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Es war wieder ein buntes Völkergemisch, das am 7. Mai nach Erledigung der üblichen Formalitäten in die bereitgehaltenen Arrestantenwagen stieg. Sie waren bereits teilweise besetzt. In meinem steckten zehn, zwölf Männer, Österreicher, Geiseln, aus dem Karpathengebiet. Wohl keiner von ihnen war unter fünfzig Jahren. Ihrem Beruf nach waren sie Waldhüter, Förster, Kaufleute. Eine jener nur Russen verständlichen Verfügungen verschickte sie, nachdem sie jahrelang in West-Sibirien dem Ablauf der Zeit zugesehen hatten, ins General-Gouvernement Ost-Sibirien. Jahrelang und grundlos waren sie von den Ihren getrennt worden, und nun lebten nur noch Furcht und Haß in ihnen. Die Furcht, daß es ihnen noch schlechter als bisher ergehen könnte, und ein ohnmächtiger Haß, der ihren Peinigern alles Üble der Welt in unaufhörlichem Wechsel wünschte. Leider gab die Furcht bei allen ihren Handlungen den Ausschlag, und damit wurden sie zum willenlosen Spielball des Geschicks, zu einer ungefährlichen Herde, die heute hierhin und morgen dorthin getrieben werden konnte, so wie es die Laune gerade eingab. Ich suchte ihr Selbstvertrauen zu heben. Es war vergebliches Bemühen. Beim ersten leisen Windhauch fielen sie um.
Rund tausend Werst waren es bis Irkutsk, dem ostsibirischen Paris, der Hauptstadt des General-Gouvernements. Der Konvoi ließ sich die Zeit nicht lang werden. Die unglaublichsten Klater hatte er für seinen eigenen Bedarf auf die Reise mitgenommen, und was sich sonst an Weibern in den Wagen herumtrieb, das waren Seuchenherde, seltene Schaustücke für jedes medizinische Museum. Was blieb bei diesem Pack vom Menschen übrig? Es waren Tiere, die fraßen und verdauten, schliefen und sich begatteten.
Einer aus dem Völkergewimmel starb unterwegs. Starb? Kann man das sterben nennen, wenn sich einer im verwahrlosten Abort des Wagens im Fieberwahn im eigenen Kote wälzt? Da lag er in der offenen Tür. Wen störte das? Keine Hand rührte sich, um ihm zu helfen. Pesthauch drang durch den Nebel, den der Rauch ungezählter Zigaretten, die Ausdünstung der Insassen und ihrer stinkenden Kleider geschaffen hatten, und den die Lunge als Luft zu atmen versuchte. Schließlich faßte ich an. Mein Beispiel riß einen zweiten von der Pritsche, und auf einer Station luden wir den lebenden Leichnam aus. –
Jenseits der Angara, die ihre eisigen Wasser aus dem Baikalsee trinkt, dehnt sich die Stadt. Die Häuser waren aus Holz; die Kirchen aus Stein. Riesenhaft lag das Gefängnis vor uns, ein ungeheures Viereck aus Ziegeln, Beton und eisernen Gittern, mit zahlreichen Nebengebäuden.
Es war ein großer Tag, an dem wir angekommen waren. Die wahre Freiheit hatte heute auch Ost-Sibiriens Hauptstadt in ihre Kreise einbezogen. Am Vormittag hatten die roten Fahnen in den Straßen geweht, und Militärmusik hatte den Umzug der Sträflinge begleitet, die heute dem Zuchthaus den Rücken gekehrt hatten, und als Soldaten die freieste Republik der Welt verteidigen, Konstantinopel den Türken entreißen und siegreich in Berlin einziehen wollten. Das Programm war zu reichhaltig, als daß es je, auch von den geschicktesten Akteuren nicht, mit Erfolg zu Ende gespielt werden konnte. Das beruhigte mich, denn die Begeisterung war groß.
Überall im Lande hatten sich Todesbataillone, Todesbatterien, Todesschwadronen gebildet und ein wenig voreilig, ehe sie überhaupt den Feind gesehen, diese stolzen und verpflichtenden Namen sich zugelegt. Was mußten nun gar erst für Heldenscharen gegen uns anrücken, wenn in diese Truppenteile Verbrecher eingereiht wurden, Unholde, die vor keiner Untat gescheut hatten, und die sich nun dazu drängten, anstatt tatenlos im Zuchthaus zu sitzen, die Reihen der Soldaten mit wildem Mute zu erfüllen! »Ich gratuliere,« sagte ich den Leuten, die es mir brühwarm erzählten, »wenn Ihr sonst durch kein anderes Mittel kleinzukriegen wäret, mit diesem habt Ihr Euch selbst den Untergang bereitet. Ich war selber in Katorga.« – Wir traten ein. Den Zugang sicherte eine Abteilung Soldaten. Über den Gefängnishof – groß, wie der einer Kaserne lag er da – ging es nach einem der Häuser der Perissilnaja. Der übliche Saal nahm uns auf. Nach einiger Zeit erschien ein Pomoschtschnik und eine Schar Nasiratel. Die Namen wurden verlesen. Prompt antwortete alles mit »sdjeß«, auch Österreichs Staatsbürger. »Viktor v. Knobelsdorff!« kam ich an die Reihe. In mir kochte es. Daß die Österreicher beim Verlesen auf russisch antworteten, hatte mich bereits geärgert. Daß diese so viel älteren Leute von einem so viel jüngeren Beamten sich auch noch duzen ließen, als müßte das alles so sein, das hatte mich aufgebracht. Es bedurfte nur noch des geringsten Anlasses, und ich wußte, der Krach war da, und mein Weiterkommen auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. »Hier!« antwortete ich. Der Pomoschtschnik blickte von meinem Signalement auf und sah mich an. »Viktor v. Knobelsdorff!« rief er mich abermals auf. »Hier!« wiederholte ich. Ist das ein frecher Hund! das stand deutlich in den Gesichtern der Nasiratel geschrieben. Jetzt ging es um das Ansehen des Pomoschtschniks. Jeder fühlte es. Totenstill war es im Raum. »Das bist Du?« fragte er.
Nun war der Augenblick da, Russisch zu sprechen, mein Russisch, im Zuchthaus von Zuchthäuslern gelernt. Aus einem Meer der gemeinsten Ausdrücke konnte ich, wann ich wollte, schöpfen, und wie man in Rußland zu einem Untergebenen zu sprechen hat, das hatte ich an ungezählten Beispielen erlebt. Aber ehe ich die Pferde durchgehen ließ, wollte ich es zunächst noch einmal mit einigem Zureden versuchen: »Wie kannst Du es wagen, mich zu duzen,« fuhr ich ihn an, »bin ich Deinesgleichen? Zweimal schon habe ich Dir gesagt,« belehrte ich ihn weiter, »daß ich Knobelsdorff bin. Wenn Du zu dumm bist, das zu begreifen, dann mußt Du Dich nicht hierherstellen. Deine Nasiratel sind ja schlauer als Du! Die haben längst begriffen, wer ich bin.« Die Wirkung meiner nur ein wenig stachlichten Worte ließ bereits erkennen, daß ich auf die schwere Artillerie verzichten konnte; das hatte noch keiner im ganzen Saal erlebt: ein Arrestant fuhr einen Pomoschtschnik an, und der Himmel stürzte darob nicht ein. Etwas ganz anderes geschah. Der Pomoschtschnik trat einen Schritt zurück. Nun stand er in der Reihe der Nasiratel. Der Konvoi lachte schadenfroh. »Was wollen Sie?« fragte er. Sieh einer an! »Ich will nach dem Kriegsgefangenenlager Blagowjäschtschensk. Irgendwer hat meine Papiere verbummelt, die anordneten, daß ich aus dem Zuchthause in Jaroslawl nach dem Gefangenenlager zu überführen sei.« Hämisch blitzte es in dem Beamten auf. Wenn es nach ihm ginge, dann käme ich jetzt in den Karzer, nachdem vorher hundert Hiebe meine Haut und mein Fleisch in Stücke gerissen hätten, niemals aber in ein Gefangenenlager. »Sie waren Beßrotschnik?« fragte er. »Ja.« – »Zwei Jahre haben Sie von Ihrer Strafe verbüßt, also haben Sie noch dreizehn Jahre abzusitzen,« verfügte er. Die Revolution hatte die lebenslängliche Zwangsarbeit beseitigt; fünfzehn Jahre Zuchthaus bildeten nun das Höchstmaß, das jedes Verbrechen sühnte. Ich sagte nichts. Jedes Wort hätte ihn gefreut.
»Dem haben Sie es aber ordentlich gegeben,« sagten die Österreicher und drückten mir die Hand. »Wir können nicht so, wie wir wollen,« entschuldigten sie sich. Ich aber konnte wieder 'rein ins Gefängnis, während sie an ihrem Bestimmungsorte angelangt waren und die Perissilnaja verlassen durften. Im wievielten war ich nun? Cholm, Bjäla, Brest-Litowsk, Briansk, Moskau, Jaroslawl (Gubernskaja), Jaroslawl (Katorschnaja), Jaroslawl (Gubernskaja), Wologda, Krasnojarsk; es war also mein elftes. Nicht gerechnet ist die Unterbringung in Stryi, in den Arrestanstalten von Cholm und Jaroslawl. Ja, mich mußte man auf einen Erkundungsflug schicken! Wo ich da so überall hinkam!
