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Was der Lenz brachte

Draußen wollte es mittlerweile schon fast Frühling werden. Ein Lenzahnen lag in der Luft. Frau Helene saß jetzt wieder vor ihrem Arbeitstischchen am Fenster. In den müden Händen förderte die Arbeit zwar noch wenig, weit öfter lag sie im Schoße. Dafür wanderten die Augen rastlos und voll Sehnsucht hinauf zu den Wolken, zu den Bergen hinüber, die in duftiger Kette am Horizont aufstiegen.

Wer dorthin mit den Wolken eilen dürfte. Kraft holen, Frische, Gesundheit, neuen Lebensmut!

Sonst war man, kaum daß der Schnee schmolz, die ersten grünen Spitzlein vorlugten an Baum und Strauch, wenn die Vöglein ihren Frühlingssang zu proben begannen und die Lenzlüfte einem noch recht rauh um die Nase wehten – sonst war man da in die Berge hinübergezogen. Da hatte das Waldhaus den Winterschlaf abgeschüttelt und die Augen zu neuer Lust aufgeschlagen.

Sonst! Das Waldhaus! Frau Helene träumte. Sie war allein. Die Marlis wanderte längst wieder treulich in den Malkurs. Strahlend zog sie zur Arbeit aus, strahlend kehrte sie wieder heim. Sie wußte stets tausenderlei zu berichten.

Ja, Frau Helene saß und träumte. Sie träumte so in sich versunken, daß sie die Schritte nicht hörte, die die Treppen heraufeilten, so stürmisch und flink, daß sie immer zwei Stufen auf einmal nehmen mußten, die über den Flur und dann über die Dielen des Zimmers huschten.

Frau Helene erwachte erst, als ein paar Arme sehr stürmisch und sehr fest sich um ihren Hals schlangen und eine jubelnde Stimme, eine jauchzende, glückselige Stimme rief: »Mammi, Mammi, was ich aber heute bringe, das rätst du all dein Lebtag nicht. Und wenn du rätst, immerzu rätst, bis du so alt bist wie Methusalem.« Die Marlis lachte klingend silberhell, sie drehte sich im Kreise und schlug dazu in die Hände. Das hatte die Marlis lange nicht getan.

»Was ich weiß, Mammi, was ich weiß!« jubelte sie dazu.

»Kind, Marie-Luise, ich bitte dich, mir ist ganz schwindlig.«

»Verzeih, Mammi!« Als reuige Sünderin kniete sie zu der Mutter Füßen. Und dann sah sie ihr mit neckendem, strahlendem Schelmengesicht in die Augen: »Rate, Mammi, rate, es ist zu wundervoll.«

»Im Raten war ich nie stark, Marie-Luise,« sagte Frau Helene lächelnd.

Und da hielt sich die Marlis nicht länger: »Ein Werk will er herausgeben, Mammi, und ich soll die vorläufigen Skizzen dazu machen. Ist das nicht himmlisch, Mammi?«

»Ein Werk, Marie-Luise? Was für ein Werk? Und wer will's herausgeben?«

Bild: Richard Gutschmidt

»Im Raten war ich nie stark, Marie-Luise,« sagte leise lächelnd Frau Helene.

