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Heiter ist die Kunst

Ein hoher, kahler Raum war's. Die weißgetünchten Wände waren mit Zeichnungen aller Art bedeckt, die entweder direkt darauf angebracht oder auf Kartons aufgeheftet waren. Einige Riesenfenster gaben Licht, und um die drängten sich hohe und niedere Staffeleien, an denen weibliche Wesen aller Art saßen und standen.

Auf einem Podium im Hintergrund des Raumes saß ein kleines Mädchen. Malerische Lumpen umhüllten die runden Glieder und ein frisches rosiges Gesicht schaute unter wirrem Blondgelock vor.

Eifrig strichelten die Stifte, hantierten die Pinsel. Emsiges Schaffen, lautlose Stille. Durchweg die Atmosphäre ernsten, tüchtigen Strebens.

Es war das Atelier Professor Lautens, in dem er nur weibliche Malbeflissene in seiner Kunst unterwies.

Zwölf Staffeleien zählte man. Elf waren besetzt, eine stand leer.

Jetzt eben stand der Professor vor einer Staffelei, an der ein kleines verwachsenes Wesen sich mit Pinsel und Palette mühte.

Wunderbar getroffen schauten die blitzenden Blauaugen des kleinen Mädels vom Podium dort zur Leinwand heraus.

Mit ein paar Strichen besserte Professor Lauten da und dort. Dann sagte er mit einer Stimme, die wie fernes Donnerrollen dröhnte: »Bravo, Fräulein Verena, tüchtige Leistung! Alle Achtung!«

Über das schmale, feine Gesicht der kleinen Verwachsenen schlug eine helle Glut. Sie griff plötzlich nach der Staffelei, als ob sie sich stützen müsse. Man sah, daß eine tiefe Erregung sie schüttelte.

Mitleidig teilnahmsvoll sah der Professor auf sie nieder.

»Ruhe, Kind, Ruhe. So geht das nicht. Sie reiben sich ja auf. Bedenken Sie: Die Kunst will den ganzen Menschen, Kraft, Gesundheit vor allem. Sie müssen sich schonen.«

Ein glühend dankbarer Blick aus Verenas Augen traf ihn.

»Ich – ich –« stammelte sie. Aber sie war zu erregt, um Worte zu finden.

Da wurde die Tür mit großem Nachdruck geöffnet.

Eine lichte, weiße Gestalt zeigte sich, von der's wie Sonnenschein durch den Raum ging. Ein großer, weißer Bernhardiner trabte hinterher. Beide in beschleunigtem Tempo.

Der Hund sprang die Herrin an, er mochte deren raschen Lauf über Treppe und Korridor als Aufforderung dazu genommen haben. Jetzt konnte sie sich seiner täppischen Zudringlichkeiten kaum erwehren. Er hielt ein Bündel im Maul, womit er wieder und wieder gegen die Herrin anrannte.

Die lachte hell klingend und rief: »Rollo, so laß mich doch, Rollo!«

Lichte Braunaugen strahlten aus dem hellen Gesicht, von dem ein Leuchten ausging.

In diese Braunaugen und in das ganze leuchtende, lachende Gesicht trat plötzlich ein Zug des Erschreckens, der Verlegenheit, dann der Schelmerei.

Die Augen hatten die hohe Gestalt des Professors entdeckt, der offenbar zu dieser Stunde hier noch nicht vermutet worden war.

Ein energischer Griff nach Rollos Halsband. Der duckte sich gehorsam an dem Fleck zu Boden, wo er just stand, und rührte sich nicht weiter.

Die junge Herrin aber stand vor dem Professor und blickte ihm mit schelmischem Freimut in die Augen.

»Verzeihung, Herr Professor. Ich ahnte nicht, daß Sie hier seien, sonst hätte ich den Rollo draußen schon gebändigt.«

»Aha,« sagte Professor Lauten und es zuckte um seinen Mund, »so geht es also in meiner Abwesenheit hier zu?«

Die zuvor geredet hatte, fühlte sich nun doch gedrängt, die Gefährtinnen zu verteidigen.

»Das heißt, Herr Professor, ich bin zuweilen etwas unbändig und störe die anderen in ihren Fleiß. Ich muß eben das Stillehalten noch lernen. Entsetzlich viel noch außerdem, fürchte ich.« Ganz geknickt hing sie den Kopf, um gleich danach voll Schelmerei beizufügen: »Den Rollo müssen Sie heute schon gütigst verzeihen und genehmigen, Herr Professor. Der hat mir die Malschürze nachgeschleppt. Friedrich hatte zu tun. Er wird mäuschenstill sein, was, Rollo?«

Rollo hielt den Kopf schief und wedelte. Er rutschte auf dem Bauch vorwärts und legte das Bündel, das er im Maul hielt, seiner Herrin zu Füßen.

»Danke, Rollo,« sagte die ganz ernst. »Und nun geh und leg dich draußen hin.«

Rollo zog den Schwanz ein und trottete mit hängenden Ohren durch die Tür, vor der er niederkauerte.

Seine Herrin folgte und schloß die Tür.

»So und nun an die Arbeit!«

Es klang wie Lerchenton. Auf allen Gesichtern war ein lichter Schein erglommen, aller Augen folgten belustigt Marlisens Tun.

Denn Marlise Wreden war's, die hier so ungehörig eingedrungen war.

Frau Helene hatte ihr Wort wahr gemacht. Nach der Rückkehr aus der Schweiz, als der Herbst mit allem Ernst Einzug hielt, hatte sie darauf bestanden, daß Marlise einen Malkurs besuche und zwar genau in derselben, ernsten, pflichttreuen Weise, wie die es taten, die das Malen als Beruf ausüben wollten

Herr Fritz Erich Albers hatte sich widerwillig, Marlise sich seufzend gefügt.

Sie hatte ja immer gerne gemalt, es hatte ihr Vergnügen gemacht. Vergnügen, wohlverstanden. So als ernste, strenge Pflicht aufgefaßt, ging es ihr bitter schwer ein.

Wenn nur wenigstens das Stillesitzen nicht gewesen wäre. Wenn man springend, laufend, tanzend hätte malen können. Aber dies gräßliche Stillehalten.

Vier Stunden lang – vier volle geschlagene Stunden lang vor der Staffelei sitzen oder stehen!

Wer das aushalten konnte!

Der Marlis wollte es, wie gesagt, nur bitter, bitter schwer eingehen.

Und heute war sie also wieder gekommen, das Martyrium der vier Stunden des Stillehaltens auf sich zu nehmen.

Die erste hatte sie schon bedeutend gekürzt und sich im Wettlauf mit Rollo im voraus entschädigt.

Nun nahm sie den Hut vom Kopf und das weißblonde Geringel umrahmte das glühende Gesicht. Die Malschürze aus dem Bündel genommen, hineingeschlüpft, nun zur Staffelei gehuscht, den Pinsel unternehmend geschwungen – so, die Marlis war zu allem bereit.

Belustigte Blicke hatten ihr Tun verfolgt. Jetzt schien es, als ob der frühere Schaffensernst sich einstellen wolle.

Da erklang auf einmal eine kleine weinerliche Stimme vom Podium her.

»Mis nix Tuchen triegt. Mis nix wollen still halten.«

Zugleich hatte sich die kleine, resolute Person auf alle viere niedergelassen und sich vom Podium gewälzt.

»Nix still halten,« versicherte sie noch einmal drohend.

Die herbeieilende Mutter suchte sie umsonst wieder in die vorige Stellung zurück zu versetzen.

Energisches Strampeln, Wehren und Brüllen war das ganze Resultat. Eben wollte der Professor einschreiten. Da flog Marlise lachend herzu.

»Lieschen ist vollständig im Recht, Herr Professor. Ich vergaß, meine Pflicht zu tun. Hier ist der Kuchen, Lieschen.«

Als die kleine Person ihr Stück in Händen hielt, lachte sie wieder. Von selbst kletterte sie aufs Podium zurück und nahm ihre Stellung wieder ein.

»So,« sagte Marlise befriedigt, »nun kann's wirklich losgehen.«

Der Professor stand vor ihrer Staffelei. Er schmunzelte.

