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Allerhand Lustiges

Der Zug keuchte daher.

Dies Keuchen mußte Angewohnheit sein, vom beschleunigten Tempo konnte es nicht stammen. – Er nahm's gemütlich, der Zug. So gemütlich, wie's eben Lokalzüge zu tun pflegen, die durch dichtbevölkerte Strecken fahren und an einer Station schon anfangen zu bremsen, um an der nächsten richtig halten zu können. Es war warm im Abteil dritter Klasse. Die Aprilsonne meinte es zur Abwechslung einmal beinahe sommerlich gut mit der frühlingsjungen Erde. Sie wollte offenbar sühnen, was ein launischer Schneeschauer gestern verbrochen hatte.

Beide Fenster standen offen. Dennoch wischten die Insassen des Wagenabteils mit Händen und Tüchern an den glänzenden Gesichtern, stöhnten und schwitzten.

Sie saßen dichtgedrängt.

»Uff, 's macht heiß,« sagte eben eine dicke Frau, die eigentlich zwei Plätze hätte zahlen müssen, denn ihr Leibesumfang ließ sich unmöglich auf einen Platz zusammendämmen. Dabei hielt sie noch einen riesigen Marktkorb auf den Knieen.

Daneben saß eine Frau, genau so mager, wie die andere dick war, das heißt im Übermaß.

»Des glauw ich,« sagte die nun, und ein spöttischer Blick traf die Dicke, »wammer so ausgepolstert is –«

»Als noch besser, als wann sich die annere blaue Mäler an de Knoche stoße,« versetzte lachend die Dicke. »Ich sag's ja, des hat e Loch gewe!«

Sie hob den Arm und untersuchte ihre Jacke an der Seite, wo sich die dürre Nachbarin mittels des Ellbogens etwas Luft zu schaffen versucht hatte.

Die anderen lachten.

Die Dürre wollte eben etwas erwidern. Da hielt der Zug zum ungezählten Male.

Die Tür flog auf. Draußen hörte man eilende Schritte und eine lachende Stimme.

»Einerlei wo, nur schnell ins erste beste! Hier!«

»Mir kenne niemand mehr brauche. Mir sitze schon so wie die Hering. Ei was glauwe Se denn, Sie, Herr Konderdör, mir sein net aus Gummi, mir –«

Die Dicke stellte ihren keifenden Protest ein.

Was da in der geöffneten Tür auftauchte, hatte sie zum Schweigen gebracht.

Eine weiße, schlanke Gestalt. Aus rosigem, frühlingsfrischem Gesicht, das weißblonde schimmernde Ringellöckchen umzitterten, lachten zwei lichtbraune Augen in den Wagen herein wie die Sonne selber draußen.

Einen Riesenkarton schob die Gestalt vor sich her.

»Bitte! Es gibt doch noch ein Plätzchen für mich, ja?« sagte eine glockenhelle Stimme.

»Alleweil, Freileinche! Nur als erein!«

Die Dicke griff nach dem Karton und setzte ihn neben den Marktkorb in ihren umfangreichen Schoß.

Die Magere an ihrer Seite wurde dabei noch empfindlicher gequetscht, sie schien's aber nicht zu fühlen.

Sie sah nur immerzu das lichte junge Menschenkind an, das da wie hergezaubert plötzlich mitten unter ihnen stand.

Auf der anderen Seite waren sie noch enger zusammengerückt.

Auf den schmalen so gewonnenen Raum setzte sich nun Marlise mit freundlichem Dank.

Es war wirklich Marlise Wreden.

Erst hatte sie noch einmal kichernd zum Fenster hinausgesehen. Nun saß sie auf ihrem schmalen Platz, strich sich über das offenbar vom Lauf erhitzte Gesicht und sah mit hellen Augen um sich.

In der offenen Tür stand noch immer der Schaffner.

Wohlgefällig schmunzelnd betrachtete er den neu zugestiegenen Passagier.

Marlise sah ihn an.

»Ja so, die Karte!«

Sie fuhr auf und kramte in ihrer Tasche.

Dabei fiel ihr Blick ins Freie.

Plötzlich hatte sie ihr Taschentuch in der Hand und schwenkte es zur offenen Tür hinaus.

»Hallo, Franz, hier! Ausgekniffen! Hahaha!«

Sie rief's mit klingender Stimme. Ihr Lachen weckte ein Echo bei allen, die's hörten.

Alle Hälse reckten sich, zu sehen, wem der Zuruf galt.

Man sah einen betreßten Diener übers Feld eilen, einen großen weißen Hund hinterher.

Als er den Zuruf hörte, stand der Mann wie zu Stein erstarrt. Dann hob er die Arme und schlug die Hände zusammen, ein Bild stummer Ratlosigkeit.

Der Hund machte ein paar weite Sätze dem Zuge zu.

Der bog um die Kurve.

Marlise lachte noch einmal hell auf, winkte noch einmal und dann waren Mann und Hund verschwunden.

Sie schlug die Hände zusammen und wollte sich auf dem Absatz drehen.

Der Raum war zu eng, der Zug stieß. Sie verlor das Gleichgewicht und saß auf dem Schoß der Dicken zwischen Karton und Marktkorb.

Sie lachte noch immer, hell, klingend.

Dann raffte sie sich auf.

»Verzeihen Sie –« – sie strahlte die Dicke an – »ich – ich bin nämlich durchgebrannt und – und – ach, es ist zu komisch!«

Sie mußten alle mitlachen. Solch jungfrisches, frohes Lachen steckt an.

»Ihne Ihr Fahrkart', Freileinche,« mahnte der Schaffner, der noch immer geduldig auf dem Trittbrett stand.

»Ja so!«

Marlise suchte und fand die Karte. Sie lautete auf erste Klasse. Der Mann sah fragend auf, sagte aber nichts. Dann durchlochte er sie, die Tür flog zu. Alles war in Ordnung.

Marlise saß auf ihrem Sitz. Sie hatte den Hut abgenommen und strich sich die Haare aus der heißen Stirn.

»Ja, ja, 's macht barwarisch heiß,« sagte die Dicke gutmütig und lachte sie an.

Marlise nickte.

»Und gerannt bin ich! Beinahe hätte mich der Franz noch erwischt. Die werden Augen machen daheim. Mammi – aber, herrjeh, wo ist denn mein Karton? Sie halten ihn ja immer noch. Bitte, geben Sie doch her, der belästigt Sie ja.«

Die flinken Hände zerrten eilig den Karton vom Schoß der Dicken.

Diese lachte, und Marlise lachte mit.

»Danke,« sagte sie freundlich.

Sie sahen sie alle lächelnd an. Das helle junge Gesicht hatte es ihnen angetan. Und daß es noch voller im Abteil und noch enger geworden war, spürten sie gar nicht.

Im Gegenteil.

Mit Marlise schien der Hauch von etwas Jungem, Frischem, Belebendem in den engen, heißen Raum gekommen zu sein. Es war, als ob alle freier, leichter atmeten.

Dann trat eine Pause im Gespräche ein.

Marlise träumte mit den hellen, jungen Augen hinaus in den Sonnenschein. Frohe Bilder mußten es sein, die da vor ihr aufstiegen. Ein paarmal kicherte sie leise vor sich hin. Dann unterhielten sich die anderen Fahrgäste wieder, unwillkürlich gedämpft.

Ein Piepstimmchen weckte Marlise aus ihren Träumen.

»Herrjeh, ein Kind! Ein Wickelkind! Wie putzig! Gehört's Ihnen?«

Sie sah die Dicke an, als ob ihr die aus irgendwelchem Grunde als die Würdigste erschiene.

Die lachte.

»Dhet mer grad abgehe. So e Wurm kennt ich grad noch brauche.« Ein Lachchor echote.

»Ihnen?«

Marlise hatte sich lebhaft an die gewandt, die das Kind hielt.

Stolz und verschämt zugleich nickte die. Sie schien nicht sehr viel älter als Marlise.

Die junge Frau steckte offenbar in ihrem besten Feiertagsstaat. Ein neumodischer Kragen lag um die Schultern, der sie anscheinend sehr belästigte, ein Hut saß ihr auf dem Kopfe, mit dem sie ewig im Streit war, da er immer zur Seite rutschte.

Mit Klopfen, Stoßen und Schütteln beschwichtigte sie das Kind, das unruhig werden wollte.