»Wer, Mammi? Doch natürlich der Professor. ›Unsere Heimatberge‹ soll's heißen. In der nächsten Nähe will er anfangen. Für alles hat er selbst nicht Zeit. Einige von uns, wart mal, ja, eigentlich vorläufig nur ich soll helfen. Ich soll skizzieren, was mir gefällt; was er brauchen kann, nimmt er. Und, Mammi, Mammi, jetzt kommt's! Nach I ... heim soll ich deshalb gehen. Nach I ... heim, Mammi! Und du mußt mit, natürlich. Das hat er auch gesagt. ›Sie mieten sich am besten draußen für den Sommer mit Ihrer Frau Mutter ein,‹ hat er gesagt. Ich muß ein bissel zweifelhaft dreingeschaut haben, Mammi. Da hat er gelacht und gesagt:›Machen Sie doch kein so erschrockenes, hilfloses Gesicht, Kind. Umsonst können Sie mir die Arbeit doch natürlich nicht tun. Und ich dächte‹ – da hat er ein bißchen gezögert, Mammi – ›ich dächte, das ehrlich und redlich selbstverdiente Geld sei am besten angewandt, wenn Mutter und Tochter sich damit zugleich eine Erholung schaffen, die namentlich die gnädige Frau dringend bedarf, wie ich höre. Was meinen Sie, Kind?‹ Viel geantwortet habe ich nicht, Mammi, mir saß da so was Kurioses oben im Halse. Aber er muß doch verstanden haben, wie ich's meinte, denn er streckte mir die Hand hin: ›Also abgemacht?‹ Und ich hab' eingeschlagen und, Mammi, ich glaub', dann hab' ich mich im Kreise gedreht und in die Hände geklatscht, denn alle haben gelacht. Gewiß weiß ich's aber nicht, denn, Mammi, ich bin fortgelaufen, wie ich ging und stand. Bloß meinen Hut hab' ich geschwind vom Nagel genommen, glaub' ich. Oder nicht? Doch, da ist er ja.« Sie schob ihn vom Hinterkopf, wo er nur noch andeutungsweise saß, mit raschem Ruck nach vorn. »Ich mußte es dir doch gleich sagen, Mammi. Und, Mammi, was sagst du nun?«

Die Wonne, die in der Stimme lag! Der Glanz in den Augen, die die Mutter ansahen! Dies fiebernde, zuckende Leben in allen Pulsen des jungen Körpers.

»Mammi, was sagst du nun? Herzensmammi!«

Hätte Frau Helene den leisen Zweifeln Ausdruck geben sollen, die sie beschlichen? Verhielt sich alles so, wie der Professor es hinstellte? Waren da nicht andere Einflüsse tätig, ihr und dem Kinde diese so nötige Stärkung zu ermöglichen – in irgendwelcher unauffälligen Form zu ermöglichen?

Aber – Frau Helene sah in ihres Kindes leuchtendes Gesicht und – Frau Helene schwieg. Diesen Strahlenglanz auszulöschen, dazu fehlte ihr die Kraft, körperlich und – seelisch.

Mochte sich alles verhalten, wie es wollte, sie konnte daran nicht rühren. Um ihres Kindes willen wollte sie auch das hinnehmen.

Die Marlis aber jubelte ahnungslos weiter: »Du bist starr, Mammi, nicht, ganz starr? Ich wußte es ja. Bedenke doch, nach I ... heim, den ganzen Sommer, wie sonst, Mammi!«

Da fuhr plötzlich ein Schatten über das Sonnengesicht und die Stimme zitterte bedenklich.

»Wie sonst, sag' ich, Mammi. Ach nein. Er ist ja nicht dabei! Und das Waldhaus ist für uns geschlossen. Doch, Mammi, das wäre auch zu groß für so kleine Leute wie wir sind, nicht?« Da lugte der Schelm schon wieder vor. »Und mit drei Zimmerchen sind wir auch zufrieden und glücklich, was, Mammi?«

Da war die Sonne siegreich wieder durchgedrungen.

Das Geheimnis, an dem Frau Helenens ahnender Sinn in seiner Welt- und Menschenkenntnis herumtastete, existierte wirklich. Es löste sich einfach: Professor Lauten, Doktor Lossen senior und der alte Medizinalrat waren treue Genossen und Duzbrüder aus der Studienzeit. Sie hatten viele gemeinsame Interessen, so auch das für Frau Helene und ihr Kind. Da spielten sie im Bunde ein wenig Vorsehung für die zwei. Alle ersannen es, der Professor mußte die Ausführung übernehmen.