»Da scheinen sich ja allerlei, na, sagen wir Unregelmäßigkeiten einzuschleichen, Fräulein Wreden.«

Neckisch verlegen sah Marlise zu ihm auf.

»Das bissel Kuchen, Herr Professor.«

»Ja, ja. Hier ein bissel Kuchen, dann ein bissel zu spät kommen, dort ein bissel Hund. Wenn nun jede –«

»Ich werde Rollo nie wieder bringen, Herr Professor, und immer zur Zeit da sein!«

Er war entwaffnet.

»Topp! Und nun zeigen Sie Ihre Arbeit.«

Marlise nahm die schützende Papierhülle von dem Karton, der auf ihrer Staffelei stand.

Ein leichter Schreckenslaut und hastig suchte Marlise die Hülle wieder drüber zu ziehen. Doch schon hatte der Professor danach gegriffen.

»Was haben wir denn da?«

Er hielt eine Rötelzeichnung in Händen, die aber keineswegs das kleine Modell dort auf dem Podium wiedergab.

Nein, das war doch er – er selbst unverkennbar mit dem Pfeifenstummel in der einen Mundecke und dem etwas spöttischen Zug, den er bei der Kritik der Werke seiner Schülerinnen leicht zeigte.

Einen Stich ins Karikierte hatte das Bild. Namentlich war der etwas gewitterhaft dräuende Zug auf der Stirn stark betont. » Jupiter tonans« stand darunter.

Wie mit Blut übergossen stand Marlise. Lange sagte der Professor kein Wort und prüfte bloß eingehend die Zeichnung. Nur wer sehr genau zusah, konnte den Schalk entdecken, der ihm in Augen und Mundwinkeln saß.

Sie hatten sich alle herzugedrängt, die Kunstjüngerinnen, Marlisens Genossinnen. Hier wurde ein anerkennender Ton, dort ein hämisches Kichern, da ein bedauernder Laut hörbar. Mitleidsvolle, spöttische oder neidische Blicke trafen Marlise.

»Geschieht ihr recht, der Prinzeß,« flüsterte eine große Schwarze im Hintergrund einer anderen zu.

»Du, sie ist immer nett,« sagte die abweisend.

Die kleine Verwachsene, die der Professor zuvor Fräulein Verena genannt hatte, stand neben Marlise und hatte den Arm um sie gelegt.

Die lange unheilschwere Stille war Marlise auf die Nerven gefallen. Sie zitterte sichtlich.

Da endlich sah der Professor von der Zeichnung auf und Marlise an.

»Ihr Werk?« fragte er.

Etwas in seinen Augen mußte Marlise beruhigt haben. Man sah, wie sie erleichtert aufatmete.

Doch antwortete sie nur durch Neigen des Kopfes.

»Brav!« sagte da der Professor. »Anerkennenswert!«

Sie sah ihn ungewiß von unten auf an.

»Ja aber, ich – ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Ich – Mißbrauch – ungehörig –«

Sie stotterte, war sehr rot und saß rettungslos fest.

Er sah sie sehr belustigt an.

»Muß doch der Kaiser sogar jedem ixbeliebigen Knipser stillhalten. Beklagt hätte ich mich nur, wenn das Ding da meiner Schülerin Unehre gemacht hätte.

Jede Fratze ist für den Künstler vogelfrei, weshalb meine nicht?« – In Marlise war der Schalk schon wieder wach.

»Und der Jupiter tonans

Bild: Richard Gutschmidt

Der Professor prüfte die Zeichnung.

»Sie sehen, daß das im Moment das einzig Unrichtige an der Sache ist, Kind. Übrigens, gefährlich ist's, den Leu zu wecken, und so weiter.«

Sein Lachen rollte wie ferner Donner.

Marlise stimmte eben hell und klingend mit ein, da war er schon wieder ernst.

»Indessen bitte ich mir für die Folge aus, daß es bei meiner Wahl der Modelle bleibt. Meiner Physiognomie dürfte am Ende für die Dauer eine allzu häufige Vervielfältigung nicht taugen und sich der Jupiter tonans denn doch mehr markieren, als angenehm wäre. Ich wünsche den Damen guten Morgen und gedeihliche Arbeit.«

Er war gegangen. Er hatte noch mehr Ateliers zu besuchen. Viele Jünger harrten seines Blicks, seines Wortes und seines Strichs mit Pinsel oder Stift.

Die Zurückgebliebenen standen noch eine Weile um die Zeichnung auf Marlisens Staffelei geschart.

Freieste Kritik wurde geübt, absprechend, lobend.

Marlisens Laune trübte sich nicht, Lob wie Tadel glitten an ihr ab.

Sie schüttelte das schimmernde Geringel zurück und fuhr sich über die glühende Stirn.

»Uff, ist mir heiß geworden? Oft möchte ich so was nicht erleben. Jetzt aber an die Arbeit! Kopf hoch, Lieschen, aufgeschaut. Jetzt kommst du per Dampf auf die Leinwand.«

»Mis nix Dampf,« maulte Lieschen.

Marlise hatte die kaum angefangene Skizze vorgezogen. Lieschens Kopf war erst in ganz knappen Umrissen zu sehen. Die heimliche Arbeit, die eben entdeckt worden war, hatte ihre ganze Zeit in Anspruch genommen.

»Helfen Sie nur einen Augenblick, Verena, bitte. Die kleine Stumpfnase will nicht parieren. Was hast du auch so 'ne alberne kleine Nase im Gesicht, Lieschen?«

»Mis nix alberne tleine Nase,« protestierte die. »Hübse Nase!« Lieschen war nicht auf den Mund gefallen. Sie wiederholte offenbar Gehörtes.

»Kartoffelnase,« beharrte Marlise.

»Nix Tartoffel,« wehrte sich Lieschen.

»Ruhe, bitte!« kam eine scharfe Stimme von hinten. Sie gehörte der großen Schwarzen, die zuvor von »Prinzeß« geredet hatte. »Es gibt Leute, denen die Zeit auch Geld ist, weil sie ihr Brot verdienen müssen. Aus einem Bankhaus stammen die allerdings nicht.«

Es klang sehr spitz.

»Verzeihung,« sagte Marlise liebenswürdig. »In meinem Übermut vergesse ich so leicht die Rücksicht auf andere. Wollen Sie mich, bitte, immer mahnen.«

Die Schwarze war entwaffnet.

Marlise, die Prinzeß, wie sie sie nannten, hatte zuerst mit vielen Vorurteilen zu kämpfen gehabt. Sie waren ihr alle mit dem Mißtrauen entgegengekommen, das weniger gut Gestellte leicht für die haben, denen das Glück günstiger war.

»Was will die Prinzeß bei uns?« hatten sie gesagt. »Die soll bei ihren Fleischtöpfen bleiben. Was weiß die von Ernst und Arbeit? Davon, daß einer auch mal trocken Brot ißt, daß einer strebt und ringt, und die Kunst hoch hält. Bei uns ist kein Platz für dilettierende junge Damen. Das setzt uns selbst eine Stufe herunter.«

So redeten sie.

Aber die »Prinzeß« war doch gekommen. Und sie war so liebenswürdig, so unbefangen und natürlich gewesen, daß sich alle heimlich oder offen zu ihr bekehrten. – Außerdem hatte sie wirklich Talent, mehr als die meisten, das mußte selbst der Neid zugeben. In ihr war das Zeug zu einer wahren gottbegnadeten Künstlerin. Und wenn sie einmal wirklich an der Arbeit war, dann fiel ihr alles nur so zu. Keine Gefahr, daß sie den Standpunkt des Ateliers heruntersetzte. Im Gegenteil!

Die Mißgünstigsten sprachen nun von der ungerechten Verteilung der Güter und Gaben. Wozu Geld und Talent dem einen? Dem anderen nichts an Gütern und ein kläglich Teil an Gaben? Warum? Warum?

Aber, wie gesagt, Marlise entwaffnete alle. Sieghaft wie eine junge Königin eroberte sie sich auch dies Reich. Den lachenden Braunaugen, dem strahlenden, hellen Gesicht, dem ganzen warmen, liebenswürdigen Wesen mußten alle Schatten weichen.

Die »Prinzeß« herrschte wirklich als solche in Herz und Gemüt ihrer neuen Genossinnen.

