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Es war Frühling geworden.
Das Waldhaus hatte wieder seine Augen aufgeschlagen, war aus dem Winterschlaf erwacht.
Herr Fritz Erich Albers mit den Seinen hatte Einzug gehalten wie alljährlich, um die liebe Sonne und die frische, freie Gottesluft unmittelbar aus des Schöpfers Hand genießen zu können. Nicht beengt durch Häuser und Mauern, qualmende Schornsteine und das Getriebe der Stadt.
Jubelnd hatte die Marlis das geliebte Waldhaus begrüßt.
»Hier weiß man doch, wie der Himmel aussieht, und merkt, was für Wetter ist. Wie's die Menschen nur in der Stadt aushalten, wenn mal der Schnee schmilzt und die Blümchen ihre Köpfchen vorstrecken. Ich grämte mich zu Tod dort hinter den Mauern.« So sagte die Marlis.
»Den wenigsten ist es gegeben, ihrer Neigung nach zu leben, Marie-Luise,« sagte Frau Helene.
»Lieber auf dem Land Steine klopfen, Mammi, als in der Stadt – na, meinethalben Minister sein.« Die Marlis rief's mit glühenden Wangen.
Frau Helene lächelte.
»Mancher Minister denkt vielleicht wie du, Kind.«
Die Marlis aber war schon drunten am Hag und suchte nach den ersten blauen Veilchen. Rollo wälzte sich neben ihr im Grase. Auch er genoß die Freiheit hier draußen nach dem eingesperrten Dasein in der Stadt.
Trotz der Abneigung gegen die Stadt aber besuchte die Marlis mit großer Treue und regem Eifer ihren Malkurs.
Bald nach jenem Ball hatte sie wieder damit angefangen, wie sie es Mammi gelobt hatte. Und die ernste Erfahrung mit Verena schien denn doch ihre Früchte gezeitigt zu haben. Frau Helene beobachtete im stillen und freute sich des Eifers ihres Kindes.
Verena war schon länger wieder so weit hergestellt, daß sie aus dem Krankenhaus hätte entlassen werden können. Herr Fritz Erich Albers aber hatte den Arzt bestimmt, sie noch eine Weile dort zu behalten, um sie möglichst gekräftigt erst wieder ihren Beruf aufnehmen zu lassen.
Die Marlis hatte sie viel und oft besucht. Sie hatte mit allen im Hause Freundschaft geschlossen, vom Sanitätsrat an bis zum Portier herunter, die jeweiligen Patienten und die pflegenden Schwestern nicht zu vergessen.
Es war, als ob ein Sonnenstrahl durch die Räume husche, wenn die Marlis ihr lachendes Gesicht zeigte.
»Fräuleinchen waren lange nicht hier,« begrüßte sie der schmunzelnde Portier schon von den oberen Stufen der Freitreppe aus. Er erspähte sie jedesmal, wenn sie durch das große Gittertor hereinschlüpfte und über den Kiesweg hertrippelte.
»Lange?« fragte sie lachend. »Warten Sie mal. Ja, gerade vier Tage. So sehr lange ist das nun gerade nicht, oder?«
»Uns kam es jedenfalls so vor,« sagte der galante Mann und lachte über sein ganzes breites Gesicht, und er hielt die Tür weit offen, als ob eine Fürstin Einlaß begehre.
Und ähnlich wurde die Marlis von allen begrüßt, denen sie über den Weg huschte. Die vergrämteste Miene hellte sich auf bei ihrem Anblick.
In Verenas Zimmer aber schien die lichteste Sonne, sobald die Marlis ihr Strahlengesicht hereinstreckte, und wenn der Himmel draußen auch voll der dicksten Wolken hing.
Blaß und zart sah Verena ja noch aus, blaß und zart hatte sie eigentlich immer ausgesehen. Aber ein unbestimmtes wohliges Gefühl von wiederkehrender Kraft durchdrang sie und seitdem sah sie der Wiederaufnahme der Arbeit mit einer gewissen Ungeduld entgegen.
Eben war die Schwester hinausgegangen.
Sie hatte die letzte Hand angelegt, das Zimmer von der Nacht her in Ordnung zu bringen.
Verena saß in ihrem bequemen Sessel am Fenster. Das stand offen. Frühlingssonnengold flutete herein. Eine Amsel saß drüben auf der Kastanie und flötete süß und unermüdlich. Sie hatte sichtlich selbst Freude an dem neu zurückeroberten Frühlingsgesang. Sie wurde nicht müde, den lang entbehrten Ton aus der kleinen Kehle vorzuholen. Verena lauschte, lächelte. Ihr selbst fast unbewußt griff die Hand nach dem Stift, der neben auf einem Tischchen lag. Der Zeichenblock war auch in Greifweite. Die Marlis hatte es neulich schweigend dort geordnet.
Und Verena zeichnete. Mit roten Wangen, eifrig beugte sie sich über das Blatt.
Die Bäume des Parks draußen in ihrem knospenden Frühlingskleid, die kleine Sängerin, was der Rahmen des Fensters faßte, bannte die Künstlerin auf das Papier.
Es wurde danach, später, in duftigen Aquarellfarben ausgeführt, ein Bild, das Verena viel Freude machte. Sie nannte es »Frühlingsahnen« und es erwarb ihr freundliche Kritik und klingenden Lohn.
Die kleine Sängerin draußen, die so hingebend ihrer Kunst oblag, hatte in der Künstlerin da drinnen verwandte Saiten berührt. Es war das erste Mal, daß Verena nach Stift und Papier griff.
Leise öffnete sich die Tür. Ein lachendes Gesicht schaute herein, das silberglänzende Ringellöckchen umzitterten.
»Gesund, Gott sei Dank, vollständig gesund! Du zeichnest, Verena?«
Sie hatten sich längst das vertraute Du gegeben. Gemeinsam durchlebte Leidenszeiten führen schneller zusammen als die Sonnentage des Lebens.
»Ich zeichne, Marlise. Die kleine Amsel dort hat mich dazu angefeuert. Hör doch, wie sie schmettert, unermüdlich. Sie macht ihre Kehle wieder gelenkig nach der Winterszeit. Sollte ich meine Hand weiter so untätig sein lassen? Jetzt geht's wieder an das Werk, Marlise!«
Wie Verenas Augen leuchteten. Sie war aufgesprungen und stand vor Marlise. Sie reckte die arme, verwachsene Gestalt, so gut es eben ging. Zärtlich legte Marlise den Arm um sie.
»Du sollst auch wieder an die Arbeit, Verena. Wir wollten dich nur erst wieder ganz kräftig haben.«
»Wie soll ich euch danken, Marlise. Deinem Onkel, deiner Mutter, dir?«
Verenas Stimme versagte.
»Danken, Verena? Denkst den noch daran, daß Helene Ehlert mich erst holen mußte? Das wirst du ja nie vergessen können und – ich auch nicht.« Echter Schmerz zitterte durch Marlisens Stimme.
»Quäle dich nicht,« sagte Verena leise. »Du hast tausendfach gut gemacht, wenn wirklich etwas gut zu machen war. Was ihr an mir getan habt, das –«
»Helene hat unendlich mehr getan.«
Verenas Augen leuchteten auf.
»Helene!« Gleich danach umfaßte sie Marlise. »Sollten wir abwägen? Sollte ich es tun? Ich danke Gott mit jedem Atemzug, daß er mir zwei solche Freundinnen zur Seite gestellt hat. Ich bin all dieser Treue gar nicht wert.«
»Du!« Stürmisch umarmte sie die Marlis. Sie drehte sich gleich danach auf dem Absatz und schlug in die Hände.