Alle, die mit dem Transport gekommen waren, wurden bis auf mich und zwei äußerst verdächtig aussehende Gestalten freigelassen. Die beiden brauchten keinerlei Papiere; in ihren Vogelgesichtern stand geschrieben, daß sie Strolche übelster Sorte waren. Wieder ging es über den großen Hof. Wir wurden in einem fensterlosen Raum eingeschlossen. Ein Gitter vertrat die Stelle einer Tür. Ich weiß nicht, weshalb ich so viel Worte mache: es war ein Käfig, in dem wir eingesperrt wurden, genau wie der eines zoologischen Gartens. Wir warteten. Meine beiden Kollegen vertrieben sich die Zeit damit, indem sie ihre Notdurft in einer Ecke verrichteten. Ich erinnerte mich, daß die zur Schau gestellten Tiere mit der gleichen Beschäftigung die Einförmigkeit ihres Daseins unterbrechen.
Ich stand im Dunkel des Käfigs und blickte auf den Flur. Mit lebhaften Schritten kam irgendwoher ein mittelgroßer Mann ans Gitter. Jede Bewegung verriet den Turner. »Barkenitz«, stellte er sich vor, »Doktor Barkenitz«. Falls ich hier bliebe und es wolle, dann möchte ich mit ihm die Zelle teilen. Schön. Schritte näherten sich. Er verschwand. Willst du es tun? fragte ich mich. Erfahrungen sprachen dafür und dawider. Probieren!
Ein Nasiratel erschien. Er hatte den Auftrag, uns unterzubringen. »Ich möchte zu Barkenitz,« sagte ich. Das schien eine Empfehlung zu sein. »Bitte,« erwiderte der Nasiratel freundlich. Die beiden konfiszierten Gesichter waren für Unterbringung in einer der allgemeinen Kammern.
Dr. Barkenitz' Zelle lag im Erdgeschoß. Sie war geräumig wie die in Krasnojarsk. Das vergitterte Fenster lag hoch. Trotzdem gab es Licht genug. Die Einrichtung war die übliche. Wir unterhielten uns bis 300 morgens.
Der Ausbruch des Krieges hatte seiner Tätigkeit als technischem Leiter eines sibirischen Goldbergwerks ein jähes Ende bereitet; er war in Wercholensk an der oberen Lena interniert worden. Unter Larven die einzig fühlende Brust. Was sonst da an Leuten deutscher Nationalität mit ihm zusammen war, nicht zum Vorzeigen. Meistens übles Pack, dessen einziges Sinnen und Trachten dahin ging – wie er erzählte – möglichst hohe Unterstützungen vom Reich herauszuschlagen und einen guten Tag zu leben. Mochte geschehen, was will; wenn es nur ihnen gut ging. Keiner mit abgeschlossener Schulbildung, nicht einer mit auch nur etwas Kinderstube.
Die erste Gelegenheit von dort fort und nach der Heimat zu kommen, benutzte er. Tagelange Fahrten im Schlitten. Dann kam die Panne. Irgendeine Tücke des Geschicks, die wohlgezimmerte Pläne zusammenbrechen läßt und im Fallen die Hoffnung unter sich begräbt. Nun saß er im Gefängnis. Der erste Versuch war mißglückt. Vielleicht gelang der zweite?
Dr. Barkenitz war ein wenig älter als ich und hatte viel gesehen. In Spanien, Süd-Afrika und wer weiß sonstwo noch hatte er praktisch gearbeitet und Ingenieurstellen innegehabt. In verhältnismäßig jungen Jahren war er zum Leiter des großen Unternehmens berufen worden. Seiner ganzen Persönlichkeit nach schien er da der richtige Mann am richtigen Fleck zu sein. Das war einer, der dem deutschen Namen im Ausland Ansehen schuf. Er hatte 'was gelernt und konnte 'was. Sprach ein halbes Dutzend Sprachen und war in Naturwissenschaften, Philosophie und Literatur bewandert. O, ich genoß diese Tage! Auch die persönlichen Gewohnheiten des Dr. Barkenitz machten ihn zu einem sympathischen Zellengenossen.
Sein Fluchtgepäck barg alles, was ein zivilisierter Mensch zu seinen Bedürfnissen rechnet. Seine Emailleteller und sein verhältnismäßig reichhaltiges Besteck erlaubten, das Gefängnisessen zu einem einfachen Diner umzuformen. Nach Tisch wuschen wir gemeinsam auf, und das Speisezimmer verwandelte sich wieder in die einfache Unterbringung eines Notquartiers.
Vierzehn Tage war ich mit Dr. Barkenitz zusammen. Dann war es seinen Bemühungen gelungen, aus dem Gefängnis herauszukommen. –
Zu den brauchbaren Leuten, die ich hier kennen lernte, zählte ein Lette. Was war er von Beruf? Wenn ich ihn Gastwirt nenne, so sagt das zu wenig. Er besaß ein Haus, in dem sich unten eine Gastwirtschaft befand, und oben möblierte Zimmer zu mieten waren. Wenn ich ihn auf diesen Tatbestand hin einen Hotelbesitzer nenne, so glaube ich, dem Ansehen dieses Standes Einbuße zu tun; denn in den Wirtschaftsräumen fand der einsame Wanderer nicht nur Speise und Trank, auch willfährige Weiber waren da, um die Gäste, ganz nach Wunsch, auch anderweitig zu erquicken, oder zu ermüden. Die möblierten Zimmer nun konntest du nach Belieben auf Stunden, Tage, Wochen und auch noch länger haben. Gepäck war nicht erforderlich; unerläßlich aber, daß du im voraus bezahltest. Das Geschäft ging gut und ertrug finanziell mit Leichtigkeit auch längere Abwesenheit des Chefs. Diesmal saß er wegen unerlaubten Handels mit alkoholischen Getränken. In seiner Art war er ein absolut ehrlicher und zuverlässiger Mann. Seine unerschütterliche Ruhe, seine hünenhafte Gestalt und seine Hände, diese ungeheuren eisernen Pranken, machten ihn besonders geeignet für seinen Beruf.
Er war verheiratet und auch nicht verheiratet. Wie das in Sibirien so Sitte ist. Graschdanskaia Schena, so heißt dort die Frau, die sich einem Manne ohne Mitwirkung von Staat und Kirche zu gemeinsamem Lebenswege auf Gedeih und Verderb angeschlossen hat. Ich habe mir sagen lassen, daß die Mehrzahl dieser Ehen glücklicher sind, als die in aller Form geschlossenen. Glücklicher, weil sie jederzeit lösbar, und dieser Umstand beide Parteien zwingt, rücksichtsvoller gegeneinander als in unlöslicher Gemeinschaft zu sein.
Der Beihilfe des Letten und seiner Frau danke ich es, daß es mir Ende Juni gelang, Briefe nach Haus sowie einen ausführlichen Bericht an das Preußische Kriegsministerium gelangen zu lassen.
Es war nicht ganz leicht, trotzdem die Umstände günstig waren, den Bericht abzufassen, und vor allem, ihn auch sicher an den Mann zu bringen. Doch der Augenblick mußte genutzt werden, und so schrieb ich in rasender Eile, bis die Hand dem Willen versagte.
Ich hatte eine Gelegenheit erkundet, die mir Gewähr genug bot, die Schreiben unter Vermeidung jeglicher Zensur nach der Heimat zu bekommen. Waren sie erst mal im Besitze des Überbringers, dann konnten nur ungünstige Umstände verhindern, daß sie ihre Empfänger erreichten.
Die Übermittlung war für alle Teile gefahrvoll. Denn die erst kürzlich wieder eingeführte Todesstrafe würde in russischen Händen nicht viel Unterschied zwischen dem Verfasser und den Vermittlern gemacht haben. Die Anklage auf Spionage und Beihilfe hierzu war gewiß. Diese Vergehen aber wurden mit dem Tode geahndet.
Ich hatte mich daher zu entscheiden, ob die Nachrichten, die ich geben konnte, auch den Einsatz fremden Lebens rechtfertigten? Die Frage war zu bejahen. Pflicht gebot, alles, was dem Vaterlande nützen konnte, daheim zur Kenntnis zu bringen. Also tat ich es. Die Summe aller eingehenden Nachrichten mußte zu einer gewissen Kenntnis der Verhältnisse beim Gegner führen; ihre Auswertung, Politik und Heeresleitung in ihren Entschlüssen entscheidend beeinflussen. Meine Aufgabe war erfüllt, wenn ich mitteilte, was ich wußte.
Meinen Helfern indessen durfte ich keinen reinen Wein einschenken; denn nie wären sie bereit gewesen, sich bewußt fremder Interessen wegen zu opfern. Ich sprach daher nur von Schreiben, die ich unter Vermeidung jeglicher Zensur gern nach der Heimat befördert haben wollte. »Weshalb nicht? Aber gern.«
Die Frau des Letten hatte meinen dicken Brief bei einer bestimmten Person abzugeben; hier sollte er abgeholt werden. Sollte! Ich gab dem Letten die nötigen Unterweisungen; zehn Minuten später war seine Frau im Bilde; zwei Tage darauf mußte ich im Besitze der Empfangsbescheinigung sein.
Die Tage vergingen, aber die Frau kam nicht. Der dritte, vierte, fünfte Tag verstrich, die Frau ließ sich nicht blicken. Da wurde der Lette unruhig; ich war es schon längst. Was mochte sich draußen zugetragen haben? Keine Nachricht. Ob sie die Frau gegriffen hatten? Das war gar nicht auszudenken. Der sechste Tag sank ins Grab. Der siebente folgte ihm. Ob es wirklich nur Briefe gewesen wären, fragte der Lette. »Ja, natürlich.«
Es war unverständlich, weshalb die Frau nicht kam; mit militärischer Pünktlichkeit pflegte sie sonst an den Besuchstagen zu bestimmter Stunde zu erscheinen.