Am innigsten hatte sie sich an Verena Walters, die kleine Verwachsene, angeschlossen.

Das Gesetz, das Licht und Schatten zusammenzwingt, hatte die beiden geeint.

Verena war in allen Stücken der direkte Gegensatz zu Marlise. Ernst über ihre Jahre, stiefmütterlich am Körper von der Natur, stiefmütterlich auch vom Glück bedacht, was die äußeren Verhältnisse betraf.

Nur an Talent, an Können überstrahlte die unscheinbare Verena die Genossin. Hierbei half ihr eiserner Fleiß. Verena war in der Welt einzig auf sich und ihren Pinsel gestellt. Sie rang und strebte mit heiligem Ernst.

Voll enthusiastischer Bewunderung erst, dann voll wärmster Hingabe hatte sich Verena an Marlise angeschlossen. Sie erschien ihr wie ein Wesen aus einer anderen Welt, einer Welt, die Verena fremd war, der reinen heiteren Welt des Genusses. Wie eine jener Genien kam sie ihr vor, die hoch über dem Irdischen in lichten Höhen schweben, wo ewig blauer Himmel lacht, denen Erdennot, Erdenleid nichts anhaben können.

So sah sie auch jetzt bewundernd zu Marlise auf, dann auf deren Arbeit, wo das junge Mädchen sich eben an der kleinen Stubsnase mühte.

»Den Schatten hier vertiefen, dort ein Licht aufsetzen, Fräu– Marlise –« – seit kurzem nannten sie sich bei den Vornamen, was Verena noch immer schwer fiel – »so, da haben Sie's ja prächtig heraus, ganz hübsch modelliert. Ich wußte, daß ich nichts helfen konnte.«

»Doch, Verenchen. Ohne besagtes Licht und Schatten war die Sache Essig. Sie fanden den Haken gleich. Aber nun lassen Sie sich nicht länger stören. Ich glühe vor Amtseifer.«

Verena humpelte an ihre Staffelei zurück und reichlich eine Stunde lang herrschte die größte, arbeitsvollste Stille.

Da schlug es elf Uhr.

Zugleich flog ein Pinsel – klatsch! noch einer, dann eine Palette nach der anderen Seite.

Eine Gestalt flog zum Podium, hob Klein-Lieschen hoch und drehte sich mit ihr im Kreise.

»Pause, Lieschen, Essenspause! Freust du dich?«

»Mis nix dern Brot essen, mis Tuchen wollen!«

»Verwöhnte Prinzeß, du!«

»Mis nix Prinzeß, mis Lieschen!«

»Na, dann such dir mal aus, was du willst!«

Marlise reichte der Kleinen einen wohlgefüllten Korb, der schon vor einer Weile schweigend zur Tür hereingeschoben worden war. Der Onkel hatte bei einem benachbarten Wirt diesen allmorgendlichen Futterkorb für die Nichte bestellt.

Was der enthielt, war bald Gegenstand der Aufmerksamkeit aller gewesen. Ganz im Anfang waren es köstliche Leckerbissen feinster Art, Pastetchen, Appetitschnittchen, petits fours. Das leckerste Frühstück, das sich denken ließ.

Plötzlich änderte sich das. Es wurde weniger erlesen, dafür reichlicher. Belegte Brötchen, Eier, Obst, Süßigkeiten. Das war kein Frühstück mehr für eine einzelne, das war eine Fülle, an der viele teilnehmen konnten.

Und der lieblich bittenden Miene, dem warmen Blick, womit Marlise von ihrem Überfluß bot, widerstand keine. »Picknick!« hatte die große Schwarze zuerst gerufen und ihre derbe Butterschnitte auf Marlisens Korb gelegt.

Die anderen waren ihrem Beispiel gefolgt.

Da diese Schnitten aber stets unberührt blieben, bis auf eine, die Marlise nahm und verschmauste, blieben sie bald ganz aus.

Man ließ Marlise die Freude, einzig von dem ihren zu bieten. Und keine fühlte sich davon bedrückt; unmerklich war Marlisens Futterkorb eine tägliche Spende geworden, womit man rechnete, gerne, voll Freuden rechnete.

Lieschen vor allen.

Die streckte auch jetzt das Stumpfnäschen neugierig über den Korb.

»Mis willen das und das und das und –«

Wenig fehlte und das weisende Fingerchen hätte alles Erwählte angetippt.

Lachend nahm Marlise den Korb weg.

»Erst die anderen, dann wir beide.«

Und Marlise ging rings im Kreise, lachend, anpreisend. Alle griffen wie selbstverständlich zu, alle schmausten lustig drauf los.

Klein Lieschen trippelte hinter Marlise und dem Korb her, wie die Wespe, die den Honigtopf umsurrt.

Dann saß Marlise am Boden.

»Nun wir beide, Lieschen! Nimm!«

Ob sich's Lieschen zweimal sagen ließ? Blöde war die kleine Person nicht.

Eine halbe Stunde Ruhe zwischen der angestrengten Arbeit gönnten sich alle. Das war so stillschweigend Übereinkunft.

»Was werden Sie heute nachmittag tun, Verena?« Marlise hatte den Arm um die Schultern Verenas gelegt und sah liebevoll in das blasse, müde Gesicht.

»Malen, Fr– Marlise. Ich kopiere einen Carlo Dolce und heute ist die Galerie offen.«

»Malen – malen – immer malen!« sagte eine Stimme, es war die der großen Schwarzen und in dem Tone lag viel Bitterkeit. »Kennen Sie das » song of the shirt«, Fräulein Wreden? Wie heißt's doch dort?

Work – work – work!
Till the brain begins to swim;
Work – work – work,
Till the eyes are heavy and dim!

So ungefähr geht's uns.«

Marlise sah ganz blaß und erschreckt aus. Unwillkürlich legte sie den Arm fester um Verena. Fragend sah sie der ins Auge.

Beruhigend, milde lächelte die.

»So schlimm ist's nicht. Helene übertreibt.« So hieß die große Schwarze. »Wohl dem, der arbeiten kann. Arbeit ist ein Segen, der dauerndste Segen, den der Herr gibt.«

Lebhaft stimmten alle zu bis auf eine.

»Das weiß der Himmel. Der Segen hat mir nie gefehlt!«

Wieder war's die große Schwarze, die das sagte und wieder voll unendlicher Bitterkeit.

Marlise war an sie herangetreten, hatte den Arm um ihre Hüften gelegt. Herzinnigstes Mitfühlen, erbarmende Liebe sah aus ihrem Gesicht.

»Wollen mir die Damen alle diesen Nachmittag eine große Freude machen? Ich möchte skizzieren gehen, Herbststimmung studieren. Allein bringe ich wenig zuwege. In unserem Park draußen in I ... heim sind wundervolle Baumgruppen. Dort fände sicher jede irgend ein Motiv. Wenn wir mit dem Dreiuhrzug fortgingen? Alle zusammen? Bitte, bitte, sagen Sie ja.«

Sie zögerten nicht lange, es war im ganzen ein so harmlos fröhliches Völkchen, diese jungen Kunstbeflissenen.

Sie waren voll Lust und Liebe zu ihrem Beruf. Ihr Streben, ihre Arbeit machte sie glücklich, gab ihrem Leben Zweck.

Wenn man ihnen die Wahl gelassen hätte, sie hätten nicht tauschen mögen mit einer anderen, die nur ihrem Vergnügen zu leben hatte.

Sie waren stolz darauf, Arbeitsbienen und nicht Drohnen zu sein.

Freilich waren sie auch alle nicht so geradezu vor die Lebensfrage gestellt, wie Verena und die große Schwarze, Helene Ehlert.

Die meisten hatten ein behütetes Heim, sorgende Eltern, die eben aus ihrer Liebe und Sorge heraus ihren Kindern den Lebensweg durch Hinweis auf die Arbeit ebnen wollten.

Nur Verena und die große Schwarze hatten zu ringen um ihr Dasein, kannten des Lebens Not nicht nur vom Hörensagen.

Verena, die um ihres schwächlichen Körpers willen noch schlimmer Geprüfte, war milde, weich geblieben. Helene Ehlert hatte ihr »Pariadasein«, wie sie es nannte, verbittert.

Sie war auch die einzige, die Marlisens liebenswürdiger Aufforderung am längsten widerstand.