»Du, ich weiß was Wundervolles!«
Verena sah sie lächelnd an.
»Einen Ball? Oder gibt's sonst ein Vergnügen?«
Die Marlis schmollte: »Als ob ich nur daran dächte. Nein, diesmal ist's ganz, ganz, ganz was anderes. Sollst schon hören.«
Es klopfte an der Tür.
Der Herr Sanitätsrat streckte sein freundliches Gesicht durch den Türspalt.
»Aha, da sind wir ja,« rief er lebhaft und hielt Marlise seine Hand hin. »Der alte Brummbär versteht's aber doch, ein Stelldichein einzuhalten, was?«
»Wundervoll,« sagte die Marlis und hob gleich danach schelmisch verlegen den Finger zu den Lippen.
»Ja so, 'ne alte Plaudertasche ist der Brummbär also auch. Na, nichts für ungut, Fräulein Walters, mal die Patsche her. So. Na also, versteht sich nicht auf Umwege, der alte Brummbär. Immer geradeaus. Sind also hier entlassen, Kind. Mal wieder leidlich 'rausgeflickt. Können jetzt zusehen, wo und wie Sie sich flink wieder 'n Loch reißen. Vorderhand ins Waldhaus abkommandiert, verstanden?«
Die Marlis sah Verena mit großen, leuchtenden, fragenden Augen an. Die aber hatte nicht verstanden.
»Ich – ich –«
»Sie, eben Sie meine ich, Kind, natürlich, wen sonst? Sie packen mit der Schwester Ihre Siebensachen und packen sich selber ins Waldhaus. Verstanden? Basta!«
Marlise zog Verena an sich.
»Willst du kommen – gern kommen? Mammi freut sich so und Onkelchen – aber da ist er ja!«
Sie hing halben Leibs zum Fenster draußen.
»Onkelchen, Onkelchen, sie kommt!«
Man hörte einen Wagen herbeirollen und halten.
»Schön, Irrwisch,« rief eine lachende Stimme, »aber paß auf, das Fenster da ist keine Tür. Ich bin gleich oben.«
Die Marlis flog vom Fenster nach der Tür und verschwand.
Lachend sah das der Sanitätsrat, Verena stand noch immer da, wie betäubt.
»Da ist Temperament drin,« sagte der alte Herr. »Und nun, Kind, sträuben Sie sich ja nicht und genießen Sie die Erholungszeit bei den guten Menschen, hören Sie. In Ihr altes Leben könnte ich Sie mit gutem Gewissen noch nicht entlassen. Mit diesem Umweg über das Waldhaus ist es ein ander Ding. Glück zu, Fräulein Verena!«
Die war noch ganz benommen, stotterte nur etwas wie »zu viel, viel zu viel, nicht annehmen«.
»Ich will Ihnen was sagen, Kind,« sagte der alte Herr ernst. »Wie es eine Großherzigkeit im Geben gibt, so gibt es auch eine Großherzigkeit im Nehmen. Beide halten sich die Wage. Engherzig sein ist allemal verächtlich, so oder so. Was ich anderen geben würde, wenn ich in der Lage wäre, das kann ich auch von anderen nehmen, basta. Und nun keine Fisimatenten, das bitte ich mir aus.«
Da waren auch schon Herr Fritz Erich Albers und die Marlis.
»Wie ich mich freue, daß Sie unser Gast sein wollen, Kind.« Mit ausgestreckter Hand ging Herr Fritz Erich Albers auf Verena zu.
Die Marlis hing an ihrem Halse.
Hätte Verena nein sagen sollen – können?
Eine halbe Stunde danach saß sie zusamt ihren Habseligkeiten – lange hatte die Schwester nicht dran zu packen brauchen – neben Herrn Fritz Erich Albers und Marlise im Wagen, der sie ins Waldhaus bringen sollte.
Der Abschied von der Klinik, von dem Sanitätsrat, von der Schwester, die sie so treu gepflegt hatte, war Verena sehr schwer geworden. War es eine Leidenszeit gewesen, die sie dort verbracht hatte, so war es doch im Vergleich zu der Zeit vorher in der kahlen kleinen Mansarde ein wohlig behütetes, umsorgtes und sorgloses Dasein gewesen.
Und jetzt fuhr sie einem ähnlichen Leben entgegen.
Und das alles dankte sie dem jungen Kinde dort mit den sonnigen Augen, das wie ein wärmender Sonnenstrahl in ihr Schattendasein getreten war.
Sie griff nach Marlisens Hand und nickte ihr zu, wortlos. Aber die Marlis verstand doch, was es heißen sollte, und schaute sie an so warm und so lieb.
Und dann war man im Waldhaus.
Frau Helene trat dem Wagen entgegen, als er eben an der Rampe vorfuhr. Eine Gestalt schob sich hinter ihr aus der Tür.
»Helene!«
»Helene Ehlert!«
»Meine Überraschung,« sagte Herr Fritz Erich Albers. »Ich dachte mir, Fräulein Verena sollte es mit der Freundin heimischer bei uns sein. Und Fräulein Helene kann eine Erholung ebenfalls brauchen.«
»So ein Onkelchen,« jubelte die Marlis.
Helene aber stand vor Verena, hatte die Hände auf deren Schultern gelegt und sah ihr tief in die Augen.
»Da bist du also wirklich wieder auf den Füßen, du Sorgenkind.«
Mehr sagte sie nicht, sie war aber sehr erregt.
Als die beiden Freundinnen danach in dem Zimmer waren, das sie gemeinsam bewohnen sollten, ging sie mit großen Schritten auf und ab.
Verena sah ihr eine Weile still zu.
»Was ist's, Helene?«
»Mich drückt diese Gastfreundschaft. Sie haben mich überrumpelt. Wärst du nicht gewesen –«
Sie brach jäh ab.
»Helene!«
»Verena?«
»Willst du den lieben Menschen so lohnen?«
»Ich werde es sie nicht merken lassen natürlich.«
»Du sollst aber nicht so fühlen, das ist's.«
»Ich bin nicht gemacht, Wohltaten zu empfangen.«
»Wohltaten? Ja, sicherlich, Helene, sie erweisen uns eine große, große Wohltat. Aber, Helene, hast du nie darüber nachgedacht, daß Wohltaten erweisen und Wohltaten annehmen, oft dasselbe ist?«
Helene machte ein ziemlich verständnisloses Gesicht.
»Ich meine, es gibt so fein geartete Menschen, die der Besitz, den sie vor anderen voraus haben, drückt. Sollte man es ihnen erschweren, wenn sie sich gedrungen fühlen, gewissermaßen einen Ausgleich des Schicksals vorzunehmen, indem sie mit anderen ihren Überfluß teilen? Hier setzt die Wohltat ein, die der Empfangende erweist. Siehst du, wie ich's meine, Helene?«
Die hing den Kopf, dann warf sie ihn hintenüber.
»Jedenfalls möchte ich lieber der Gebende als der Empfänger sein.« Verena lächelte leise.