Der achte Tag. Vergebens hielt ich mir alles vor, was gegen die Verhaftung der Frau sprach. Ich wurde die von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute sich steigernde Angst nicht los, daß meine Schreiben abgefangen sein könnten. Lange vor den Besuchszeiten zog ich mechanisch die Uhr aus der Tasche und blickte aufs Zifferblatt, ohne die Zeit zu wissen. Wieder klappte der Sprungdeckel und mahnte: sieh her! Abermals löste sich die Feder, der Deckel sprang erneut zurück und gab das Zifferblatt frei; aber das Hirn dachte: »Wird sie heute kommen?« und die Ungewissheit ertappte das Auge, wie es vor sich hinstarrte, und die Hand, wie sie sinnlos, den Daumen am Druckknopf, das Zifferblatt freigab und es wieder verschloß.
Der Lette ging über den Hof nach dem Empfangsraum. Nach einer halben Stunde, die mir endlos schien, kam er zurück: »Hier ist die Quittung,« sagte er. »Danke,« erwiderte ich.
Schnurstracks vom Gefängnis war die Frau in das Haus des Adressaten gegangen. Sie klingelte, gab den Brief ab und bat um die Empfangsbescheinigung. Alles war schön und gut. Auch der Fall war vorgesehen, daß der Empfänger gerade nicht zu Hause war. Dann sollten die Schreiben bis zu seiner Ankunft dort liegen bleiben. »Oh, an meinen Mann?« hatte die Frau des Hauses gefragt und dann den Brief geöffnet. Der Fall war nicht vorgesehen. Sie zerrte aus dem Umschlag einen Brief, der eine andere Aufschrift trug. Keine Zeile, kein Wort lag diesem Briefe bei. Sie las die Anschrift. »Ja, da müssen Sie ins Zentralhotel gehen,« erklärte sie, »der Herr wohnt nicht hier.« – »Wie heißt er?« fragte die Frau des Letten. Dann ging sie nach dem Central-Hotel, dem ersten Hotel der Stadt.
»Ins Central-Hotel?« unterbrach ich: ich fühlte, wie meine Knie zitterten. »Ja,« wiederholte der Lette.
Mein Mann wohnte im Central-Hotel, inmitten der Höhle des Löwen: englische und französische Missionen. Zeitungsleute der Entente, ihr geheimer Nachrichtendienst, die hatten dort ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Deshalb sollte mein Brief nicht dahin. »Kann ich Herrn Xyz sprechen?« hatte die Frau den Portier gefragt. »Was will die Frau hier?« erkundigten sich ein paar Neugierige. Sie paßte so gar nicht in die Halle. »Nitschewo, sie sucht einen Herrn. Der Herr ist verreist.« – »Danke! Wann kommt er zurück?« – »In vier oder fünf Tagen.« – »Auf Wiedersehen,« sagte sie und ging.
Sie dürfe unter keinen Umständen ohne Quittung wiederkommen, hatte ihr der Lette eingeschärft. Also hieß es warten. Am sechsten Tage war sie unabkömmlich, am siebenten ging sie wieder ins Hotel. Ja, er sei da; er erwarte sie in seinem Zimmer. Sie habe sich erst vergewissert, ob er auch der Richtige sei, dann habe sie den Brief gegen die mitgebrachte Empfangsbescheinigung abgegeben. So sei es gekommen, daß sie erst heute käme. Ich gab dem Letten die vereinbarten fünf Rubel für die Zustellung. Nie in meinem Leben habe ich für so wenig Geld so viel Angst ausgestanden.
Ich habe ein wenig nachzuholen. Gleich mein erster Gang führte mich nach dem Geschäftszimmer, um dort meine Freilassung zu erwirken. Aber den Beamten war nichts gleichgültiger, als was ich ihnen erzählte; ich begegnete offener Feindseligkeit. Da verlegte ich mich aufs Schreiben. Schrieb an den Staatsanwalt, an das Ausführende Komitee und an die Schwedische Gesandtschaft nach Petrograd. Vielleicht, daß eine dieser Stellen mir zum Recht verhalf.
Wohl hatte man den Gossudar Imperator vom Throne stürzen, doch den Volkscharakter damit nicht ändern können; was früher gegolten hatte, das galt heute erst recht. So wie einst, hieß es auch jetzt: Rußland ist groß, und der Zar ist weit. Kümmerten sie sich früher schon blutwenig um Recht und Gesetz, so hatte heute jede Sicherheit aufgehört. Das Volk regierte, und das hieß zu allen Zeiten: keiner gehorchte. Deshalb war von den Russen wenig zu erwarten, und die Umstände mußten sich schon besonders günstig fügen, wenn der Einfluß der deutschen Interessenvertretung mir zugute kommen sollte. Immerhin erweckten die Schreiben die Hoffnung auf bessere Zeiten in mir. Einstweilen aber blieb mir nichts anderes übrig, als mich in der von mir vielgeübten Kunst des Wartens wieder einmal zu versuchen.
Da kamen eines Tages einige Sträflinge in meine Zelle gestürzt und berichteten, daß soeben der schwedische Konsul ins Geschäftszimmer gekommen sei. Der schwedische Konsul? Das darf man nicht ganz wörtlich nehmen, denn für die Masse war jeder Vertreter einer fremden Macht: der Konsul. Wir schrieben den 24. Juni. Die Ankunft des Schweden konnte unmöglich eine Folge meines Schreibens an die Gesandtschaft sein, rechnete ich mir rasch aus. Das aber war ja nebensächlich. Wesentlich war, daß ein Mensch ins Gefängnis hereingefunden hatte, und daß ich mir seine Hilfe sichern mußte. »Wir haben ihm bereits gesagt, daß Sie hier sind,« fügten meine Gewährsleute noch hinzu. Die Nachricht genügte, um mich zu alarmieren.
In Windeseile zog ich meinen Waffenrock an. Für gewöhnlich pflegte ich das Kleid des deutschen Soldaten im Gefängnis nicht zu tragen. Für mich war es ein Ehrenkleid und insbesondere das meines alten Regiments. Garde mag ja ganz schön gewesen sein, Vierundzwanziger aber war stolzer und schöner: Napoleons Garde sank durch sie bei Waterloo ins Grab: im Weltkrieg entrissen sie den Douaumont den Franzosen mit stürmender Hand: und auch Britanniens Gordon Highlander vermochten nicht zu widerstehen und gingen vor ihnen mit flatternden Rockschößen auf und davon. Von Düppel, Alsen, Vionville und allem anderen ganz zu schweigen. Auf welchem Schlachtfeld immer auch des Regimentes Fahnen wehten, sie trugen Ruhm und Sieg davon. Da wird es zu verstehen sein, daß ich meinen Waffenrock nicht zur Sträflingstracht degradieren wollte, sondern wohlverwahrt bei meinen Sachen hielt.
Ich war kaum angezogen, als ein Nasiratel mich nach dem Geschäftszimmer holen kam.
Zwei Herren erwarteten mich dort: Graf Bonde und ein Herr seiner Begleitung. Ich unterrichtete den Grafen von allem Wissenswerten.
Im Laufe der Unterhaltung erzählte er mir von Boelke, Immelmann und anderen des glänzenden Nachwuchses der deutschen Fliegerei.
Die Zeiten waren andere geworden. Die A.E.G.-Maschinen, mit denen wir ins Feld gezogen waren, hatten bald erwiesen, daß ein abgenutzter Regenschirm ein besseres Flugzeug war, als diese staatlich konzessionierten Selbstumbringer. Nach sechs Wochen tauschten wir sie gegen die neuen Rumpler ein. Die kletterten wie ein Affe, wie uns schien. Jetzt standen die Luftsiege im Heeresbericht. Zu Feldzugsanfang aber wurde noch keine Notiz von ihnen genommen. Wir quälten uns mit unserer Kiste mühsam ein paar hundert Meter hoch, schossen mit Karabiner, Browning, Leuchtpistole um uns, logen uns am Feind mit Not und Mühe durch und flickten nach jedem Fluge die Löcher sorgsam zu, die er dem Kahn in den Leib geschlagen hatte. Jeder zehnte Flug war eine Panne. In den ersten sechzig Feldzugstagen flog ich an fünfzig Tagen fünfundachtzig mal. Das galt als viel.
Eine Spezialisierung gab es noch nicht. Wir taten, was wir konnten: klärten auf, machten Lichtbildaufnahmen, überbrachten Nachrichten, jagten uns, schossen Artillerie ein und warfen Bomben.
Ja sogar die Zeitungen beschäftigten sich mit uns! Die Pariser Presse! Spaltenlange Artikel! Die Londoner Journale brachten Bilder dazu, doch nicht von uns, von den Pariser Häusern, die wir etwas angekratzt hatten. »Alter Freund«, titulierte mich das eine Blatt. Was sollte die plumpe Vertraulichkeit?
Am 31. August '14 erschien ich auftragsgemäß mit Philipp über der Festung. Sechshundert Meter hoch waren wir, als die Forts den Ehrensalut für uns abgaben. Dann kletterten wir, immer hübsch langsam, an die Tausend heran. Wir wurden aufs freudigste begrüßt. Von der Erde, vom Eiffelturm, aus der Luft, überall her knallte es. Dreizehn Löcher hatte die Maschine, Ruville's Schal am Hals ein Loch. Wir setzten unsere paar Bomben ab: Sicherung los und glückliche Reise! Hierauf sahen wir uns die Stadt ein bißchen an; Paris muß man doch gesehen haben! Das gehört zur allgemeinen Bildung. Ich hatte auch noch eine Kleinigkeit für die Pariser. »A la ville de Paris«, stand als Anschrift über meinen Zeilen, »J'ai l'honneur«, hatte ich begonnen. Das war ich mir schuldig. Dann hatte ich ein wenig indiskret vom deutschen Sieg bei St. Quentin und der Schlacht bei Tannenberg geplaudert. Die Pariser sollten auch einmal die Wahrheit hören! Schwarz-weiß-rot zog der Abwurfwimpel über dem Häusermeer dahin, verfolgt von Hunderttausenden von Augen. Das gefiel den Leuten. Dann ging er auf der Place de Victoires, an der Bildsäule Ludwigs XIV. nieder.
