux erreicht!«
Wie sich von selbst versteht, hatte sogleich Alles einander angesehen und war Jedermann in ein Lachen ausgebrochen, der hörte, daß der in Paris anlangende Reisende sich in Bordeaux glaube.
Sofort hatte man es sehr lustig gefunden, den Neuangekommenen nicht zu enttäuschen, sondern ihn vielmehr in seinem Irrthum zu bestärken.
Da es überall gute Seelen gibt, die sich ein Bene damit thun, Andere zum Besten zu haben, so hatte ein Quidam, der gleichfalls aus der Diligence gestiegen, aber sehr gut mit Paris, wo er zahlreiche Bekanntschaften hatte, vertraut war, sich alsbald dem Fremden genähert und seinerseits ausgerufen: »Ja mein Herr, wir sind in Bordeaux. Ah! das ist eine stolze Stadt! Mir scheint, Sie kommen zum erstenmal hieher.«
»Allerdings, zum erstenmal. Ich hatte nie mein Land verlassen, bin aus Unter-Navarra, und komme, mich mit meiner Familie in Bordeaux anzusiedeln.«
Abermals war Jeder in ein Lachen ausgebrochen, als man hörte, daß der Wicht seine Frau und Tochter, die auf dem Wege nach Bordeaux waren, erwarte.
Der Fremde hatte die Leute da sehr heiter gefunden, war aber von ihrer Heiterkeit nicht betroffen worden, denn man hatte ihm vorausgesagt, Bordeaux sei eine Stadt des Vergnügens, deren Einwohner außerordentlich gerne scherzen, spielen, sich ergötzen, kurz ein lustiges Leben führen; er war daher durchaus nicht erstaunt, daß man wie im Chor um ihn her ausrief: »Man amüsirt sich in Bordeaux gerade so gut als in Paris.«
»Wissen Sie es schon: man hat kaum erst mehrere Säle zu Schauspielen, Bällen und Concerten gebaut.«
»Die Frauenzimmer hier sind köstlich. Sie werden sehen, mein Herr, wie geschmackvoll sich die Damen von Bordeaux zu tragen wissen und dabei, wie reizend, verführerisch, gescheit sie aussehen! ... Mein Herr, Sie müssen die Moden von Bordeaux wählen, es sind die hübschesten.«
»Freilich, die Garonne ist in diesem Augenblick sehr gefallen ... ihre großen Schiffe kommen nicht mehr in den Hafen; aber es wird nur einige Tage anstehen, so erscheinen die Schiffe wieder vor dem Pont des arts ... das ist eine der schönsten Brücken von Bordeaux.«
»Auch unsere Säulen müssen Sie sehen, mein Herr: wir haben hier Säulen ganz nach dem Muster der Pariser. Sind Sie nie in Paris gewesen?«
»Niemals,« antwortete der Fremde gutmüthig; »niemals, da ich nicht aus meinem Lande herauskam.«
»So kennen Sie das Palais Royal nicht?«
»Was ist das Palais Royal?«
»Ein öffentlicher Platz in Paris zum Spazierengehen, aber es gibt einen fast eben so schönen in Bordeaux.«
»Das Palais Royal von Bordeaux ist ein reizender, ein entzückender Aufenthalt, ein Bazar, ein ewiger Markt, das Stelldichein für alle Fremden; es gibt Leute, von Bordeaux nämlich, die es niemals verlassen, die ihr Leben im Palais Royal zubringen, dort frühstücken, diniren, soupiren, logiren; sie lassen sich dort kleiden, besuchen, frisiren und gehen dort in's Theater.«
»Auch gibt es Boulevards ... ah! Herr, die Boulevards von Bordeaux, welch' herrlicher Spaziergang! ganz wie in Paris.«
»Und erst die Oper, Herr! ... Wer die Oper von Bordeaux nicht gesehen hat, hat Nichts gesehen.«
Der Nieder-Navarrese ist entzückt, sich in einer Stadt zu befinden, wo man sich so lustig machen kann.
Das Subjekt, welches ihn schon einmal angeredet hat und dessen kleine, lebhafte Augen jene Bosheit verrathen, welche der Spitzbüberei auf ein Haar ähnlich sieht, sagt von Neuem zu ihm: »Aber, mein Herr, wo sind Sie denn in die Diligence nach Bordeaux eingestiegen?« – Das will ich Ihnen zu erklären suchen, Herr. Mit verschiedentlichen Gelegenheiten erreichte ich Bayonne; dort bin ich in ein Gefährt, das sich, glaube ich, nach Toulouse begab, gesessen; man sagte mir jedoch: in der nächsten Nacht wird der Wagen anhalten in ... meiner Treu', ich weiß den Namen nicht mehr, wo; daselbst müssen Sie den Wagen wechseln und in denjenigen steigen, der Sie schnurstracks nach Bordeaux führen wird.