»Ein Ausspann taugt mir nicht. Ich muß im Joch bleiben, sonst drückt's danach umso härter.«

»Bitte, bitte. Wenn es mir doch solche Riesenfreude macht!«

So bat Marlise. Ihre Augen flehten noch eindringlicher.

»Was geht Ihre Freude mich an,« wollte Helene sie barsch abweisen. Aber sie brachte es diesem strahlenden Gesicht, diesen flehenden Augen gegenüber doch nicht fertig.

So neigte sie nur leise den schwarzen Kopf und sagte: »Also um drei Uhr!«

Wofür Marlise sie stürmisch umarmte.

Dann gab's noch ein strenges Arbeitsstündchen und gegen ein Uhr trennte man sich schleunig, um zur Zeit bereit zu sein.

Marlise kam atemlos daheim an und nun gab es eine große wichtige Beratung in Fragen der Bewirtung.


Die Fahrgäste im Wartesaal zweiter Klasse interessierten sich sehr für eine Gruppe, die dort in der einen Ecke lebhaft gestikulierend beisammen stand.

Sehr junge und schon gereiftere junge Damen waren es. Sie redeten sehr lebhaft, angeregt. Sie hatten alle in ihrer Kleidung etwas, das auffiel, entweder durch den Schnitt, durch allzu lebhafte Farben oder aber durch allzu große Achtlosigkeit.

»Kunstschülerinnen irgend welcher Art. Ein munteres Völkchen,« sagte ein alter Herr zum anderen. »Wem's auch noch so wohl wäre. Das ist doch sicher nicht auf Rosen gebettet und doch der Frohsinn.«

»Na, verzeih mal, das macht eben die Arbeit. Wer nur so zu seinem Vergnügen in den Tag hinein – aber was haben wir denn da? Das stammt doch aus einer anderen Kategorie, was?«

Das galt Marlise, die eben eintrat, leuchtend, strahlend, die verkörperte Lichtgestalt in ihrem eleganten hellgrauen Tuchkostüm mit dem großen grauen Federhut auf dem weißblonden Scheitel. Sie flog auf die Gruppe dort in der Ecke zu.

»Verzeihen Sie, bitte, ich habe mich ein bißchen verspätet. Ich mußte noch – einerlei, da bin ich ja noch eben zur Zeit. Dort kommt der Zug!«

Sie hatte alle ihr hingestreckten Hände zumal geschüttelt, mit leuchtenden Blicken die Gruppe überflogen.

»Wo ist – ah, Verena, lassen Sie mich Ihnen in den Zug helfen.«

Sie schob ihren Arm durch den der kleinen Verwachsenen und zog sie zur Tür der Halle.

Fröhlich stieg man ein, der Zug donnerte davon und bald war man am Ziele, im Waldhaus.

Ob's ihnen dort gefiel! Ins Feenreich glaubten sie sich versetzt. Sie staunten die Marlis an. Aus solchem Heim konnte man stammen und doch so einfach und natürlich sein?

Das ganze Waldhaus lag schon mit geschlossenen Augen im Winterschlaf.

Bloß im großen Eßzimmer, das an der breiten Gartenterrasse lag, hatte die Verwalterin ein loderndes Kaminfeuer entzündet. Sie war telegraphisch benachrichtigt worden.

»Fein, Frau Müller,« hatte Marlise gejubelt, »gibt's auch was zu knuspern?«

Geheimnisvoll hatte Frau Müller geschmunzelt: »Fräuleinchen werden sehen. Auf fünf Uhr ist alles bestellt.«

»Na, dann an die Arbeit, sonst wird's dunkel.«

Eifrig hatte sich jede irgend ein Motiv und einen Platz gewählt und flink waren alle an die Arbeit gegangen.

Die Marlis war verschwunden.

Plötzlich jagte sie um die Ecke, einen kleinen heulenden Knirps am Kragen, von einer Schar zeternder, schnatternder Gänse gefolgt.

Die fühlten sich offenbar zur Verteidigung ihres Hüters berufen und umringten heftig schnatternd die Marlis.

Wie die stand, fielen sie sie von allen Seiten an und zerrten derb an ihrem Rocksaum und zischten mit ihren Schnäbeln.

Marlise konnte sich ihrer vor Lachen nicht erwehren.

»Stehen bleiben, bitte, bitte, stehen bleiben,« rief da Helene Ehlert und hatte im Handumdrehen ihre Wasserfarben vorgesucht.

Alle anderen kamen lachend näher.

Marlise stand wie festgewurzelt. Sie lockerte den Griff, womit sie den kleinen Heulbengel gepackt hielt. Der reckte sich und hob den Kopf.

»Stillehalten!«

Da stand auch er wie angewachsen und blinzelte scheu nach all den Augen, die ihn anstarrten, nach all den Händen, die da so emsig strichelten.

Was die nur vorhatten?

Bloß die Gänse empfanden keine Spur von Achtung vor der Kunst. Die schnatterten und zeterten weiter, sie rissen und zerrten an Marlisens Rock.

»Wollter euch fortmache,« scheuchte sie das Peterchen, dem diese beharrliche Verteidigung durch seine Getreuen doch ungemütlich wurde.

Da ließen sie ab und nur der alte Gänserich blieb beharrlich.

Aber nun zeterten die Malenden: »Die Gänse in Ruhe lassen, das stört ja das ganze Bild.«

Peterchen duckte sich, Marlise griff fester zu.

»Bäh!« heulte Peterchen.

Da waren auch die Gänse aufs neue zur Stelle mit Schnattern, Zetern und Zerren.

Das Bild von zuvor war wieder hergestellt.

»Wird's Ihnen nicht zu viel, Marlise?« fragte Verena besorgt.

»Zu viel?« entgegnete lachend Marlise. »Ich bin froh, daß ich den Peter auftrieb. Ich dachte mir, der fände Beifall.«

Und dann waren die Skizzen fertig.

Es ging an eine gegenseitige Kritik. Einstimmig erkannten alle Helene Ehlert den Preis zu.

Sie hatte die Situation am drastischsten erfaßt, am klarsten wiedergegeben.

»Rächende Gerächte« hatte sie darunter geschrieben.

»Und so war's auch,« jubelte die Marlis. »Ich hab' den Peter am Ohrläppchen gepackt, weil er ohne Grund auf seine Pfleglinge einhieb. Da machten die Gänse Front gegen mich. Da erst kam mir die Idee, den Peter und die Seinen Modell stehen zu lassen. Nun bin ich selber mit aufs Bild geraten. Eigentlich 'n bissel genierlich. Dem, den die Gänse beißen, traut man nicht eben große Geistesfähigkeilen zu, was?«

Sie lachten alle. Und dann umdrängten sie wieder Helenens Skizze.

Dabei überhörten sie, daß sich ein Schritt auf dem Kies näherte.

Ein Herr trat, immer noch unbemerkt, zu der Gruppe heran. Er reckte den Hals, um zu sehen, was aller Aufmerksamkeit derart fesselte.

»Ha, ha, der Irrwisch im Gedränge!« rief er dann laut auflachend.

Da fuhren alle auseinander und die Marlis faßte strahlend nach seinem Arm.

»Du hier, Onkelchen? das finde ich köstlich. Und nun – nein, das Bild darfst du nicht sehen, die Gänsegesellschaft ist mir zu genierlich, weißt du.«

Aber der Onkel hielt die Skizze schon in Händen und betrachtete sie nun eingehend.

Er war großer Kunstliebhaber, ein tüchtiger Kenner. Er sah, das war eine brave Leistung, versprach vielmehr, eine zu werden.

»Ihre Arbeit, mein Fräulein?«

Er sah Helene Ehlert fragend an. Die nickte leicht, etwas befangen.

»Willst du mich nicht mit deinen Gefährtinnen bekannt machen, Irrwisch?«

Marlise beeilte sich, zu tun, was der Onkel verlangte.

»Ich habe eine Bitte, Fräulein Ehlert,« sagte dieser dann. »Würden Sie mir diese Skizze hier in Öl ausführen? Ich denke, es sollte ein niedliches Bild werden. Der Irrwisch in dieser Gesellschaft ist unbezahlbar.«

»Onkelchen!« Jauchzen, Vorwurf, Dank, Schmollen, alles klang aus dem Ton.