»Jeder wäre lieber Hammer als Amboß und doch gehören beide zusammen. Laß gut sein, Helene. Du hast das Zeug in dir, Hammer zu werden. Ich tauge wohl all mein Leben lang nur zum Amboß.« Sie seufzte leise, dann sagte sie frisch und zärtlich: »Übrigens, Helene, wenn ich sein wollte wie du! Was habe ich in meiner Krankheit alles von dir empfangen. Da warst du Geber, Helene, ein königlicher Geber. Wie du gabst, so nimm jetzt.«
Sie hatte die Lektion, die ihr der gute alte Sanitätsrat beim Abschied gab, gut beherzigt. Sie hatte ja genau gefühlt, wie Helene jetzt fühlte, aber – das Leben hatte sie mürbe gemacht. Auch sie hatte sich wie Helene in ihrem Stolz einzig auf sich und ihre Kraft verlassen wollen. Da war das Schicksal, war die Krankheit gekommen und hatte ihr gezeigt, daß Gott dem Menschen seinesgleichen zur Seite stellte, damit sie sich gegenseitig heben und stützen sollten. Sie hatte die Lehre verstanden, beherzigt – Helene sollte nun davon Nutzen ziehen.
Die stand und starrte vor sich hin.
Da öffnete sich ein Türspalt.
»Darf ich?«
Die Marlis streckte ihr Sonnengesicht herein.
»Ich wollte bloß einmal sehen, ob es unseren lieben Gästen behaglich ist, und gleich zu Tisch bitten.«
»Herrlich behaglich,« sagte Verena, lächelte der Marlis entgegen und streckte ihr die Hand hin.
Die stand vor ihr.
»Was hat sie?« Sie wies nach Helene.
Die lehnte noch am Fenster und starrte hinaus.
Verena zuckte leicht die Schultern.
»Wolken!« sagte sie.
Da stand die Marlis neben Helene, bog den Kopf vor und sah ihr warm in die Augen.
»Was ist's, Helene?« Die wandte den Kopf.
»Kennen Sie die Fabel von der Maus und dem Löwen, Prinzeß?«
So nannte Helene die Marlis zuweilen, seit sie sich an Verenas Lager nähergetreten waren.
Die riß die Augen auf.
»Ja–a,« sagte sie gedehnt, ungewiß.
»Daraufhin will ich's wagen, Prinzeß. Es geht kurios zu im Leben. Auch die Maus kann dem Löwen vielleicht mal was Gutes tun. Ja?«
»Womit Sie sich und mich meinen, Helene?« Die Marlis lachte schelmisch. »Ich armes Mäuslein bin glücklich, wenn Seine Majestät König Nobel sich zu mir herabläßt. Darf ich bitten, Majestät, Mammi wartet.«
Drollig würdevoll bot sie Helene den Arm. Die mußte lachen, wider Willen.
»So hab' ich's nun freilich grad' nicht gemeint. Einerlei – Sie sind ein lieber Kerl, Prinzeß, und – und ich glaube, ich werde gern hier sein.«
»Bravo,« sagte die Marlis freudig. »Und nun flink zu Tisch, bitte, Onkel und Mammi warten.«
Frohe Wochen folgten.
Allmorgendlich fuhr das Malkleeblatt, wie Herr Fritz Erich Albers die dreie nannte, mit ihm in seinem Wagen zur Stadt.
Er setzte sie vor dem Atelier ab, um sie Nachmittags, wenn auch er wieder hinausfuhr, abzuholen.
Jetzt bezeugte er selbst großes Interesse an Marlisens Fortschritten und brachte meist noch ein halbes Stündchen oben im Atelier zu, wenn er die drei Hausgenossinnen heimholen kam.
Alle die jungen Malerinnen freuten sich darauf und lauschten, bis sie den Wagen vorfahren hörten. Herr Fritz Erich Albers erfreute sich gleich seiner Nichte großer Beliebtheit.
Frau Helene war überglücklich in dieser Zeit. Endlich, endlich war es gelungen, das Kind zu einer geregelten Tätigkeit zu bringen, es mit Ernst einer Pflicht obliegen zu lassen.
Weder scheute Marie-Luise selbst davor zurück, noch griff der Bruder hindernd ein.
Wie gesagt, Frau Helene war sehr, sehr froh, wäre vollständig glücklich gewesen, wenn – wenn nicht Befinden und Benehmen ihres Bruders ihr Sorge gemacht hätten.
Lange schon ging es zurück, nach jenem Ball damals war es gewesen, daß ihr etwas in seinem Wesen auffiel.
Er war stets so gleichmäßig heiter sonst, jetzt konnte er lange grübeln und sinnen und dann kam eine Lustigkeit über ihn, die nicht echt war. Und diese Lustigkeit kam stets, wenn er sich beachtet wähnte.
Nur wenn das Kind um ihn war, und in Sorge und Zärtlichkeit für seinen Irrwisch war er der Alte, da leuchteten die sonst trüben Augen im alten Feuer, fand der sonst herb geschlossene Mund die alten Scherzworte.
»Was ist's, Fritz?« hatte Frau Helene ihn mehr als einmal gefragt.
»Nichts, Helene,« hatte er abgewehrt. »Vielleicht bin ich körperlich nicht ganz frisch.«
»So frage einen Arzt, Fritz.«
»Der kann mir doch nicht helfen!«
Dabei war's geblieben. –
Heute herrschte große Freude im Atelier.
Eben war Professor Lauten gegangen. Seine Kritik war an diesem Tag fast durchweg günstig ausgefallen.
Vor Marlise Wredens Arbeit hatte er lange gestanden.
»Brav, sehr brav,« hatte er gesagt und beifällig genickt. »Kind, da steckt was drin, was ans Licht will. Schade, daß Sie sich nicht ihr Brot verdienen müssen.«
Lachend hatte er die Marlis angesehen, und die hatte kinderfroh zurückgelacht.
»Ich wäre kein bißchen bange drum, Herr Professor. Wirklich schade.«
Da war er ernst geworden.
»Versündigen Sie sich nicht, Kind. Der Kampf ums Dasein ist nicht leicht. Es ist eben ein Kampf. Sie ahnen gar nicht, was Ihnen erspart bleibt.«
Die meisten der Schülerinnen hatten ernst dreingeschaut mit den jungen, lebensfrohen Augen. Helene Ehlert und Verena Walters hatten zustimmend den Kopf gesenkt und leise aufgeseufzt.
»Das langt mit den Kinderhänden so selbstverständlich und siegesgewiß nach den Rosen, als ob es gar keine Dornen gebe, an denen unsereins sich die Hände zerreißt. So 'ne Prinzeß!« brummte Helene leise nach Verena hin.
»Gott Lob und Dank, daß es solche Sonnenkinder gibt. Licht und Wärme, die sie empfangen, strahlen sie doppelt zurück. Und wenn ich selber im Schatten stehe, daß die Sonne überhaupt noch da ist, ist schon ein Trost.«
»Ganz so selbstlos bin ich nicht veranlagt,« sagte Helene knapp.
»Weiß ich besser,« nickte Verena vor sich hin.
»Guten Morgen, meine Damen!« hatte jetzt Professor Lauten gerufen und hatte nach seinem Hut gegriffen. »Nur brav so weiter, dann bin ich stolz auf meine Schülerinnen.«
Das hatte sie alle sehr froh gemacht. Als der Professor fort war, ging es erst an die Nachkritik. Vor jede einzelne Arbeit traten alle vereint und sagten frei und ohne Scheu ihre Ansicht. Ohne viel Neckerei, lustiges Wortgeplänkel und fröhliches Lachen ging das niemals ab.
Jetzt standen sie vor Marlisens Staffelei. Sie führte zum ersten Male eine selbständige Skizze aus. Zum ersten Male arbeitete sie mit Rötel. Die Skizze war draußen im Waldhaus entstanden und zeigte Rollo, wie er eben sehr erregt einem flüchtigen Eichkätzchen nachbellte, das oben im Geäst der alten Linde saß. Rollo hatte sich am Stamm aufgerichtet und man sah förmlich, wie Erregung und Ungeduld in ihm vibrierten.