»Ganz recht! sagte ich, und reiste weg. Während der Nacht schlief ich, als der Wagen wirklich anhielt. Man rief mir zu, ich solle absteigen und in einen andern Wagen sitzen.
»Halb im Schlafe stieg ich aus.
»Es waren dort mehrere umspannende Diligencen; ich wußte nicht, auf welche ich klettern sollte, als ein sehr verbindlicher Herr zu mir sagte: Wenn Sie nach Bordeaux gehen, mein Herr, so steigen Sie schnell ein, denn just jener Wagen ist im Begriff, abzufahren, und man würde nicht auf Sie warten.
»Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, stieg auf, schlief wieder ein und da bin ich nun.«
Während der Fremde seine Reise dem Subjekt mit der verschlagenen Miene erläuterte, woraus sich denn ergab, daß der Navarrese, als er um Mitternacht den Wagen wechselte, auf den Pariser gestiegen war, in der Meinung, derselbe fahre nach Bordeaux, hatten sich die Reisenden einstweilen verlaufen, ein Theil zu seinen Geschäften, der andere in seinen Gasthof, so daß das Subjekt mit dem Fremden allein blieb, zu dem es mit sorglicher Miene sprach: »Haben Sie Gepäcke, einen Koffer auf dem Eilwagen?« – Nicht das Geringste,« antwortete der Navarrese. »Mein Geld führe ich bei mir, so wie diesen kleinen Sack, der mir nie von der Seite kommt. – »Desto besser,« antwortete der Mensch, dessen Gesicht vor Freude strahlte, weil er gefürchtet hatte, der Fremde möchte, wenn er sein Gepäck verlange, seinen Irrthum gewahr werden. So hält Sie also, mein lieber Herr, Nichts in dem Eilwagenhof zurück ... Wollen Sie meinen Arm annehmen und mir erlauben, Ihnen als Führer in dieser großen Stadt zu dienen, bis Ihre Familie ankommt? ... Ich kenne Bordeaux wie meine Schlafstube und glaube, daß meine Ortskenntniß Ihnen einigermaßen von Nutzen sein kann.«
Sogleich hatte der Fremde seinen Arm unter den dieses Menschen geschoben, indem er ausrief: »Ihr Vorschlag ist zu artig und verbindlich, als daß ich ihn ablehnen sollte; Sie leisten mir sogar einen großen Dienst damit, denn da ich nie aus meiner Heimath herausgekommen bin, so würde ich mich in einer so beträchtlichen Stadt anfangs etwas verlegen befunden haben.« –
»Das stellte ich mir gleich vor. Kommen Sie, und unterwegs werde ich Sie fragen, wenn es nicht unbescheiden ist, welcher Beweggrund Sie nach Bordeaux führt.«
Der Fremde begleitete diesen Menschen, der ihn mit aller Hast recht weit von dem Eilwagenhof ablenkte. Während dessen machte er ihm folgende Erzählung: »Ich lebte ruhig, tief in meiner Provinz, mein Herr, ich hatte hinreichend Vermögen, um glücklich bei meiner Frau zu sein, die ich zärtlich liebe, und bei meinem Kinde, das meine Seligkeit ist, als Unglücksfälle, ein Brand und allerlei sonstiger Unstern, mir fast mein ganzes Besitzthum raubten ... Ich verlangte weiter Nichts als Arbeit, um meine Familie zu ernähren, aber dazu bedurfte ich eines Platzes ... Ein Freund, der die Art meines Sinnes kannte, sagte zu mir: »›Ich kehre nach Bordeaux zurück; dort bin ich in einem Handelshause angestellt, wo ich auch Sie unterzubringen hoffe. Sobald ich dessen gewiß bin, werde ich Ihnen schreiben; dann können Sie mit Ihrer Familie abreisen und sich in Bordeaux niederlassen.‹« Damit empfahl sich mein Freund ... Nach Verlauf eines Monats erhielt ich einen Brief, worin er mich benachrichtigte: »›Ihr Wunsch ist erfüllt; kommen Sie, aber schnell, sonst müßte man über Ihren Platz verfügen.‹« ... Ich beeilte mich, mein kleines Besitzthum zu Geld zu machen, und da meine Frau ihre kleinen Vorkehrungen nicht eben so schnell vollendet hatte, als ich die meinigen, so reiste ich voraus und hier bin ich.« – Und was war Ihr Erlös? – »Fünfhundert fünfzig Franken ... Davon habe ich hundert meiner Frau zu ihren Reisekosten zurückgelassen und trage den Rest, nebst der Adresse des Kaufmanns, der mich erwartet und den ich jetzt aufsuche, in meiner Tasche.« – Lassen Sie diese Adresse sehen ... vielleicht kenne ich Ihren Kaufmann.«
Der Fremde zog ein Papier aus der Tasche und las: »Herr Desbuissons, Comödienplatz in Bordeaux.« – Herr Desbuissons! Ei gewiß, den kenne ich ... ich war oft mit ihm zusammen. Kommen Sie, ich führe Sie in sein Haus. O! reden Sie ihm nur von Badinguet ... Sie werden hören, was er Ihnen antwortet.«
Der Nieder-Navarrese ließ sich von Herrn Badinguet leiten (so hieß also sein neuer Freund).
