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Jeder Kilometer, der uns weiter nach Osten brachte, bildete für die Rückkehr ein Hindernis von jetzt noch nicht abzuschätzender Größe. In Rußland ertrinkst du im Land. Würden die Kräfte ausreichen, um die Riesenstrecke glatt wieder hinter dich zu bringen?
Ohne Zwischenfall kamen wir durch die Tunnel der Baikalstrecke. Stunden und Aberstunden fuhren wir am See entlang. Ich wünschte mir ein Haus auf beherrschender Höhe an diesem größten Alpen-See der Erde. Weiter führten die Schienen über die Selenga auf Tschita zu. Die schlanken Masten der Funkenstation blickten tief hinein ins Land. Endlich war die Stadt erreicht. Das erste Drittel des Wegs lag hinter uns. Weiter ging es über das Jablonoi-Gebirge, die Schilka nach der Mandschurischen Grenze.
Mandschurija! Gegen 500 morgens trafen wir ein. Ein starkes Aufgebot Gendarme und Soldaten hielt den Bahnhof besetzt. Es stand unter englischem Kommando; russische Offiziere waren nicht zu sehen. Sowie der Zug hielt, wurden sämtliche Ausgänge an den Wagen besetzt. Längs des Zuges patrouillierten Posten; niemand durfte ihn verlassen. Die Shag-Pfeife im Munde, die Kragen der braunen Wettermäntel, die sie über weißen Leinenuniformen trugen, hochgeklappt, gingen die Briten in weißen Tennisschuhen mit sicheren Schritten auf und ab und überwachten die Ausführung ihrer Anordnungen. Trotz der frühen Stunde waren sie tadellos rasiert und angezogen, wie aus dem Ei gepellt. Von weitem schon konnte jeder sehen: sie waren die Herren der Welt und wußten, was sie wollten.
So wie hier saßen sie an allen wichtigen Punkten der Erde, und nichts geschah ohne ihre Einwilligung. Das wurde mir klar. Ob wir sie schlagen würden? Dazu gehörten andere Leute an die Spitze als die, die bei uns führten: und die es vermochten, durften wahrscheinlich nicht ans Licht. Noch schien die Not nicht groß genug, daß sie auf jeden wichtigen Platz einen Mann verlangte. Verhängnisvoller aber als dieser Irrtum, dieser Mangel, schien mir ein anderer Umstand. Hatte das deutsche Volk auch in seiner Masse den Herrengeist, der es berufen machte, Englands Erbe anzutreten? Denn nach diesem mußte es als Kampfpreis langen, nachdem es nun einmal in den Krieg gegangen war. Sich mit einem geringeren zu bescheiden, bedeutete: dem Gegner zur Selbstvernichtung die Hand zu reichen. Nach diesem Ziele aber konnte Deutschland nur streben, wenn es vom Herrengeist mehr besaß, als Albions Söhne. Freier als diese mußte es im Denken und im Handeln sein. Bewußt mußte es sich auf Gedeih und Verderb einem Willen beugen können, der aller Wollen zu dem einen Ziele, dem Siege, führen sollte. Nur dann war er ihm gewiß. Konnte es das?
Seine Leistungen im Frieden und so manche Großtat im Kriege sagten: ja. Ich glaubte auch daran. Dann kamen die Zweifel. Wohl ist der Deutsche dem Engländer in vielem überlegen, aber Englands Kultur ist geschlossener, selbstsicherer: in größerer Ruhe vermochte sie sich kräftig zu entwickeln und konnte im Laufe der Jahrhunderte tief in weite Schichten der Bevölkerung dringen und in bewußter Zucht in Eton und in Harwich, in Oxford und in Cambridge dem Volke die Führer liefern, die es zu seiner Größe führten. Der Gentleman entstand, die Herrennatur in ihrer höchsten Vollendung und im weitesten Sinne des Wortes: die führende Persönlichkeit, der der Geführte auf Grund der guten Erfahrungen und im Vertrauen auf ihre Überlegenheit blindlings folgt – im schroffen Gegensatz zu uns, mit den Führern von Amts wegen und der Gefolgschaft aus – – Gehorsam. So steht, ein fertiges Produkt von »race, milieu et circonstances«, der Brite heute vor uns. Seine Entwicklung ist abgeschlossen. Sein Charakter ist eine meß- und bestimmbare Größe geworden. Nicht mit einem unbekannten Gegner hatten wir es zu tun, nicht mit einem, dessen Genie uns Überraschungen bringen konnte, nein, klar lag sein voraussichtliches Tun vor uns, so unverkennbar war es, wie nur irgend ein Wort aus seinen Buchstaben deutlich lesbar ist. Den stärksten und klügsten Gegner der Erde hatten wir gegenüber.