»Mir gehn sein Bappa besuche. Der schafft in der Fawrik,« erzählte sie wichtig. »Es is so viel ze dhue, daß er nit heim kann ewe. Gelle, Meische, de Bappa kommt, de Bappa bringt dem Kind e Zuckerblätzche.«

Das Kind gröhlte und prustete und griff mit den Händchen in die Luft.

»Mei Eltern wohne auch in der Stadt. Do bleiwe mer e paar Tag. De Wage haw ich auch mitgenomme.«

Nun die Schleusen ihrer Beredsamkeit geöffnet waren, schlossen sie sich so leicht nicht wieder.

Marlise hörte freundlich zu. Sie nickte, sie lächelte, obgleich sie nicht alles verstand, und sie ließ das Kind mit den ungeschickten Fäustchen nach ihrem Finger fassen.

Der Zug hielt, eine Vorortstation der Stadt war erreicht. Die Passagiere stiegen aus bis auf Marlise und die junge Mutter.

Alle hatten beim Verlassen des Wagens einen freundlichen Abschiedsgruß für Marlise, den die freundlich erwiderte.

Der Dicken, die sich mit ihrem Karton geplagt hatte, hatte sie die biedere Rechte geschüttelt.

Nun kam der Hauptbahnhof in Sicht.

Ehe man in die Halle einfuhr, sagte die junge Mutter: »Mei Mutter holt mich. Die muß mer des Kind halte, bis ich de Wage hab'.«

Marlise nickte zerstreut. Sie war in Gedanken nun schon ganz beim Kommenden.

Der Zug fuhr ein.

»Fünf Minuten Aufenthalt!«

Die Schaffner rissen die Türen auf.

Marlise wollte eben aussteigen, da drängte die junge Frau mit dem Kind sich rücksichtslos an ihr vorüber.

Sie war sehr aufgeregt. Der Hut saß auf dem einen Ohr, die Hahnenfedern nickten, der Kragen flatterte hinter ihr her.

Ebenso rücksichtslos drängte sie sich durch die Menschen, die auf dem Bahnsteig standen. Kräftig schob sie mit dem freien Arm, wer sie hinderte, zur Seite.

Man lachte oder ärgerte sich, je nach Anlage und Temperament.

Marlise blieb in der offenen Tür ihres Abteils stehen und sah ihr eine Minute lächelnd nach.

Dann wandte sie sich, ihren Karton zu fassen.

Sie zog ihn hinter sich her und sprang über das Trittbrett hinab.

Da fühlte sie sich plötzlich gepackt, fühlte, daß ihr jemand etwas in die Arme schob.

Unwillkürlich faßte sie zu, besah, was sie faßte.

Sie hielt das Wickelkind im dicken Wolltuch eingebündelt.

Eben verschwand die Frau mit dem schiefen Hut im Gedränge.

Etwas wie: »Mutter nit da. Wage hole. Kind derweil halte,« klang in Marlisens Ohr nach.

Da stand sie denn mit dem Kind im Arm und sah ziemlich verständnislos und nicht eben sehr beglückt aus.

Ihren Karton hatte sie loslassen müssen.

Vorsichtig, fast ängstlich umfaßte sie das Kind.

Ratlos blickte sie hinter den hie und da wieder auftauchenden nickenden Hahnenfedern her. Sie entfernten sich immer mehr.

Zu allem Unglück begann das Kind nun auch noch zu schreien. Leise erst, dann durchdringend.

War zuvor schon manch lächelnder Blick zu Marlise hingeflogen, so erregte sie jetzt immer mehr Aufmerksamkeit.

Es war ein sehr komischer Anblick, die weißgekleidete, vornehme, schlanke Mädchengestalt mit dem quiekenden, schreienden Bündel im Arm, mit dem sie offenbar nur sehr oberflächliche Bekanntschaft hatte.

Marlise war glührot. Sie schüttelte, patschte und rüttelte das Bündel, wie sie es die Mutter hatte tun sehen.

Umsonst!

Das Geschrei wurde immer stärker.

Marlise trippelte von einem Fuß auf den anderen, sie wippte die Arme, sie drehte sich schließlich im Kreise. Umsonst!

Immer gellendere Schreie ertönten.

Kurz entschlossen flog Marlise nun den leerer gewordenen Bahnsteig entlang der Richtung zu, wo die Hahnenfedern zuletzt aufgetaucht waren.

Sie prallte gegen einen Herrn, der eben rasch den Bahnsteig überqueren wollte. Der Zug mußte gleich weiterfahren.

»Verzeihung!« sagte der Herr, lüftete den Hut und trat höflich zur Seite.

Da stutzte er.

Auch Marlise, die ihm einen Augenblick das Köpfchen zugewandt hatte, hemmte ihren Lauf.

»Herr Doktor,« rief sie hell, freudig, als ob sie einen alten Bekannten begrüße, »Herr Doktor Ebert. Ach, helfen Sie mir doch. Ich weiß ja gar nicht, was ich mit dem Schreihals da anfangen soll. Die Mutter – mein Karton – der Wagen –«

Sie war atemlos, sehr erregt. Ohne zu wissen, was sie tat, streckte sie ihm das Bündel entgegen. Ebenso geistesabwesend, instinktiv nur, faßte er zu.

Sie war ihrer Last ledig und stürmte dahin wie vom Winde geweht.

Er – nun, er stand da und besah sich, was ihm so den Arm beschwerte.

Er sah in ein knallrotes, verzogenes Gesichtchen. Im weit aufgerissenen Mäulchen zitterte das Zünglein krampfhaft hin und her. Das Stimmchen quietschte nun nur noch ganz heiser.

Doktor Max Ebert war sonst ein sehr gewandter, selbstsicherer, zielbewußter Mann.

Diesem Erlebnis stand er wie ein dummer Junge gegenüber.

Er starrte in das rote Gesicht des Kindes, starrte nach rechts, starrte nach links, aber er packte das, was er hielt, krampfhaft fest.

Er sah, daß man ihn lachend beobachtete, das Blut stieg ihm ins Gesicht.

Dort rechts stürmte die weiße Gestalt hin, die das Bündel bei ihm deponiert hatte.

Er sah hinter ihr her. Die weißen Röcke flogen.

»Irrwisch!« brummte er. Aber gleich danach zog doch ein Schmunzeln, das allerdings noch ein bißchen grimmig aussah, über sein Gesicht.

Da blieb die weiße Gestalt plötzlich stehen, winkte nach etwas oder nach irgendwem hin, machte kehrt und flog so rasch, wie sie davongeflogen war, wieder auf ihn zu.

Er atmete auf.

Hastig eilte er ihr entgegen und streckte ihr das Bündel hin. Sie wehrte lachend ab, rief etwas, das wie Pardon oder Karton klang und – war an ihm vorüber.

Bild: Richard Gutschmidt

Marlise streckte im den Schreihals entgegen, er faßte unwillkürlich zu

Jetzt flog sie nach der entgegengesetzten Seite den Zug entlang.

Noch verdutzter als zuvor starrte er ihr nach.

Dann packte ihn die Wut. Ingrimmig hörte er Lachen und spottende Zurufe, die ihm galten.

Eben wollte er das Bündel, kurz gefaßt, auf den Steinplatten des Bahnhofs niederlegen – er war doch keine Kinderbewahranstalt, daß man ihm so ohne weiteres Schreikinder aufhalste – da raste noch etwas heran.

Ein Kinderwagen rasselte auf den Fliesen, keuchend stand eine Frau neben ihm, zitternde Hände faßten nach dem bedrohten Bündel, eine nach Atem schnappende Stimme zeterte: »Des Kindche hergewe, alleh! Do werd nix auf de Boden gelegt. Des dhet grad noch fehle. De Dod kennt mer von der Wirtschaft hawe. So e kräftig Mannsbild und will nit emal so e klein Kindche e paar Minitercher halte. Als ob's was an sich het. Mei Kind is sauwer, Herr, mei Kind is –«

Die gekränkte Mutter hatte ihr Kind an sich gerissen und trat ihm nun herausfordernd wie eine gereizte Löwin näher.

Erschreckt wich er zurück. Weitaufgerissene, zornfunkelnde Augen blitzten ihm aus einem hochroten, glänzenden Gesicht entgegen. Der Hut mit den Hahnenfedern hing der Frau nun ganz im Nacken, der Kragen war mit dem Schlitz nach hinten gerutscht.

Fast schüchtern lüftete Doktor Ebert den Hut.