Die Zeitungsleute schrieben ihre Federn stumpf. Aber ich hatte keine Zeit, das Geschriebene zu lesen. Später zeigten sie mir beim General-Kommando vom II. Korps die gesammelte Literatur. Ich warf einen Blick hinein und las am Schluß einer Spalte: »Mon vieil ami, nous te connaissons. Ta source est suspecte.«
Als wir zurückkamen, stieß der Kommandierende General mit uns an. Das war höchste Anerkennung. Heute machte man natürlich andere Sachen: unser Tun verblaßte. –
Graf Bonde sagte mir seine Unterstützung in liebenswürdigster Weise zu. Er wollte mich nicht nur aus dem Gefängnis herausbekommen, er wollte sogar versuchen, mir die Weiterfahrt nach dem fernen Osten zu ersparen und mich in dem Irkutsker Gefangenenlager unterzubringen. Ich war gern mit seinem Vorschlag einverstanden. Meine Hoffnung auf die schwedische Hilfe war über alles Erwarten schnell in Erfüllung gegangen.
Vier Tage später erschien der Prokuror und nahm meine Angaben zu Protokoll. Am Tage darauf kam Graf Bonde, um mir mitzuteilen, daß meine Entlassung aus dem Gefängnis ihm zugesagt worden sei und unmittelbar bevorstände. Gleichzeitig brachte er mir einen sehr schönen Panamahut mit, da meine Pelzmütze Ende Juni bei über 30° im Schatten eine etwas unzeitgemäße Kopfbedeckung darstellte. Auch Grüße von den deutschen Herren, die im Irkutsker Lager saßen, bestellte der Graf: sie hätten alles für meine Aufnahme vorbereitet. Ich freute mich, daß meine Sträflingszeit nun endlich bald zu Ende sein sollte.
Einstweilen aber blieb es bei der Freude. Tag um Tag verging, aber nichts erfolgte. In nichts Wesentlichem hatte die Revolution Rußland verändert. Versprochen wurde auch heute alles, gehalten nichts. Die erste Juliwoche ging zu Ende. Die zweite folgte. Ich saß noch immer im Gefängnis. Saß da, als ob sich nie ein Mensch um mich bekümmert hätte.
Da erschien in der dritten Woche abermals Graf Bonde. Mit den russischen Gewohnheiten vertraut, hatte er es für notwendig gehalten, sich selbst davon zu überzeugen, inwieweit die ihm gegebenen Zusagen gehalten worden waren. Er versprach mir, abermals vorstellig zu werden. Tags darauf kam er wieder und eröffnete mir folgendes: die Irkutsker Regierung sei bereit, mich aus dem Gefängnis zu entlassen und mich ins Gefangenenlager Irkutsk zu überführen, wenn er dafür bürge, daß meine Angaben richtig seien. Ich hätte ihm gegenüber eine entsprechende Erklärung abzugeben. Von Krasnojarsk aus hatte ich bereits wegen meiner Papiere geschrieben. Das war Anfang Mai. Jetzt standen wir in der zweiten Hälfte des Juli. Die Dokumente konnten also jeden Tag eintreffen und mußten meine Angaben als wahr erweisen. Ich gab die Erklärung ab, und schon am nächsten Tage konnte der Graf mir mitteilen, daß meine Überführung ins Gefangenenlager nunmehr erfolgen werde.
An einem Julisonntag kam der Konvoi, um mich abzuholen. Der Weg vom Gefängnis bis zum Lager war weit. Ich nahm eine Droschke, und so kamen wir verhältnismäßig schnell hin. Ich wurde nach der Lagerkommandantur gebracht; ein paar Schreiber waren da. Wir mußten warten. Ich benutzte die Zeit, um mich umzusehen. Das erste, was ich auf einem der Tische erblickte, waren meine Papiere. »Da sind ja meine Dokumente! Erlauben Sie?« redete ich einen Schreiber an und prüfte die Schriftstücke. Sie waren es wirklich. Da stand klar und deutlich, daß ich wieder ein kriegsgefangener preußischer Offizier geworden war. Graf Bonde war seiner Bürgschaft ledig. Nach etwa einstündigem Warten wurde ich unter Bedeckung in Marsch gesetzt. Wir hielten vor der Arrestanstalt des Russenlagers; im gleichen Gebäude war die Lagerwache untergebracht. Hinter einem der vergitterten Fenster stand ein österreichischer Offizier. Der Truppführer sprach ein paar Worte mit dem Wachthabenden. In der nächsten Minute war ich in einer Einzelzelle eingeschlossen.
Das war die Einlösung der von den Russen dem Grafen Bonde gegebenen Zusage; das war meine Überführung in das Lager für kriegsgefangene Offiziere in Irkutsk!
Alle meine Erlebnisse hatten bis zur Stunde noch nicht hingereicht, um mich klug zu machen. Ich glaubte zuerst an eine vorübergehende Unterbringung. Es war ja Sonntag, da mußte manches diesem Umstande zugute gehalten werden, suchte ich mir einzureden. Die Wirklichkeit indessen sah anders aus. Die ritterliche Gesinnung russischer Offiziere wollte nur wieder einmal zeigen, welch heldenmütiger Taten sie gegen einen wehrlosen Gegner fähig war. Was kümmerte den Lagerkommandanten, einen General, die klare Weisung, mich im Offizierlager unterzubringen? Was einen seiner Offiziere? Fragte ich den General, weshalb ich in Arrest gesteckt worden sei, antwortete er, er müsse den Adjutanten fragen. Fragte ich den Adjutanten, erwiderte er, er müsse den General fragen. Nie bekam ich beide zur gleichen Zeit zu Gesicht. Es war dieselbe Niedertracht, die sich hier im kleinen, wie anderwärts im großen zeigte und es zu ihrem Teil verständlich scheinen läßt, daß in den Russen der Wunsch erwachte, sich gegenseitig den Schädel einzuschlagen und einander wie Ungeziefer von der Erde zu vertilgen.
Meine Unterbringung war die jammervollste, die mir je in Ruhland zuteil wurde, und das will viel sagen. Eine schmale Holzpritsche hatte sich des vorhandenen Raumes bemächtigt. Sie duldete es nicht, in dem Käfig auf- und abzugehen. Ein eingemauertes eisernes Gitter sperrte den Läusen, Wanzen und Würmern den Weg ins Freie, und so mußten sie in ungezählten Scharen gedrängt und übereinander liegend, die Spalten der Pritsche, des Fußbodens und der Wände füllen. Ein Doppelposten sicherte den Ein- und Ausgang des Hauses; auf dem Flur standen mehrere Posten Wache. Oh! die Regierung hatte dafür gesorgt, daß die Wahrzeichen Rußlands nicht gestohlen werden konnten! Die übrigen Insassen waren russische Soldaten. Sie bewohnten zu mehreren die größeren Räume. Die sechs Einzelzellen aber waren besonderen Gästen vorbehalten.
Ich hatte mir die neue Umgebung kaum richtig angesehen, als sich auch schon die ersten Neugierigen an der Türe zeigten. Jetzt kam es vor allem darauf an, die Arrestanten für mich zu gewinnen. Daher wurde Rede und Antwort gestanden, und die Schlechtigkeit aller Gewalthaber – was stets ein leichtes ist – gehörig in das richtige Licht gesetzt.
Auch der Bundesgenosse meldete sich, ein Oberleutnant Strunk, seines Zeichens Dragoner in einem weltverlorenen galizischen Nest. Er war noch mehr. Er war Offizier. Dafür saß er jetzt auch eingesperrt. Es gelang uns, durchzusetzen, daß wir zusammen in der Offizier-Arreststube untergebracht wurden. Sie lag am Ende des Flures. Zwei ihrer Fenster führten nach der Hauptstraße, zwei nach einer Lagergasse.
Dem ›Trojane‹ war gleichfalls von den Russen übel mitgespielt worden. Auch er legte keinerlei Wert darauf, sich länger als unbedingt nötig in ihrem Lande aufzuhalten. Es galt nur, das Wie zu finden, um es so schnell wie möglich zu verlassen. Wir fanden es. Der schwierigere Teil aber war, den Gedanken in die Tat umzusetzen.
Ich spiele nicht Schach. Ich weiß davon nur, daß dieses Spiel viele Möglichleiten bietet, den Gegner zu schlagen, daß es aber auch Partien kennt, in denen du schließlich hoffnungslos festsitzt und weder vorwärts noch rückwärts kannst. So ähnlich geht es auch mit Fluchtplänen und ihrer Durchführung. Manch einer bringt dich sicher in die Heimat. Viele gibt's, die dir wohl aus dem Gefängnis heraus, aber nicht weiter helfen. Endlich haben wir noch die, die weder zu dem einen, noch zu dem andern Ziel führen. Wie überall, sind auch hier die Unbrauchbaren in erdrückender Mehrheit.