Marlise rieb das Gesicht an des Onkels Schulter.

»Onkelchen!«

Diesmal lag nur noch Entzücken und glühender Dank in dem Anruf.

Bild: Richard Gutschmidt

Der Onkel betrachtet die Skizze

Helene Ehlert war sehr rot geworden. Der Atem versagte ihr beinahe.

»Ich – ich –«–

»Über die Bedingungen werden wir sicher einig, mein Fräulein. Ich überlasse Ihnen vollständig, Maß und Umfang der Leinwand zu bestimmen. Ihr Künstlerblick wird das Rechte treffen.«

Helene stammelte etwas, das niemand verstand. Aber die glühenden Wangen, die nassen Augen redeten umso deutlicher.

Am deutlichsten sprach der Griff, womit Helene danach Marlisens Hände umklammerte, die sie ihr bot.

»Also in der despektierlichen Umgebung der Gänse soll ich rettungslos verewigt werden?« sagte die Marlis. »Eine nette Geschichte! Was meinen Sie dazu, Verena?«

»Ich freue mich namenlos,« flüsterte die und ein leuchtender Blick streifte Helene. »Ich weiß, wie nötig –« Sie brach ab.

Auch alle anderen zeigten die freudigste Teilnahme für Helenens Glück. Neid kannten sie noch nicht, der sonst leider so oft den herrlichsten Beruf, den Künstlerberuf, als häßlicher Schatten umschleicht.

Herr Fritz Erich Albers ließ sich unterdessen die Skizzenbücher der anderen zeigen. Das von Verena hielt er am längsten in der Hand. Er war Kenner genug, den göttlichen Funken hier herauszuspüren.

»Malen Sie auch in Öl, Fräulein Verena? Meine Nichte hat Ihren Namen so oft genannt, daß er mir ganz geläufig ist. Verzeihen Sie!«

»Bis jetzt kopiere ich bloß, Herr Kommerzienrat. Nur ganz im Geheimen habe ich mich an Eigenes gewagt.«

»Darf ich mir Ihre Arbeiten einmal ansehen?«

»Ich – ich –« Verena wurde glühend rot. Sie konnte doch nicht sagen, daß sie in ihrem armseligen kleinen Mansardenstübchen niemand empfangen könne.

Von den Genossinnen im Atelier kannte nur Helene Ehlert Verenas Privatadresse und sie hatte geloben müssen, die nicht zu verraten. Auch Marlise hatte, trotz eifrigsten Bemühens, diese Adresse zu erfahren, keine Ahnung davon. – Herr Fritz Erich Albers sah Verena noch immer fragend an. Da kam Marlise zu Hilfe. Sie ahnte deren Bedenken.

»Im Atelier ist so schönes Licht, Onkelchen. Wir bitten den Professor, ob Verena ihre Sachen dahin bringen darf. Aufs richtige Licht kommt doch so viel an, nicht?«

Ein dankbarer Blick Verenas traf sie. Der Onkel faßte sie am Ohrläppchen.

»Sieh da, der Irrwisch versucht sich in Weltweisheit. Mir ganz neu. Aber darf ich jetzt um Ihren Arm bitten, Fräulein Verena? Ich sehe Frau Müller dort winken und wir dürfen sie nicht warten lassen.«

Mit ritterlicher Höflichkeit bot er Verena und Helene Ehlert den Arm. Die anderen folgten. Marlise flog voraus.

»Ich muß doch rasch mal nachsehen – Wirtin – Pflichten –«

Damit war sie schon wer weiß wie weit.

»Hallo, Irrwisch, zurück!« rief der Onkel hinterher. »Heute bin ich Wirt und die ganze Sache geht dich gar nichts an.«

Nur zögernd kehrte die Marlis um. Aber dann mischte sie sich lachend unter die Genossinnen.

»Na, lassen wir uns überraschen!«

Ein allgemeiner Ausruf des Entzückens wurde laut, als man ins Eßzimmer trat.

Frau Müller hatte schon beleuchtet. Die Flammen im Kamin, dazu die Lampen alle – es sah so heiter festlich aus. Umsomehr, als es draußen schon anfing herbstlich kühl zu dämmern.

Am festlichsten nahm sich die reichbesetzte Tafel inmitten des Raumes aus. Büfettartig mit dem Leckersten und Besten besetzt, das sich denken ließ, bot sie einen lockenden Anblick.

»Wie hast du das ›Tischlein deck dich‹ hier fertig gekriegt, Onkelchen?« jauchzte die Marlis.

»Mein Geheimnis, Irrwisch. Nun bist du Wirtin, ich der Wirt. Tue deine Pflicht. Darf ich bitten, meine Damen?«

Lange bitten ließ sich das muntere Völkchen nun gar nicht.

»Wie im Märchen,« bemerkte lachend eine frische Blondine.

»›Tischlein deck dich‹ ist da. Nun fehlt bloß noch der Esel Bricklebritt,« meinte eine andere, eine übermütige Braune.

»I wo. Dir taugt der Knüppel aus dem Sack besser, wart' nur!«

Schalkhaft drosch ihre Nebensitzerin mit der Serviette auf sie ein.

Herr Fritz Erich Albers war ein sehr aufmerksamer Wirt. Es machte ihm sichtlich Freude, seine Gäste so recht nach Herzenslust schmausen zu sehen.

Frau Müller brachte noch etwas angeschleppt. Einen Eiskühler, aus dem verlockend silberne Flaschenhälse hervorsahen.

»Mein Märchen!« jauchzte da die übermütige Braune. »Nun kommt der Bricklebritt. Das prickelt!«

Die Gläser waren gefüllt.

»Die Kunst, meine Damen!«

Jubelnd klangen die Gläser zusammen.

»Die Kunst! Unsere Kunst!«

»Unser Wirt!« rief danach die lustige Blonde.

Wie gern und fröhlich sie alle darauf Bescheid taten!

»Und nun unsere Wirtin!« Verena sagte das.

Da stieg der Jubel ins Ungemessene. Wieder und wieder mußte Marlise Bescheid tun. Und sie tat's leuchtend, strahlend.

Eine Hand legte sich auf die ihre, Verenas Hand.

»Unser guter Geist!« hauchte sie leise und hob Marlise nochmals das Glas zu.

Da fiel ihr die Marlis um den Hals und unter ihren Küssen mußte Verena alles weitere für sich behalten.

Herr Fritz Erich Albers hatte inzwischen noch alles mit Helene Ehlert vereinbart, was das Bild betraf.

So mutig und freudvoll, so ohne Bitterkeit hatte Helene noch nie ins Leben geschaut. Als Marlise wieder einmal an ihr vorüberhuschte, faßte sie sie und hielt sie fest.

»Ich wußte gar nicht, daß die Sonne auch für mich da sei, Kind. Heute habe ich's gelernt und das danke ich Ihnen.«

»Mir?« sagte die Marlis und tat sehr unbefangen, »behüte, einzig Ihrem Können danken Sie's!«

Helene sagte nichts weiter. Traumverloren sah sie vor sich hin, aber ihre Augen glänzten.

Und dann war die Dunkelheit wirklich da und die Zeit zum Aufbruch.

Marlise hätte damit gerne noch gezögert, aber sie hatte heute noch eine Freundespflicht zu erfüllen und zwar eine schwere.

Es war Resi Köllers letzter Abschied hier in der alten Heimat.

Präsident Köller war versetzt worden und schon vor mehreren Wochen an den neuen Wohnort abgegangen. Nun sollten ihm die Seinen morgen in aller Frühe dahin folgen.

Marlise hatte versprochen, den letzten Abend noch mit der Freundin zuzubringen.

Dahin zog es sie nun.

»So schade es ist, Onkelchen – und du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin – aber wir müssen gehen. Ich möchte Resi nicht warten lassen.«

»Sollst du auch nicht, Irrwisch, behüte. Resi hat heute das größte Anrecht auf dich. Noch ein Glas, meine Damen, auf Ihre Zukunft!«

Jubelnd taten sie Bescheid, selbst Helene Ehlert.

Der war das Wort Zukunft früher gleichbedeutend gewesen mit einem schrecklich drohenden Gespenst. Heute jagte das Wort nicht den Glanz aus ihren Augen, das Lächeln von ihrem Munde.