»Sie sind die Mutter?« fragte er höflich. »Verzeihen Sie, ich – ich wollte – ich wollte nämlich mit dem Zuge fort und – da, da geht er schon!«

Er macht ein paar lange Schritte dem Zuge zu.

Zu spät.

Der Pfiff, ein Ruck – da ging er hin.

Es war Doktor Eberts Verhängnis heute, bei all dem Unerwarteten, vor dem er stand, nicht eben die geistreichste Miene zu machen.

Vor ihm dampfte der Zug zur Halle hinaus, hinter ihm rasselte der Kinderwagen mit dem verhängnisvollen Bündel und der gereizten Mutter davon.

Ein scheuer Blick über die Schulter belehrte ihn, daß da nun wirklich die Luft rein sei.

Er atmete auf.

Und dann besann er sich, daß ja noch jemand bei der Komödie mitgespielt habe, der eigentlich die Hauptperson gewesen sei.

Er sah sich um.

Richtig!

Dort flog's heran wie ein weißes Wölkchen, und was Braunes zog's schleppend auf den Steinfliesen hinter sich her.

Dicht vor ihm stand's still. Zwei lichtbraune Augen lachten ihn an.

»Der Last ledig, Herr Doktor?«

Er zog den Hut und neigte sich tief.

»Zu Befehl, mein gnädiges Fräulein. Sehen Sie, dort!«

Er wies dabei nach der anderen Seite hin, wo eben die Hahnenfedern, noch einmal höhnisch nickend, verschwanden. Ganz erleichtert atmete er auf.

Marlise lachte hell.

»Dem Himmel sei Dank. Mir war's zuletzt wie ein Alp, das gräßliche Bündel. Ich mag Kinder nämlich sonst sehr gerne, es war bloß so überwältigend. Verzeihen Sie nur, daß ich es Ihnen so ohne weiteres zuschob, aber – Sie sehen!«

Ein bezeichnender Blick streifte das Braune, das sie an der befestigenden Schnur hinter sich herschleifte.

Er sah freilich – aber er sah nur einen großen braunen Karton und verständnislos blickte er sie an.

»Ja so! Das viereckige dumme Ding allein sagt Ihnen ja gar nichts. Aber wenn ich Ihnen erkläre, daß meine Toilette drin ist, und daß – Aber was stehen wir denn noch immer hier? Bahnhöfe sind gräßlich. Gehen wir doch mal schnell vor zu den Droschken. Ich muß eine nehmen. Der Kasten ist ja nicht schwer, aber – Nein, das dulde ich auf keinen Fall!« Er hatte ihr den Karton abnehmen wollen. »Wenn Sie schon helfen wollen, dann fassen Sie doch dort an. Zu zweit trägt sich's leichter.«

Sie sagte es sehr unbefangen.

Sein Verhängnis war es nun heute schon, in allerlei zweifelhafte Lagen zu kommen. Innerlich seufzend faßte er zu.

Immerhin war's noch weniger unangenehm, als Gefährte einer niedlichen jungen Dame einen Kasten zu schleppen, wenn's auch ein besonderes Ungetüm war, als ganz allein ein quiekendes Schreikind halten zu müssen.

Ein verstohlener Rundblick belehrte ihn außerdem, daß wenig oder kein Publikum mehr vorhanden war. Allerdings auch kein Träger, den man mit dem Kasten hätte betrauen können.

So faßte er also zu.

»Danke,« sagte Marlise einfach, als ob es weiter gar nichts Außergewöhnliches sei. »Ja, so trägt sich's besser!«

Die beiden gingen also den Bahnsteig entlang, den großen Karton zwischen sich.

Draußen vor dem Bahnhof war weit und breit keine Fahrgelegenheit zu entdecken.

Dornstadt war keine Metropole. Die wenigen Droschken, die dem Publikum sonst zur Verfügung standen, mußten heute gegen alle Regel rasch belegt gewesen sein.

»Was nun?«

Marlise ließ die lachenden Augen in die Runde gehen.

»Warten!«

Lakonisch riet es Doktor Ebert.

Marlise rümpfte das Näschen.

»Kann ich ja nicht,« sagte sie drollig-kläglich, »hab's nie gelernt.«

Er lachte.

»Dann gehen wir!«

»Ja, aber haben Sie Zeit?«

Marlise sah ihn zweifelnd an.

Er winkte mit dem Kopf über die Schulter zurück.

»Ich wollte ja so wie so mit dem Zuge fort.«

Sie sah ihn ganz entsetzt an.

»Und da ist's meine Schuld, daß – Am Ende haben Sie irgendwo zu tun, werden vielleicht gar dringend erwartet?«

»Eine wichtige Konsultation?« sagte er lachend. »Nein, ich wollte mal sehen, ob mir der Frühlingswind draußen nicht wieder irgend ein kleines Abenteuer zubliese.«

Er hatte eigentlich etwas anderes sagen wollen, sich mit einem Blick in ihr unbefangenes Antlitz aber noch rechtzeitig besonnen.

»Nun hab' ich's näher gehabt,« schloß er.

Sie lachte ihn an.

»Das Wickelkind meinen Sie. Ja, das war ein Abenteuer!«

Sie blieb einen Augenblick stehen.

»Wenn ich das Mammi –«

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Einen Augenblick hing sie den Kopf. Dann lachte sie auf.

»Den Onkel wird's königlich amüsieren! Aber gehen wir. Dort in der Promenade ist's immer leer. Da sieht uns niemand. Am nächsten Halteplatz finden wir dann vielleicht einen Wagen.«

Sie schritten unter den jung begrünten Bäumen dahin.

Marlise sah in die Kronen. Das leichte Lüftchen, das die bewegte, weckte eine Erinnerung in ihr.

»War's nicht herrlich?« fragte sie begeistert.

Er sah sie fragend von der Seite an.

War er der Komik des Wickelkindabenteuers jetzt auch zugänglicher, herrlich konnte er es immerhin noch nicht finden.

»Gnädiges Fräulein meinen?«

»Den Frühlingssturm neulich, natürlich,« sagte Marlise lachend. »Wie das brauste und sauste. Man kommt sich ordentlich wie ein Federchen, wie ein Atömchen vor.«

»Herrlich!« stimmte er bei. Aber er seinerseits gab keine nähere Erklärung dessen, was er dabei herrlich gefunden hatte.

»Ich habe mit Onkel danach einen Ritt gemacht,« plauderte Marlise weiter. »Beauty hatte geradezu Flügel in dem Sturm. Es war köstlich. Um fünf Pferdelängen habe ich Onkel geschlagen. Reiten Sie auch, Herr Doktor?«

»Bedaure. Ich gehöre zu den minder bevorzugten Sterblichen, die auf Schusters Rappen durch die Welt traben.«

Unbefangen lachte Marlise.

»Ich weiß nicht, was mir lieber ist. Reiten ist schön. Aber über einen tüchtigen Dauerlauf durch Feld und Busch geht mir doch nichts, glaube ich. Beim Reiten muß ich stille halten und nach Beautys Pfeife tanzen, beim Laufen pfeif' ich mir selber eins und tolle und dreh' mich, wie ich mag!«

Wenig fehlte, und sie hätte gleich ein Pröbchen davon gegeben.

Die Lippen spitzten sich, jeder Muskel, jede Sehne an der ganzen feinen, elastischen Gestalt schien sich zu spannen. Die Füßchen tänzelten, selbst die schimmernden Ringellöckchen, die unter dem Hut hervorlugten, kamen ins Zittern.

Der Karton geriet in bedenkliche Schwankungen.

Aber das war nur einen Augenblick. Gleich faßte Marlise wieder fester zu und schritt sehr gesetzt dahin.

»Irrwisch!« murmelte Doktor Ebert schmunzelnd in sich hinein und lachte seine Gefährtin von der Seite an.

»Wer ist übrigens Beauty? Bitte, mich mit der Dame bekannt zu machen.«

»Ja so! Verzeihen Sie. Beauty ist meine Schimmelstute. Reinweiß. Arabervollblut. Ein herrliches Tier, sage ich Ihnen. Ein Geschenk von Onkel zu meinem sechzehnten Geburtstag.«

»Wie lange besitzen gnädiges Fräulein das Tier?«

Er sah sie lauernd von der Seite an. Sie merkte nicht, weshalb er die Frage stellte.

»Kuriose Frage,« feuerte sie auf. »Doch natürlich ein Jahr. Wenn ich gerade vor vier Wochen siebzehn geworden bin! Ja so, verzeihen Sie, das konnten Sie ja gar nicht wissen!« schloß sie.