Da nun jeder Fluchtversuch automatisch eine Verschlimmerung des Loses der Zurückgebliebenen mit sich brachte, so mußte von der Ehrenhaftigkeit des Einzelnen mit Recht gefordert werden, daß er nicht durch ein leichtfertiges Unternehmen die Lage seiner Kameraden verschlimmerte. Wie aber alles auf die Spitze getrieben werden kann, so auch der Wunsch, als Gefangener möglichst allen weiteren Mißhelligkeiten entrückt zu sein. Dieser Wunsch hatte in einzelnen Lagern – soweit mir bekannt: nicht deutschen – dazu geführt, daß der rangälteste kriegsgefangene Offizier kurzerhand jeglichen Fluchtversuch verbot.
Wie alle irrsinnigen Befehle, Verordnungen und Gesetze durch Nichtbeachtung ihr verdientes Schicksal erleiden, so kümmerten sich selbstverständlich alle diejenigen, die in der Gefangenschaft nichts anderes, als lediglich eine gewaltsame Unterbrechung ihrer Tätigkeit im Dienste der Heimat erblickten, nicht um ein solches aus Feigheit und Bequemlichkeit geborenes Diktat. Auch in Irkutsk war ein solches Fluchtverbot von dem ältesten österreichischen Stabsoffizier erlassen worden. Mochte er für sich und seine Genossen befehlen, was er wollte, wir scheren uns den Teufel darum, dachten wir und handelten danach.
Zunächst galt es, die Zahl der Mitwisser auf ein Minimum zu beschränken. Auf Strunk's Bruder, der gleichfalls im Gefangenenlager Irkutsk saß, und die deutschen Offiziere war sicherer Verlaß. Das bedeutete die Möglichkeit für uns, zu verschwinden, ohne daß sie im Lager vorzeitig davon Wind bekamen.
Jede Flucht bedarf mehr oder minder umfangreicher Vorbereitungen. Eine, die dich über mehr als 6000 km Luftlinie nach der Heimat bringen soll, kann mit Aussicht auf Erfolg nicht aus dem Stegreif durchgeführt werden. Wie jede, so erforderte auch sie einen Plan, Geld und Glück. Mit anderen Worten, auch zu kleinen Taten werden die gleichen Ingredienzien gebraucht, wie zu großen: das Wollen, die Mittel und das Glück; nur die Ausmaße sind verschieden. Wichtiger als das Wollen, notwendiger als die Mittel, unerläßlich ist das Glück. Nichts geschah, ohne daß es half, alles versagte, wo es fehlte. Das Glück vor allem mußte mit uns sein, von Anfang bis zu Ende. Würde es uns lächeln?
Wir brauchten Geld. Allmächtig ist das Geld. Mächtiger als Pflicht und Ehre, Treu und Glauben, Liebe, Vaterland. Allmächtig bei allen, die dafür empfänglich sind. Nichts vermag es bei denen auszurichten, die es verachten.
Verwandlungsfähig wie Proteus, weiß es vielerlei Gestalt anzunehmen, den Menschen zu betrügen und zu unterjochen: Saht ihr es nicht, wie es euch in Zeitungen, Flugblättern und Plakaten Frieden, Freiheit, Brot versprach? Saht ihr es nicht, wie es in gleißnerischen Reden ohne Zahl das Erbe eurer Väter euch verächtlich machte? Saht ihr es nicht, wie es die allgemeine Gleichheit predigte und Not und Elend, die sie notwendig im Gefolge führt, euch verschwieg? Saht ihr es nicht, wie Deutschlands Jugend, einst Deutschlands Stolz, in frecher Zuchtlosigkeit sich in den Ruf erniederte: »Lichter aus! Messer raus!« Saht ihr es nicht, wie es an die Stelle der Throne willfährige Diener seines Wollens setzte?
Sprich nicht davon, daß es auch anderes schuf! Kein Übel gibt es, das nicht auch Gutes brächte. Deshalb, weil Geld gefährlich ist, gib acht, wenn du es hast, und sieh dich vor, daß es eines Tages dich nicht hat! Dann reißt es dir das Herz aus deiner Brust: denn es ist kalt, gefühllos, unersättlich und charakterlos und will, daß du ihm ähnlich seist.–
Ich verschaffte das Geld, das uns zur Freiheit verhelfen und dessen Macht der Gegner erliegen sollte. –
Der Plan: Strunk und ich, wir waren nur zwei Mitglieder der kleinen Expedition, die sich anschickte, nach der Heimat zu gelangen. Ich hatte sie im wesentlichen finanziert, meine zahlreichen Beziehungen vom Gefängnis her zur Verfügung gestellt und den ersten Unterschlupf, unter Umständen auch für längere Zeit, gesichert. Die Grundzüge des Unternehmens hatten bereits vor meinem Eintreffen festgestanden. Geldmangel und das fehlende Unterkommen hatten bislang das Inswerksetzen hinausgezögert. Nun konnte es losgehen. Ein ungarischer Fähnrich, der sich bei seiner Gefangennahme von vornherein zu den Mannschaften geschmuggelt hatte, und drei zuverlässige Soldaten zählten zu uns.
Der gemeine Mann, zumal der k.und k. Armee, hatte im allgemeinen in Sibirien wohl nicht allzuviel auszustehen. Wer auf halbwegs günstige Arbeitsverhältnisse traf, richtete sich dort für die Dauer ein, und erfreute sich einer ziemlich großen Freiheit. Für die Wintermonate wurde dann allerdings alles, was keine bleibende Beschäftigung hatte, wieder ins Lager getrieben. Im Umgang mit den Landeseinwohnern lernten diese Leute ziemlich schnell deren Sprache und wurden mit Sitten und Gebräuchen vertraut. Der Fähnrich arbeitete in einer lithographischen Anstalt; jeder erforderliche Ausweis konnte also leicht selbst hergestellt werden.
Wir wollten über Petersburg, Finnland, Richtung Tornea nach Hause. Das schwierigste war der Grenzübergang. So mancher, der Russisch wie ein Moskal sprach, hatte sich, im Vertrauen auf die völlige Beherrschung der Sprache, mit den schönsten Ausweisen versehen, allein auf den Weg gemacht, um letzten Endes an der Grenze von der interalliierten Überwachung doch gefaßt zu werden. Deshalb sollte Tornea selbst vermieden werden. Der Ungar, der im März die hundert Rubel hatte sparen wollen, die ein durchaus sicherer anderer Übergang gekostet hätte, und den damals der Ehrgeiz plagte, sagen zu können: ich habe ohne jede Hilfe die Flucht mitten durch die offizielle Paß-Kontrolle glatt bewerkstelligt, war schließlich an der Paß-Prüfungsstelle in Tornea auf Veranlassung eines Franzosen verhaftet worden, nachdem er bereits die ersten Formalitäten ohne jegliche Beanstandung hinter sich hatte. Die damals erkundete, aber verschmähte Übergangsgelegenheit erlaubte es, daß mehrere gleichzeitig das Land des unfreiwilligen Aufenthalts verlassen konnten. Dieser Umstand sollte ausgenutzt werden.
Wie jedes derartige Unternehmen zum Mißlingen verurteilt ist, wenn der einzelne sich unterwegs in zwecklose Unterhaltungen einläßt, die bei der russischen Neugier, Geschwätzigkeit und Spionenfurcht nur zu leicht Verdacht erregen konnten, so mußte unser Plan, sollte er gelingen, darauf bedacht sein, dieses Gefahrsmoment auszuschalten.
Strunk und ich hatten daher Staatsverbrecher vorzustellen, die unter der Bedeckung von einem Offizier (dem Fähnrich) und drei Mann nach gegebenem Ziel sicher zu transportieren waren. Es versteht sich von selbst, daß der sichere Transport nur gewährleistet war, wenn Gefangene und Konvoi in einem Abteil erster Klasse abgesondert von den übrigen Reisenden untergebracht wurden. Bei längerem Aufenthalt auf den einzelnen Stationen konnte dann noch ein übriges getan und ein Mann als Posten vor die Tür gestellt werden, um möglichst barsch jede Neugier abzuschrecken.
Uniformen und Waffen wurden besorgt und im Unterschlupf bereitgestellt. Dort sollten dann Strunk und ich photographiert und unsere Bilder, mit prächtigen Stempeln versehen, in die ausgefertigten Signalements eingeklebt werden. Der Abreise selbst konnten nach den gemachten Beobachtungen keinerlei Schwierigkeiten sich in den Weg stellen. Saßen wir erst einmal im Zuge, dann durfte es auch als sicher gelten, daß wir unser Ziel erreichten.
Wenige Tage genügten zur Ausführung der Vorbereitungen. Jetzt hieß es, aus der Arrestanstalt verschwinden. Durch einen Bekannten vom Gefängnis her verschaffte ich mir eine Stahlsäge. Während Strunk an der Türluke gegen den Flurposten sicherte, beobachtete ich die Posten an der Vorderfront und sägte gleichzeitig das Gitter eines Fensters an der Seitengasse durch. Es gelang nach mehrstündiger, schwerer Arbeit. Unzählige Male mußte ich aufhören, mit unerwünschtem Besuch plaudern und jeden Augenblick gewärtig sein, daß irgend ein unglücklicher Umstand alles verriet. Meine Finger bluteten, aber der Weg zur Freiheit war gebahnt.
Am späten Nachmittag hörte ich durch meinen Vertrauensmann, im Lager sei das Gerücht verbreitet, daß wir fliehen wollten. Wir hatten uns dort das Notwendigste verschafft, auch unsere Uniformhosen ändern lassen, wie das unsere Rolle vorschrieb. Sollte im Zusammenhang hiermit ein unbedachtes Wort gefallen sein? Dann drohte Gefahr, denn es war uns bekannt, dah Offiziere der k. und k. Armee Spitzeldienste für die Russen taten. Es war somit höchste Zeit, daß wir verschwanden.
