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Mit einem Male waren sie da, die Gerüchte, die Ausbruch der Revolution in Petrograd erzählten. Wie waren sie hereingekommen? Ich weiß es nicht. Sie waren da und lösten sofort Feststimmung aus.
Revolution! Die Augen brannten, ein unsichtbares Fluidum strömte vom einen zum andern über, erhitzte die Gemüter und machte sie empfänglich, die Segnungen der neuen Zeit: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, mit Inbrunst aufzunehmen. Freiheit! Wer dürstete nicht nach ihr! Frei die Hände, frei die Füße, frei jede Gier in hemmungslosem Triebe. Freiheit, Freiheit! Es war nicht auszudenken, wie weit und groß die Welt mit einem Male schien.
Und Gleichheit auch, die sollt' es geben? Da war keiner unter uns, kein Kur- und Livländer, Russe, Pole, Lette, Tatare, kein Grusine, Kirgise, Türke, Ruthene, kein Baschkire, Wogule, Syrjäne, der nicht den Inhalt dieses Wortes als Lüge fühlte! Gleichheit? Da nagte der Zweifel. Da lauerte die Gefahr!
Brüderlichkeit! Ja, sind mir denn nicht alle Brüder? Brüder! Einer gleich dem andern? Freilich! Brüder sind wir. Gleiche, Gleiche! Und um den Zweifel zu ersticken, die Angst zu unterdrücken, das goldene Tor der Freiheit könnte für Auserwählte nur geöffnet werden, wird die Stimme des einzelnen zum Chor, zur Massenforderung Hunderttausender, die überall im Reiche sich erhebt: Brüder sind wir, Brüder! Gleiche! Daher für Alle: Freiheit! Gleichheit!
Rein mit der Natschalstwo in die Zellen! Jeder Beamte ein feiler Nimmersatt, der das Land bestiehlt, ein unersättlicher Vampir, der dem armen Volke das Blut aus allen Adern saugt. Mag er nun sehen, wie steinige Kascha schmeckt und Brot, auf dem der Schimmel sitzt, und wie sich's schläft, wenn Laus und Wanze dich verfolgt, und Würmer sich in deinen offenen Wunden mehren. Mag der Burschui an Zellenluft sich jetzt ergötzen, mag er erfahren, was es heißt, wie wehrloses, gequältes Vieh dahinzuleben!
Es war am Freitag, den 16. März n. St., am Nachmittag. Da kamen sie. Ich sah sie kommen: eins, zwei, drei, vier, – nanu! was wollen denn diese dreizehn-, vierzehnjährigen Mädel hier? – da noch einer, sechs, sieben, keiner mehr; alle ein rotes Bändchen im Knopfloch. »Bochmann, sehen Sie?« Schon hört man sie im untersten Flur. Stimmengewirre wird laut, und knirschend öffnet ein Schlüssel eine Zelle. Schritte. Name. Wieder knarrt ein Schlüssel in einem Schloß. Das ganze Zuchthaus steht an der Tür und horcht; wieder ein Name, Knirschen eines Schlüssels, Schritte, lautes Sprechen draußen auf dem Flur, den Treppen. Da begreifen alle, alle mit einem Schlage: die politischen Verbrecher werden freigelassen! Revolution! Ein donnerndes Ura! brandet durch das Gebäude, und dann herrscht Totenstille. Name, Schlüsselknirschen, Schritte, Name, Schlüsselknirschen, Schritte, so geht das draußen fort.
Bochmanns Aufregung wächst von Minute zu Minute. Er hat das Taburett ans Fenster gestellt, um den Gefängnishof beobachten zu können; vorhin mußte ich ihn dazu heben. Nun springt er in einem fort vom Fenster zur Tür und von der Tür zum Fenster. Der auch! Der auch! Und der auch! Werden sie ihn freilassen, frei, frei, frei?!
An seinen Händen klebte kein Blut, das hatte er mir oft genug versichert; aber er war zum Tode verurteilt worden als Aufständischer, der mit der Waffe in der Hand gekämpft hatte, und die Begnadigung zu lebenslänglicher Zwangsarbeit erfolgte, weil man bereits genug von seinen Genossen gehangen hatte.
Werden sie ihn freilassen? Die ganze Stufenleiter von größter Hoffnungsfreudigkeit bis zu dumpfer Verzweiflung fiebert der Pan herauf und herunter, auf und ab.
Die ersten Freigelassenen sind rein politische Verbrecher: Herr Rosdoff, dem ich mein erstes Heft verdankte, der mir Geld lieh, der stets ein freundliches Wort für mich hatte, dem ich Dank schulde für so viele, ach so winzige Freundlichkeiten, die jede aber ihn harter Strafe aussetzen mußte, wenn er ertappt wurde, er kam zum Abschied an die Zellenklappe, versprach wiederzukommen und – hat Wort gehalten. Fürst Surowsky wurde entlassen. Auch er kam, um Abschied zu nehmen und hat dann später von Stockholm in meinem Interesse zu wirken gesucht, es gleichfalls aber nicht vermocht, die Heimat wachzurütteln.