Aber Frau Helene blieb ihrem ersten Vorsatz treu. Sie hütete sich, an dem wohltätigen Dunkel herumzutasten. » Where ignorance is bliss, 't is folly to be wise,« dachte sie – um ihres Kindes willen.

Die Marlis in ihrer kindlichen Gläubigkeit aber blieb ahnungslos.–

Bald darauf, als der April ganz gegen seinen sonstigen Ruf sich wunderbar beständig zeigte, waren Mutter und Tochter zusamt dem Minchen in die alte Sommerheimat übersiedelt.

Verena und Helene Ehlert hatten treulich bei der Wohnungssuche und dann bei dem Umzug geholfen. So manches, namentlich was die Mutter zur Bequemlichkeit bedurfte, mußte aus der Stadt mit hergebracht werden.

Wohnung hatten sie leicht gefunden. Das ganze Dorf nahm Anteil an der Rückkehr der beiden, die in guten Tagen allzeit ein warmes Herz, ein gutes Wort und eine offene Hand für jegliche Not gehabt hatten.

Man stritt sich fast darum, wer sie jetzt beherbergen dürfe, und als sie dann Einzug hielten, wurden sie begrüßt, als ob die angestammten Herrscher aus der Verbannung wiederkehrten.

Die Marlis namentlich feierte Triumphe gleich einer jungen Königin. Beschämt fragte sie sich, was sie eigentlich getan habe, daß man ihr solche Freude bezeige über ihr Kommen. Sie hatte zu Mammis Gaben, die sie austeilen durfte, doch fast stets nur einen warmen Blick, ein frohes Wort gehabt. Aber eben das schlägt die Armut hoch an. Nicht daß man gibt, nicht was man gibt, wie man gibt bestimmt den Wert der Gabe. –

Seit acht Tagen waren sie nun schon hier draußen.

Das winzige Häuschen, in dem sie Unterkunft gefunden hatten, stand unfern des Waldhauses am Rand des Waldes.

Die Bäume des Parkes grüßten herüber und lullten sie des Nachts mit ihrer altvertrauten Melodie in Schlaf.

Stundenlang saß Frau Helene im winzigen grünen Gärtchen unter der bohnenumrankten Laube, hatte den Kopf gegen die Lehne ihres Sessels gelegt und ließ sich wohlig von der linden Luft umfächeln. Sie lauschte dem Rauschen, Raunen und Flüstern der altvertrauten Freunde von drüben über der Parkmauer und träumte.

Derweilen streifte die Marlis über Berg und Tal, durch Wiese und Wald und wo sie was lockte, da saß sie und hielt es fest mit Pinsel und Stift. In Aquarell versuchte sie sich, da die Farben in der Natur gar so laut redeten und der Stift so tot war in der Wiedergabe.

Die Marlis war fleißig, sehr fleißig. Und wenn sie mit roten Wangen, mit leuchtenden Augen, mit vollem Skizzenbuch und leerem Magen heimkehrte, da hatte das Waldhaus im Park einst kein froheres Lachen und Plaudern, kein lustigeres Trällern und Jubilieren gehört, als jetzt das klein winzige Häuschen auf seinem schmalen grünen Gartenfleck. Und das Waldhaus im Park hatte Frau Helene überhaupt nie so froh und zufrieden, so glücklich mit ihrem Kinde gesehen. – Ja, das kleine winzige Häuschen auf seinem schmalen grünen Gartenfleck sah viel Freude und es sollte noch größere Freuden schauen. –

»Heute fahr' ich zur Stadt, Mammi,« sagte die Marlis am Morgen des neunten Tages. »Ich muß hören, was der Professor zu meinen Skizzen sagt, ob er überhaupt irgend etwas gebrauchen kann.«

»Allein, Marie-Luise?« fragte Frau Helene aus ihren Träumen heraus. Am alten Ort hatte die alte Gewohnheit sie unmerklich überkommen.