»Auf die Zukunft, Fräulein Wreden. Ihre ist ja wohl zweifellos rosig. Zum ersten Male heute sehe ich der meinen zuversichtlicher entgegen und das – danke ich gleichfalls Ihnen.«

Wie widerwillig rang es sich los. Aber mit warmem Griff faßte sie Marlisens Hand und sah ihr dabei tief in die Augen.

Und nun verabschiedeten sie sich von ihrem Wirt.

Herr Fritz Erich Albers wollte mit seinem Wagen zur Stadt zurückfahren. Marlise wollte er mitnehmen.

»Zwei Plätze haben wir noch. Wer von den Damen begleitet uns?«

Es wurde bestimmt, daß Helene und Verena mitkämen und so trennte man sich.

»Einen schöneren Tag habe ich noch nie erlebt,« versicherte die frische Blonde.

»Wir auch nicht! Wir auch nicht!« stimmten die anderen ein.

Unter Scherzen und Lachen brachen sie zur Bahn auf. Die anderen wurden im Wagen verpackt. Bald lag das Waldhaus wieder in friedlicher Stille und schlummerte dem Winter entgegen. –


In den lieben trauten Räumen bei Köllers sah es gar unbehaglich aus.

Alles war verpackt und verstaut. Ein Möbelwagen war schon abgegangen. Der Rest wurde morgen früh aufgeladen, wenn die Familie abgereist war.

Unter allen Verhältnissen ist eine solche Übergangszeit eine äußerst unbehagliche. Hier kam dazu, daß Köllers sich sehr ungern von der alten lieben Heimat trennten und der neuen mit Mißtrauen entgegensahen.

Resi verlieren zu müssen, war der erste wirkliche Schmerz, der in Marlisens jungem Leben an sie herantrat.

Es hatte sie schon viele Tränen gekostet. Aber sie war zu sonnig, um sich auf die Dauer davon niederdrücken zu lassen.

Als der Wagen bei Köllers vorfuhr – Onkel hatte versprochen, Verena und Helene danach heimzufahren – hatte Marlise noch mit Lust und Lachen Abschied genommen.

Wie dann die Haustür aufging und die Marlis ins Haus trat, war das ganze Trennungsweh über sie hergefallen.

Wie kahl es im Flur aussah, wo sonst Spiegel, Stühle, Tische, Teppiche und Vorhänge es so traut gemacht hatten.

Auf der kahlen Treppe saßen die Märchenkinder Hänsel und Gretel und hielten einen traurig zugerichteten Hampelmann zwischen sich.

»Müssen fortdehen von arme tleine Hammelmann,« sagte Gretel und schnüffelte ganz verdächtig. Warum sie Hammelmann sagte, wußte niemand.

»Sein Ham-pelmann,« belehrte Hänsel.

»Ham-pel-mann,« wiederholte Gretel gelehrig. »Arme tleine Hammelmann.«

»Resi wollen fortwerfen!«

»Nix fortwerfen.«

Nun schnüffelten die beiden. Von Marlise nahmen sie in ihrem Schmerz weiter nicht viel Notiz.

»Mis Hampelmann mitnehmen,« sagte plötzlich Hänsel entschlossen und zwängte den Gegenstand ihres Leids in seine kleine Hosentasche. Kopf und Arme sahen trotz allen Bemühens vor.

»Arme tleine Hammelmann raustucken. Dretel nehmen.« Sie griff danach. Hänsel wehrte sich. Fast hätte es Streit gegeben. Da kam Hänsel eine leuchtende Idee.

»Is weiß, wo Hampelmann hintun.«

Und ehe Gretel wußte, wie ihr geschah, war ihr der »arme tleine Hammelmann« vorn in ihren Halsausschnitt gestopft, wo er denn auch spurlos niedertauchte.

Gretel war zuerst sehr verblüfft, wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Schließlich nickte sie sehr befriedigt: »Arme kleine Hammelmann tönnen so mittommen. Müssen nix Fahrtarte zahlen.«

Das hatte Resi als Vorwand genommen, um die Mitnahme des schrecklichen Hansels zu verweigern.

Sehr getröstet standen die Kleinen nun Hand in Hand vor Marlise.

»Du nix mittommen?«

»Ich kann nicht.«

»Mis dis wollen Tasche nehmen,« schlug Hänsel großmütig vor.

Da lachte Marlise hell auf und ihr Lachen weckte in dem öden Haus mehr als ein Echo.

Oben klappten ein paar Türen.

»Marlis, komm doch, Marlis!« rief eine weiche Stimme, und das war Resi.

»Gott sei Dank, die Marlis,« riefen die Backfische. Else und Gustel und sausten die Treppe herab.

»Marlise, Kind, wir warten schon lange!«

Das war das Rese-Mütterchen und zu ihr flog die Marlis zuerst hin.

»Rese-Mütterchen, kann's – kann's denn wahr sein, geht ihr wirklich?«

Jetzt war die Marlis in Tränen. Resi schluchzte herzbrechend, desgleichen die Backfische. Die Märchenkinder legten mit vollen Lungen los.

»Kinder, so geht das nicht,« sagte die Frau Präsident ganz erschrocken. »Wir müssen alle sehr tapfer sein.«

Aber die Marlis und Resi hielten sich in den Armen und schluchzten bitterlich.

Das Rese-Mütterchen streichelte an ihnen herum.

»Kinder, Kinder, Kopf oben. Die Marlis besucht uns bald. Und Vater schreibt, in S ... sei's gut sein.«

»Warum man sich trennen muß im Leben?« schluchzte die Marlis.

»Kind, es gibt schwereres Abschiednehmen. Gott behüte dich davor.«

Noch ein Weilchen schluchzten sie. Dann hob die Marlis zuerst den Kopf.

»Wird das ein Wiedersehen werden! Augen gewischt, Resi. An Ostern kommst du. Dein Vater hat's versprochen. Bis dahin freilich – puh, wenn nur der Malkurs nicht wäre! Der macht mir noch graue Haare. Schaut mal nach, Else, Gustel, ob nicht schon welche da sind.«

Da war die frohe Stimmung wieder hergestellt.

Sie aßen alle zusammen zu Nacht. Die Märchenkinder waren zuerst zu Bett gebracht worden und die Marlis hatte ihnen die Decken einstecken müssen.

»Is dis lieb haben,« versicherte Hänsel und warf die dicken Ärmchen um ihren Hals.

»Dis lieb haben,« echote Gretel. Aber statt die Marlis zu umarmen, gähnte sie plötzlich laut auf und war eingeschlafen.

Die Marlis und Resi saßen nach dem Abendessen innig umschlungen im dunkelsten Winkel des Zimmers.

Das Rese-Mütterchen hatte Else und Gustel mit allerlei Aufträgen fern zu halten gewußt. Sie gönnte den beiden noch ein ungestörtes Stündchen zusammen zu sein.

»Wie du mir fehlen wirst, Resi, du liebe Moraltante. Wer soll mir den Kopf zurechtsetzen, wenn du fort bist? Überhaupt – was ich nur anfange?« Es klang sehr wehmütig.

»Du hast dein Malen, Marlis.«

»Pah,« machte die.

»Nimm's ernst, Marlis. Ich weiß, deine Mama –«

»Kommst du mir auch so? Du, das find' ich gräßlich. Dies ewige Stillhocken – ich halt's nicht aus!«

»Die anderen müssen's doch auch, Marlis.«

»Ach, die – die –«

»Wie sind sie eigentlich?«

»Nett, Resi. Namentlich die Verena.«

»Gefällt mir auch nach allem, was du erzählst. Sag, ich vermache ihr meinen Posten als Moraltante, als dein Gewissen. Sie –«

Der Resi kippte die Stimme um, die Marlis schluchzte. Sie hielten sich fest umfaßt.

Und dann klang's gleich danach wieder wie Kichern. Dann hörte sich's nach Tränen an und hinterher, in unmittelbarem Übergang, kam Lachen und wieder Schluchzen und wieder Kichern.

Das Rese-Mütterchen am Tisch dort unter der Hängelampe lächelte vor sich hin und fuhr sich zugleich über die Augen.