In welchem Gegensatz zu dessen steter und bewußter Entwicklung stand die deutsche! Das Schlachtfeld Europas waren Germaniens Fluren. Kein Landstrich, den nicht der Krieg mehr als einmal verwüstete. Trotzdem ward die Not der Zeit immer wieder überwunden und unvergängliche Werke des Geistes und der Tat zeugen von der Kraft des Volkes, die für ihre ruhige Entfaltung noch keine Muße fand. Ungeheures mußte sie leisten können, wenn jeder einzelne sie bewußt gebrauchte. Noch war dies Wissen nicht Gemeingut aller. Aber es mußte es werden, wenn das Gebot der Stunde die Anspannung aller Kräfte erforderte. Im Vertrauen hierauf konnte das ungeheure Wagnis dieses Krieges auch zu so ungelegener Stunde unternommen werden. Allmählich aber begann es, sich zu zeigen, daß auch hier eiserne Gesetze walten. Die Kraft, die in Jahrhunderten ruhiger Entwicklung ihre Wurzeln hatte, begann die eben wieder aufkeimende deutsche zu überwuchern. Es zeigte sich, daß in der Heimat breite Schichten wurzellos, ein Spielzeug jedes rauheren Windes waren. Nichts von diszipliniertem Machtwillen, von Herrentum steckte in ihnen. Eine Herde waren sie, die jedem als Beute zufiel, der ihr schmackhaftes Futter versprach. Was war ihr deutsche Weltgeltung? Mühe und Arbeit, Siechtum vielleicht, am Ende gar der Tod: die Ängste des Sklaven. Wer ihnen diese nahm, mußte sie gewinnen. Davon träumten sie und vergaßen darüber die Wirklichkeit. Die aber forderte den Einsatz der Persönlichkeit: den Mut zu sterben, um zu leben. Güter, die dem Sklaven fremd und auch durch höchste Intelligenz nicht zu ersetzen sind und eben deren Mangel ihn zum Heloten macht. Auf sie durfte man nicht rechnen. Freie nur ordnen sich Freien unter, Sklaven werden zum Dienst gepreßt. Man muß sie nehmen können; wir hatten keinen Dolmetsch, der auch ihre Sprache sprach. So gab es zwei Lager im Reich. Welten trennten sie im Denken und im handeln. Gelang es nicht, sie zu einen, war Aller Schicksal besiegelt. Die Kunde, die aus der Heimat drang, verriet, daß nicht alle am gleichen Strange zogen. Darin lag ein Todeskeim, verderblicher als jeder Mangel, jeder Irrtum. Werden sie zu Hause es fertig bringen, ihm den Nährboden zu entziehen? War es noch Zeit dazu? Nur dann schlugen wir Groß-Britannien! –
Die Engländer hatten sich überzeugt, daß keine Maus, ohne bemerkt zu werden, den Zug verlassen konnte. Nun machten sie sich daran, Reisende und Gepäck zu kontrollieren. Gendarme stellten fest, daß in unserem Abteil nichts verborgen war. Unter Aufsicht verließen wir jetzt den Zug. Ein englischer Offizier winkte meinen Konvoi zu sich heran. »Gepäck vorzeigen!« befahl er. Die Soldaten öffneten ihre Bündel und ihre kleinen Kofferkisten. Gendarme stöberten in den Habseligkeiten herum. Dann unterzogen sie den Konvoi einer Leibesdurchsuchung. »Nichts!« meldeten sie dem Engländer. Ein Wink von ihm entließ meine Begleitung. Beim Aussteigen hatte mich ein kurzer Blick des Offiziers gestreift. Er grüßte nicht, ich grüßte nicht. Er tat seinen Dienst, ich sah zu. Der Konvoi ergriff mein Gepäck. Dreimal so groß als das ihre stand es zugeschnallt auf dem Bahnsteig. Eine ablehnende Gebärde des Engländers sagte, daß er auf meine und meiner Sachen Durchsuchung verzichte.
Wir stiegen in den Mandschurischen Zug. Hart nördlich des Dalai-Nor betrat er die Mandschurei. Dann folgte er ein paar hundert Kilometer dem oberen Argun, kletterte über das Chingan-Gebirge, ging bei Tsitsikar über den Nonni und eilte schnurgerade auf Charbin zu. Die Gegend bot keine Reize; westlich des Chingan dehnte sich die öde Hochfläche der letzten Ausläufer des Scha-Mo, um dann allmählich nach Osten zu bebauten Feldern Platz zu machen. Im Gebiete der Chunchusen glichen die Stationen bisweilen mittelalterlichen Festungen. Die Taktik dieser Räuber-Nomaden gestattet noch den Bau verhältnismäßig primitiver Befestigungen: sie ähneln den Stationen in unseren früheren Kolonien. Die Haltestellen wiesen fast durchweg saubere und schöne Gebäude auf: gepflegte Anlagen und Ziersträucher verrieten überall eine sorgende Hand. In wohltuendem Gegensatz zu den rein russischen Bahnen ist mir die mandschurische in der Erinnerung geblieben.
Zu Beginn der Fahrt wurde ich in eine stundenlange, heftige Auseinandersetzung mit einem fanatischen russischen Bauern verwickelt. Einer seiner Söhne focht im russischen Kontingent in Frankreich gegen uns. Die ungeheuerlichen Lügen, die jahrelang von unseren Feinden über uns systematisch verbreitet wurden, hatten in dem Manne blinden Glauben gefunden. Er vermochte es nicht zu fassen, daß nicht jeder Deutsche, dessen der Gegner habhaft wurde, wie ein toller Hund totgeschlagen wurde. Diese Geistesverfassung machte die Verständigung zunächst einigermaßen schwierig. Schließlich hatte ich doch die Genugtuung, ihn und eine Anzahl Mitreisender anderen Sinnes gemacht zu haben. Trotzdem war ich heilsfroh, als ich endlich diese lästige Gesellschaft los wurde. Die Situation hatte sich bisweilen so zugespitzt, daß es schwer war, zu wissen, was die nächste Minute bringen würde. Gewiß war nur, daß sich mein Konvoi in eine für seine Landsleute wohlwollende Neutralität gerettet hätte.