»Bravo!« sagte Verena und legte den Arm um Marlisens Hüften. Höher reichte sie nicht.
»Faustisch,« sagte Helene.
»Wieso?« fragten einige herausfordernd.
Helene mußte lachen. »Na beißt mich nur nicht, Kinder. Ich will der Prinzeß nicht zu nahe treten. Der Faust sagt nämlich mal irgendwo: ›Ach, daß kein Flügel mich vom Boden hebt!‹ Das schienen mir auch Rollos Gedanken.«
»Werd' ich drunter schreiben,« lachte die Marlis.
»Oder ›Unzulänglichkeit‹,« schlug Helene vor.
»Überleg' ich mir erst noch. Ist doppelsinnig. Helene, darin steckt wohl zugleich die Kritik?« Mit lachenden Schelmenaugen sah sie ihr ins Gesicht. Gekränkt war die Marlis kein bißchen.
Aber Helene sagte sehr ernst: »Ich wäre stolz, wenn ich das Bild gemacht hätte.«
Der Marlis stockte erst ein bißchen der Atem. Dann schoß ihr die Glut ins Gesicht, aus den Augen.
»Helene, Helene, wirklich?« Die nickte bloß.
Da drehte sich die Marlis jauchzend im Kreise, bis ihr der Atem verging und sie sich losriß.
»Irrwisch!« schalt sie, wie sie es Herrn Fritz Erich Albers oft hatte tun hören.
Unten fuhr ein Wagen vor. Bloß Verena hörte drauf. Die anderen tollten und lachten mit der Marlis um die Wette.
»Dein Onkel kommt, Marlise,« sagte Verena.
»Onkelchen, Onkelchen,« jauchzte die Marlis und stürmte auf die Tür los. Ehe sie noch dort war, flog die schon zurück und Franz stand da. Er sah sehr blaß aus und zitterte sichtlich.
Die Marlis merkte es nicht.
»Sie, Franz?« rief sie enttäuscht. »Wo ist Onkel?«
Der alte Diener fand nicht gleich Worte. Da sah ihn die Marlis, immer noch lachend, genauer an.
»Herrje, Franz, ist Ihnen die Petersilie –« und gleich danach jammernd: »Franz – Onkel – Mammi –.«
»Fräuleinchen müssen gleich mitkommen. Der Herr Kommerzienrat –«
Mit einem Wehelaut war die Marlis davongestürzt. Der Alte wollte nach. Da faßte ihn Helene Ehlert an der Schulter.
»Was ist geschehen?«
Franz konnte nur stumm den Kopf schütteln, er eilte weiter. Schnell entschlossen winkte Helene Verena zu und beide hasteten hinterher. Aber der Wagen war schon im Fahren. Marlise war hineingesprungen, und der Kutscher hatte wortlos die Pferde angetrieben. Sie sausten nur so dahin.
Eine Sekunde sah Franz verblüfft hinterher, dann rannte er, so schnell es seine alten Beine erlaubten, davon.
Verena und Helene immer dicht hinter ihm.
Der Wagen fuhr an der Freitreppe des alten Bankhauses vor. Ehe er noch hielt, stand Marlise schon auf den Stufen. Oben am Türpfosten lehnte der alte Buchhalter, er wankte so, daß er nicht frei stehen konnte. Hinter ihm drängten sich Kopf an Kopf mit entsetzten blassen Gesichtern die anderen Herren der Firma.
Die Marlis sah keinen. Mit weit aufgerissenen, starren Augen schaute sie über alle weg.
»Das Unglück, gnädiges Fräulein,« jammerte der alte weißhaarige Mann.
Die Marlis hörte ihn nicht.
»Wo? Wo?« fragte sie mit zitternden Lippen.
»In seinem Zimmer oben,« sagte der alte Mann tonlos.
»Ist der Arzt geholt?« Die Marlis fragte es leise und war schon halbwegs die Treppe hinauf.
Niemand antwortete.
Sollten sie sagen, daß Menschenhilfe hier machtlos war?
Die Marlis wartete auch auf keine Antwort, sie war schon oben und flog über den Korridor hin.
Und dann sank sie drin vor dem Lager, auf dem sie den Sterbenden gebettet hatten, in die Kniee.
Der tastete mit der Hand nach dem geliebten Köpfchen. Die brechenden Augen hafteten angstvoll an dem jungen Gesicht.
»Irrwisch, verzeih,« flüsterte er, und dann sank der Kopf hintenüber, die Glieder streckten sich.
Die Marlis hatte die letzten Worte aus dem geliebten Munde gehört.
Ungläubig, starr, betäubt, tränenlos sah sie auf das teure, so veränderte Antlitz.
Und dann hob sie den Blick. Sie sah in die Augen des alten Familienarztes.
»Tot?« hauchte sie mehr als sie fragte.
Der neigte nur stumm den Kopf.
Da schlang die Marlis heiß, leidenschaftlich die beiden Arme um den starr Daliegenden, barg das Haupt an seiner Brust und – wußte nichts mehr von sich und allem Jammer. – –
»Als er die Depesche gelesen hatte, gnädige Frau, da brach er zusammen. Wir schafften ihn hier herauf, holten den Arzt und – und – es ist sehr schnell zu Ende gewesen, gnädige Frau.«
Eine leise wehe Stimme sagte etwas. Dann eine andere, eine Männerstimme: »Es war ein Schlag, gnädige Frau, ein Herzschlag.«
Dann klang ein unterdrücktes, jammervolles Schluchzen durch den Raum.
Wie im Traum hatte Marlise die Stimmen gehört, das Schluchzen weckte sie.
Sie lag still, aber sie hatte die Augen offen.
Was war doch nur?
Wo war sie eigentlich?
Wo waren Mammi? Onkelchen –
Allmächtiger Gott!
Die Marlis fuhr auf. Sie lag auf einem Langstuhl hingestreckt. Wie sie dahin gekommen war, wußte sie nicht. Noch ganz betäubt sah sie um sich. Dort – dort war ja das Gräßliche.
»Mammi?«
Mit einem wehen Aufschrei, der bis ins Innerste drang, sank Marlise an der Seite der knieenden Frauengestalt dort neben dem Lager nieder, auf dem der geliebte teure Tote hingestreckt lag. Sie schluchzte fassungslos.
»Onkelchen – mein Onkelchen!«
Frau Helene legte die Arme um ihr Kind.
»Marie-Luise, nun sind wir ganz allein.«
»Ja, Mammi, so allein!«
Und die beiden hielten sich fest umfaßt.
Und dann riß Marlise sich los und warf sich über den Toten.
»Onkelchen, mein Onkelchen, sieh mich nur noch einmal an mit den treuen Augen. Einmal, nur einmal noch sag: mein Irrwisch!«
Sie streichelte an dem blassen stillen Gesicht herum, sie küßte den verstummten Mund, der nie, nie wieder Antwort geben sollte.
»Onkelchen, mein Onkelchen!«
Der Jammer schnitt ins Herz.
»Wenn Sie das Kind mit fortnähmen, gnädige Frau,« sagte der alte Hausarzt zu Frau Helene. »Solche Erschütterung –« »Komm, Marie-Luise, komm mit mir, mein Kind.«
Fran Helene hatte sich sofort erhoben. In der Sorge um ihr Kind drängte sie den eigenen Jammer zurück. Sanft suchte sie Marlise vom Toten fortzuziehen.
Die wehrte ab, wortlos, aber beharrlich.
Hilflos sah Frau Helene um sich.