Unterwegs zerbrach sich dieser Elende, der nichts weiter als ein Gauner war, den Kopf, wie er's anzugreifen hätte, um den armen Mann auszuziehen, der vierhundert und fünfzig Franken besaß und sich in Bordeaux glaubte.
Bald war das saubere Plänchen fertig. Herr Badinguet führt den Fremden auf den Odeonplatz, indem er sagte: »Wir sind hier auf dem Comödienplatz: in diesem Hause hier wohnt Herr Desbuissons; ich will mich gleich erkundigen, ob er zu Hause ist.«
Damit eilt er zu dem Thürsteher des Hauses, gewinnt ihn mit einem Geldstück für sein Interesse und kehrt zu seinem neuen Freunde zurück mit der Nachricht: »Herr Desbuissons ist verreist; man weiß nicht, wann er zurückkehrt, hofft jedoch, es werde nicht lange anstehen.« – »Der Teufel!« ruft der Navarrese aus; »was soll ich inzwischen beginnen?« – »Vertrauen Sie sich mir an, mein theurer Freund. Ich werde Sie in meinem Gasthause unterbringen, wo es Ihnen sehr bequem sein wird; dann sollen Sie an meiner table d'hôte essen, vier Franken das Couvert; es ist eine der besten in Bordeaux.« – »Aber wenn meine Frau kommt, so wird sie mich im Hause des Herrn Desbuissons, dessen Adresse sie hat, aufsuchen!« – »Je nun, wir hinterlassen ihr die Adresse meiner Wohnung, die man ihr einhändigen wird.«
Herr Badinguet wohnte gewöhnlich in einem kleinen Hôtel garni in der Straße du Bac zu Paris, wo eine Table d'hôte zu vierzig Sous das Couvert gegeben wurde. Dahin führte er den Fremden.
Ehe er ihn vorstellte, redete er zur Fürsorge erst ganz leise mit der Hauseigenthümerin und benachrichtigte sie, daß es sich um eine mit der Familie seines Gefährten abgeredete Mystifikation handle, welchem man übereingekommen sei, weis zu machen, er befinde sich in Bordeaux.
Die gewöhnlichen Gäste der Table d'hôte waren entzückt, als sie erfuhren, daß sie sich auf Kosten eines Fremden amüsiren würden; Jedermann machte sich ein Vergnügen daraus, dem Herrn Badinguet beizustehen, und als dieser seinen neuen Freund, der Table d'hôte von vierzig Sous per Kopf, vorstellte, brachten die Gäste um die Wette ihr Wort an, um den Irrthum des Neuangekommenen zu verstärken.
Der Navarrese, welcher, was die Küche betrifft, nicht schwer zu befriedigen war, fand, daß man in dem Hotel, wohin ihn sein Freund geführt hatte, ausgezeichnet speise; nur bemerkte er zuweilen, daß die Schüsseln dergestalt schnell an ihm vorbeigetragen wurden, daß er nie Zeit hatte, das Stück, welches er gewünscht hätte, zu nehmen; allein er dachte, das sei so der Landesbrauch.
Außerdem amüsirte er sich sehr an der Unterhaltung der Gäste; um die Wette machten sie Lobeserhebungen über Bordeaux und die Vergnügungen, welche man daselbst genieße. Alles dieses stieg dem Reisenden zu Kopfe.
Am Abend führte ihn sein Freund Badinguet in die Oper, indem er es so einrichtete, daß der Navarrese für Beide bezahlte wie an der Table d'hôte, während er sich den Schein gab, als bezahle er selbst seinen Theil.