Er lachte wie ein Schalk.

»Drum eben! Nun weiß ich's.«

Sie lachte fröhlich.

»Reingefallen, Marlis! Für solchen Methusalem haben Sie mich wohl gar nicht gehalten, was?«

»Behüte!«

»Ehrfurcht also! Hab' ja auch schon fast weiße Haare, sehen Sie doch!«

Sie zupfte an einem ihrer Ringellöckchen, bis sie die schimmernden, silberglänzenden Fäden vor Augen hatte.

»Richtig,« sagte er, »alle Achtung!«

Und sie lachten wie die Kinder.

Sie waren inzwischen zu dem zweiten Droschkenhalteplatz gekommen. Auch hier war alles leer. Ganz Dornstadt schien sich heute drauf verlegt zu haben, einmal vier, beziehungsweise acht Beine in Bewegung zu setzen statt der eigenen armseligen zwei.

Marlise sah komisch verlegen zu Doktor Ebert auf.

»Und nun?«

»Weitergehen!«

»Nee, warten.«

»Aber, gnädiges Fräulein verstehen ja die Kunst nicht.«

»So mach' ich jetzt den Anfang mit dem Lernen. Dazu bin ich noch nicht zu alt. Ich kann Sie doch nicht immer weiter bemühen!«

»O, deshalb –«

»Wissen Sie was, wir stellen den Karton dort auf die Bank, ich setze mich dazu, warte, bis ein Wagen kommt, und dann –«

»Und ich?«

»Sie? O Sie – Sie machen jetzt Ihren Spaziergang hübsch allein. Vielleicht kämen Sie mit dem nächsten Zug doch noch hinaus in die Berge – in den Frühling.«

»Meinen gnädiges Fräulein? Gnädiges Fräulein wollen mich wohl los sein?«

Sie lachte ihn an. Eine gewisse Verlegenheit lag in den hellen Augen, eine leise Röte stieg in das feine Gesicht.

»Ich – Mammi – ja, sehen Sie, wir kennen uns doch eigentlich kaum,« sagte sie dann freimütig unbefangen.

»Stimmt,« nickte er ernst und der Schalk zwinkerte ihm dabei nur ein klein wenig aus den Augen. »Machen wir also einen Pakt. Gnädiges Fräulein erzählen mir erst noch, wie Sie in die – in die – na, sagen wir etwas ungewöhnliche Lage dort auf dem Bahnhof kamen – ich bin nämlich von Natur ein entsetzlich neugieriges Menschenkind – und ich gehe dann gehorsam meiner Wege und sehe, wo ich einen Wagen auftreibe, den ich hierher schicken kann. Gut so?«

Marlise nickte lachend.

»Wundervoll! Also, erster Teil des Programms: Marlise Wreden ist daheim durchgebrannt. Ha, ha, ha, ha!«

Er stimmte ein.

»Ein vielversprechender Anfang! Und dann?«

»Ja dann – aber Sie wissen ja noch gar nicht weshalb. Ich sollte nämlich erst morgen zu Resi kommen – Resi ist doch meine beste Freundin, Resi Köller, wissen Sie.«

Ein Blitz zuckte über sein Gesicht hin. Sie sah es nicht, sie plauderte weiter.

»Ich wäre so schrecklich gern schon heute gegangen, man hat sich doch immer so viel zu sagen. Der Onkel – ach, Onkelchen erlaubt eigentlich alles, er ist so schrecklich gut – aber Mammi wollte nicht so recht dran. Als ich sie dann schließlich glücklich so weit hatte, war Onkel schon fortgefahren. Mit der Bahn sollte ich nun nicht allein fort, Franz und Lina – unser Diener und das Zimmermädchen, wissen Sie – hatten noch keine Zeit. Da sollte ich nun warten – puh – und warten –«

»Haben gnädiges Fräulein nicht gelernt.«

Er ergänzte es sehr ernst, recht sachverständig.

Sie lachte und, eingehend auf den Scherz, fuhr sie fort: »Richtig, und da, sehen Sie, ja da – da bin ich eben durchgebrannt. Ich habe Mammi einen Brief geschrieben, sie soll sich nur ja nicht grämen, Unkraut verginge nicht, habe mein Gepäck genommen, Lina hatte den Karton glücklicherweise schon gepackt und – ja, da bin ich, sehen Sie!«

Er neigte sich schmunzelnd.

»Ich sehe! Aber –«

»Wie ich an das Wickelkind geraten bin, wollen Sie noch wissen, ja? Na also, Herr Inquisitor. Sie sind nämlich wirklich schrecklich neugierig, fast noch neugieriger als ich, und das will viel heißen.«

Er verbiß sein Lachen.

»Da ich nämlich sozusagen die Ehre hatte, mich mit gnädigem Fräulein in die Last zu teilen, so –«

»Haben Sie auch das Recht, zu wissen, wie ich zu der Last kam, meinen Sie? Und das stimmt wieder. Na also! Wie ich mir die Fahrkarte gelöst hatte, bekam ich's mit der Angst, sie könnten mein Ausreißen daheim vor der Zeit entdecken. Und wie der Zug kam, schlüpfte ich unbesehen in die erste beste offene Tür hinein. Das war dritter Klasse, mir ganz einerlei. Recht hatte ich gehabt mit der Eile, denn der Franz und der Rollo kamen gleich hinterher.« Sie lachte Tränen in der Erinnerung.

Belustigt stimmte er mit ein. Ihr Lachen weckte stets und überall ein Echo.

»Neben mir saß die Frau mit dem Kind,« erzählte sie weiter, »gegenüber eine furchtbar dicke, die meinen Karton verwahrte. Sie waren alle so freundlich mit mir, wirklich sehr, sehr freundlich.«

Er brummte etwas, das wie »Wunder« klang.

Marlise sah ihn fragend an, da er aber nichts sagte, fuhr sie fort: »Die Frau wollte mit dem Kind zu ihrem Mann, das habe ich begriffen aus ihrer Erzählung. Und als wir ankamen, wollte sie den Wagen holen, den Kinderwagen, wissen Sie. Da hab' ich das Kind halten müssen, ich wußte nicht wie. Und dann wollte ich in der Verzweiflung die Frau und meinen Karton holen, da haben Sie das Kind abgekriegt. Ha, ha, ha, ha, es war eigentlich schrecklich komisch!«

Sie lachte wie ein Kobold.

So ganz frei vom Herzen weg konnte er nicht einstimmen. Niemand hört gern, daß er eine komische Figur gemacht hat.

»Und nun wollen gnädiges Fräulein zu Ihrer Freundin und –«

»Will ich,« nickte sie. »Die Resi, wissen Sie, hat nämlich morgen Geburtstag. Und da hat sie sich was wünschen dürfen. Und was glauben Sie, daß sie sich gewünscht hat?«

»Ja, das ist nun schwer zu sagen. Es gibt so vielerlei, was jungen Damen –«

Freude macht, hatte er sagen wollen. Aber Marlise fiel ihm ungeduldig ins Wort.

»Eine Tanzgesellschaft, denken Sie, eine Tanzgesellschaft!« Marlisens Ton ließ es etwas zweifelhaft, ob sie der Tatsache beifällig oder ablehnend gegenüberstand.

Er fragte denn auch.

»Und gnädiges Fräulein sind damit einverstanden?«

Marlise wiegte zweifelnd das Köpfchen.

»Ich, je nun – im ganzen ist's mir lieber, wenn wir so ganz unter uns sind, ich meine wir Mädels. Da ist's immer lustiger. Ich habe ja gar nichts gegen Herren, sehen Sie –«

Ein eigener Ton ließ sie aufhören. Er hatte seine Heiterkeit nicht ganz verbergen können. Jetzt neigte er sich tief, als ob er sein Gesicht nicht zeigen wolle.

»Danke sehr, mein gnädiges Fräulein.«

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an.

Dann lachte sie schallend auf und gab sich einen leichten Klapps auf den Mund.

»A, Marlis, wieder mal verplappert. Verzeihen Sie, es war nicht schlimm gemeint,« sagte sie dann liebenswürdig.

Plötzlich fuhr sie mit hochrotem Kopf von der Bank auf, worauf sie neben ihrem Karton saß.

Fast hätte sie Doktor Ebert, der vor ihr stand, über den Haufen gerannt.

»Da, dacht' ich's doch. Das kommt von dem albernen Schwatzen!«

Wie der Wind war sie um das nächste Boskett, den Karton hinter sich herzerrend.