Die Untaten, die in Deutschland im Gefolge der Revolution von reißenden Tieren in Menschengestalt verübt wurden, werden auch minder skeptischen Gemütern gezeigt haben, wessen der homo sapiens, sich selbst überlassen, fähig ist. Ein Beitrag hierzu: ein paar Soldaten saßen in Nachbarwagen – wohlgemerkt Russen! – die wegen irgend welcher geringfügiger Vergehen von einem Ort zum andern gebracht werden sollten. Wir näherten uns dem langgestreckten Rücken des Chingan. Der Zug hatte grade eine Station verlassen, als er nach wenigen Minuten Fahrt mitten in der Steppe hielt. Aufregung, Geschrei draußen. Was ist los? Der Konvoi der Arrestanten hatte die Notleine gezogen. Einer war durch das Fenster des Aborts soeben entsprungen. Dort lief er. Eine Gestalt, nicht viel größer als ein Hund, eilte über die Ebene dem Flusse zu. »Was gibt's, was gibt's?« Endlich haben es alle begriffen. Zugpersonal, Soldaten, Reisende, Männer, Frauen, Kinder, alle stehen sie draußen längs der Strecke und folgen mit den Augen dem Flüchtling. Einer ruft: »Ihm nach!« und als ob sie auf das Kommando gewartet hätten, rennen sie alle los, hinein in die Steppe, dem Flusse zu. Lautes Geheul erfüllt die Luft. Sind das Tiere, die da brüllen? Nein, Menschen! Menschen auf der Menschenjagd. In der Nähe des Flusses weiden Rinder: berittene Hirten bewachen sie. Weithin schallt das Geschrei der Menge. Zerrissene, mordgierige Laute klingen ans Ohr. Dort laufen nicht mehr Menschen, nicht Männer, Frauen, Kinder: eine lüsterne, beutewitternde Bestie hat sich aufgemacht, um ihre Pranken in den Leib des erspähten Opfers zu schlagen. Dieses wittert die Gefahr, die ihm droht. Schnurgerade hält es auf den Fluß zu. Es geht um sein Leben! Von weitem schauen die Hirten der Jagd zu. Regungslos siehst du sie auf ihren kleinen Pferden sitzen. Da kommt Bewegung in sie. Wilde Schreie, drohende, befehlende Arme haben sie auf die Szene gerufen. Wie der Wind fegen die Reiter über das Blachfeld hin, näher immer näher, an den fliehenden Mann heran. Du siehst, wie seine Kräfte zu erlahmen beginnen. Langsamer wird sein Lauf, schwerer setzt er die Füße. Die Hirten suchen ihm den Weg zu verlegen. Gleich, jetzt, schon sind sie zwischen Fluß und Flüchtling. Da erst erkennt er den neuen Gegner. Rechtsum! Du siehst, wie er nunmehr sinnlos dem noch fernen Gebirge zueilt, mit letzter Kraft um sein Leben läuft. Laut heult die Menge auf, schwenkt ein, jagt weiter.
Beim Zuge sind ein paar Soldaten geblieben. »Schießen! Schießen!« schreit der Zugführer, der unter meinem Fenster steht, reißt einem Soldaten das Gewehr aus der Hand, legt an, drückt ab: rrummmm! dröhnt der Schuß in die Steppe hinein. Die anderen folgen seinem Beispiel. Ein wildes Geknatter hebt an. Ungezielt verfehlen die Kugeln ihr Ziel.
Inzwischen haben die Reiter den Mann gestellt. Die Menge hält. Schrill gellt ihr Triumphgeschrei übers Feld. Dann setzt sie sich wieder in Bewegung. Die ersten haben ihr Opfer erreicht. Ohne Besinnen schlagen sie auf es ein. Russen auf den Landsmann! Du siehst, wie die Faust niederfällt. Ins Gesicht, auf den Rücken, da ein Tritt ins Gesäß. Der Soldat wankt. Wehrt sich.
Ein dichter Knäuel ist um ihn. Mehr, immer mehr strömen zu. Der Haufe setzt sich in Bewegung, ab und zu hält er, wird dichter, lichtet sich. Außer Atem, keuchend, langsam kommen sie heran. Du siehst, wie wieder einer an den Gefangenen herantritt, die Faust hebt, ihn schlägt. Der schlägt zurück. Da reißen, treten sie ihn nieder. Ein unentwirrbarer, dichter Knäuel stampft dort vor deinen Augen auf und nieder. Du siehst nur noch, wie einer auf einem Fuße steht, das andere Bein hebt, das Knie anzieht und mit aller Kraft dem Arrestanten den schweren Stiefel in den Leib tritt. Siehst, siehst es voller Ekel und Entsetzen und kannst den Blick nicht wenden. Männer, Frauen, Kinder, alles drängt und stößt dort mit herum. Schauder faßt dich.
Da sind sie, die Überlebenden, die Sieger, Achthundert gegen Einen. Gierende Mordlust flammt aus dem Blick von Männern, Frauen und Kindern. Wo ist das nächste Opfer? Du siehst, wie die Frage in ihren Augen flackert, stille steht und dann verfliegt. Später ziehen zwei Soldaten von Wagen zu Wagen, Arm in Arm. Einer hat drei, der andere vier Georgs-Kreuze auf der Brust. »Er ist voller Ritter des Georgs- Ordens,« erklärt mir einer: »die beiden haben angefangen, ihn umzubringen,« flüstert mir ein anderer zu. Die sieben Georgs-Kreuze stehen bei meinem Konvoi. »Er ist voller Ritter des Eisernen Kreuzes,« erklärt mein Nachbar, »er hat auch alle Klassen,« und zeigt dabei auf das E.K. auf meiner Brust. Die Georgs-Ritter fühlen sich geehrt. Ich weiß nicht, wodurch. »Wofür?« eröffnet der eine die Unterhaltung. »Flieger,« antwortet mein Konvoi. Da konnt' und konnte ich's nicht lassen: »Dafür?« frage ich und zeige mit dem Finger durchs Fenster in die Steppe und dann auf ihre Brust. Die Ordensritter sahen mich böse an, dann senkten sie den Blick und gingen. »Was ein Deutscher!« sagten sie im Abteil. Ich aber dachte mit Grauen an den Brei aus Knochen, Blut und Erde. –
Schweigend sah ich in die Landschaft hinaus. Unbarmherzig dörrte sie eine glühende Sonne. Wieder hielten wir an einer schmucken Station. Chinesen stiegen ein. Alle Achtung, sahen die sauber aus! Mir begann es zu dämmern, daß der Orient nicht so ganz zu unrecht auf die Kulturträger des Abendlandes bisweilen mit Verachtung blickt. Wie sie höflich sind, wenn sie sich begrüßen oder Abschied voneinander nehmen! Da kannst du 'was lernen. Was sie wohl beim Anblick dieser schmierigen Russen denken mögen? Die sind fast alle ungewaschen, ungekämmt und unrasiert, ihre Kleider fettig und nicht gereinigt: das übliche Bild. Zwei Kulturen, zwei Zivilisationen berührten sich hier. Ihr Vergleich fiel nicht zugunsten der russischen aus.