Abredegemäß hatten wir am gleichen Tage Punkt 1000 abends durch das Fenster zu steigen. Zur selben Zeit erwartete uns ein Wagen draußen vor dem Lager. Da meldet 900 abends unser Verbindungsmann: alles verschiebt sich um vierundzwanzig Stunden! Verflucht noch Mal! Wenn dir ein Vorortzug an der Nase vorbeifährt, das ist schon ärgerlich genug. Hier aber konnte jede Minute Versäumnis die Entdeckung bringen. Was tun? Gehen wir? Dann reiten wir womöglich die andern herein. Bleiben wir? Was man heute nicht entdeckte, wird man morgen hoffentlich auch nicht finden. Wir blieben. Sorgfältig prüfte ich noch einmal das durchsägte Gitter, das ich mit Schwarzbrot kunstgerecht geflickt hatte. Ein flüchtiges Auge vermochte es zu täuschen.
Im Zuchthaus hätte ich mir einen solchen Scherz nicht erlauben dürfen. Dort wurden die Gitter zweimal täglich mit einem Hammer abgeklopft. Aber hier! Niemand im Lager, auch Strunks Bruder nicht, wußte, wann wir fortwollten. Und die Russen würden wohl nicht eher daran glauben, als bis wir fort waren. Morgen würde schon alles glatt gehen, weshalb auch nicht? Der größere Teil unseres Gepäcks mußte natürlich dableiben. Schade um die Sachen! Aber ohne Einsatz ist nirgends etwas zu gewinnen.
Mein Geld trug ich wohlverwahrt bei mir. Eine kleine Summe für die täglichen Ausgaben hatte ich in der Tasche. Ging die Sache schief, dann verlor ich wahrscheinlich nur diesen kleinsten Teil meines Besitzes. Denn die erste Aufforderung nach erfolgter Festnahme heißt stets: »Dein Geld! Deine Wertsachen!« Schnell wirst du diese Dinge los, und schwer ist es, sie wiederzubekommen.
Im Zuchthaus lernt man mancherlei: in diesem und jenem war ich ein gelehriger Schüler. Ich lernte einen Hundertrubelschein derart falten, daß er zusammengelegt nicht größer als eine Erbse ist. Und eine Erbse wirst du doch so verstecken können, daß sie fürs erste nicht zu finden ist, nicht wahr? Natürlich kannst du dein Geld auch einnähen, aber jeder Katorschanin würde dir den Rock oder die Hose wegen sträflichen Leichtsinns um die Ohren schlagen. Ein Beßrotschnik jedoch, der läßt sich nicht erwischen. Ich wußte, was ich meiner früheren sozialen Stellung schuldig war. Ich trug Kleidungsstücke aus Geld, die kostbarsten, die ich je besessen habe. Acht Tage und länger haben die Russen später wiederholt meinen ganzen Besitz in Händen gehabt und doch nichts finden können. »Aber Sie haben doch selbst eingestanden, daß Sie noch Geld haben?« erpreßte mich eine hohe Natschalstwo. »Ja,« erwiderte ich, »wenn Sie nichts finden können, dann muß ich selbst nachsehen, ob es noch da ist.« – »Es ist nichts mehr drin,« sagte ich, als ich die Sachen zurückgab. Ich sprach die Wahrheit. Jetzt hatte ich es. So versteckt man sein Geld. Viele hundert Rubel! –
Am nächsten Vormittag verschwand die Stahlsäge. Sie hatte ihren Dienst getan. Ihr weiteres Verbleiben war von Übel. Ich war unruhig. Ich konnte mich im Zimmer hinstellen, wohin ich wollte: immer fiel mein Blick auf das gekittete Gitter. Bei jedem, der eintrat, dachte ich: er muß es sehen! Niemand sah es. Unendlich langsam kroch der Tag dahin. Endlich stand die Sonne tief im Westen. Bald mußte es anfangen zu dunkeln.
Etwas war im Gange, das fühlten wir. Was aber war es? Ein paar Mann kamen vom Lager heraufmarschiert. Sie werden doch nicht? Doch, doch! Schon schwenken sie vor unserem Hause ein. Gleich darauf hallen ihre Schritte im Flur.
Ich stand am Fenster und sah auf die Hauptstraße. Wen sollten die Krieger holen? Der Wachthabende trat aus der Tür. Ein paar Soldaten folgten ihm. Je einen stellte er vor unsere beiden Fenster an der Vorderfront, je einen an die beiden Fenster, die auf die Seitengasse führten. Was sollte das?
Die Posten unterhielten sich. Rauchten eine Zigarette. Ab und an gingen sie ein paar Schritte auf und ab. Jetzt, jetzt mußte das durchsägte Gitter bemerkt werden! Auf und ab ging der Posten, rauchte eine Zigarette, unterhielt sich, blickte herein, die durchsägten Stäbe sah er nicht.
Kriegsrat. Noch eine Viertelstunde, dann warteten sie draußen auf uns. Bei der Bewachung kommen wir nicht fort. Wir sind verpfiffen worden, das war klar. Nein, es gab keine Erbärmlichkeit in diesem Kriege, die nicht aus ihrem Schlupfwinkel herausgekrochen wäre, und nicht auf Feindes Seite sich geschlagen hätte. Wie hieß es doch: gleich und gleich: gewiß, das mußte wohl so sein.
Ob die Posten müde werden? Schlafen? Vielleicht. Wir legen uns reisefertig auf unsere Betten und warten. Ablösung zieht auf. Wir hören die neue Wache reden, sehen sie rauchen. Ab und zu preßt einer die Stirn gegen die Außenscheiben, versucht im Dunkel des Zimmers etwas zu erkennen. Wir spähen hinaus, unser Verbindungsmann zeigt sich nicht wieder. Die Sterne beginnen zu bleichen. Nach wie vor stehen die Posten vor den Fenstern, rauchen, schwatzen, gehen auf und ab. Was soll das zwecklose Warten? Wir wollen versuchen, ein wenig zu schlafen. Vielleicht müssen wir die morgige Nacht uns auch um die Ohren schlagen ...
1000 vormittags. Glühend steht die Julisonne am Himmel. »Sieh!« sagt der eine Posten und holt den anderen an das durchsägte Gitter heran. Das Brot ist trocken geworden. Deutlich sind die verletzten Stellen der Stäbe zu erkennen. Das äußere Fenster ist nur angelehnt. Es wird geöffnet. Der Posten kratzt mit den Fingern an dem Eisen herum. »Brot!« sagt er. Leise klopfen die Krumen aufs Fensterbrett. In bläulichem Glanze blinken die Schnittflächen. Wir sehen zu, wie die Soldaten mein Werk zerstören. Einer zeigt auf uns. Der Wachthabende wird geholt. Die ganze Wache folgt ihm. Alles befühlt die starke Eisenwehr. Schüttelt die Köpfe: vier Stäbe und ein breites Band glatt durchschnitten, und niemand hat etwas gesehen oder gehört. Bewundernde Blicke treffen uns und auch solche, aus denen blinde Feindschaft spricht. Der Wachthabende ist bleich geworden. Wie leicht, wie leicht hätten wir entwischen können! Dann hätte ihn die Schuld getroffen. Nun, die Gefahr war vorüber. Zwei Mann Posten stellt er uns ins Zimmer.
Draußen streiten sie sich. »Klar! Mit'm Messer hat er's getan. Natürlich, womit denn sonst!« – »Der Deutsche war's. Der Österreicher sitzt schon lange hier, ein guter Mensch. Aber der Deutsche! Schweinehund, verfluchter!« – »Totschlagen soll man das Aas!« – »Alle beide!« Angenehme Aussichten. Hoffentlich legt sich die Wut. Der schönste Ort wird dir verleidet, wenn sie so häßlich von dir sprechen.
Der Offizier vom Tagesdienst erscheint. Der Adjutant ist da. Wie sie sich beeilen können, wenn man nichts von ihnen will! Da! zeigt der Wachthabende, und da! und da! und dort! Die Stäbe sind durchgenagt und bleiben es. Die Offiziere blicken aufs Gitter, blicken uns an. Ratlosigkeit steht in ihrem Gesicht. Solange sie denken können, in ihrer Vorstellung war ein Gitter immer ganz. Dies aber ist entzwei. Steht eingemauert in der Fensterluke, aber seine Glieder sind zerschnitten. »Der Preuße war's.« sagt einer. »Waren Sie's?« fragt der Adjutant. »Ja.« antworte ich. »Wie haben Sie das gemacht?« – »Das festzustellen, ist Ihre, aber nicht meine Sache,« gebe ich die Auskunft. »Hier mit dem Messer,« weist ein Soldat auf ein altes Taschenmesser, das auf dem einen Fensterbrett lag; wir benutzten es zum Öffnen der Konservenbüchsen. Die einzige Klinge trug die Spuren davon; sie war schartig geworden. Der Adjutant beschlagnahmte das Messer.
»Wann haben Sie das getan?« wollte er wissen. »Als ich im Zimmer war,« belehrte ich ihn. »Sie wußten doch, daß es verboten war,« wandte er sich an Strunk, »weshalb haben Sie nichts gesagt?« – »Würden Sie Ihren Kameraden verraten, der entfliehen will, wenn Sie in Gefangenschaft säßen?« fragte Strunk zurück.
Wir hatten ausgemacht: nur einer gibt die Absicht der Flucht zu, und dieser eine, der war ich. Wir hatten unsere Gründe hierfür. Die Wache durchsuchte unsere Sachen. Mit einem gewöhnlichen Taschenmesser mehr als daumendicke Eisenstäbe durchzusägen, das war wirklich allerhand. Vielleicht fiel ihnen irgend ein anderes Werkzeug in die Hände, das die Tatsache besser erklärte. Sie fanden nichts.