Die Marlis lachte hell und froh.

»Soll ich das Minchen zu meinem Schutz mitnehmen, Mammi?«

Frau Helene mußte lachen.

»Wohl, Marie-Luise, ich –«

»Mußt dich schon dran gewöhnen, daß du eine selbständige Tochter hast, Mammi,« neckte die Marlis.

»Wie gerne, Marie-Luise. Wenn man selbst nicht mehr viel taugt –«

Da hatte sie die Marlis beim Kopfe und sah ihr tief in die Augen.

»Böse Mammi,« schmollte sie. »Wart, ich spreche bei dem Medizinalrat oder Doktor Ebert vor und schicke dir einen oder beide. War überhaupt lange nicht da.«

»Wer, der Medizinalrat, Marie-Luise?«

Daß Mammi schalkhaft sein konnte, war die Marlis nicht gewöhnt.

»Den Doktor meine ich doch, Mammi. Der alte Herr hat so wenig Zeit, von dem können wir's nicht erwarten.«

»Von dem können wir's nicht erwarten, Marie-Luise,« echote die Mutter.

Da stutzte die Marlis doch und sah unsicher drein. Dann rief sie schnell: »Ich muß mich fertig machen, sonst geht der Zug ohne mich.« Und wie der Wirbelwind war sie davon.

Wie der Wirbelwind fiel sie nach kurzer Zeit auch zum Verabschieden über die Mutter her und fegte wie der Wirbelwind den Feldweg zur Bahn hin.

Ein paar kleine Jungen, die wie allmorgendlich offenbar auf sie gelauert hatten, erhoben ein Triumphgeschrei.

»Aweil kimmt se! Aweil kimmt se!« Und tanzten und patschten in die schmutzigen Händchen.

Aber die Marlis stürmte an ihnen vorüber.

»Heute nicht, Peterchen, Michel und Hannesche, ich muß zur Stadt.« Die dreie schauten mit langen Gesichtern hinter ihr drein. Aber da die Marlis sie nun allemal hinter sich her zog als Gefolge wie der Komet seinen Schweif, wo sie auch ging und stand, so setzten sie auch jetzt ihr im Trabe nach.

»Se mecht furt! Se mecht uf Dornstadt! Alleh last, aweil peift der Zuch schon um die Eck!«

Sie kamen noch eben recht, um die Marlis abdampfen zu sehen und erhoben ein Triumphgeheul: »Ätsch, do sein mir! Mir sein aach do, ätsch!«

Die Marlis drohte ihnen lachend aus dem offenen Fenster.

Sie fuhr dritter Klasse, die Marlis. Es war für sie jetzt kein heimlich verstohlener Genuß mehr wie einst. –

Bei Frau Helene hatte sich am Nachmittag Besuch eingefunden – Doktor Ebert.

»Allein, gnädigste Frau?« hatte er gefragt und eine leise Enttäuschung hatte aus den Worten geklungen.

Oder hatte Frau Helenens Ohr – ihr Mutterohr – dies bloß herauszuhören vermeint?

»Marie-Luise ist zur Stadt, Herr Doktor, ins Atelier, ihre Skizzen begutachten zu lassen. Sie ist schon am Morgen gegangen und muß bald wieder da sein. Sie können doch so lange bleiben?«

Er verbeugte sich schweigend. Ein Glück, daß sich in seiner Praxis just kein Schwerkranker befand, der seiner dringend bedurfte – sein ärztliches Gewissen wäre schwer ins Gedränge geraten. So aber konnte er sich getrost verbeugen, sich einen Stuhl heranziehen und behaglich aufatmend die Beine unter dem Holztisch der Bohnenlaube ausstrecken. Sie hatten geplaudert von diesem und jenem. Sie waren vom Wetter auf die Gegend und von der Gegend auf Reisen, auf Bücher, von da allmählich aus Persönliches gekommen. Auf Freunde.