Der Navarrese war entzückt über das Schauspiel, die Musik, den Tanz. Sein Freund führte ihn in's Palais Royal, und sein Entzücken verdoppelte sich.
Der andere Tag war gleichfalls eine fortlaufende Reihe von Vergnügungen, und Herr Badinguet veranstaltete es, daß er seinem Freunde nicht von der Seite ging und denselben nie allein ließ, aus Furcht, es möchte ihn Jemand aus dem Irrthum reißen.
Mehrere Tage verfloßen auf diese Weise; der Navarrese fand Bordeaux bewundernswürdig.
Indeß begann er, sich über die Abwesenheit seiner Frau und seiner Tochter zu bekümmern; er erstaunte, daß sie nicht ankamen. Jeden Tag nöthigte er seinen Freund, ihn in den Eilwagenhof zu führen, wo er sie absteigen zu sehen hoffte.
So lange Herr Badinguet wußte, daß sein Freund noch Geld besitze, verließ er ihn nicht; als er demselben aber seinen Beutel völlig hatte leeren helfen, so verschwand er, und der Fremdling suchte vergeblich seinen treuen Gefährten, mit dessen Hülfe er die Ankunft des Herrn Desbuissons, den er niemals zu Hause traf, hatte erwarten wollen.
Was sollte der brave Mann, der kein Geld mehr hatte, in der Stadt, wo man es so schnell ausgibt, anfangen? Jeden Tag wuchs seine Unruhe darüber, daß er von seiner Frau keine Nachrichten empfing.
Endlich nahm er sich ein Herz und redete selbst mit dem Thürhüter des Hauses, in welchem sein Kaufmann angeblich wohnen sollte, und der Thürhüter lachte endlich dem armen Teufel in's Gesicht, indem er antwortete: »Alle Wetter! ist es denn wirklich wahr, daß Sie nicht wissen, daß Sie in Paris sind? In diesem Falle dauert der Spaß doch ein wenig lange.« – In Paris!« rief der Fremde aus. »Was sagen Sie mir da? Wie! ich bin nicht in Bordeaux? – »Sie sind sogar ziemlich weit davon weg!« – Aber dieser Herr Desbuissons? – »Den habe ich niemals gekannt; Ihr Freund hieß mich Ihnen so antworten, wie ich gethan.«
Der arme Mann schlug sich vor die Stirne; er rannte wie ein Aberwitziger in den Straßen umher, hielt mehrere Vorübergehende an und fragte sie, ob er wirklich in Paris sei; diese wurden zornig, da sie glaubten, der Navarrese halte sie zum Besten.
Er kehrte in sein Gasthaus zurück, und hier erfuhr er endlich die ganze Wahrheit; man hatte ihn unaufhörlich für seine Rechnung zum Besten gehabt.
Der Unglückliche befand sich ohne Geld, ohne Hilfsquellen, von seiner Familie entfernt. Die Verzweiflung bemächtigte sich seiner; er verfiel in eine schwere Krankheit.
Die Hauseigenthümerin, von Mitleid gerührt und bereuend, zu einem schlechten Spaß allzulange mitgeholfen zu haben, behielt und pflegte den armen Kranken, der einen Monat zwischen Leben und Tod schwebte.
Als er im Stande war, das Bett zu verlassen, besuchte ihn eine von Bordeaux kommende Person, welche die ganze Geschichte des Navarresen erfahren hatte, und sprach ihm Muth ein.
Da ihn seine Frau in der ihr bezeichneten Stadt nicht gefunden hatte und keine Nachricht von ihm erhielt, so war sie auf den Gedanken gerathen, daß er unterwegs gestorben sei.
Die Unglückselige hatte diesen Verlust nicht verschmerzen können; sie war gestorben, und nach einigen Tagen war ihr das der Muttersorgen beraubte Kind in's Grab gefolgt.
Als er dieses entsetzliche Unglück erfuhr und nun erkannte, daß er Alles, was er geliebt, verloren habe, verfiel der arme Mann in eine düstere Schwermuth; er schien sogar den Verstand verloren zu haben.
Von diesem Augenblicke an begann seine Gewohnheit, sich täglich in den Eilwagenhof zu begeben. Hier brachte er bisweilen ganze Tage zu, in immerwährender Erwartung der Ankunft jener geliebten Wesen, die er nicht mehr sehen sollte.
Darauf kehrte er in das Gasthaus zurück, wo man ihn fortwährend umsonst bewirthete, um das Unglück, das man ihm bereitet, einigermaßen zu vergüten.