Da trat Verena an ihre Seite. Sie und Helene hatten sich bis dahin ruhig im Hintergrund gehalten. Sie waren vorher eben recht gekommen, die bewußtlose Marlis auf den Langstuhl bringen zu helfen. Hatten dann auch der rasch herbeigeholten Mutter die ersten Handreichungen tun können. Danach hatten sie sich still abseits gestellt.
Jetzt kam Verena Frau Helene zu Hilfe. Sie beugte sich über die Marlis.
»Marlise,« sagte sie leise, unendliches Mitleid im Ton, »Marlise, deine Mutter braucht dich.«
Die Marlis wandte ihr das tränenüberströmte Gesicht zu.
»Mammi! Ich kann Onkelchen nicht allein lassen.« Und wieder nestelte sie sich noch fester an den Toten heran.
Erbarmend trat Verena zurück. Einen solchen Schmerz zu stören, schien ihr grausam.
Da winkte der alte Arzt und raunte: »Es muß sein. Um beider willen!« Er wies mit den Augen nach Frau Helene, die sich kaum aufrecht erhielt.
Zagend, zitternd trat Verena wieder heran. Da schob jemand sie beiseite – Helene Ehlert.
Schnell trat sie zum Lager und zog Marlise mit raschem Griff empor. Weich aber fest sagte sie: »Kind, es muß sein. Ihre Mutter braucht Sie. Die Pflicht gegen die Lebenden geht vor.«
Marlise stand aufrecht, aber sie taumelte. Einen angstvoll entsetzten Blick warf sie auf Helene Ehlert.
»Ich – ich – Pflicht – Mammi –«
Da hatten die Mutterarme sie umfaßt und zogen sie mit sich fort in den Nebenraum.
Alle atmeten auf. –
Und nun folgten die schrecklichen Tage mit ihrer Hast und ihrem Getriebe, mit ihren tausend Anforderungen an eine fast versagende Kraft – die schrecklichen Tage, bis man die Überreste dessen, was uns so teuer war, zur letzten Ruhe betten kann.
Frau Helene hielt sich wunderbar tapfer. Mit Umsicht und Bedacht ordnete sie alles an und war stets bereit, was auch für Anforderungen an sie herantraten. Viel Hilfe stand ihr zu Gebot – Herr Fritz Erich Albers hatte viele und treue Freunde gehabt. Alle eilten herbei und boten ihre Dienste an.
Man hatte den Toten im großen Saale aufgebahrt. In eben jenem Saale, der vor Wochen unter Rosengewinden und wehenden Ranken die überschäumende Jugendlust geschaut hatte.
Jetzt spannten sich düsterschwarze Stoffe, wo damals die Rosen lachten. Jetzt bestrahlten die Kerzen auf den Kandelabern zu beiden Seiten des Sarges den ernsten, stillen Tod, wie sie dort dem blühenden, glühenden Leben gestrahlt hatten.
Die Marlis hatte sich nur einmal noch von ihrem Bettchen aufgerafft und war gegangen, den geliebten Toten zum letzten Male zu schauen. Dann sollte der Sarg geschlossen werden.
Durchsichtig weiß und zitternd hatte sie dagestanden, mit großen erschreckten Kinderaugen die düstere Pracht geschaut.
Dann hatte sie mit fliegenden Händen von nahestehenden Topfpflanzen Blüten gepflückt, war zum Sarg herangetreten und hatte die Blüten dem Toten auf die Brust gelegt.
Einen Kuß hatte sie auf das weiße stille Gesicht gehaucht.
»Leb wohl, mein Onkelchen,« hatte sie leise geflüstert, »nie, nie vergeß ich dich.«
Und auf dem stillen, weißen Totengesicht hatten warme, glänzende Tränentropfen gelegen.
Lange, lange hatte die Marlis drauf hingeschaut. Sie hatte sich nicht entschließen können, sie fortzuwischen.
»Nimm sie mit, Onkelchen,« hatte sie geflüstert, »es sind die ersten, die dein Irrwisch deinethalben hat weinen müssen.«
Das war der Abschied gewesen, den die Marlis von dem geliebten Onkel nahm.
Dann war sie leise und still wieder in ihr Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte das Bedürfnis, in ihrem Schmerze sich von allen Menschen zurückzuziehen.
Und Frau Helene ließ sie gewähren.
Sie wußte, welche Heilkraft drin liegt, sich einem großen Schmerz voll hingeben zu dürfen. Das Kind war noch zu jung, um ihm diese Wohltat zu versagen, wie es das Leben späterhin so oft tut.
Und, dann war der Tag gekommen, wo man vom Hause Fritz Erich Albers den letzten Chef zur letzten Ruhe trug.
Mit dem Pomp und Gepränge trug man ihn hinaus, wie es die Traditionen des alten, ehrenfesten, glanzvollen Hauses verlangten.
Frau Helene wußte, was sie dem Bruder, was sie dem Hause, seinem Ruf und Namen schuldig war.
Die Marlis lag in ihrem Zimmer und lauschte mit alten Sinnen auf das dumpfe, unheimliche Getriebe unten.
Sie wußte wohl, was das bedeutete, obwohl keiner es ihr gesagt hatte.
Frau Helene konnte nicht bei ihrem Kinde sein. An sie traten an diesem schweren Tag andere schwere Anforderungen heran. Und sie wollte bis zuletzt auf ihrem Posten sein.
Dafür saß Verena dort am Fenster. Wortlos saß sie, um die Marlis nicht zu stören. Nur ihre warmen, erbarmenden Augen redeten. Und so war's der Marlis am liebsten.
Das Geräusch vieler Tritte, gedämpfter Stimmen hörte man. Viele, viele Menschen mußten da sein, Herrn Fritz Erich Albers die letzte Ehre zu erweisen.
Dazwischen Pferdegetrabe, Räderrollen.
Jetzt war alles still – totenstill. Eine ganze Weile lang. Durch den Parkettboden des Zimmers hindurch war es, als ob man eine einzelne Stimme höre, die sich in feierlichem Ton erhob. Tort unten war der Saal, wo der Sarg inmitten stand.
Dann kamen die vielen Tritte wieder und das gedämpfte Murmeln. Erst war's im Hause, auf Treppen und Korridoren, und dann auf der Straße draußen.
Schwere Schritte klangen dann wieder auf der Treppe, dumpf, wuchtig, als ob eine Last auf den Schultern derer, die da gingen, ruhe.
Draußen scharrten Pferdehufe dicht am Hause. Die schweren, dumpfen Schritte gingen nun über die Freitreppe hinunter.
Mit dumpfem Schall wurde der Sarg abgesetzt, rutschend vorgeschoben.
Und dann – dann zogen die Pferde an, Räder rollten langsam, feierlich. Vom nahen Kirchturm setzten die Glocken ein. Tritte vieler, vieler Menschen und vieler Pferdehufen, Räderrollen, langsam, endlos.
Und dann – dann entfernten sich die Töne, verhallten mehr und mehr – verhallten – verstummten. Nur die Glocken tönten fort, mahnend, feierlich. Sie riefen dem letzten Chef des alten Hauses den letzten Gruß nach.
Und dann verhallten auch sie.
Totenstille, lastend, entsetzlich.
Scheu sah Verena nach Marlise hin.
Die hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und lag ganz still. Aber ein Zucken lief zuweilen durch den jungen Körper und zwischen den Fingern, die das Antlitz bargen, quollen dichte Tropfen vor.
Verena war aufgestanden, wollte zur Weinenden hintreten. Da öffnete sich die Tür und Frau Helene kam herein.
Sie beugte sich über ihr Kind.