Auf einer der kleinen Stationen kaufte ich billig, wie mir schien, von einem Chinesen einen flachen Korb mit Himbeeren. Wunderbar lecker waren sie anzusehen; sauber lagen sie übereinander geschichtet. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, begann ich zu essen. So schön die Früchte der obersten Reihe schmeckten, so miserabel waren die, die darunter lagen. Glänzend hatte der Chinese es verstanden, seine Früchte fürs Auge herzurichten. Diese Geschicklichkeit hatte es ihm erlaubt, den Käufer zu betrügen. Er strich ein paar Kopeken mehr ein, als die Ware wert war. War das nun ein vorteilhafter Handel? Mir wie meinen Mitreisenden hatte er für wenig Geld die Augen über chinesische Geschäftspraktiken geöffnet. Es mag vielleicht sein, daß er der einzige Gauner an der Strecke war. Wer aber fragt danach? Kaufst du vom Chinesen, wirst du betrogen! Deshalb hüte dich vor dem, was er dir anpreist! Das war die Lehre, die er allen erteilte. Werft, Landsleute, niemals minderwertige Ware auf den Markt. Unendlich viel größer und nachhaltiger als jeder augenblickliche Gewinn ist der künftige Schaden.
In Tsitsikar besuchten wir den Bazar am Bahnhof. In nichts wesentlichem unterschied er sich von einem deutschen Jahrmarkt. Nur die Konkurrenz der Händler schien weit schärfer. Gewitzigt durch den Himbeerkauf besahen wir alles, aber erstanden nichts.
Wir hatten noch etwa achtzehn Stunden Eisenbahnfahrt bis Charbin. Eine fast unerträgliche Hitze herrschte. Der Feldwebel stand auf der Plattform: der dort herrschende Luftzug sollte ihm Kühlung fächeln. Da kam er mit verstörtem Gesicht herein. Ein Windstoß hatte ihm seine Mütze entführt. In der Mütze aber, unter dem Deckel, hatte er die Ausweise des Konvois und meine Überweisungspapiere. Nun war alles weg. Was sollte er tun? Ich riet: zum Zuge herausspringen. Das wollte er nicht. Notleine? Verrückt! Alle an der nächsten Haltestelle heraus! Was, wir raus? Wo wir doch ganz stillgesessen und nichts getan hatten! Nee, Freundchen! such deinen Hut alleine. Es wurde abgemacht, daß wir nach Charbin vorausfahren und dort auf dem Bahnhof warten sollten. Beim nächsten Halt verließ der Feldwebel den Zug. Er sollte zusehen, wie er wieder zu seinen Papieren kam.
Charbin! Das Schicksal kam mir entgegen. Den Hauptaufpasser war ich los. Ob es gelingen würde, die drei andern schnell abzuschütteln? Ich wußte, an wen ich mich in der Stadt zu wenden hatte.
Am frühen Morgen langten wir an. Großstädtischer Betrieb herrschte, wohin das Auge blickte. Chinesische Gendarme sorgten für Ordnung. Vom Wort hielten sie nicht viel; ihre Anweisungen gaben sie durch Pantomimen. Tsst! sauste der dicke lange Rohrstock auf den Rücken der Zopfträger, wenn irgendwo ihre Anwesenheit überflüssig schien. Dabei ist China Republik! Republiken aber haben bekanntlich die Menschenwürde gepachtet. So also sah sie in der Nähe aus. Wie weit waren wir doch in unserer rückständigen Monarchie noch von ihr entfernt!
Wir ließen unser Gepäck zurück und gingen in die Stadt. Wie werde ich meinen Konvoi los? Mit ihm konnte ich nicht gut zu denen gehen, die mir weiterhelfen sollten. Vielleicht fand sich eine Gelegenheit, die ein Entkommen ermöglichte? Besser war es schon, ich schuf sie. »Wohin wollen wir denn?« – »Ja, wohin? Wie wär's zunächst 'mal hier die Straße herunter, dann wollen mir weiter sehen.« Die Häuser sind noch geschlossen. Wir sind ein wenig früh auf. Nanu? Was will denn diese Mietskaserne zwischen all den niedrigen Holzgebäuden? Ihr roter Ziegelbau zerstörte brutal das ganze Straßenbild. Eine Symphonie der Häßlichkeit in Stein und Mörtel zog sie das Auge gewaltsam auf sich. Schlafwagen-Karten! schrien riesige Reklamebuchstaben von der fensterlosen Schmalwand des Eckgebäudes unaufhörlich in die stille Straße hinein, Schlafwagen-Karten! »Grand Hotel« stand irgendwo: eine überdachte Biergartenterrasse mimte den Ehrenhof. Ich mußte zugeben: Europa verstand es, im fernen Osten zu repräsentieren. Nicht übel, nicht übel! Noch ein paar Schritte und ich wußte: die Richtung war falsch. Da wohnten meine Leute nicht.
Der Tag versprach warm zu werden. Ein Gedanke wollte vorübereilen. Ich hielt ihn fest. »Könnten wir nicht irgendwo baden gehen?« Großartiger Einfall! Eine Droschke bringt uns nach der Chinesenstadt. Dort mußte ich hin. Chinesische Gemüsehändler, die Körbe mit Grünzeug auf dem Kopfe, durcheilen die Straßen und wecken sie mit dem Geschrei ihrer Anpreisungen. Der Wagen hält vor einem Badehause. Noch ist es geschlossen. Wir warten geduldig. Endlich wird geöffnet. Auf so frühen Besuch ist man nicht eingerichtet. Ob wir zusammen in ein Zimmer wollten? Es würde schnell hergerichtet werden. »Weshalb nicht,« sagte der Konvoi, »wozu noch länger warten?« Der Traum verfliegt. »Mädchen auch?« – »Danke: nein.« Der Auskleideraum ist groß und gut eingerichtet. Ruhebetten, Polsterstühle, kurz alles, was man in Charbin zum Baden nötig hat, ist da. Das Badezimmer steht an Pracht nicht nach. Die herrliche Wanne ist für mich. Für die anderen gibt es heißes und kaltes Wasser von allen Seiten.