Uebrigens sollte der arme Mann seinen Verpflegern nicht lange zur Last fallen.
Als er aufgehört hatte, in den Messagerienhof zu kommen, so hatte er auch zu leben oder vielmehr zu leiden aufgehört.
So erfuhr ich es aus dem Munde des Angestellten.
Das sind zuweilen die Folgen eines Scherzes, den man für prächtig hält. Mit Lachen fängt man an und mit Weinen hört man auf.
Doch genug von der traurigen Geschichte. Kehren wir noch einmal in den Messagerienhof zurück.
*
Da sind Leute, die abreisen.
»Adieu, Papa.«
»Adieu, Mama.«
»Adieu, Tante.«
»Nicht wahr, ihr schreibet mir? Ihr denket an mich ...«
»Sorget doch für Medor, führet ihn alle Tage spazieren ... besonders aber leihet Niemand meine kleine Flinte ... noch meine Bücher ... noch mein Voltigirpferd ...«
Es ist dies ein Lehrjunge, den man nach Deutschland schickt, um dort die Handlung und Landessprache zu lernen.
Seine Mutter, seine Tante und Cousine haben Thränen in den Augen und sehen den Vater, welcher seinen Sohn durchaus in die Fremde schicken wollte, mit beinahe wüthender Miene an.
Der Vater selbst kann nur mit Mühe seine Rührung verbergen und dem Sohn Trost zusprechen; er sagt feierlich: »Mein Freund, die Reisen bilden die Jugend ... Du gehst in das Land von Schiller und Göthe ... Du wirst Bier trinken und wirst Sauerkraut essen ... also, wenn Du heimkehrst, wirst Du ein gemachter Mann sein.«
Der kleine Jüngling begreift nicht ganz deutlich, daß man, um ein gemachter Mann zu werden, nothwendig Sauerkraut essen müsse, jedoch, um seinem Vater zu gehorchen und desto eher heimkehren zu dürfen, antwortet er ihm, in Thränen zerfließend: »Ja, Papa, ich werde viel davon essen ... o, Du sollst mit mir zufrieden sein!«
Aber schon ertönt die Stimme des Condukteurs: er ruft die Reisenden mit Namen auf; man ist im Begriff, nach Brüssel abzufahren.
Der Eine läuft herzu, indem er seine Taschen drückt, um zu sehen, ob er nicht Etwas vergessen hat; der Andere, welcher schon sechsmal seiner Frau Lebewohl gesagt, geht zum siebenten Mal, sie in seine Arme zu schließen, und flüstert ihr in's Ohr: »Du weißt, was Du meinen Gläubigern sagen mußt ... ich bin in Amerika ... auf neunzehn Jahre ...«
Ein kleiner, grüngelber und widerwärtiger Mensch, welcher sich im Gehen stets mit beiden Händen den Bauch hält, kehrt geschwind noch einmal um und ruft seiner Frau zu: »Meine Liebe! Ich habe es vergessen ... ich kann nicht ohne es abreisen, ich würde unterwegs krank ... Du weißt wohl, daß ich mich desselben alle Tage bediene ...«
»Geschwind, mein Herr, steigen Sie auf, Sie sitzen in der Rotunde; man wartet nur noch auf Sie.«
»Nur eine Minute, Herr Condukteur ... es fehlt mir Etwas, was ich nicht entbehren kann ...«
»Ei, mein Herr, was geht mich das an? Sie werden es in Brüssel finden.«
»Und bis dahin soll ich? ...«
»Ich hoffe doch, Sie werden sich desselben nicht in dem Wagen bedienen wollen.«
»Vielleicht!«
»Warum nicht gar? Das wäre schön!« ruft ein dickes Mütterchen, das in der Rotunde sitzt. »Ich will meinen Platz wechseln.«
Die Frau dieses Menschen kommt zurück und kreischt ihm mit triumphirender Miene zu: »Du hast es, lieber Mann, Du hast es ... ich hatte daran gedacht: es ist in Deinem Nachtsack ... zwischen zwei Töpfen mit Eingemachtem.«
Das Männchen verlangt jetzt, seinen Nachtsack, der bei den Päcken auf dem Kutschendache untergebracht ist, zwischen seine Beine legen zu dürfen.
Aber alle Reisende, die in der Rotunde sitzen, wehren sich dagegen; der Condukteur stößt den armen Mann in den Wagen hinein, und dieser muß getrennt von dem Gegenstande, den er so sehr vermißt, abfahren. Glückliche Reise!