Zu spät.

»Irrwisch,« klang eine rufende Männerstimme aus einem heranrollenden Wagen, »Irrwisch, hierher!«

Marlis wollte nicht hören. Jedenfalls sah man zur Zeit keine Spur von dem so schnell entschwundenen Flüchtling.

Im sausenden Trab waren die Pferde dahergekommen, jetzt standen sie wie festgewurzelt. Stolz hielt der Kutscher die Zügel in der lenkenden Hand.

Der Diener war abgesprungen und hatte den Schlag aufgerissen.

Der Herr, der gerufen hatte, stand aufrecht im offenen Wagen.

Jetzt rief er noch einmal.

»Marlise, keinen Unsinn, ich habe dich gesehen.«

Es klang bedeutend ernster als der erste Zuruf, hatte denn auch mehr Erfolg als der.

Marlise tauchte hinter dem Boskett vor, den Karton immer hinter sich herschleifend.

Erst ging's langsam, dann flog sie nach dem Wagen zu.

»Da bin ich, Onkelchen,« hörte Doktor Ebert sie lachend rufen.

»Aber, Irrwisch –«, begann der Onkel, und dann flog der Schlag zu.

Der Diener sprang auf den Bock, der Kutscher schnalzte mit der Zunge, die Pferde zogen an – weg war alles wie ein Traum.

Doktor Ebert stand ganz betäubt – es war so über ihn hereingebraust – er stand betäubt und sah dem Wagen nach.

Da beugte sich etwas Weißes vor und winkte nach ihm hin.

Er war also doch nicht ganz vergessen worden. –

Im Wagen drin hatte Marlise inzwischen ein hochnotpeinliches Verhör zu bestehen.

Das Verhör des Onkels mußte günstig abgelaufen sein. Denn als danach der Wagen vor Präsident Köllers Haus hielt, hüpfte ein strahlendes Menschenkind heraus, und ein ebenso strahlendes Männerantlitz sah ihm nach.

»Grüß mir Mammi, Onkelchen, und – Onkelchen, hör mal, gelt, ich bekomme keine Schelte? Sag, du hättest mich schon gewaltig gezaust.«

Der Onkel lachte.

»Wollen sehen, was sich tun läßt. Bis morgen abend denn, Irrwisch! Und, Irrwisch, hör mal –«

Aber der Irrwisch hörte nicht mehr.

Die Haustür war geöffnet worden und von innen hatte eine helle, jubelnde, weiche Stimme gerufen: »Marlis, ei da bist du ja, Marlis!«

Da war der Irrwisch ins Haus hinein und die Treppe hinauf geflogen und hatte ebenso hell und jubelnd: »Resi, kleine Resi!« gerufen.

Der Onkel hatte das Nachsehen. Schmunzelnd, kopfschüttelnd, händereibend, in sich hineinlachend, stieg er zurück in seinen Wagen.

Der donnerte auf das Schnalzen des Kutschers davon –

Innen im Hause hielt Marlise die braune, etwas kleinere Freundin umfaßt.

»Da bin ich, Resi, was sagst du nun? Durchgebrannt, extra dir zu Ehren. Bekomm' ich Nachtquartier, ja? Ich muß dir alles erzählen, es war zu komisch. Aber unrecht war's doch, das seh' ich jetzt freilich ein. Mammi wird sich gräßlich geängstigt haben, und der Onkel selbst wäre beinahe böse geworden.«

»Wo bleibt ihr, Kinder?« rief eine Frauenstimme von oben. »Ich hab' doch Marlisens Stimme gehört. Irrte ich mich?«

»Behüte, behüte, da ist der Irrwisch in persona. Tag, Rese-Mütterchen, darf ich vierundzwanzig Stunden früher ins Haus fallen?«

Damit stob der Wirbelwind die Treppe hinauf und fiel der Dame oben um den Hals. Die mußte sich ordentlich am Treppengeländer halten, um den Anprall zu überdauern.

»Sachte, Kind, sachte. Laß mir meine Knochen heil und ganz. Ich brauche alle meine gesunden Glieder für morgen.«

»Armes Rese-Mütterchen,« schmeichelte Marlise weich – sie hatte als Kind den Namen für der Freundin Mutter gehabt und gebrauchte ihn noch – »armes Rese-Mütterchen! Ich hätte der Mamsell da meine Meinung klar gemacht, wenn sie mir mit solch extravaganten Plänen gekommen wäre. Eine Tanzgesellschaft! Wirklich! Sonst nichts?«

Resi hing schuldbewußt den Kopf. Sie sah die Freundin unsicher an und war ganz rot geworden.

»Ach, du –«

»Laß mir die Resi in Ruhe, Kind, sie soll ihre Freude haben. War noch nie im Leben unbescheiden,« sagte die Mutter gütig.

»Zeit, daß sie anfängt, was, Rese-Mütterchen?« neckte Marlise. »Hat Vorbilder genug an der Hand, wonach sie arbeiten kann.«

Sie drehte sich auf dem Absatz und machte dann einen schelmischen Knicks vor Resi.

Die Meinung war unverkennbar.

Resi gab ihr denn auch einen leichten Schubs.

»Geh, Eulenspiegel! Übrigens du, denk dir, es wird alles Überraschung. Ich weiß nicht mal, wer eingeladen ist.«

Marlise rümpfte das Näschen.

»Hm, weiß nicht, ob ich das so herrlich fände. Ich –«

»Kinder, wißt ihr was, tut mir den Gefallen und geht zum Gärtner. Er hat die Blumen zum Tafelschmuck noch nicht geliefert und ein paar Pflanzen zur Dekoration des Saals fehlen auch noch. Ich gebe euch einen Zettel mit. Wenn's Marlise recht ist, könnt ihr gleich gehen. Es gibt noch tausenderlei zu tun.«

Die geschäftige Mutter verschwand in ihrem Zimmer.

Resi zog die Freundin erst nach oben.

Sie hatte ein Gaststübchen für Freundinnen dicht neben ihrem eigenen Schlafzimmer.

Dort stand auch schon der bewußte braune Karton.

Marlise stürzte drauf los.

»Da ist ja das Ungetüm. Ha, ha, Resi, du hättest sehen sollen, wie er ihn anpackte!«

»Wer? Wen?«

»Der Doktor den Karton!«

Resi schaute verständnislos drein.

Marlise sprudelte nun unter Kichern und Lachen den Bericht ihres Erlebnisses vor. Die Worte überstürzten sich nur so.

Mit Mühe wurde Resi aus dem Wirrwarr klar. Sie war ganz entsetzt.

»Und da hast du ihm das Kind so ohne weiteres in die Arme geschoben?«

Marlise nickte strahlend.

»Und bist dann mit ihm durch die Promenade gegangen?«

Der Ton wurde immer tadelnder. Marlise hing schon den Kopf.

»Und hast dir den Karton tragen helfen lassen? So zwischen euch wie zwei Schulkinder?«

Marlisens Kopf sank tiefer.

»Und hast dich auf die Bank gesetzt und dich mit ihm unterhalten? Mit einem wildfremden Menschen, Marlis?«

Marlise wollte versuchen, Einwendungen zu machen.

»Im Frühlingssturm neulich –«

»Ach was –« schnitt ihr Resi kurz angebunden das Wort ab, und nun kam eine gesalzene Strafpredigt, die Marlise geduldig und mit etwas rotem Kopfe hinnahm.

Resi war sozusagen Marlisens Gewissen. Die Rolle hatte sie freiwillig von Kind an übernommen, und Marlise sich drein gefügt.

Resi war eine Brünette, hellbraun, zart, viel bedächtiger als Marlise, da sie die älteste von mehreren Geschwistern war, die älteste Tochter wenigstens – einen älteren Bruder hatte sie, Walter, der erst kürzlich Leutnant geworden war.

Zum Glück für Marlise rief eben Resis Mutter von unten: »Kinder, wo bleibt ihr?«

Jetzt hatte Marlise Oberwasser.

»Mund halten, herzliebste Moraltante –« so nannte sie Resi zuweilen, wenn's ihr gar zu bunt wurde mit dem Zanken – »Mund halten, Dixi! Rese-Mütterchen ruft. Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd –«

Damit war sie draußen und die Treppe hinunter. Resi folgte bedächtig.

Unten stand Marlise vor der Frau Präsident.

Die musterte sie scharfen Blickes.