Aus dem Bad geht es zum Friseur. »Wo frühstücken wir?« – »Grand Hotel«, schlage ich vor. Die Hoffnung, ein Badezimmer allein zu erhalten, hatte sich nicht erfüllt. Der Konvoi mußte auf andere Weise abgeschüttelt werden. Die gedeckten Tische der Terrasse warteten auf Gäste. Ich sollte an dem einen Platz nehmen; meine Krieger wollten von dem daneben aus Wache halten. »Ich lade Euch ein,« sagte ich. Da mußten sie sich zu mir setzen. »Würden das deutsche Soldaten auch tun?« fragten sie mich. »Ich würde lügen, wenn ich ›ja‹ antwortete,« erklärte ich. »Aber es wäre auch nicht richtig, wenn ich ›nein‹ behauptete. Ich weiß es nicht: aber soviel ich davon verstehe, könnt Ihr an meinem Tisch ebenso gut auf mich aufpassen, wie von dem daneben.« Das sahen sie ein und blieben sitzen. »Was wollt Ihr haben?« – »Wodka!« Wir waren im gelobten Lande. Das zu Kriegsbeginn erlassene allgemeine Alkoholverbot hatte den Russen den heißgeliebten Schnaps entzogen. Hier aber in der Mandschurei war alles zu haben, was das Herz begehrte. In vino veritas! Wurden sie rauhbeinig, wenn sie tranken, oder umarmten sie alle Welt? Auf zur Generalprobe! Also zunächst: Wodka! Sie gossen das Zeug wie Wasser herunter. »Schinken, Brot und Butter, bitte! Portwein!« Sie hatten kaum zwei Bissen gegessen, da war die Flasche leer. Noch eine Flasche! Sie hatten noch Brot und Butter und Schinken auf den Tellern liegen, da war der Wein schon wieder zu Ende. Nochmals Wodka!
So, nun ist es genug.
»Nun gehen wir, uns ein wenig die Stadt anzusehen! Ich will mir auch noch ein paar Sachen kaufen.« Wir zogen los, die besten Freunde. Was brauchte ich? Wäsche vor allen Dingen, einen Selbstbinder und noch ein paar Kleinigkeiten, die zum Gewand des Bürgers gehören. Was ich an Gepäck am Bahnhof besaß, mußte ich als verloren betrachten. Diesen Verlust wollte ich schon verschmerzen, wenn ich nur davonkam. Im Warenhaus sah ich, daß Amerika und Japan um die Beherrschung des Marktes stritten. Ich kaufte Sachen, die aus San Francisco stammten. Sie waren billiger als die japanischen und vor allem: kein Schund wie diese. Beide aber reichten nicht an deutsche Erzeugnisse heran. Die flüchtig heruntergerasselten Nähte der seidenen Hemden erzählten vom Schnelligkeitsrekord, mit dem sie angefertigt waren. Qualitätsware sah anders aus. So anspruchsvoll aber sind sie in den Vereinigten Staaten nicht. Dort begnügen sie sich mit Massen-Erzeugung und Massen-Verbrauch, Massen-Geschmack und Massen-Meinung. Herrliche Ideale, nicht?
So, nun hatte ich alles, was ich selber brauchte. Eine Flasche Wodka werde ich vielleicht noch nötig haben; den Curaçao da, den auch. Genug. Wir waren fertig und gingen. Muß ich erwähnen, daß die Verkäufer Deutsch verstanden und auch sprachen? Es mag sein, daß man in London Englisch und in Paris Französisch spricht, Deutsch aber spricht man in der ganzen Welt!
Wir schlenderten nach dem Grand-Hotel zurück zum Mittagessen. Der Speisesaal war leer, weit standen seine Fenster auf. Von der Terrasse aus konnte er völlig übersehen werden. »Haben Sie nicht einen abgesonderten Raum?« – »Bitte.« Der Oberkellner führte uns in ein Separée. Seit mehr als zwei Jahren aß ich zum ersten Mal wieder von einem weißgedeckten Tisch, aß ein ausgezeichnetes Essen. Als die Vorspeise aufgetragen wurde, setzte im Saal Streichmusik ein. Für einen Augenblick vergaß ich alles. Wir waren uns
darin einig, daß der Tag gefeiert werden müsse. »Was trinken wir?« – »Wodka.« – »Schön: Wodka!« – »Nun habe ich getrunken, was Euch schmeckt. Jetzt wollen wir trinken, was mir schmeckt. Weinkarte!« – »Pommery und Greno« 25 Rubel, stand da. »Den trinken wir!« Ich mischte den Freiheitstrank: Sekt und Curaçao. Goldgelb funkelte er in dem geschliffenen Kristall. Die danse macabre trug ihre Klänge herüber, als wir anstießen: »Auf Ihre Gesundheit!« Von der Terrasse klang Stimmengewirr zu uns. Das mahnte, sie beim Verlassen des Hotels zu meiden. Soviel ich mich auf Alkohol und seine Wirkungen verstand, war jetzt die Luftveränderung am Platze, um die gewünschten Folgen der soliden Mischung auszulösen. »Ich glaube, wir könnten 'mal nach unserem Gepäck sehen,« schlug ich daher vor. – »Richtig! Wir haben ja unsere Sachen auf dem Bahnhof.« Während ich die Rechnung beglich – etwa 60 Rubel – trank jeder noch rasch einen Wodka. »Wohl bekomms!« wünschte ich.