»Ich glaube gar, das steckt an,« sagte sie leise. »O, die Tage, wo Lachen und Weinen so dicht beisammen wohnen. Wer die erhalten könnte!«

Und dann war das Ende da.

Unten fuhr der Wagen vor.

»Der Wagen schon!« Es war wie ein Schreckensschrei.

Die Marlis wanderte aus einem Arm in den anderen. Sie war ganz blind von Tränen und kam erst wieder zu sich, als sie im Wagen saß, den Kopf zum Schlag herausstreckte und »lebt wohl! Lebt alle wohl!« rief.

Sie standen auf den Stufen vor der Haustür und winkten.

Die Marlis wußte gar nicht, wie's anstellen mit Winken und Augenwischen. Sie hatte doch nur zwei Hände und ein Tüchlein.

Und dann zogen die Pferde an. Die Marlis fiel auf ihren Sitz zurück. Und als sie danach den Kopf wieder zum Schlag herausstreckte, war der Wagen schon um die Ecke. Resi und die Ihren waren verschwunden. – –


Wochen waren seitdem ins Land gezogen.

Resis Berichte hatten zuerst sehr nach Heimweh geklungen.

»Wenn man so über die Straße geht und nirgends ein bekanntes liebes Gesicht sieht, das einem zunickt und zulacht, dann kommt man sich vor wie ausgestoßen. Mir ist nur in unseren vier Wänden wohl.«

So hatte es anfangs geheißen.

Dann war ein Brief gekommen: »Weißt du, wen ich heute unterwegs traf? Du rätst es im Leben nicht, Marlis. Unseren ›Kutschenmann‹ aus der Lenk! Er erkannte mich sofort, denke dir. Erinnerst du dich seiner? Wie mir die alten lieben Zeiten wach wurden. Herr Assessor Linden arbeitet unter Väterchen und hat neulich Besuch bei uns gemacht. Ich fange doch schon an, mich heimischer hier zu fühlen.«

Seitdem hatten die Briefe immer vergnügter gelautet. Das Heimweh war schließlich ganz draus verschwunden.

Auch die Marlis lebte ihr Leben weiter und hing den Kopf nicht. Das war ihr nicht gegeben.

Zuerst malte sie noch sehr eifrig. Aber dann – ja dann –

Onkel und Nichte traten strahlend bei Frau Helene ein.

Es war ein früher Winter. Erst Anfang Dezember war's, und schon lag eine dichte, feste Schneehülle über Feld und Flur.

Die Eisdecke auf dem Fluß war seit drei Tagen tragfähig und dort tummelte sich auf der blitzenden Fläche, was jung und frisch und lebensfroh und lustig war.

Auch die Marlis. Ja, die Marlis auch.

Als sie jetzt eben mit dem Onkel bei der Mutter eintrat, brachte sie die ganze Atmosphäre von Lust und Leben und Frohsinn mit. Alles an ihr lebte und lachte.

Froh sah Frau Helene auf ihr Kind. Ihr Plan mit dem Malkurs zeitigte schon Früchte. Marie-Luise empfand sichtlich den Segen treuer Pflichterfüllung.

»Wie war's, Marie-Luise?«

»Herrlich, Mammi, wundervoll!«

»Hast du den Ausdruck in den Augen nun herausgekriegt, der dir so zu schaffen machte?«

Vorerst kriegte die Marlis einen Ausdruck in die eigenen Augen, der ihr sichtlich nicht weniger zu schaffen machte.

Verlegenheit, Schelmerei, ein bißchen Reue, ein bißchen Scham, alles zeigte sich drin.

»Ich – ich – Mammi –«

Ein hilfeflehender Blick streifte den Onkel. Der trat vor. Da sah Frau Helene erst ihr Kind genau an und wurde aufmerksam.

»Was heißt das, Marie-Luise, warum antwortest du nicht? Wie war's beim Malen?«

»Beim Malen? Ja, Mammi, ich war ja auf dem Eise.«

»Marie-Luise!«

»Ja, Mammi, es war ja so wundervolles Wetter und ich wollte nur mal ein kleines bißchen am Fluß zusehen. Da, ja da – na, da war ich drauf, ehe ich wußte wie, und es war zu, zu wundervoll.«

Marlise stand bei der Mutter und suchte ihr glühendes Gesicht an deren Wange zu schmiegen.

»Herzensmammi!«

Frau Helene schob sie von sich.

»Und die Schlittschuhe? Die hast du wohl schon in der Absicht, aufs Eis zu gehen, mitgenommen, Marie-Luise?«

Da fuhr Marlise ganz gekränkt auf.

»Behüte, Mammi. Ich hab' mir einfach dort ein Paar geliehen. Ich wollte nur ganz kurz bleiben, aber da war's gleich zwölf Uhr, siehst du. Da kam der Onkel vorbei und – und –«

»Ich sehe nicht ein, Helene, weshalb das Kind die Zeit, solange es Eis gibt, nicht genießen soll. Malen kann sie noch lange, überhaupt –«

Da war der alte Kampf wieder. Frau Helene war zu müde, ihn auszufechten.

»Ich hatte das Beste des Kindes im Auge, Fritz. Pflichten im Leben muß ein jeder haben, ausüben. Marie-Luise –«

»Ist noch so jung, Helene.«

»Wohl, Fritz. In der Jugend lernt sich's am leichtesten.«

»Die Jugend soll ihr Vergnügen haben, Helene.«

»Eben darum, Fritz. Ich halte an dem Grundsatz fest: ohne treue Pflichterfüllung kein reines Vergnügen.«

»Das Kind soll das Leben genießen, Helene.«

»Nur genießen, Fritz? Ich fürchte –«

Frau Helene ließ den Kopf tief auf die Brust sinken.

Schon war die Marlis bei ihr und umschlang sie leidenschaftlich.

»Ich will ja malen, Mammi, ich will ja alles tun, was du willst. Nur mach die Augen nicht. Die kann ich nicht sehen. Ich nehme in jede Hand 'nen Pinsel und pinsele drauf los. Nur sei wieder gut – wieder froh.«

Die Marlis lachte durch ihre Tränen durch. Die Idee von dem Pinsel in jeder Hand war auch zu drollig. Sie sah sich schon so an der Staffelei stehen. Mit der Linken malte sie das Lieschen, deren Stumpfnase ihr nun schon geläufig war. Die Rechte blieb dem alten Mann und seinem Stoppelbart geweiht, der eben samt seinen Lumpen auf dem Podium im Atelier Modell stand.

Hell lachte die Marlis, klingend. Sie flog auf den Onkel zu, der seit dem Wortwechsel mit der Schwester stirnrunzelnd und auf die Scheiben trommelnd am Fenster stand. Marlise schmiegte sich zärtlich an ihn und zupfte ihn am Ohrläppchen.

Dann lag sie neben Mammis Sessel am Boden und umfing dieselbe.

»Gut sein, Mammi, bitte, bitte!«

Und Frau Helene strich ihrem Kind über den Scheitel und sah ihm dabei tief in die glänzenden Augen.

Der Lichtfülle, die da draus hervorbrach, hielt kein Schatten stand. Aber trotz aller guten Vorsätze wurde es doch mit dem ernsten Malen weniger und weniger.

Die Wintergeselligkeit fing schon an.

In die Nacht hinein tanzen, in den Tag hinein schlafen, wo sollte da der frische Blick, die feste Hand zum Zeichnen herkommen?

Dann die Eisvergnügungen, Weihnachtssorgen – der wirklichen Arbeitstunden im Atelier wurden's weniger und weniger.

Selten nur steckte die Marlis ihr frohes Gesicht zur Tür des Arbeitsraums herein und wurde dann jedesmal mit Hallo und Vorwürfen, aber auch mit Freuden begrüßt.

»Da sind Sie ja endlich einmal wieder, Sie Faulpelz!«

»Wo stecken Sie eigentlich?«

»Gibt's denn gar so viel Vergnügen da draußen?«

»Nur immer flink an die Arbeit!«

»Arbeit ist süß!«

»Endlich sieht man Ihr liebes Gesicht wieder, Kind. Ich habe mich sehr danach gesehnt.«

Verena sagte das. Verena sah gar nicht gut aus.