»Wo steckt ihr, Kinder? Was gibt's?«

»Die Resi hat mir erst noch was gewaschen.«

Es klang sehr kleinlaut.

»Gewaschen?«

»Ja, den Kopf nämlich.«

»Dann hast du's sicher mehr als verdient, Kind!«

»Danke, Rese-Mütterchen. Uff, jetzt ist mir wohl! Rollo muß auch erst seine Schelte haben, wenn er was angestellt hat, sonst ist ihm nicht wohl in der Haut. Dann schüttelt er sich – so –« sie schüttelte sich, daß die Röcke flogen – »und alles ist wieder gut. Vorwärts, Resi!«

Sie stob die Treppe hinunter.

Lachend sahen ihr die beiden oben nach.

»Hier ist der Zettel für den Gärtner, Kind,« sagte nun die Mutter, »und, bitte, halte den Kopf zusammen – trotzdem!«

Ein lachender Blick flog hinter Marlise her.

»Keine Furcht, Mütterchen,« rief Resi, »her mit dem Zettel.«

Auf der Straße faßten sich die beiden Freundinnen unter und hatten sich so viel zu erzählen, zu kichern, zu lachen, daß manch einer, an dem sie vorüberkamen, mitlachen mußte.

Dem war dann danach, als wisse er jetzt erst gewiß, daß es wirklich Frühling sei, und daß die Sonne scheine.

Am Abend waren die jungen und jüngsten Glieder der Familie Köller im großen Wohnzimmer versammelt.

Die Hängelampe über dem großen Familientisch inmitten des Zimmers verbreitete einen behaglichen Schein.

Aber er reichte doch nicht bis in die äußersten Ecken. Da gab's noch lauschige Winkel, und in dem dunkel-traulichsten huschelten sich Marlise und die zwei jüngsten Glieder der Familie, Hänsel und Gretel, ein spätgeborenes Zwillingspärchen.

Für die beiden war's ein Fest, wenn Marlise kam. Für die anderen freilich nicht minder.

Es gab noch zwei Schwestern zwischen Resi und dem Zwillingspärchen, den Märchenkindern, wie der Vater die Jüngsten getauft hatte. Else, der Backfisch, und Gustel, die Zwölfjährige.

Das Haus des Präsidenten war, wie das so zu geschehen pflegt, reicher mit Kindern als mit Glücksgütern gesegnet.

Walter, der Bruder Leutnant, dessen Patent noch sehr neu war, saß am Tisch, rauchte und machte sich eifrig mit seinem Notizbuch zu tun. Er zeigte eine äußerst geschäftige Miene.

Resi hielt den hellbraunen Scheitel weit vor in den Bereich des Lampenscheins gebeugt und stichelte emsig an etwas sehr Zartem, Duftigem.

Gustel hatte ein Buch vor sich, hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und hielt die Daumen fest auf die Ohren gepreßt. Das Buch mußte sehr fesselnd sein.

Else starrte untätig und auffallend melancholisch in die Flamme.

Im hintersten Winkel kicherte, raunte und flüsterte es. Bald wurde ein kindliches Vogelstimmchen, bald eine weiche Mädchenstimme laut.

Jetzt hörte man die gedämpft, aber deutlich sagen: »Und denkt euch, da stand Klein-Aschenbrödel wirklich in den wunderfeinen Feenschuhen da. Und es rief: ›Bäumchen rüttel dich und schüttel dich‹, hell wie ein Glöckchen. Und das Bäumchen, was glaubt ihr wohl – das Bäumchen rüttelte sich und schüttelte sich wirklich, als ob der Wind hineinführe und es zause. Und herunterfielen, denkt mal, wunder-wundervolle Kleider, ein ganzer fertiger Ballstaat. Und Klein-Aschenbrödel schlüpfte hinein, eins, zwei, drei – ließ die alten Lumpen liegen und ging wie eine Prinzessin angetan auf den Ball. Und da kam der Prinz und –«

Ein tiefer gewaltiger Seufzer, der aus den tiefsten Tiefen einer grambelasteten Menschenseele hervorgeholt schien, klang durch den Raum.

Alle sahen erstaunt auf, selbst die Märchenerzählerin hinten im Winkel verstummte.

»Na – nu –« Walter hatte die Zigarre aus dem Mund genommen und sah verblüfft nach Else hin.

Von ihr stammte der Seufzer. Sie starrte noch immer mit großen Augen in die Flamme der Lampe. Jetzt stieg was Feuchtes in den Augen auf, jetzt wischte Else mit beiden Händen trotzigärgerlich über die heißen Wangen, und jetzt – ja, jetzt lag der Kopf auf dem Tisch, aller Stolz war dahin, ein schmerzlich-klägliches Weinen wurde laut.

Sie waren alle ganz erschrocken.

Resi, die der Schwester zunächst saß, ließ die Arbeit fallen und legte den Arm um die Weinende.

»Was hast du, Else? Schelte bekommen in der Schule?«

Das empörte Else. Ihr vierzehnjähriger Stolz war rege.

»Wir, in der obersten Klasse,« begann sie herausfordernd, aber dann brach sie zusammen.

»Hu – hu – Mutter sagt, ich darf morgen nicht mal zusehen, ich – ich sei noch zu klein und – und – ich tanze doch so gern und – und Monsieur Guilbert sagt – hu – hu – hu – hu –«

Was Monsieur Guilbert, der Tanzlehrer, sagte, erstickte in jammervollem Weinen.

Resi streichelte und tröstete an der Jammernden herum, Walter stand daneben, zwischen Spott und Teilnahme schwankend.

Marlise mit dem Zwillingspärchen trat eilig herzu.

Nur Gustel ließ sich nicht stören. Die Hände fest an den Ohren, verschlang sie den Inhalt ihres Buches weiter. Sie merkte offenbar nicht die Spur von dem, was um sie her vorging.

Marlise wußte schleunig Rat.

»Aber so laßt uns doch sofort ein Tänzchen machen. Resi spielt, wir tanzen. Flink, Else, Augen gewischt. Sollst mal sehen, wir amüsieren uns herrlich. Tanzen ist doch die Hauptsache, mit wem man tanzt, ist einerlei. Fix, Walter, Tisch angefaßt, so! Lampe hoch! Ans Klavier, Resi. Walzer, flott! Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?«

Sie neigte sich tief vor Else.

Die sah noch etwas zweifelhaft drein, konnte aber nicht zu Wort kommen und wirbelte schon mit Marlise im Kreise.

Als man den Tisch fortgeschoben hatte, war auch Gustel zu sich gekommen.

Mit einem wahrhaft indianischen Schlachtruf stürzte sie sich auf den großen Bruder.

»Bitte, bitte, Walter, mit mir tanzen!«

Der ließ sich nicht bitten. Lustig drehte er die kleine Schwester.

Auch die Kinder aus dem Märchen, Hänsel und Gretel, hatten sich an den Händen gefaßt und versuchten ihr möglichstes, es den Großen gleichzutun.

Marlise und Else waren unermüdlich. Else strahlte. Aller Kummer war vergessen.

Endlich konnte Resi nicht mehr spielen. Sie mußte einmal pausieren.

Glühend flog Else zu ihr hin.

»Eine Polka, Resi, bitte, bitte, Herzensresi, eine Polka!«

Resi setzte ein.

Else sprang nun zum Bruder.

»Mit mir, Walter, mit mir!«

Der neigte sich eben vor Marlise.

Die lachte ihn an.

»Bereits versagt!« entgegnete sie, faßte Gustel und wirbelte mit der im Kreise.

Bild: Richard Gutschmidt

Sie faßten einander und tanzten den fröhlichsten Ringelreihen.

So hatte Else nun einen richtigen Tänzer und war innerlich sehr stolz darauf und ebenso erstaunt darüber, daß es weiter gar keine Kunst war, mit Herren zu tanzen.

Ihrer besten Freundin Elly gegenüber rühmte sie sich dessen anderen Tages sehr und erregte damit nicht nur deren große Bewunderung, sondern beinahe etwas wie Neid.

An Marlise und Gustel hatten sich inzwischen die Märchenkinder festgeklammert.

»Auch tanzen! Willen auch mit Droße tanzen!«

Marlise schlug einen »pas de quatre« vor, wie sie sagte. Sie faßten einander an und tanzten den fröhlichsten Ringelreihen.

Die Kleinen jauchzten.

»Eine Quadrille, bitte, bitte, auch eine Quadrille! Ich kann wundervoll Française tanzen,« flehte Else.