»Marie-Luise!«
»Mammi, meine Mammi!«
Fest hielten sich die beiden umfaßt.
Da ging Verena leise zur Tür und zog die hinter sich zu.
Eine dritte war hier zu viel.
Eine Woche war seitdem übers Land gezogen. Acht volle Tage schon und – erst acht Tage.
Draußen im Waldhaus auf der Terrasse saßen Frau Helene und Marlise.
Wie schneeweiß und durchsichtig das Kind aussah in dem düsteren Trauerkleid. Haare und Gesicht fast von einer Farbe. Die übergroßen traurigen dunklen Augen das einzig Lebendige in dem stillen Gesichtchen.
Müde ließ die Marlis die Augen über den Park hingehen, müde sah sie zum Himmel auf, fast vorwurfsvoll – daß auch die Sonne noch scheinen konnte!
Sie schloß die Augen, sie waren so müde vom vielen Weinen. Das war ihnen solch ungewohnte Arbeit gewesen. Bisher hatten sie nur froh und frisch um sich zu schauen, nur zu lachen brauchen. Auch das Weinen will gelernt sein.
Rollo lag neben der jungen Herrin am Boden. Ein paarmal hatte er schon den Kopf gehoben und nach ihr hingeschielt. Die kümmerte sich aber auch gar nicht um ihn.
Das ärgerte Rollo. Er stand auf und stieß mit der Schnauze gegen Marlisens Kniee. Als das keinen weiteren Erfolg hatte, bohrte er den dicken Kopf recht eindringlich in der Herrin Schoß. Jetzt mußte sie sich doch seiner erinnern!
Aber sie hob bloß matt die Hand, tätschelte ihn ein paarmal und jetzt – ja wahrhaftig, jetzt schob sie ihn, Rollo, Ihn, Rollo! sanft, aber nicht mißzuverstehend, von sich. Ihn, Rollo!
Sehr gekränkt und beleidigt bis in sein innerstes Hundeherz hinein ging Rollo davon. Stolz, ohne sich umzuschauen, trabte er über die Treppe der Terrasse in den Garten. Jetzt mußte sie doch folgen oder ihn doch wenigstens zurückrufen.
Keines von beidem geschah. Rollo schüttelte verblüfft den dicken Kopf, daß die Ohren flogen. Und dann – lief dort nicht eine fremde Miezekatze? Was hatte die hier zu suchen in seinem, Rollos, Gebiet? Mit entrüstetem Bläffen setzte er hinterher. Die junge Herrin und alles war vergessen.
Müde, trübe sah die Marlis indessen in die Sonne, die, wenn sie auch schien, es doch längst nicht so frisch und lustig tat wie sonst wohl, wie vor acht Tagen noch. Das sah die Marlis ganz genau.
»Mammi,« sagte die Marlis und die Lippen zuckten ihr, ohne Weinen konnte sie noch gar nicht davon reden, »Mammi, weshalb er wohl: Irrwisch, verzeih, gesagt hat?«
Sie sagte jetzt immer: er, niemals der Onkel oder Onkelchen, wie sonst. Einmal tat ihr das weh und dann – sie dachte ja nichts anderes, redete von nichts anderem, da wußte Mammi schon, wen sie meinte.
Ehe Frau Helene antworten konnte, kam Franz.
»Herr Doktor Lossen und Herr Braun lassen anfragen, ob gnädige Frau sie empfangen wollen.«
Es waren der Rechtsanwalt und der Buchhalter der Firma.
»Ich lasse die Herren bitten.«
»Ich gehe, Mammi, ich –«
Marlise war müde aufgestanden. Keine Spur des früheren Quecksilbers war mehr in ihren Bewegungen zu sehen.
»Bleib, Marie-Luise,« sagte die Mutter. »Die Herren kommen wohl wegen des Testaments, denke ich mir und da –« Frau Helenens Stimme bebte – »da wirst du dabei sein müssen.«
Marlise zitterte plötzlich stark, aber sie setzte sich wortlos wieder nieder.
Da kamen auch schon die Herren.
Ernst begrüßten sie Frau Helene, dann Marlise.
Auf Frau Helenens Aufforderung hin nahmen sie Platz.
»Und was bringen uns die Herren?«
Befremdend lang kam keine Antwort, dann sagte Doktor Lossen leise: »Nichts Gutes, leider, gnädige Frau, das heißt –«
Er warf einen Blick auf Marlise und stockte.
Die sah weit fort mit den großen trüben Augen und achtete sichtlich auf nichts, was um sie her vorging.
Frau Helene war sehr blaß geworden und preßte die Hand aufs Herz.
»Reden Sie, ich – ich kann alles hören.«
Doktor Lossen zögerte sichtlich wieder, setzte an, stockte und wandte sich mit hilfesuchendem Blick an den alten weißhaarigen Mann ihm zur Seite, dem langjährigen, treuen Buchhalter und Prokuristen der Firma.
Herr Braun räusperte sich erst und dann sagte er mit zitternder, tonloser Stimme: »Es – es sind nämlich Verhältnisse eingetreten, die – die – es – es steht nicht alles wie es sein sollte bei der Firma und – und –«
Der alte Mann zitterte so, daß er einhalten mußte.
Frau Helene sah ihn mit großen weitgeöffneten, ungläubig erstaunten Augen an.
»In unserem Hause? Im Hause Fritz Erich Albers?«
Es lag fast wie Mitleid in der Stimme, Mitleid mit dem alten Manne da, dem der entsetzliche Schreck, den er beim plötzlichen Tod des Chefs hatte, den Sinn verwirrt haben mußte.
Aber der alte Mann senkte schweigend, bejahend das weiße Haupt. Er wollte reden, konnte nicht. Hilflos sah er vor sich hin, schwere Tränen flossen langsam über das faltige Gesicht und fielen auf die verschlungenen Hände.
Fragend sah Frau Helene auf Doktor Lossen. Sie las in seinen Augen die Bestätigung dessen, was der alte Mann gesagt hatte.
»Unmöglich!« fuhr sie auf, und sank gleich danach in sich selbst zusammen. –
Der Mutter Wehelaut hatte die Marlis wachgerufen. Mit großen Augen, voll gespanntesten Anteils folgte sie nun dem was kam. Aber keiner achtete auf sie.
Der alte Mann hatte seine Fassung wiedergefunden. Leise und klar berichtete er.
Eine Kette von Mißgeschick hatte das alte, sturmerprobte Haus in den Fugen erschüttert. Verzweifelt, mit aller Energie hatte der Chef sich gewehrt. Sie war ins Wanken geraten, die alte ehrenhafte Firma, niemand ahnte es, niemand wußte drum als eben er, der alte Gehilfe und Vertraute seines Herrn und der arme, arme Herr selber und –
»Verzweifelt hat er sich gewehrt, der arme Herr, das Menschenmögliche hat er versucht, dem Unheil Einhalt zu tun. Ihn trifft keine Schuld. Vielleicht daß er – daß er ein wenig –« Ein Blick, den der alte Mann auf seine Umgebung, auf Frau Helene und Marlise warf, vollendete, was er ungesagt ließ. »Aber er hatte solch gutes, weiches Herz, er konnte niemand etwas versagen, am wenigsten –« wieder stockte der alte Mann. Und dann schloß er: »Das alles hat uns auch nicht dahingebracht, wo wir jetzt sind. Erst eine Reihe von mißglückten Unternehmungen. Doch wir hätten uns auch da mit der Zeit durchgerissen. Aber dann – dann kam der Sturz der Hypotheken- und Wechselbank in S ..., wo wir stark engagiert waren, und der hat uns den Rest gegeben. Eben die Depesche, die uns davon in Kenntnis setzte, war es, die – die – Der Herr Kommerzienrat hielten sie noch in Händen, als er – als er –«
Wieder versagte dem alten Mann die Stimme, liefen ihm die hellen Tränen übers Gesicht.