Er hatte erzählt, daß er einen Brief von Elard Linden erhalten habe. Daß die Hochzeit nun für den Herbst in Aussicht genommen sei. Daß der Freund hoffe, ihn dabei zu sehen und die Braut sicher auf Fräulein Marlise zähle.

Frau Helene hatte sehr interessiert zugehört und sich des frohen Festes für Marlise gefreut.

Dann hatten sie ein Weilchen geschwiegen und gesonnen.

»Und Ihre Eltern, Herr Doktor, Ihre Geschwister?« hatte Frau Helene jetzt gefragt. Sie wußte noch wenig von ihm.

»Ich stehe ganz allein, gnädige Frau,« hatte er geantwortet. »Vater und Mutter habe ich früh verloren. Geschwister hatte ich nie.«

»Allein, ganz allein?« hatte Frau Helene sinnend gesagt und herzliches Mitleid war in der Stimme gewesen. »Allein sein ist schwer. Für den Mann schon und erst für ein zartes junges Mädchen. Wenn ich Marie-Luise einmal verlassen muß, und ich fürchte – ich fürchte, allzu lange – werde ich nicht bleiben dürfen,« hatte sie sagen wollen, aber nicht die Kraft dazu gehabt.

Da hatte er über den kleinen schmalen Holztisch hinüber stürmisch nach ihrer Hand gegriffen und die an die Lippen gezogen. Er hatte sie mit den guten Augen so recht warm angesehen und sehr erregt gesagt: »Einmal ist von Verlassen und dergleichen überhaupt gar nicht die Rede, meine gnädigste Frau, und dann – das gnädige Fräulein, Fräulein Marlise braucht nicht allein zu sein, wenn – wenn ich – wenn sie –«

Da hatte er festgesessen. Aber dann hatte er tief Atem geschöpft, sich stramm aufgerichtet und dann – dann hatten Frau Helenens Ohren gehört, was ihr Mutterherz längst ahnte.

Und über Frau Helenens Gesicht waren helle Freudentränen geflossen, denen sie nicht wehrte.

Ihr Kind, Marie-Luise, sollte nicht allein sein, wenn sie, die Mutter, sie einmal verlassen mußte. Sie sollte mit ihren jungen schwachen Kräften nicht bloß auf sich gestellt sein im Kampf mit dem Leben.

Es war also wirklich einer gekommen, der zu dem Kinde sagen wollte: Ich will dich schirmen, dich schützen, ich will dir helfen, in Freud und Leid an deiner Seite stehen. Laß uns getrost dem Leben vereint ins Auge schauen.

Ja, da war wirklich einer gekommen und was für einer! Ein ganzer Mann! Einer, den Frau Helene schon liebte wie einen Sohn.

Da riß sie sich gewaltsam aus ihrem Sinnen auf. Der bis jetzt geredet hatte, war verstummt und wartete sichtlich auf eine Antwort.

Sie sah ihm tief in die Augen und preßte seine Hand.

»Was ich zu sagen habe, das brauche ich ja wohl nicht in Worte zu fassen, das lesen Sie mir vom Gesichte ab. Nur muß erst das Kind, Marie-Luise – aber da ist sie ja!«

Über den Feldweg her flog und flatterte es genau so stürmisch und leichtfüßig wie in früheren Zeiten. Die Marlis!

Jetzt sah man drei kleine Dorfbengel in schnellem Trab ihr entgegensetzen.

»Do is se! Do is se! Alleh, eilt eich, do is se widder,« hörte man das Trio gröhlen und dann einstimmig: »Gun Dach! Gun Dach! Haste uns aach was mitgebracht?«

Die Marlis ließ sich im Lauf nicht stören, schüttelte bloß Kopf und Hände und rief lachend, hell, daß es übers Feld klang: »Heute gibt's nichts. Heute hab' ich bloß an mich gedacht. Aber das nächste Mal, hurra, ihr Bengel, das nächste Mal kriegt ihr – na, wünscht euch was!«

»E Wurscht!« rief der eine.