»Diese Tür ist zu, Herr!« sagte der Ober. Mit dem Nebenausgang war es also nichts. Wir mußten über die Terrasse. Ich hatte die Spitze. Mein Erscheinen im Türrahmen wirkte auf die mir zunächst Sitzenden wie das eines Gespenstes um Mitternacht. Entgeistert starrten sie mich an. Ich schritt dem Ausgang zu. Hinter mir wankte die Wache. Die Terrasse war gepfropft voll, englische und französische Laute schlugen an mein Ohr. An allen Tischen wandten sich die Köpfe. Da höre ich meinen Namen hinter mir. Das muß eine Täuschung sein. Wer soll mich hier kennen? Da, noch einmal. Ich drehe mich um. Drei Herren haben sich von einem Tisch in einer Ecke der Terrasse erhoben und eilen auf mich zu. »Was machen Sie denn hier?« fragte mich voller Erstaunen Graf Bonde. Wir treten auf den Bürgersteig herunter, etwas abseits der Terrasse. Den einen Herrn der Begleitung kenne ich, dem anderen stelle ich mich vor. Da steht noch einer, eine halbe Handbreit hinter dem Grafen. »Gehört der Herr auch zu Ihrer Begleitung, Graf?« frage ich. Graf Bonde wandte sich um. »Sie wünschen?« erkundigte er sich bei dem aufdringlichen Zuhörer. »Ich bin der Sicherheit wegen hier,« antwortete der Engländer; »es geht nicht, daß Unbekannte mit dem Kriegsgefangenen sprechen.« Der Graf lehnte die Einmischung des Geheimpolizisten ab. Aus einigen Schritten Entfernung belauerte er dann die Unterhaltung. Mein Konvoi steht ratlos auf der Straße. Ich berichte die Ereignisse der letzten Wochen, angebotene Hilfe lehne ich dankend ab. »Ich weiß, wo Sie zu finden sind. Wenn es not tut, darf ich mich an Sie wenden.« Wir trennen uns. Das Stehen in der Mittagsglut war meinen Soldaten keineswegs bekömmlich gewesen. Die Beine wollen den Dienst versagen. Da winken sie eine Droschke heran. Wir fahren zum Bahnhof. Gleichzeitig mit uns langt der Gentleman an, der dies zudringliche Interesse an meiner Person bekundete. Was er wohl ausgerechnet stets da zu tun haben mochte, wo wir uns befanden? Mit einem uniformierten Kollegen wechselt er einige Worte. Der sorgt dafür, daß wir dem Publikum nicht im Wege stehen und weist uns einen Raum an. Die russische Bahnhofs-Wache zeigt sich für unsere Tür merkwürdig interessiert. Es war wie verhext; ich sollte also durchaus die abgelegensten Gegenden kennen lernen! Wie schön ist es doch, wenn andere sich darum bemühen, daß wir uns nicht in ungewisse Abenteuer stürzen!
Gegen Abend trifft der Feldwebel ein. Er hatte Glück gehabt. Nach halbstündigem Warten hatte er eine Lokomotive gefaßt, die die Strecke zurückfuhr. Sie nahm ihn mit. Wir waren noch keine Stunde fort, da hatte er seine Mütze nebst sämtlichen Papieren wieder. Ein Strauch hatte sie ihm aufbewahrt. Wir übernachteten auf dem Bahnsteig. Auch das hatte seine Reize.
Am frühen Vormittag setzten wir die Reise fort. Die Revolutionserscheinung des handeltreibenden Soldaten zwang auch meinen Konvoi in ihren Bann. Er kaufte billige Zigaretten ein, um sie ein paar hundert Kilometer weiter östlich, wo sie teurer waren, an den Mann zu bringen. Ganze Körbe Eier erhandelten meine Leute, die nachher im Küstengebiet mit erheblichem Aufschlag verhökert wurden. Die Gier nach möglichst raschem und mühelosem Gewinn flackerte aus aller Augen. Non olet! Heißt's nicht so vom Golde, das man aus den Taschen anderer gräbt?
An einem Nachmittag kamen wir in Nikolsk Ussurisk an. Ich benutzte den Aufenthalt, um mir die Stadt anzusehen. Wir waren wieder auf russischem Boden. Dennoch trat das japanische Element stark hervor. Wenn im nächsten Kriege Japan mit englischer Hilfe Amerika schlägt, wird Wladiwostok, das nur achtzig Kilometer südlich von Nikolsk Ussurisk liegt, die längste Zeit den Osten beherrscht haben. Das ganze Küstengebiet wird an Japan fallen und Ostsibirien bis zum Baikal-See dem japanischen Einfluß erliegen.
Kurz vor Eintritt der Dunkelheit bestiegen wir den Zug, der dem Tale des Ussuri folgt. Noch 600 Kilometer nach Norden herauf, dann waren wir am Ziele. Rund 3000 Kilometer trennten es von dem ostsibirischen Paris, 9000 von der Heimat. Das kommt einer Entfernung Berlin–Buenos Aires oder Berlin–Makassar gleich. Die Strecke Berlin–Kapstadt, Berlin–New York ist um ein Fünftel kürzer. In diese – man muß es zugeben – ein wenig abgelegene Gegend schickten die Russen diejenigen kriegsgefangenen Offiziere und Mannschaften, denen sie am wenigsten trauten. Dort dünkten sie ihnen sicher verwahrt. Zudem hatten sie noch ein übriges getan: sie hatten in Krasnaja Rjätschka einen Straf-Pavillon eingerichtet, ein besonderes Gefängnis, in dem die Gefangenen ausgesuchten Strafmaßnahmen unterworfen waren. In dieses Erholungsheim sollte ich. Das war die höchste Auszeichnung, die die Russen an einen Kriegsgefangenen zu vergeben hatten.
Ich hatte kaum Platz genommen, als zuerst eins, dann ein paar der mitfahrenden Weiber die Unterhaltung damit begannen, daß sie unaufhörlich: »Feind! – Feind! – Feind!« vor sich herschnatterten. »Feind! – Feind! – Feind! – Feind!« Haßerfüllt stießen sie das eine Wort hervor, immerzu nur das eine Wort. Ich sah die eine an. Sie verstummte: die anderen gackerten weiter. So ging das eine ganze Weile. Aber die anwesenden Männer verspürten aus irgend einem Grunde keine Lust zu Heldentaten. Als das die Weiber endlich merkten, hörten sie auf, ihre patriotische Gesinnung zu betätigen, tranken Tee und schliefen.