Weshalb ich das getan hätte, fragten sie mich noch. Ich hielt dem versammelten Kriegsvolk ein Sündenregister vor, an dessen Ende mir russische Niedertracht widerwillig einen Glorienschein ums Haupt erstrahlen ließ. Deshalb hätte ich es getan. Jeder von ihnen hätte es längst schon zehnmal versucht, wenn er an meiner Stelle säße. »Gewiß!« stimmten einige von den Soldaten bei. Ich war Ankläger geworden. Da zogen es die Offiziere vor, die Zelle zu verlassen. Ein wenig später wurden wir wieder in unseren alten Käfigen untergebracht. Ein Posten stand vor der Zellentür, einer vor dem Fenster.
Mittags zog die neue Wache auf. Neugierig kamen die Mannschaften, um uns anzustieren. Ihre Meinungen über die Tat waren geteilt. Die Feigen, das war die Mehrzahl, verdammten sie. Ein paar dagegen fanden es ganz in der Ordnung, daß man lieber in Freiheit als eingesperrt sein wollte.
Die alte Wache hatte den Kameraden im Lager von der mißglückten Flucht erzählt. Nun kamen sie, um das Fenster und uns zu sehen. Erst waren es nur ein paar, dann zwanzig, fünfzig, hundert. Die ganze Lagergasse wimmelte von Soldaten. Ein durchsägtes Gitter und niemand entflohen, das war ein bißchen wenig. Binnen kurzem hatte das Gerücht mehr daraus gemacht. Zwei Wachtposten hatte ich erschlagen, dann hatten sie mich gehascht. Zwei Kameraden kaltlächelnd umgebracht! Jedem von ihnen hätte es passieren können, wenn er gerade Posten gestanden hätte! »So ein Schwein!« – »Wagt es, auszubrechen und schlägt tot, was ihm gerade im Wege steht!« – »So ein Mörder!« – »Wollen wir es uns gefallen lassen, daß er unsere Kameraden totschlägt? Was?« – »Wollen wir warten, bis er den nächsten abwürgt? He?« – »Totschlagen den Hund!« schlägt eine Stimme aus der Menge vor. »Zertrampeln!« mißbilligt eine andere den Vorschlag. »Brei aus seinen Knochen machen,« übertrumpft ein dritter die beiden ersten. »Vorwärts auf die Spitzen von den Bajonetten mit ihm!« feuert einer an. – »Zaudert nicht!« mahnt ein anderer. – »Schon sind es heute zwei, die er von euch geschlachtet hat, wieviele werden es morgen sein?« Die Menge setzt sich in Bewegung. – »Verfluchter Deutscher,« heulen sie im Chor. Kolben schlagen gegen die Tür. Einer spuckt herein. »Räudiger Hund!« Die Wache schweigt. Sie hat aufzupassen, daß wir nicht fortlaufen: wenn wir kalt gemacht werden, ist es nicht ihre Schuld.
Sie hat ihre Pflicht getan: verhindert, daß wir entkommen.
»Der blutige Dolch liegt in der Kanzlei. Der Adjutant hat ihn.« – »Wen hat er?« frage ich, »den Dolch? Der Adjutant hat die Hosen voll, daß es jetzt 'rauskommen wird, daß er mich hier eingesperrt hält. Wo sind die Leichen? Wer fehlt von Euch?« – »Ruhe!« schrie einer. »Was wollt Ihr von mir? Wem von Euch tut es weh, daß das lumpige Gitter kaputt ist? Wenn einer von Euch aus der Gefangenschaft ausrückt, dann wird er Georgs-Kavalier! In der Zeitung steht er mit seinem vollen Namen und alle sagen, er ist ein Held! Ist er ein Schweinehund? Ein räudiges Aas? Das aber sagt Ihr von mir! Wem von Euch habe ich etwas getan, daß Ihr mich so beschimpfen dürft? Wenn Ihr in Gefangenschaft kämt und würdet ohne Grund in Arrest gesperrt, was würdet Ihr da tun? Wenn ich aber dasselbe tue, was Ihr an meiner Stelle auch tun würdet, nicht wahr, dann reißt Ihr den Schnabel auf! Habt Ihr Grund dazu? Habt Ihr oder ich schuldlos im Gefängnis gesessen? Habt Ihr oder ich im Zuchthause gesessen? Hat man Euch wie mich erschießen und hängen wollen? Und weshalb das alles? Weil es dem verfluchten alten Regime gefallen hat, dies alles mit mir zu tun! Jetzt hat mich die Revolution befreit, aber dem Herrn General und dem Adjutanten gefällt das nicht; da sind sie tapfer gegen mich, fünftausend Werst hinter der Front, weil ich keine Waffen habe! Weshalb gehen sie denn nicht an die Front, wenn sie solche Helden sind? Weshalb bleiben sie hier und schicken Euch dorthin? Ich habe als Offizier nicht hinter der Front gesessen und die Soldaten ins Feuer geschickt. Da säße ich nicht hier. Und jetzt will ich auch dort sein, wo meine Soldaten sind. Ist das ein Verbrechen? Ist das Unrecht von mir?« – »Nein, nein!« stimmten ein paar zu. »Wenn ich also im Rechte bin, was macht Ihr dann hier wie Halunken Radau? Sorgt lieber dafür, daß ich wie ein Soldat behandelt werde, und nicht wie ein Verbrecher. Auch Ihr seid Soldaten. Ich mag nicht glauben, daß Ihr weniger tapfer seid, als Eure Kameraden an der Front.« – »Er hat das Eiserne Kreuz Erster Klasse,« sagte einer unvermittelt. »Recht hat er,« ein zweiter. Sie blieben noch eine ganze Weile und sahen mich wortlos an. Dann gingen sie.
Ich war erregt wie nach dem Besuch der Fürstin Croy. Zum ersten Male merkte ich. daß die bisher dreißig Monate meiner Gefangenschaft doch nicht ganz spurlos an mir vorübergegangen waren. Das war kein Wunder. Ich hatte in den letzten Jahren wenig Gelegenheit, zu leben wie ein Patient in einer Nerven-Heilanstalt.
Was nun? Das, was wir als für nicht besonders schwierig angesehen hatten, war mißglückt. Unsere Lage hatte sich verschlechtert. Wie kamen wir aus diesem Ungeziefermeeting heil heraus? Ich übertreibe nicht: die Zelle war kleiner als ein modernes Klubsofa Raum für sich beansprucht, bot dagegen Platz genug, um von Abertausenden blutgieriger Bestien angefallen zu werden. Das Haus ruhte ungefähr vierzig Zentimeter über der Erde auf niedrigen Steinpfeilern, die je eine Bohlenlänge voneinander entfernt, aus der Erde ragten. Der Fußboden unter der Pritsche war morsch: wenn ich zwei Bretter löste, kam ich ins Freie. Aber ohne irgend ein geeignetes Werkzeug war das nicht zu machen. Dazu kam: was dem einen Posten etwa entging, mußte der andere sehen. Preisfrage: wie löst du zwei Dielen unter einer niedrigen Pritsche, ohne Geräusch zu verursachen, und ohne daß die vier Augen, die dich beobachten, etwas davon merken? Da mußte sich schon einer unter das Haus pirschen und ob es dann gelang, das war immer noch fraglich.
Gab es keine andere Möglichkeit zu entweichen? Ich zermarterte mein Hirn. Wie räume ich das verfluchte Gitter aus dem Wege? Wie? Durchs Fenster führte der Weg ins Freie. Schon am zweiten Tage fand es der Fensterposten kurzweiliger, sich mit seinen Kollegen zu unterhalten, die sechs Schritt von ihm am Eingang standen, als dauernd in die kahle Zelle zu stieren. Das war ein Fingerzeig. Nun mußte Strunk zeigen, was er konnte. Das Stichwort für seine Rolle war gefallen.
Natürlich wollte er zuerst als treuer Kamerad die gleiche Schuld auf sich nehmen. Das schien mir aber sinnlos. Er hatte vielmehr mit den Unsrigen in Verbindung zu bleiben. Die durfte nicht abreißen, wenn nicht viel kostbare Zeit verloren gehen sollte. Die Übernahme der Schuld durch mich hatte sich als nützlich erwiesen. ›Der gute Mensch‹ saß zwar genau in einem gleichen Käfig wie ich, aber die Verbindung mit der Außenwelt war ihm geblieben.