»E Brummdoppch!« der andere.

»En Schokkelgaul!« gröhlte der Kleinste.

Da hatte ihn die Marlis beim Wickel und schwenkte ihn durch die Lust.

»Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr, denkt das Hannesche. Bravo! Jetzt aber, laßt mich in Frieden, Bengel, ich muß zu Mammi!«

Sie setzte den Kleinen mit Nachdruck nieder. Der verlor das Gleichgewicht und rollte in die Ackerfurche. Die anderen purzelten drüber her. Da war die schönste Rauferei im Gang und die Marlis war die Plagegeister los. Lachend flog sie davon.

Jetzt sah sie die Mutter in der Bohnenlaube und winkte und rief: »Mammi, Mämmi, was Wundervolles!«

Und dann stand sie hochatmend, feuerrot, mit hängendem Haarknoten und ganz in den Nacken gerutschtem Hut vor der Laube.

»Je, der Doktor!« rief sie da ganz erschrocken und griff sich komisch entsetzt nach dem Kopfe, nach Hut und Haar.

»Marie-Luise,« sagte da auch die Mutter schon vorwurfsvoll, »wie siehst du wieder aus?«

»Ja, Mammi, soll einer gesetzt sein, wenn er das Glück in der Tasche trägt?«

»Das Glück, Marie-Luise?«

Da jauchzte die Marlis: »Denk doch, Mammi, denk doch! Er hat die Skizzen alle genommen, alle, Mammi! Und –«

Sie fuhr mit der Hand in die Tasche und dort klingelte es silberhell. Sie rüttelte die Tasche und ließ es nochmals klingen und dazu sah sie die Mutter herausfordernd schelmisch an.

»Wie gefällt dir die Musik, Mammi?«

Frau Helene war etwas rot, etwas verlegen geworden. Sie wies mit den Augen nach dem ganz im Hintergrund Stehenden.

»Und unseren Besuch hast du noch gar nicht begrüßt, Marie-Luise.«

Die nickte lachend, flüchtig nach Doktor Ebert hin. Dann schlang sie stürmisch die Arme um die Mutter und beharrte: »Erst sag, daß du dich freust, Mammi! Mammi, denk doch – fünfzig Mark!«

Sie hatte das flüstern wollen, aber der Jubel war nicht zu dämpfen. So hörte Doktor Ebert es genau. Und wie Rührung packte es ihn und wie Angst, daß er nicht umsonst die Hände nach diesem Gut ausstrecken möchte.

Mittlerweile hatte die Marlis von der Mutter gehört, was sie hören wollte. Und nun stand sie mit ausgestreckter Hand vor ihm.

»Willkommen, Herr Doktor, wir haben Sie schon lange erwartet, Mammi und ich. Schön, daß Sie gerade an diesem Glückstag kommen. Sie wissen ja, geteilte Freude, doppelte Freude! Und Sie freuen sich doch auch ein bißchen, ja? Juhu, Mammi, jetzt fürcht' ich mich kein bißchen mehr vor der Zukunft, kein bißchen. Sollst mal sehen, ich sammle Schätze. Jetzt braucht uns nicht mehr bange zu sein, was, Mammi?«

Sie streichelte schon wieder an der Mutter herum und sah der mit leuchtendem Blick in die Augen. Der Doktor hatte gar nicht zu Wort kommen können.

Frau Helene zog ihres Kindes Kopf an sich.

»Uns braucht nicht mehr bange zu sein, Liebling.«

Und über des Kindes Kopf weg sah sie den Doktor an.

Der ließ keinen Blick von dem silberblonden Scheitel dort.

Die Marlis hatte nicht lange Ruhe. Im Handumdrehen war sie an der Haustür.