Eine totenstille Pause.
Und dann fragte Frau Helene leise, fast unhörbar: »Und wir –? Mein Kind –?«
Da räusperte sich Doktor Lossen und sagte eifrig: »Für das gnädige Fräulein ist reichlich gesorgt. Der Herr Kommerzienrat hat schon seit Jahren große Summen aus der Firma gezogen und sie in einem anderen Hause deponiert. Die liegen dort fest und sicher auf den Namen seiner Nichte. Der Herr Kommerzienrat war ein vorsichtiger Mann und er hatte das gnädige Fräulein sehr lieb. Es ist ein stattliches Sümmchen. Mit den Zinsen werden es annähernd achthunderttausend Mark sein.«
Doktor Lossen schmunzelte fast und sah erwartungsvoll von einer der Damen zur anderen.
Frau Helene atmete sichtlich erleichtert auf. Gleich danach aber verschattete sich ihre Miene wieder.
Die Marlis hatte das Gesicht in den Händen geborgen. Man wußte überhaupt nicht, ob sie zuhöre.
Eine Weile war es sehr still. Dann klang Frau Helenens leise wehe Stimme.
»Und unser Haus? Die alte gute Firma? Ihr Ruf? Unser – meines Bruders Name?«
Tiefe Stille.
Dann sagte der alte Mann fast schluchzend: »Ja, gnädige Frau, das ist nun nicht anders. Die Firma Fritz Erich Albers muß sich fallit erklären.«
Und Frau Helene fragte sehr leise: »Es gibt keine Hilfe?«
Der alte Mann senkte den Kopf so tief, daß man sein Gesicht nicht sehen konnte.
»Keine,« sagte er dumpf. Und dann sinnend, wie träumend, fügte er bei: »Vielleicht, wenn wir im Augenblick eine größere Summe bar disponibel hätten, um den dringendsten Verpflichtungen nachzukommen, vielleicht, daß dann das Äußerste vermieden werden könnte. Ein Vergleich mit den Gläubigern wäre möglich, ein langsames Auflösen der alten Firma, ein allmähliches Abwickeln. Der jähe Sturz brauchte nicht zu sein, wenn –«
Eine helle, junge Stimme, eine weiche, klare Stimme, durch die verhaltenes Beben zitterte, wurde laut, Marlisens Stimme zum ersten Male seit der ganzen Verhandlung.
»Würden achthunderttausend Mark dazu hinreichen, Herr Braun?«
Der alte Mann war zitternd herumgefahren und starrte wortlos in die jungen Augen, die ihn so ernst fragend anschauten.
Die Marlis stand hinter ihrem Stuhl in ihrer ganzen schlanken Höhe, hoch aufgerichtet. Ein flammendes Leuchten lag auf ihrem jungen Gesicht, hatte sich in ihren Augen verfangen.
Unverwandt schaute sie den alten Mann an, die Frage in den Augen.
Er senkte den Blick. Leise, stockend sagte er: »Ich dächte wohl, mein gnädiges Fräulein.«
Und wieder klang die junge Stimme: »Habe ich recht verstanden, Herr Doktor, daß er – ich meine, daß mein Onkel –« – einen Augenblick drohte die Stimme zu versagen – »daß mein Onkel achthunderttausend Mark für mich irgendwohin gegeben hat, ja?«
Doktor Lossen neigte sich: »So ist's, mein gnädiges Fräulein.«
»Und kann ich damit tun, was ich will? Ich will sagen, gehört mir das Geld so, daß ich niemand zu fragen brauche, wenn ich's zu irgend etwas nehmen will?«
Doktor Lossen sann einen Augenblick.
»Doch wohl, Ihre Frau Mutter in erster Linie und dann – Ihren Vormund.«
Mit erschreckten Augen sah ihn die Marlis an.
»Wer ist es?«
Er neigte sich tief.
»Ich, mein gnädiges Fräulein. Der Herr Kommerzienrat hat mich zu seinem Nachfolger bestimmt. In dem Testament, das er lange schon bei mir machte und niederlegte, steht es verzeichnet. Ich werde sofort die Ehre haben –«
Er entfaltete ein Schriftstück.
»Ach, dann ist alles gut,« unterbrach ihn Marlise erleichtert. »Mammi denkt natürlich genau wie ich und Sie auch, das weiß ich. Ich – ich will nämlich das Geld gar nicht haben. Herr Braun soll es nehmen und so benutzen, wie er vorhin sagte. Er – Onkelchen hat so viel, so viel für mich getan, sollte ich das nicht für ihn tun können?«
»Marie-Luise!«
Zweifel, Sorge, Stolz, bebende Angst, kämpfende Freude lag in dem Anruf.
Die Marlis wandte das Köpfchen.
»Das sagst du doch auch, Mammi? Sicherlich!«
Es klang so einfach, so selbstverständlich.
»Kind, der Kampf mit dem Leben ist schwer – entsetzlich schwer!«
»Das sagte der Professor neulich auch, Mammi –« wie Kichern huschte es der Marlis um die Mundwinkel, doch gleich danach zitterten die Lippen wieder – »aber ich, ich fürchte mich gar nicht – kein bißchen.«
»Du bist nicht dafür erzogen, Kind.«
»Sollte ich's besser haben als andere, Mammi – sollte ich weniger fertig bringen?«
Etwas Siegessicheres, Selbstbewußtes klang mit durch.
Doch Frau Helene schüttelte trübe den Kopf.
»Kind, Kind, du weißt nicht, was du redest.«
»Mammi, er – Onkelchen hat, solange er lebte, seinem Irrwisch nur Liebes und Gutes getan. Sollte ich da, jetzt wo er tot ist, nicht alles tun, daß man seinen Namen und sein Andenken hoch hält? Sieh, die Menschen, Mammi, die wissen nicht, wie treu und gut er war. Die dächten und sagten am Ende allerlei Böses und Schlimmes von ihm, und Mammi, Mammi, was ist dagegen das bißchen Geld?«
Frau Helene hatte den Kopf in die Hände gelegt und schluchzte bitterlich. Was hätte sie sagen sollen?
»Achthunderttausend Mark sind kein Pappenstiel, mein gnädiges Fräulein!«
Doktor Lossen fuhr förmlich auf.
»Ich weiß, Herr Doktor, ich glaube es gern. Und ich weiß auch, daß Sie alles, was ich sage, für kindischen Unverstand halten. Das mag's ja sein. Und vielleicht dächte ich, wenn ich alt und grau wäre und ein junges dummes Ding so reden hörte, gerade wie Sie jetzt denken. Aber das Geld will ich nicht, Herr Doktor, das nehme ich nicht, absolut nicht. Und man kann doch niemand gegen seinen Willen dazu zwingen, oder?« Marlisens Augen blitzten auf. Fast herausfordernd sah sie den Doktor an.
Der zuckte bloß die Achseln und wandte sich ab, halb geärgert und halb überwunden, halb geringschätzend und halb bewundernd. Wie konnte man nur so töricht und dabei so – großherzig sein.
Die Marlis aber stand vor dem alten Mann, dem alten Freunde und Vertrauten des Onkels und des alten Hauses.
Der hatte während der ganzen Zeit die Augen nicht von der jungen Gestalt gelassen. Ein eigentümlich tiefer Schein war drin erglommen, immer wärmeres Leuchten war über sein Gesicht geflogen.