Resi kramte in ihren Noten. Zum Glück fand sich eine Française.

Jetzt holte sich Walter Marlise. Else sah, da war diesmal nichts zu machen. So mußte Gustel heran.

Else kommandierte nun wie ein Tanzlehrer und war ganz in ihrem Element.

Hänsel und Gretel purzelten dazwischen und wurden bald von dem, bald von jenem Paar mitgenommen.

Gretel war gelehriger als Hänsel.

Sie faßte das Röckchen mit spitzen Fingerchen, drehte sich, neigte sich, chassierte vor und zurück, wie sie die anderen es tun sah, und stieß dabei das ungelenke Brüderchen noch eifrig zurecht. Sie nahm es sehr wichtig.

Wenn Hänselchen gar zu ungeschickt war, schüttelte sie weise ihr kleines Haupt.

»Sein doch furchtbar dumme tleine Bub!«

Dann fühlte Hänselchen sich sehr getroffen und strampelte umso eifriger.

Es war ein nettes Bild.

Marlise und Walter konnten sich gar nicht satt dran sehen.

»Ob wir uns morgen so amüsieren, was meinen Sie, Walter?«

Sie nannten sich bei den Vornamen, weil sie sich von Kind an kannten.

Walter lachte.

»Gemütlicher ist's heute jedenfalls. Morgen heißt's Süßholz raspeln, puh! Das ist das Gräßlichste, glauben Sie's, Marlis?«

»Nein, ich weiß noch was viel Gräßlicheres!«

»Nun?«

»Süßholz raspeln hören!«

Sie lachte wie ein Kobold, und als eben Resi zum flotten Kehraus der Quadrille einen Galopp anschlug, haschte sie sich Else und stürmte mit ihr davon.

Und mitten im tollsten Wirbel ging die Tür auf, Präsident Köller stand auf der Schwelle.

Erstaunt sah er in das Durcheinander.

»Das muß ich sagen. So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage,« wollte er eben beginnen, da flog etwas Weißes lachend auf ihn zu und umfaßte ihn. Und eh er wußte, wie ihm geschah, war er mitten in dem Wirbel drin.

»Damentour, Papa Präsident,« hatte eine klingende Stimme gerufen.

Er kannte die Stimme und erstaunte nun eben weiter nicht über den Wirbel, der ihn umbrauste.

Aber es wurde ihm doch zu toll.

»Halt, halt, Irrwisch,« keuchte er. »Werd's mal morgen dem Herrn Onkel vermelden, wie sein Fräulein Nichte mir das Haus auf den Kopf stellt. Loslassen, sag' ich, oder –«

Er sank auf den nächsten Stuhl, da fühlte er sich auch alsbald wieder von zwei kleinen Krabbelwesen beschwert.

Die Märchenkinder, die Kleinsten, die sich etwas mehr herausnehmen durften, kletterten an dem Vater in die Höhe.

»Hallo, was ist denn das für Gewürzel?«

»Sein uns!« sagte Gretel einfach, und Hänsel sagte gar nichts. Er saß nur als erster auf Vaters Knie.

Da kam Else.

»Väterchen, 's ist mein Ball. Marlis hat die Idee gehabt.«

»Natürlich,« schmunzelte der Präsident dazwischen.

»Und, Väterchen –« Else ließ sich nicht irre machen – »wenn du auch mal mit mir tanzen wolltest, ich –«

Ihr flehender Blick vollendete den Satz.

»Na – denn meinetwegen. Darf ich bitten, mein gnädigstes Fräulein?«

Er hatte die »Märchenkinder« abgestreift und sich zu seiner ganzen stattlichen Höhe erhoben.

Ritterlich neigte er sich vor der jungen Tochter.

Die strahlte.

Und dann kam Gustel dran und dann Gretel. Dann Marlise und wieder Else. Sie konnten kein Ende finden, und Resi spielte und spielte geduldig weiter.

Da machte etwas der Lust des improvisierten Hausballs ein jähes Ende.

Ein entsetzliches Klirren, Krachen und Splittern ertönte aus dem Erker her, wo die Pflanzen standen, der Mutter Stolz.

Schreckensbleich starrten alle dorthin.

Walter war am ersten zur Stelle.

Er hielt ein heulendes, sich sträubendes und windendes Bündel gefaßt.

Hänsel!

Am Boden lag das jammernde Gretel zwischen den Trümmern von Mutters schönstem Palmtopf, unter dem Blattwerk von Mutters stolzer Palme vergraben.

»Was soll das heißen, Bursche?«

Der Vater hatte den Jüngsten aus dem strammen Griff des ältesten Sohnes befreit und an sich genommen.

Resi wollte eben Gretel unter der Palme vorsuchen, da war auch die Mutter schon da.

Gewisse Töne wie das Schmettern und Klirren zerbrechenden Porzellans oder aber jammernde Kinderstimmen locken Mütter aus dem äußersten Hauswinkel herbei.

»Meine Palme, o weh, der wundervolle Topf? Wer hat das getan?«

»Was soll das heißen, Bursche?« wiederholte der Vater und schüttelte, was er gepackt hielt, nicht eben sanft.

Hänsel zeterte.

»Dretel Assenbrödel. Wollen Ball dehen. Bäumsen rüttel dich sagen. Bäumsen nist sich wollen rütteln und Tleider 'runterwerfen. Mis Supps deben, so –«

Klein-Hänsel stieß mit den beiden Fäustchen dem Vater so gegen die Magengegend, daß der ordentlich zusammenfuhr.

»Da sein Bäumsen fallen und Topf auch. Hänsel da nix für tönnen. Oh – oh – oh – oh!«

Jammervoll heulte der Kleine. Gretel sekundierte nach Herzenslust.

Was war da zu machen?

Marlise stand da, ein Bild verdutztester Ratlosigkeit.

»Ach, Rese-Mütterchen, ich bin wohl im Grunde an allem schuld.«

»Selbstverständlich,« brummte der Vater Präsident dazwischen. »So 'n Irrwisch –«

»So hören Sie doch nur erst, Papa Präsident, ehe Sie brummen.« Marlise faßte ihn im Eifer an der Rockklappe. »Ich habe nämlich den beiden vom Aschenbrödel erzählt vorhin. Konnte ich wissen, daß es ihnen einfällt, die Sache gleich zu illustrieren?«

»Dafür sind's Märchenkinder, Irrwisch,« sagte nun lachend der Vater.

Marlise war ganz geknickt. Sie sammelte die Scherben und fand bei jeder neuen beweglichere Jammerlaute.

Die Märchenkinder zeterten inzwischen vor Erregung und Müdigkeit immer lauter.

Die Mutter und Resi brachten sie schleunig hinaus und zu Bett.

Das Hausmädchen kam, die Trümmer fortzuräumen, und nun schien endlich Ruhe im Haus einkehren zu wollen.

Der Präsident saß in seinem Sessel und las die Zeitung. Leutnant Walter rauchte und tat desgleichen.

Plötzlich besannen sich beide auf den jungen Gast.

»Wo ist der Irrwisch?«

»Wo ist Marlis?«

Es kam gleichzeitig von Vater und Sohn.

Else und Gustel saßen nun beide in Bücher vergraben und hörten nicht, Marlise war aber nicht im Zimmer.

»Sie wird oben sein,« sagte Walter, und beide Herren waren wieder tief in ihrer Zeitung.

Aber als das Hausmädchen zum Abendbrot rief, war Marlise nicht drüben im Eßzimmer. Auch die Mutter und Resi wußten nichts von ihr. Sie sahen sich alle ganz erschreckt an. Dann wurde jeder Winkel durchsucht. Keine Marlise zu entdecken.

Mit einem Ausruf, der nicht sehr schmeichelhaft klang, griff Walter nach seiner Mütze. Er schnallte den Säbel um. Selbst der Präsident langte nach seinem Überzieher.

Bevor der Präsident das Zimmer noch verlassen hatte, hörte man unten die Haustür gehen und bald darauf eilende Schritte auf der Treppe.

»Uff! Da bin ich!« mit diesem Ausruf erschien Marlise wieder auf der Bildfläche.

»Marlis!« »Kind!« »Irrwisch!« »Wo steckst du?« »Wo bist du gewesen?« so tönte es ihr entgegen.

»Du, wir haben mit dem Essen warten müssen!« sagte Gustel, die das nur schwer verzieh.