»Will mir bloß ein bissel die Haare aufstecken, Mammi. Kurios, daß du mich nicht schon lange weggeschickt hast. Verkehrte Welt, was, Mammi?«

Wie ein Kobold lachte sie und verschwand.

Verträumt sah Frau Helene hinter ihr her. Dann sah sie Doktor Ebert an.

»Mir fällt plötzlich ein, daß ich einen notwendigen kleinen Gang im Dorfe zu machen habe. Sagen Sie das dem Kinde, wenn es kommt. Bald bin ich wieder da.«

Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie stumm.

Und dann war er allein und wartete auf sein Schicksals, sein Glück, das da drinnen im Häuschen zwitscherte und trällerte und mit flinken Fingern an dem silbernen Haarknoten herumnestelte, der heute besonders widerspenstig war.

Jetzt trat es unter die Tür, sein Schicksal, sein Glück, ahnungslos mit den lachenden Kinderaugen. Es schritt auf ihn zu und – – –

Er mußte es mit raschem Griff gefaßt und gehalten haben, sein Glück. Denn als Frau Helene nach einem knappen Stündchen wiederkehrte von ihrem notwendigen kleinen Gang im Dorfe, da sah sie schon von ferne, daß ihr Kind mit dem Doktor in der Laube saß.

Und das Kind saß still, ganz still, hatte so ein eigenes Leuchten im Gesicht und lauschte auf etwas, das der Doktor ihm vorredete.

Es mußte wunderbar packend, fesselnd sein, was er sagte, denn die beiden waren so vertieft, daß Frau Helene dicht herantreten konnte, ohne daß sie es merkten.

Jetzt hob die Marlis den Kopf und sah die Mutter an mit den verträumten Augen, in denen ein ganz besonderer Glanz lag.

Marlis wurde wohl ein bißchen rot und strich sich mit der Hand über das heiße Gesicht, aber sie blieb ganz still sitzen und sagte bloß einfach: »Er will mich heiraten, Mammi, denk doch.«

»Und du, Marie-Luise?«

Da wurde es der Marlis doch zu schwül, wo sie war.

Sie bing der Mutter am Halse, ehe sich's diese versah. Sie barg das heiße Gesicht und wie ein Schluchzen kam's und wie ein Jauchzen zugleich: »Ich – ich will ihn ja auch, Mammi!«

Da war's ganz still in der kleinen Laube. Zuerst hob die Marlis scheu den Kopf. Über der Mutter Gesicht liefen helle Tränen – Freudentränen. Aber die Marlis erschreckten sie doch.

»Du weinst, Mammi? Aber du kommst ja mit uns, hat er gesagt. Und wir wollen dich so, so lieb haben und hegen und pflegen, Mammi. Und Mammi, denk doch, auch malen darf ich und zeichnen. Ich brauche meine Kunst nicht aufzugeben. Er ist stolz darauf, Mammi, sagt er. Und – und – o Mammi, es wird himmlisch, himmlisch!«

Wenig fehlte und die Marlis hätte sich nach alter Art im Kreise gedreht. Aber da griffen zwei Arme, die in schwarzen Tuchärmeln steckten, hindernd ein. Und dann saßen die drei – Frau Helene in der Mitte – auf der kleinen Holzbank der Laube und plauderten von dem, was werden sollte. Die blühenden Bohnenranken umspannen eitel Glück. Lustig wie kleine Freudenwimpel flatterten sie im wehenden Frühlingswind. – –

Als der Frühlingstag zur Rüste ging und die Sonne nur noch ganz verstohlen ein letztes Mal über den Horizont vorblinzelte, da schritt am Feldrain ein junges Paar daher.

Wo sie hintraten, wisperten die Grashälmchen und raunten. Blauveigelein lugten neugierig aus ihrem Versteck. Die Blättlein an Baum und Strauch neigten sich einander zu, als ob sie eine wichtige Mär zu künden hätten. Und die Vöglein verfolgten mit klugen, glänzenden Äuglein die Schritte der beiden. Die Lerche aber schwang sich jauchzend in das Himmelsblau.