Jetzt reichte ihm die Marlis beide Hände.
»Sie nehmen das Geld, Herr Braun, und lassen kein Stäubchen auf Onkels Namen fallen.«
Fast andächtig zog der alte Mann eine der ihm gereichten Hände nach der anderen an die Lippen.
»Gott wird es Ihnen lohnen, Kind, wie er dem Herrn Kommerzienrat noch im Grabe die Liebe und Treue zu Ihnen lohnt.«
In dem jungen Gesicht stieg eine leichte Glut auf. Helle Tränen flossen drüber hin und erstaunte Kinderaugen fragten: Was haben wir denn groß getan?
Doktor Lossen hatte indessen leise mit Frau Helene verhandelt. Die hatte nur wie abwehrend die Hände gehoben, den Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt.
»Was soll ich – was kann ich tun?«
»Einschreiten – es verbieten!«
»Kann ich das mit Erfolg?«
»Bis zur Großjährigkeit, gewiß.«
»Und dann?«
»Bis dahin wird das gnädige Fräulein das Leben besser kennen. Würdigen, was sie jetzt wegwirft.«
»Und meines Bruders Name? Meines Kindes Liebe – Achtung? Marie-Luise würde nicht begreifen, nicht verstehen können, wenn ich anders dächte als sie. Sie würde mir niemals verzeihen, wenn ich sie jetzt hindern wollte, ihrem Herzen zu folgen. Und – und ich bin meinem armen Bruder noch tausendfach mehr Dank schuldig als das Kind.«
Doktor Lossen trat zurück und zuckte die Achseln.
»Dann bin ich machtlos, gnädige Frau. Mit Ihnen vereint hätte ich ein Veto einlegen können gegen diese – diese –«
Er war sehr rot, sehr erregt, suchte vergeblich nach einer Bezeichnung, die seine Gefühle wiedergab und doch in den Grenzen der Höflichkeit blieb. Am liebsten hätte er Verrücktheit, Donquichotterie gesagt. Doch davor bewahrten ihn die ihm anerzogenen guten Sitten.
Die Marlis war aufmerksam geworden, sah seine zornige Erregung. Und schon stand sie vor ihm und sah ihn mit den großen klaren Kinderaugen an. Sie hob ihm beide Hände entgegen.
»Sie dürfen mir nicht böse sein, Herr Doktor. Ich weiß ja, daß Sie aus Anteil für mich so reden. Aber denken Sie mal« – die Marlis zögerte einen Augenblick – »ja, denken Sie mal, wenn Sie eine Tochter hätten und – und – ja es käme irgend etwas Schweres, Gräßliches über Sie und die Tochter wollte nicht alles tun, es abzuwenden, wenn das in ihrer Macht stünde. Würden Sie – würden Sie sie nicht für sehr herzlos und unkindlich halten? Und wenn sie's täte, würden Sie sich besinnen, es anzunehmen? Nur einen Augenblick besinnen? Es wäre doch Ihr Kind – und zwischen Vater und Kind –« Der Marlis versagte plötzlich die Stimme. Sie hielt einen Augenblick ein und dann sagte sie sehr leise: »Onkel war mir mehr als ein Vater und ich war in Liebe tausendfach sein Kind.«
Die junge weiche Stimme brach, Tränen flossen aus den Augen, die groß und flehend in Doktor Lossens Gesicht forschten.
Wider seinen Willen ergriffen, erweicht, sah der tief in die flehenden Kinderaugen. Er hielt beide Hände, die Marlise ihm gereicht hatte, und drückte und schüttelte dran herum. Und jetzt sagte er warm: »Als Mensch sage ich, das ist groß und schön gemacht, mein gnädiges Fräulein, und macht Ihrem Herzen alle Ehre.« Noch eifriger schüttelte er Marlisens Hände. »Als Vormund muß ich anders reden. Ich kann nicht dulden, daß solch wichtige Angelegenheit in solcher Eile und ohne reifliches Erwägen abgetan sei. Ich fordere – lassen Sie mal sehen – Braun, schadet ein Aufschub von drei bis vier Tagen?«
Der Angerufene schüttelte stumm den Kopf.
»Also, sagen wir, drei Tage fordere ich als Frist zur Überlegung. Denken Sie danach noch so, mein gnädiges Fräulein – nun, dann reden wir weiter.« Er schwieg eine Weile und dann sagte er sehr warm: »Ich werde diese Stunde nicht vergessen, Kind. Ich habe so viel mit Egoismus und engem, elendem Menschentum zu tun, daß es wohl tut wie ein frischer Trunk in der Wüste, zu sehen, daß auch selbstloser Sinn, Großherzigkeit und Opfermut noch in der Welt zu finden sind. Ich habe die Ehre, mich den Damen zu empfehlen. Braun, Sie kommen doch mit?«
Eilig verabschiedeten sich die Herren. Sie fühlten, sie sahen, daß Mutter und Kind nun allein sein mußten.
In der Tür wandte sich Doktor Lossen noch einmal.
»In drei Tagen also!«
Stumm bejahend neigte Frau Helene den Kopf.
Und dann waren die beiden allein.
Die Marlis hatte die Arme um die Mutter gelegt, die nun leise vor sich hinschluchzte.
»Mammi, Mammi, nun weiß ich, weshalb er ›Irrwisch, verzeih!‹ gesagt hat. Onkelchen, mein Onkelchen, was muß er durchgemacht haben!«
Die Marlis weinte herzbrechend. Dann, als sie sah, wie die Mutter immer erregter wurde, faßte sie sich schnell. Sie zog die Hände herunter, worin diese das Gesicht barg und sah ihr tief in die Augen.
»Dank, Mammi, Dank,« sagte sie weich, »daß du mich tun läßt, wie ich muß.«
Frau Helene zog nun ihr Kind eng an sich. »Ich fürchte, du weißt nicht, Marie-Luise, was du auf dich nimmst. Das Leben ist ernst, Kind, bitter, bitter ernst.«
Die Marlis sah sie fragend, forschend an. »Bangt dir davor, Mammi? Ich meine, fürchtest du dich davor, daß wir nun vieles, vieles werden entbehren müssen, daß alles so ganz anders werden wird? Dann –«
Die Marlis schluchzte einmal kurz auf.
»Ich lebe nur noch in dir, Kind. Deinethalben einzig ist mir der Gedanke an alle die unausbleiblichen Folgen deines Entschlusses schwer.«
»Bange machen gilt nicht, Mammi! Ich fürchte mich kein bißchen.«
Etwas von dem alten frohen Lerchenton klang in der jungen Stimme an.
Den tatenlosen, vor sich hindämmernden Schmerz hatte die Marlis mit diesem Tage abgeschüttelt. Die tiefe Trauer, die nimmer endende Liebe zu dem teuren Verstorbenen setzte sie in Werke der Liebe um für ihn, der gegangen, für die geliebte Mutter, die ihr geblieben war.
Als Frau Helene am Schluß des Tages in stiller Nachtstunde alles noch einmal durchlebte, da war ihr, als ob sie den Bruder mit seiner liebevollen, warmen Stimme sagen höre: »Laß mir meinen Irrwisch, Helene. So ist er mir eben recht. Das Kind hat ein Herz von Gold und hat es auf dem richtigen Fleck. Das Kind wird recht, Helene, sorge dich nicht.«
Und sie nickte vor sich hin und leise flüsterte sie, als ob sie wirklich Gehörtem antworte: »Du hast recht gehabt, Fritz, tausendfach recht. O, ich Kleinmütige! Wie blind bin ich gewesen!«