Marlise hielt schon ihre beiden Hände gefaßt und sah ihr betroffen in das blasse, müde, schmerzverzogene Gesicht.

»Was ist Ihnen, Verena?«

»Nichts, Kind, ich bin nur ein bißchen müde.«

»Work – work – work,
Till the brain begins to swimm,
Work – work – work,
Till the eyes are heavy and dim.«

fuhr es Marlise durch den Sinn. Fast leidenschaftlich preßte sie Verena an sich.

»Sie sollen nicht arbeiten, wenn Sie so elend sind, Verena. Sie –«

»Man muß leben, Kind.«

»Könnte nicht Onkel –?«

Es war nur ein Hauch.

Blutübergossen fuhr Verena auf. Mit einer Abweisung im Ton, die förmlich wie ein Geißelhieb traf, sagte sie: »Wie dürfen Sie, Marlise!«

Die war zurückgefahren, als habe sie wirklich einen Schlag erhalten.

»Ich – ich – verzeihen Sie!«

Und so rot sie jetzt war, so blaß war Verena geworden.

Ruhig und milde, als sei nichts geschehen, wies sie gleich darauf lächelnd nach einer leeren Staffelei.

»Sehen Sie mal, Marlise, wie leichtsinnig der Erfolg macht. Wer hätte das unserer Helene zugetraut. Gestern tat sie den letzten Pinselstrich an dem bewußten Gänsebild und heute macht sie gleich einen Feiertag.«

»Also das Bild ist fertig? Hurra! Das muß ich Onkel gleich berichten.«

»Es ist wohl bereits in seinem Besitz. Ein Dienstmann hat es vorhin fortgetragen. Helene –«

Aber Verena kam nicht zu Ende mit dem, was sie sagen wollte.

»Da muß ich doch schnell –«

Damit war Marlise davongeflogen. Die Tür stand offen, man sah sie über den Korridor hineilen. Und ehe eine der Nachschauenden sich zu einem Wort oder Ruf aufraffen konnte, war der Irrwisch schon um die Ecke.

»Da geht sie hin!«

»Wie 'ne Sternschnuppe!«

»Kurzes Vergnügen!«

»Wer auch so tun könnte, was er just will!«

Eine kleine blasse Braune seufzte das.

»Tun können, was man muß, ist viel mehr wert, Irmgard, glauben Sie mir.« Verena sagte es sehr leise. »Etwas tun müssen und nicht die Kraft dazu haben – können Sie sich Schlimmeres denken?«

Die kleine Braune hing den Kopf und dann trat sie zu Verena heran und legte den Arm um deren Schultern.

»Leiden Sie eben sehr viel, Verena?«

Die hob bloß den müden Blick und lächelte sanft.

»Es läßt sich noch immer tragen, Gott sei Dank. Aber, was ist denn das?«

Mit Hallo und hellem, klingendem Lachen stob es den Korridor wieder herauf.

Marlise! Atemlos stand sie vor Verena.

»Fast hätte ich vergessen. Onkel läßt bitten, ihm einen Tag zu bestimmen, an dem er Ihre Zeichnungen hier sehen könnte, Verena. Er hat neulich mit dem Professor gesprochen und der erlaubt es. Ich sollte es schon lange sagen, aber –« ein leuchtender Schelmenblick in Verenas Augen – »so'n Irrwisch wie ich ist eben unverbesserlich, sehen Sie. Bitte, bitte, nicht zürnen. Und wann darf Onkel kommen? Morgen? Ja? Bitte, bitte!«

Verena war hochrot. Wie eisige Abwehr wollte es wiederum in ihren Augen aufblitzen. Aber dann senkte sie ergeben den Kopf. Hatte sie das Recht, solche Hilfe abzuweisen, selbst wenn – ja, es mußte gesagt sein – selbst wenn sie sich ihr aus Mitleid bot?

»Ich werde es Sie wissen lassen, Marlise. Ich –«

Aber die Marlis hörte nicht weiter.

»Dank, tausend Dank!« jauchzte sie. »Und nun zu den Gänsen!«

Zum zweiten Male flog sie über den Korridor. Diesmal verschwand sie endgültig um die Ecke.

Und für eine ganze Weile, für Wochen, verschwand sie danach überhaupt aus dem Atelier, aus den Augen, wenn auch nicht aus dem Sinn ihrer Malgefährtinnen.

Das letzte, was die einstweilen von ihr hörten, war durch Helene Ehlert.

Freudestrahlend trat die anderen Morgens ins Atelier.

»Kinder, Kinder, nobel ist er, das muß ich sagen. Nobel und großmütig. Sie auch.«

»Wie? Was? Wer?«

»Die Prinzeß und ihr Onkel.«

»Erzählen! Beichten! Haarklein berichten!«

Atemlos umdrängten sie Helene.

»Nur nicht so drängeln, bitte. Uff! Respekt, unsereiner braucht jetzt Raum. Was glaubt ihr, daß da drin ist?«

Helene hielt eine sehr abgegriffene Geldbörse hoch.

Sie lachten, sie rieten. Von zwanzig Mark bis zu tausend schwankten sie bunt durcheinander.

»Dreihundert Mark! Was sagt ihr nun?«

Helene warf sich in die Brust. Sie strahlte. Sie sah ordentlich hübsch aus. Keine hatte sie noch so gesehen.

Sie beglückwünschten sie alle von Herzen.

»Die Prinzeß war einzig,« erzählte Helene lachend. »Die Freude an den Gänsen hättet ihr sehen sollen. Anderes gab's anscheinend für sie nicht auf dem Bild. ›Du, Onkelchen, welche von den sechsen gefällt dir am besten?‹ fragte sie freudestrahlend. ›Die siebente‹, sagte er trocken. Da hättet ihr den drolligen Zorn sehen müssen, mit dem sie über ihn herfiel. Urkomisch, sage ich euch. Mir hat die Prinzeß nie vorher so gefallen.«

»Ein Wunder,« neckten die einen.

»Unbegreiflich,« lachten die anderen.

»Übrigens, wo ist Verena? Ich soll sie an ihr Versprechen wegen der Skizzen mahnen. Herr Fritz Erich Albers scheint Eile zu haben, möglichst viele Kunstschätze aus unserem Atelier seiner Sammlung einzuverleiben. Also, Verena – ja, wo ist Verena eigentlich?«

Ja, wo war Verena?

Die lag daheim in ihrer kalten, ärmlichen Mansarde auf ihrem Schmerzenslager. Sie hatte nicht aufstehen können diesen Morgen. Der arme leidende Körper hatte ernstlich versagt.

So lag sie für Wochen.

Im Atelier kannte man ihre Adresse nicht. Helene, die sie kannte, durfte nichts verraten. Sie verriet auch nicht, wo der größte Teil ihres ersten Verdienstes hinging.

Die Gefährtinnen im Atelier begnügten sich damit, tägliche Berichte über Verena von Helene zu erhalten.

Sonst kannte sie keiner, fragte keiner nach ihr, außer der Professor. Und dem erteilte Helene ebenfalls regelmäßig Bescheid.

Die Marlis schien verschollen, untergetaucht im Strudel der tausenderlei Vergnügungen in der Welt draußen. Auch Herr Fritz Erich Albers hatte plötzlich gar keine Eile mehr, Verenas Skizzen zu besichtigen.

Die konnten ruhig bleiben, wo sie waren, gegen die weißgetünchte Wand der kahlen Mansarde gelehnt, wo Verena einsam und verlassen ihre Schmerzen erduldete.

Wenn Helene Ehlert nicht gewesen wäre mit der rauhborstigen Schale und dem goldtreuen Kern, es wäre schlimm um die arme Verena bestellt gewesen.

Not steht der Not am nächsten. Wer nie darben mußte, weiß nicht, wie weh der Hunger tut.

Und gar im Trubel der Weihnachtszeit. Wer hätte da an kleine kahle Mansarden, an arme Kranke denken sollen?

Die Marlis tat's nicht. Viele andere auch nicht.

Es gab eben gar so viel Schönes und Frohes und Lachendes, gar so viel Sonnenschein in der Welt. Wem kam da der Schatten zu Sinn, der sich doch notwendig irgendwohin hatte verkriechen müssen? Denn wo Sonne war, mußte es Schatten geben!

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