»Das Glück! Das Glück! Ich habe das Glück geschaut!«

Unten am Raine murmelte das Bächlein. Emsig, geschäftig trieb es die plätschernden Wellchen dahin, um Schritt halten zu können mit dem jungen Menschenpaar da oben. Dem Bächlein war, als ob es die glückstrahlenden Gesichter dort schon einmal gesehen habe. Wann? Das wußte Bächlein nicht zu sagen.

Seine ganze Zeitrechnung bestand darin, daß der böse Winter kam, es in seinen Eisbann zu schlagen, woraus der Frühling es löste mit lindem Hauch.

Im Frühling aber war's gewesen, daß es die beiden dort oben sah, so viel wußte das Bächlein genau. Kein Winterbann hielt es gefesselt. Eilig und flink hatte es die lustigen Wellchen dahingetrieben damals.

Bild: Richard Gutschmidt

»Sieh, ich kann den Namen Irrwisch im alltäglichen Sinne nicht hören.«

Und sie hatten sich im Übermut überpurzelt und überschlagen, hatten das schwarze Ding fangen wollen, das dem Manne dort oben vom Kopf geflogen war. Der Frühlingssturm, Bächleins bester Freund, hatte es fortgeweht gehabt. Doch das neidische Ufergestrüpp, das dem Bächlein nichts gönnte, hatte das schwarze Ding festgehakt, das so lustig angekugelt kam.

Fast hätte das Bächlein es dennoch ergattert – da war noch was hinterher geflogen gekommen. Was Weißes, Junges, Frühlingsfrisches – Bächlein kicherte noch in der Erinnerung lustig vor sich hin.

Von oben kam ein Kichern als Echo, schelmisch, kinderfroh.

»Dort war's!«

»Dort war's!« wiederholte eine tiefe volle Stimme.

Und der, dem die Stimme gehörte, wollte den Arm um die Gefährtin legen.

Aber er griff in die leere Luft.

Die er greifen wollte, war wie ein Eidechschen den Rain hinuntergehuscht und kicherte wie ein Kobold. Sie hatte ihm das leuchtende, strahlende Gesicht zugekehrt, in den Augen funkelte und blitzte der Schelm. Und jetzt – jetzt warf sie ihm gar eine spöttische Kußhand zu.

»Irrwisch!« rief er grollend. »So ein Irrwisch!«

Da blieb sie stehen, als versagten die quecksilbernen Füße plötzlich den Dienst. Sie preßte die Hände gegen die Brust.

Mit zwei Schritten war er neben ihr, zog sie an sich und sah in ein jäh erblaßtes Gesicht, aus dem große Kinderaugen ihn ernst, flehend anschauten. Angstvoll beugte er sich über sie.

»Was ist's, Liebling?«

»Nicht Irrwisch sagen wie vorhin, bitte, bitte,« flehte sie leise und die Stimme hatte einen rührenden Klang. »Sieh, er hat so gesagt, erst in Lust und Liebe und dann in der höchsten Pein. Da ist mir der Name heilig geworden. Und ich – ich könnte ihn jetzt nicht hören, so im landläufigen, alltäglichen Sinn, meine ich. Bloß wenn du mich sehr lieb hast, oder wenn ich etwas sage oder tue, was dir besonders gefällt, dann – aber nur dann sollst du mich deinen Irrwisch nennen. Ja? Willst du?«

Sie barg das Gesicht an seiner Brust. Sein Arm legte sich fest um sie und er sagte nur einfach: »So sei es!«


In kommenden Tagen, in Tagen der Lust und Tagen des Leids, wie sie das Leben bringt, hat er sie dann oft, sehr oft seinen Irrwisch genannt.– –

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