Ist es möglich, die Posten so abzulenken, daß wir nach Eintritt der Dunkelheit durchs Fenster auf und davon können, ließ ich fragen. Ja, kam die Antwort, das ginge. Vor den Augen der Posten aber zum zweiten Male das Gitter zu zersägen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Nein, das ging nicht. Was konnte ich tun? Was? Da kam mir der Gedanke: es muß doch irgend eine Säure geben, die das Eisen rasch und geräuschlos zerfrißt! Hatte ich während des Chemie-Unterrichts nicht immer die französischen Rennberichte gelesen, dann wüßte ich vielleicht heute, welche in Frage kam. So aber mußte ich es ausprobieren. Zwei Tage darauf bekam ich Salzsäure. Während ich scheinbar dem Leben auf der Hauptstraße zuschaute, goß ich einen schmalen Streifen der ätzenden Flüssigkeit auf das unterste Eisenband. Ob sie es durchfressen, die Flucht ermöglichen würde? Die Salzsäure glänzte in der Sonne. Tatenlos lag sie da. Sie zischte nicht, sie rauchte nicht: ruhig lag sie in der Sonne. Ich setzte die Teekanne wieder fort, mit der ich etwa heftig aufsteigende Dämpfe sofort löschen wollte. Die Sorge war überflüssig. Ich beobachtete weiter. Ob die Säure wohl, wie Wasser in die Erde, in die Poren des rostigen Eisens sickerte? Fiel ihr gar nicht ein. Sie rekelte sich ein wenig in der Sonne und streikte. Vielleicht mußt du ein wenig nachhelfen? Ich nahm ein Streichholz und stocherte damit herum; ich wollte eine Rille in das Eisen graben, die die Säure vertiefen sollte. Doch das Eisen war härter als das dünne Holz. Nun, nun, wie wäre es, wenn ich etwas wartete? Nach zwei Stunden sah ich wieder hin. Anstatt in Mürbeteig griff ich auf festes Eisen. Salzsäure war also nichts. Ich hätte die französischen Rennberichte lieber doch nicht lesen sollen! Ich mußte es mit einem anderen Mittel versuchen. Ich verlangte es. Wie schön sich das anhört: ich verlangte, ich erhielt, ich schickte, ich bekam. Sieht aus wie der Betrieb in der Halle eines Luxus-Hotels. Dem aber ähnelte es wenig. Was kann dir geschehen, wenn du dir da einen Mandarinette bestellst? Du kriegst die Rechnung hinterher, das ist alles. Traust du dir aber zu, einen Stein, der die Nachricht trägt, durch ein vergittertes Fenster auf zwanzig, dreißig Schritt so zu werfen, daß er das Gitter glatt passiert, und daß der Posten nichts bemerkt? Ich zitterte jedesmal, daß es mißlingen könnte. Wie oft zog doch das Unheil um Haaresbreite vorbei, und doch war es nichts anderes als: ich verlangte, ich erhielt, ich schickte und ich bekam. In gleichen Kleidern stecken verschiedene Menschen, das gleiche Wort birgt mannigfachen Inhalt. Du darfst dich vom Äußern nicht betrügen lassen!
In zwei, drei Tagen konnte ich die notwendigen Zutaten für meine weiteren chemischen Versuche haben. Mißlangen sie, dann mußten meine Freunde aus dem Zuchthaus, von denen viele jetzt in der Truppe steckten, mich mit Gewalt herausholen. Ein anderer Weg blieb nicht übrig. So weit aber sollte es nicht kommen.
Zwei Mitglieder des Ausführenden Komitees fanden sich ein. Sie kamen mir gerade recht. Ich redete wie ein Wasserfall, wunderbare Kaskaden revolutionärer Schlagworte. Ich versäumte nicht, ihn bengalisch zu beleuchten. Das bezwang die Leute. Am nächsten Vormittag kamen sie wieder. Sie hätten sich dafür verwandt, daß ich in ein Offizier-Lager käme; hier aber bliebe ich nicht.
Neue Aussichten eröffneten sich. Ob es wohl so ganz unmöglich war, unterwegs zu entkommen? Wie aber war das anzufangen? Durch Bestechung? Ich führte nicht Abertausende bei mir. Nein, ich mußte fliehen, während der Konvoi im Schlummer lag. Aber er würde nicht schlafen, wach würde er sein, raunte mir die Erfahrung zu. Wach! Auf mich aufpassen! Mißtrauisch mich ständig beobachten! Niemals mich allein lassen! Wo ich bin, da wird auch er sein. Nein, er wird nicht schlafen: schießen wird er, wenn ich davonlaufe. Und das ganze Volk wird hinter mir her sein: Weiber, Kinder, Männer. Alte und Junge. »Halt ihn! Halt ihn!« werden sie schreien, und irgendwie versinke ich dann in Nacht. Nein, ich kann nicht fliehen, solange er wacht. Schlafen muß er. Du mußt ihn mit Morphium schlafen machen, durchzuckte es mich. Das war die Lösung.
»Strunk, Sie müssen unbedingt so viel Morphium verschaffen, als es irgend geht! Für acht bis zehn Personen muß es reichen.« Strunk verschaffte das Morphium. Hoffentlich haben sie sich in der Itrutsker Klinik nicht allzu sehr gewundert, wo die Hälfte des Bestandes mit einem Male geblieben war. Strunk's Bruder erhielt es. Behielt es. An Stelle des Morphiums kam ein Brief: er solle nicht verzagen, wie groß auch seine Leiden seien, Christus habe mehr gelitten. Ein Brief des Bruders an den Selbstmordkandidaten. Auch die deutschen Herren äußerten sich zur Sache: Kopf hoch! Noch ist nicht aller Tage Abend. Erst dachten wir, sie sind im Lager verrückt geworden. Dann erst begriffen wir. Bote hin! Kostbare Zeit verstreicht. Im Lager halten sie Kriegsrat, ob sie das Morphium freigeben sollten.
Keine Nachricht. Der Tag verrinnt. Morgen würden sie es hoffentlich schicken. Am anderen Vormittag kommt ein Offizier: ich soll meine Sachen packen!
Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Was ihr nicht in euch fühlt, ihr werdet's nicht erjagen«: ich war entschlossen gewesen, wieder einmal mit trotzigem Willen gegen mein Gefühl zu handeln, obwohl ich dunkel fühlte, daß alles, was ich auch jetzt unternehmen würde, zum Mißlingen verurteilt sei. Nun führte mich ein gütiges Geschick aus der Sackgasse heraus, in die ich mich verrannt hatte. Ich fühlte mich von dem eisernen Griff meines Willens befreit. Schonungslos hatte er mich vorwärts getrieben, unbarmherzig gezwungen, mit jedem Mittel die immer neu aufsteigenden Hindernisse zu brechen. Jetzt wußte ich, daß meine Zeit noch nicht gekommen war. Die Stunde, die mein Handeln forderte, ruhte noch im Schoße der Zukunft. Es galt, sie nicht zu verschlafen. Oh, sie sollte mich wach finden! Das war mein Entschluß.
»Leben Sie wohl, Strunk!«
Es gelang ihm, im Frühjahr '18 sich aus dem Staube zu machen.
Unter sicherem Geleit werde ich nach dem Geschäftszimmer gebracht. Ein telegraphischer Befehl vom Generalstab in Petrograd ist eingegangen. Dem hatten sie Meldung von der mißlungenen Flucht erstattet. Ich sei unter starker Bedeckung nach Krasnaja Rjätschka zu überführen, in strenges Regime, ist verfügt.
Ich warte. Endlich ist mein Konvoi zusammen: ein Feldwebel und drei Mann. Die Gewehre werden geladen. Ich soll wissen, daß sie losgehen, falls ich fortlaufe. In der Mittagshitze eines glühendheißen Augusttages gehen wir nach dem Lagerbahnhof. Rechts und links, vor und hinter mir, marschiert je einer. Als mein Nachbar mit mir reden wollte, verbot es ihm der Feldwebel. Schöne Anweisungen schienen sie zu haben! Ein Soldat trägt mein Gepäck hinterher. An der Haltestelle entlohne ich ihn. Das macht Eindruck auf meine Begleitung. Das Trinkgeld, das ich dem Gepäckträger gegeben hatte, machte sie in ihrem instruierten Glauben an meine Gefährlichkeit wankend. Einer, der die Grenze zwischen Herr und Diener zieht, läuft nicht wie ein überraschter Spitzbube davon. Wir kamen ins Gespräch; so lernte ich sie kennen. Furcht ist der beste Wächter. In dem kommandierenden Feldwebel war ich einer Aufsicht anvertraut worden, deren ängstliche Vorsicht schwerlich zu überbieten war. An fünfzehn Jahre diente er bereits. Kam ich abhanden, verlor er die Tressen und gewärtigte schwere Strafe. Dem wollte er sich nicht aussetzen. Lieber des Guten ein wenig zu viel getan, als durch Versäumnis fehlen. Das war seine Auffassung. Auch die anderen drei waren gute Hüter. Sie alle waren zuvorkommend und höflich, aber streng in ihrer Dienstauffassung – nach russischen Begriffen. Die nächsten Tage bestätigten den ersten Eindruck.
Nach kurzer Fahrt erreichten wir Irkutsk. Wir stiegen aus und warteten auf den Zug, der uns nach dem fernen Osten bringen sollte. Soldaten aller Waffengattungen wimmelten in großen Herden auf dem Bahnsteig und in den Wartesälen herum. Vereinzelt drängten sich Offiziere durch das Gewühl. Noch seltener waren die Ehrenbezeugungen, die ihnen erwiesen wurden. Es ging zu Ende mit dem Bären. Das zeigte sich überall. Darüber vermochte kein noch so lauter Wortschwall hinwegzutäuschen.
»Was ist mit ihm?« fragten Soldaten den Konvoi. Sie bekamen Auskunft. »Heruntergeschossen?« wandten sie sich an mich. »Nein, Motordefekt.« Das war ein wunder Punkt in vielen Patriotenherzen. Unsere Gefangennahme hatte niemandem Ruhm gebracht. Ein versagender Motor, der zur Landung zwingt, läßt beim Feind die Herzen nicht höher schlagen, wie ein Sieg im Feld. Auch das war keine kühne Tat, daß mir, dem Waffenlosen, die Kugeln der Kosaken den Weg zur Freiheit sperrten. Ich war in Feindeshand geraten, wie ein Vermögen in den Schoß des Erben fällt. Das dünkte manchen zu billiges Verdienst.
Endlich lief unser Zug ein. Es war noch hell, als wir Irkutsk verließen. Wir fuhren 3. Klasse. Ich hatte einen Platz am Fenster. In der Ecke war ich gut eingeschlossen. Der Konvoi saß mit den Waffen in der Hand. Auf die Dauer empfand er dies als unbequem. Schließlich genügte es ja, wenn nur einer mit schußfertigem Gewehr Wache hielt. Drei von ihnen aber mußten ständig um mich sein. –