Am 15. August nachmittags kamen wir in Krasnaja Rjätschka an.
Anderthalb Stunden darauf standen wir vor der Lagerwache: ein wenig später erschien der Lagerkommandant, ein gut genährter Mann mit intelligentem Gesicht. Er war russischer Pole, Rechtsanwalt von Beruf und trug jetzt die Zeichen eines Hauptmanns. Er rühmte sich, daß es noch keinem seiner Gefangenen geglückt sei, zu entweichen. Er lebte völlig seinem Amt, und die in seinem Berufe erworbene Fertigkeit, mit Advokatenkniffen zu arbeiten, erlaubte ihm, die Lagerinsassen zu peinigen, ohne sich selbst eine sichtbare Blöße zu geben. Neigung wie Befähigung machten ihn zu einem in der Vollendung hinterhältigen und tückischen Schinder wehrloser Kriegsgefangener. Als solcher war er mustergültig und verdiente somit uneingeschränktes Lob. »Sie sind als ein besonders scharf zu überwachender Kriegsgefangener für das Strenge Regime überwiesen worden,« sagte er liebenswürdig; »Sie haben daher keinen Anspruch darauf, wie die übrigen Kriegsgefangenen behandelt zu werden,« fuhr er fort, und es hörte sich an, als erfülle er eine Bitte, die mir besonders am Herzen lag. »Die Strafmaßnahmen sind zurzeit verschärft,« belehrte er mich mit größtem Wohlwollen weiter: »die Verpflegung kann Ihnen augenblicklich nur in dem zur Erhaltung des Lebens unumgänglich notwendigen Maße zugeführt werden. Dies stellt eine Repressalie gegen Ihre Regierung dar, um sie zu veranlassen, die Vergeltungsmaßregeln gegen unsere Gefangenen aufzuheben. Im übrigen aber werden Sie eine ganz ausgezeichnete Gesellschaft vorfinden. Ich bin sicher, daß Sie sich den Umständen nach hier wohlfühlen werden.«
Nach diesen einleitenden Worten machten wir uns auf den Weg zum Straf-Pavillon. Unterwegs erzählte er mir noch vieles von dem, was ich auszustehen haben werde, und was dank seiner ausgezeichneten Anordnungen – leider – mit in Kauf genommen werden müsse. Ich erwies mich erkenntlich und bemerkte trocken und dankbar, daß ich aus seinen Schilderungen mit Vergnügen erkenne, daß ich doch endlich besseren Zeiten entgegenginge. Ganz besonders freue ich mich aber, in ihm einem Gentleman zu begegnen, der es – auch an seinem bescheidenen Platze – nicht verschmähe, dem beklagenswerten Schicksal der Kriegsgefangenen das rege Interesse seiner ganzen Persönlichkeit zuzuwenden. Die Hand des militarisierten Anwalts machte eine einschränkende Bewegung, von der es ungewiß war, ob sie die ihm gezollte Schmeichelei nicht in ihrem ganzen Umfange gelten lassen, oder ob sie einen leisen Dämpfer auf die Vorfreude setzen wollte, mit der ich dem geschilderten Paradiese entgegenging.
Bald hatten wir es erreicht. Inmitten eines hohen Zauns aus Holz und Stacheldraht stand ein einstöckiges Ziegelgebäude. Am Zugang stand ein Posten. Auf den Wachttürmen in den vier Ecken standen Posten. Auf dem Mittelturme der Rückfront stand ein Posten. Abends zogen Nachtposten auf, die außerdem innerhalb der Umfriedigung um das Haus patrouillierten. Im Hause lag eine Wache. In den kleinen Fluren beider Stockwerke standen Posten. Die Fenster hatten Gitter. Die Türen der Zimmer waren abgeschlossen.
Das war das äußere Bild des Strafpavillons. »Nun, wie gefällt Ihnen die Aufmachung?« stand in der siegesgewissen Miene des Lager-Kommandanten, als er mit weltmännischer Gewandtheit auf die Vorkehrungen hinwies, die der russische Riese für notwendig hielt, um noch nicht zwei Dutzend waffenlose deutsche Offiziere und ein paar Mann, die Burschendienste taten, festzuhalten.
Der rangälteste deutsche Offizier, Hauptmann v. Plotho, wurde geholt. Ich meldete mich bei ihm und wurde herzlich begrüßt.
Wir betraten ein kleines zweifenstriges Zimmer. Es schien nur aus Betten zu bestehen. Den Rest des freien Raums verschlang ein Tisch. Eine Tür führte in ein dahinterliegendes ebenso großes Zimmer von gleichem Aussehen. Acht- oder zehnmal sagte ich: »Knobelsdorff«, dann war die Vorstellung beendet. Tee und Zwieback wurde mir angeboten. Während ich aß und trank, wurde ich ins Gebet genommen. »Ich will Ihnen in fünf Worten alles erzählen, was Sie wissen müssen,« gelobte ich und sprach – einen Band von Lexikonformat. »Aber nicht in fünf Worten!« hieß von Stund an die Beschwörungsformel, mit der wir eine längere Erzählung von vornherein ablehnten.
»Er ist echt,« stellte der Rittmeister v. d. Trenck fest, als ich geendet hatte. (Einen Augenblick! der kurzen Rede dunkler Sinn wird gleich klar werden.) »Weshalb sind Sie eigentlich noch nicht ausgerückt?« fragte ich, als ich wieder Atem geholt hatte. Ich berührte einen wunden Punkt. Vor kurzem erst war ein mit unendlicher Mühe gegrabener Stollen durch einen Österreicher (Tschechen) verraten worden. »Sind Sie nur erst ein paar Tage hier, dann werden Sie es auch wissen,« war die Antwort.
Die andere Hälfte des Hauses füllten Offiziere der k. und k. Armee, die sich gleiche oder ähnliche Vergehen wie die deutschen hatten zuschulden kommen lassen.