»Wir haben uns sehr geängstigt, Marlis!« Das war Resi. Und Resi schaute sehr vorwurfsvoll drein.

Marlise schüttelte sich erst einmal tüchtig, wie einer, über den ein Sprühregen niederstürzt, und dann nestelte sie an dem losgegangenen Haarknoten.

»Und hab' mich doch so geeilt, daß ich beinahe in Stücken gehe –« Sie war noch ganz atemlos vom Lauf. Lachend hielt sie den weißen Haarbusch hoch, der ihr noch immer zu schaffen machte. Dann stand sie vor der Frau Präsident und sah ihr tief in die vorwurfsvollen Augen.

»Verzeihung, Rese-Mütterchen. Aber ich hatte noch was zu besorgen, das keinen Aufschub duldete. Bitte, bitte, nicht schelten, da bin ich wieder und hab' 'nen Wolfshunger. Ob was für Gustel überbleibt, weiß ich nicht.«

Sie warf Gustel einen neckenden Blick zu und war schon im Eßzimmer.

Die anderen folgten.

»Und nun möchte ich wissen, wohin mein junger Gast bei Nacht und Nebel stürzte. Ich habe doch die Verantwortung.«

Der Präsident hatte sich gesetzt und sah Marlise an. Bei all der launigen Güte lag etwas Ernstes im Blick.

Marlise legte den Finger an die Lippen.

»Nicht fragen, bitte, Papa Präsident, ja?« Das klang schelmisch, dann folgte es weiter sehr treuherzig: »Es war wirklich nichts Unrechtes!«

Dem Blick und Ton war freilich nicht zu widerstehen!

»Na, dann Schluß der Sitzung! Die Angeklagte ist einstimmig freigesprochen.«

Man hörte den Gerichtsherrn heraus. Herr Köller war Präsident des Landgerichts.

Anna brachte nun Tee, Resi schenkte ihn ein.

Eine Weile war es ganz still, man war sehr beschäftigt.

Marlise hatte mit Anna, dem Hausmädchen, etwas getuschelt, es war nicht weiter beachtet worden.

Zweimal schellte es an der Hausglocke.

»Der reine Taubenschlag,« brummte der Präsident. »An allem ist die Mamsell da schuld mit ihrer verflixten Tanzerei!« Er schnaubte Resi an. »Daß du mir einmal nicht auf denselben verwünschten Gedanken kommst, hörst du –« das galt Else – »meinethalben wünsch' dir 'ne Reise zu den Botokuden, oder 'ne Fahrt auf den Mond, oder –«

»Richtig, Väterchen, und dann wünsch' ich dazu, daß du mitkommst und –«

In komischem Zorn warf er seine Serviette hin.

»Das hat man nun von den Krabben. Komm, Irrwisch, tröste mich!«

Marlise hing sich schäkernd an seinen Arm.

Drinnen im Wohnzimmer entdeckte man alsbald den Grund von Marlisens Abendgang.

Da stand auf dem Platz, den das zu Fall gebrachte »Bäumchen rüttel dich« der Märchenkinder eingenommen hatte, eine hochragende stolze Palme in kostbarem großem Majolikatopf.

Staunend standen sie davor.

»Das hättest du nicht tun dürfen, Kind,« sagte die Frau Präsident ernst.

Aber Marlise schloß ihr den Mund.

»Nicht schelten, Rese-Mütterchen. Ich war doch an allem schuld, und als Kind schon haben Sie uns gelehrt, daß man gut machen muß. Ich habe somit ganz gemacht, was ich verbrochen habe.«

Lachend betonte sie das »ver«. Der Dialekt der Gegend erlaubte das Wortspiel.

Marlise wohnte da, wo man Töpfe ver-, nicht zerbricht, wo's auch eigentlich überhaupt keine Töpfe gibt, sondern bloß »Dippe«.

Marlise hielt die Frau Präsident umfaßt und sah sie mit den Schelmenaugen so warm und treuherzig an, daß die nicht viel mehr sagen konnte.

»Es ist aber viel zu kostbar, Kind,« wehrte sie nur noch leise.

»Wozu hätte ich mein Taschengeld? Ich kaufe sonst doch nur Unsinniges, Rese-Mütterchen. Bitte, bitte, kein Wörtchen mehr sagen.«

Dem war nicht zu widerstehen.

»War ich nicht fix, sagt mal?« fragte nun Marlise stolz. »Eins, zwei, drei, zum Gärtner, vier, fünf, sechs, Topf besorgt, sieben, acht, neun, wieder daheim. Juhu!«

Und sie fegte mit Gustel um den großen runden Tisch.

»Irrwisch, still gestanden!«

Sie stand auf den laut erklungenen Kommandoruf hin wie festgewurzelt mitten im kreisenden Wirbel.

»Zu Befehl, Herr Leutnant,« entgegnete sie.

Die Hand lag grüßend an den Schläfen. Das rosige Gesicht lachte ihn an. Alle die schimmernden Ringellöckchen zitterten.

Walter lachte und sagte dann: »Vater rief. Ich hätte nicht gewagt, einer jungen Dame –«

Sie drehte sich auf dem Absatz und stand ebenso bolzensteif vor dem Präsidenten.

Der zog sie lachend neben sich nieder.

»Ruhe, Irrwisch. Und nun wird Schach gespielt.«

Entsetzt wollte sie auffahren. Er hielt sie mit eisernem Griff.

»Nicht gemuckt! Order pariert! Schach ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen allzuviel Quecksilber in den Adern.«

Ganz geknickt saß Marlise da. Alle lachten sie herzlich aus.

Schach spielen war des Präsidenten Leidenschaft. Er zog sich Abends stets mit List oder Gewalt ein Mitglied der Familie dazu heran. Das betreffende Opfer diente den anderen dann stets mehr oder weniger als Zielscheibe des Witzes.

Heute nun war zur allgemeinen Heiterkeit Marlise ins Garn gegangen.

Sie ergab sich mit Anstand in ihr Schicksal und ließ sich unweigerlich so oft matt setzen, als es ihrem Partner behagte.

Zum vierten Male sicher sagte er jetzt: »Aufgepaßt, Irrwisch, Schach dem König!«

Mechanisch tat Marlise irgend einen Zug.

»Und matt!«

Triumphierend sah er ihr ins Gesicht.

Marlise unterdrückte ein Gähnen.

»Wahrhaftig, schon wieder?«

Dann fuhr sie plötzlich mit beiden Händen übers Brett, daß alle Figuren durcheinanderflogen.

»Ich kann nicht mehr still sitzen, wirklich nicht,« sagte sie ganz kläglich.

Da legte sich die Mutter Präsident ins Mittel.

»Die Kinder müssen zu Bett, Alterchen, sie müssen morgen frisch sein.«

»Und mein Schach? Es fehlen noch zwei Partien.«

Darin verstand der Präsident keinen Spaß.

Die Mutter erbot sich, für Marlise einzutreten, aber Walter duldete das nicht.

Er stellte sich dem Vater. Gern tat er's nicht. Mit dem Vater spielen, hieß verlieren, freiwillig oder gezwungen. Seine gute Laune war unweigerlich dahin, wenn er einmal auf einen Gegner traf, der ihm trotzen wollte. Das war nun einmal seine Schwäche, und die Mutter hatte alle Kinder frühe daran gewöhnt, die zu schonen.

Im Kinderalter ging das leicht, machte sich von selbst, bei Walter war's schon schwieriger.

Marlise machte ihm einen schelmischen Knicks.

»Gratuliere im voraus zur Niederlage.«

Fast hätte er sie angebrummt, besann sich aber noch rechtzeitig auf die »junge Dame«.

Resi und Marlise lagen oben in ihren Betten.

Das Licht hatten sie schon gelöscht.

Erst hatten sie noch viel gelacht, gekichert und geschwatzt. Dann war's allmählich stiller geworden.

»Ob Mammi sich sehr geängstigt hat, Resi?« klang's von Marlise her.

Resi gab einen Ton von sich, der ja und nein bedeuten konnte, je nachdem.

Resi war sehr schläfrig.

Dann lachte Marlise plötzlich hell und klingend auf.

»Ach was, der Onkel hat mich ja abgefangen, und der war bald daheim. Da hat Mammi schnell Bescheid gewußt. Ha, ha, ha!«

Mitten im sorglosen, klingenden Lachen war sie eingeschlafen. Das helle Lachen aber zitterte nach im Raume und klang hinüber in die Träume der zwei jungfrischen Menschenkinder.

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