Tätlicher Widerstand gegen den Feind nach der Gefangennahme, eine mißglückte Flucht oder sonst etwas gaben Anspruch auf Unterbringung im Strengen Regime für unbegrenzte Dauer. Der Gedanke an Selbstbefreiung beherrschte alle. Manch einer hatte beispiellose Strapazen hinter sich und unerschütterlichen Mut bewiesen, als ihn widrige Umstände erneut dem Gegner auslieferten. Keinen aber hatte das Unglück in seinem Vorhaben wankend gemacht. Es waren Männer.
»Er ist echt,« hatte der Rittmeister v. d. Trenck festgestellt, als ich meinen Bericht geschlossen hatte. Wer ist echt? Nun: ich, und kein anderer, der sich für mich ausgab oder in meinem Auftrage zu handeln vorgab. Es war erst einige Wochen her, daß sie einen entlarvt hatten, der sich als Offizier und noch obendrein als meinen Flugzeug-Beobachter ausgegeben hatte. Da hatten sie natürlich allen Grund, mich zuerst mit kritischen Augen zu mustern, zumal ich – ich selber sein wollte. War da im Lager Blagowjäschtschensk am Amur einer erschienen und hatte den rasch zusammengerufenen Offizieren in beweglichen Worten ein schreckliches Lied von meinem Schicksal in Ketten und Kerkern vorgetragen. Ich sei dem Tode nahe, nur Geld, möglichst viel Geld könnte mich retten. Er sei der uneigennützige Mann, der es mir in meinem Auftrage bringen solle. Er sei mein Beobachter und mein Freund.
Jeder griff in die Tasche, in wenigen Minuten waren ein paar hundert Rubel zusammen. Kaum hatte mein Retter in der Not das Ergebnis der Sammlung eingesteckt, als auch schon die Russen ihn holen kamen, um ihn weiter zu schleifen. So hatte ein im Strafpavillon frisch eingelieferter österreichischer Pionier erzählt, und als er gerade geendet hatte, da tat sich die Tür der Umfriedigung auf, und der Lagerkommandant brachte wiederum einen, der für das Strenge Regime reif war, diesmal einen Deutschen, tipp-topp vom Scheitel bis zur Zehe anzuschauen. »Da kommt er selber, der Beobachter von Knobelsdorff; das ist er,« zeigte der Pionier auf den Neuankömmling. Er wurde mit offenen Armen empfangen. »Von Strenger,« stellte er sich vor. Er sollte von meinem Schicksal berichten. »In Blagowjäschtschensk haben Sie aber etwas ganz anderes erzählt,« bemerkte der Pionier, dessen Gesichtszüge dem angeblichen Herrn vom Regiment Alexander und tätigen Mitglied des deutschen ›Spionage-Büros‹ im Gewühl der Menge nicht im Gedächtnis haften geblieben waren. Eine Frage gab die andere. Jede Antwort stempelte ihn zum Hochstapler. Jetzt tat er unten Burschendienste. Mein Geld aber sah ich nicht wieder. –
Der Kommandant der »Magdeburg«, Korvetten-Kapitän Habenicht, bestellte mich eines Tages – es war Ende September – zu sich. Er saß mit seinem Adjutanten und ein paar Seeoffizieren, an deren dienstlicher Tätigkeit die Russen Anstoß genommen hatten, gleichfalls im Strengen Regime. »Knobel,« empfing er mich, »wollen Sie mit mir und meinem Burschen ausrücken?«
Wir wohnten beide im ersten Stock. Das war als kleine Unliebenswürdigkeit von den Russen gedacht: durch diese Maßnahme wollten sie eine Flucht erschweren. Ohne größere Geldmittel war nichts zu machen; die aber besaßen wir beide nicht, denn die Insassen des Strafpavillons erhielten keine Kopeke bares Geld in die Hand. Was der einzelne besaß – und jeder hatte etwas – das war eingeschmuggelt und wurde von den Russen immer wieder und stets vergeblich gesucht.
»Wie?« fragte ich. »Ich habe gehört,« erklärte der Kapitän, »wir kommen demnächst in ein anderes Gebäude. Es hat nur ein Erdgeschoß. Ein Eiskeller liegt daneben. Von dem aus graben wir einen Stollen unter dem Zaun hindurch ins Freie. Hier von meinem Fenster aus können Sie sehen, wo er enden muß. Da! Von dort aus über den gefrorenen Ussuri sind es 75 Kilometer bis zur nächsten chinesischen Karawanenstation. Die müssen wir laufen. Von dieser über Peking nach Shanghai und dann weiter.« – »Ich mache mit, Herr Kapitän.« – Ich schlüpfte aus seinem Zimmer; der gegenseitige Besuch war verboten. Das war in großen Zügen der Plan. Es folgten noch eine Reihe von Besprechungen.
Der Tag des Umzugs kam. Sämtliche Herren der k. und k. Armee wurden in das österreichische Gefangenenlager überführt. Ihre Lage besserte sich. Die Deutschen blieben im Strengen Regime.
Endlich brach der Winter ins Land. Wir konnten beginnen. Da brachte – Ende November war es – der Draht die Kunde vom Abschluß eines Waffenstillstandes. Alle Gründe sprachen für einen baldigen Friedensschluß mit Rußland. Ein rascher Abtransport nach der Heimat schien gewiß. Hatte es da noch Zweck, Zeit und unendlich mühsame Arbeit auf den Bau des Stollens zu verwenden? Nein! glaubten wir und gaben den Plan auf.
Tag um Tag verrann. In unserer Lage änderte sich nichts. Was kümmerte es die Gewalthaber hier im Küsten-Gebiet, was Abertausende von Werst weit weg im Westen vor sich ging? Auch der ersehnte Frieden kam nicht. Dafür zeigten Amerikaner und Japaner plötzlich großes Interesse für uns. Da war es an der Zeit, die Lenkung des Geschicks wieder ein wenig in die eigene Hand zu nehmen.