Die hatte – wie ich später sah – Wichtigeres zu tun, als ernstlich sich um ihre Söhne zu kümmern, die in der Ferne darbten, in Not und Elend unter tausendfachen Qualen starben. Was war an uns auch zu verdienen? Drum laßt uns frieren, denn es kann nicht immer Sommer sein; laßt ruhig uns am Murman und Amur, in Turkestan, in Nord und Süd, in Ost und West zusammenbrechen unter der Nagaika unbarmherzigem Schlag, denn ihr, ihr fühlt es nicht; laßt uns von gierigen Seuchen raffen, fiebergeschüttelt im eigenen Kot und dem der Leichen neben, unter, über uns verzweifelnd Hilfe und Erbarmen flehen: ihr hört es nicht; laßt uns von Bestien mit jedem Mittel quälen, das Menschenhirn in Feigheit und in Haß ersann: ihr glaubt nicht dran; ihr wollt davon nichts wissen, denn ihr seid untreu euch geworden und habt Germaniens freien Geist um weniger noch als dreißig Silberlinge ans goldene Kalb verkauft. –
Sabak kam. Malta kam. Malta war die letzten Tage krank gewesen; die Erfüllung seines Traumes hatte ihn sofort gesund gemacht. Sabak konnte vor Freude kein Wort sprechen. Alles, alles Gute! Ihre Augen strahlen, ihre Bewegungen sind jung, ein letztes Händeschütteln, und sie eilen davon.
Draußen, jenseits der Panzerwand, geht es ununterbrochen weiter. Name, Knirschen einer Zellentür, Schritte. Dann und wann dröhnt Eisen auf Eisen: mit Hammer und Meißel werden die Fesseln entfernt.
Goldin kommt frei, der jüdische Anarchist. Bochmann's Hoffnung ist im Wachsen. Auch sein Zellengenosse, ein Hehler, Dieb und Mörder wird entlassen. Des Pan's Aufregung steigert sich: Schiebung!
Der Abend sinkt. Der größte Teil der politischen Verbrecher ist entlassen. Auch die sind freigekommen, die es verstanden hatten, nach dem Rezept: »Der Vortrag macht des Redners Glück!« heute einer zu werden. Bochmann aber ist noch immer nicht aufgerufen. Er tobt in der Zelle auf und ab; in meinen Notizen steht: »Der Pan wird ganz verrückt!« Das Gewarte war mir schließlich zu langweilig. Ich legte mich schlafen. Gestern noch wäre dieser Disziplinbruch mit Karzer und Hieben gesühnt worden. Heute war alles erlaubt. Nach 1200 nachts pfiff es zur Abendpawierka. Bochmann war nicht aufgerufen worden.
Der Krieg ist gewonnen, dachte ich; Rußland ist erledigt. Nun kommen die beiden andern ran. Denn das stand für mich außer allem Zweifel fest: der Krieg war für Rußland verloren. Beweis: vier Kerle und drei Mädel genügen, um, ohne irgend welchen Widerstand zu finden, eine der Grundfesten Rossijas, eins seiner Wahrzeichen, zu stürzen – die Schrecken der Katorga.
Daß Rußland so nicht weiter regiert werden konnte, wie es geschah, dessen war ich mir schon lange bewußt; aber, daß es so töricht sein würde, die Revolution dem Frieden vorzuziehen, den sicheren Untergang der ebenso sicheren Rettung, das wagte ich nur zu hoffen, nicht zu glauben. War es denn auch Rußland, das letzten Endes die Revolution gemacht hatte? Wenn man sich an die Namen der ersten Revolutionsgrößen hält, die im Vordergrunde agierten – Iswjestija vom 27. Februar 1917 Nr. 1 – könnte man es glauben. Aber nicht sie waren die Lenker der russischen Geschicke, sie waren nur Marionetten, die rücksichtslos beiseite geworfen wurden, als die Zeit erfüllt war. »Wir werden frei kommen, wir machen Revolution hier, aber eine andere als vor zehn Jahren!« sagte mir Goldin im Jahre '16, »und die Russen werden Konstantinopel ebensowenig bekommen, wie ich meine Ohren sehen kann.« Er hat Recht behalten.
War ich denn nicht auch ein politischer Verbrecher, der Anspruch auf Freiheit hatte: verurteilt auf Grund der Paragraphen 110, 112 XXII. Buch Swod Wojennüch Postanowlenij, Gesetz von 1869 IV. Buch?
Leider war die revolutionäre Gerechtigkeit blind und taub geboren, und da konnte sie mich weder sehen noch hören. Das sollte sich sogleich herausstellen. Zunächst erkundigte ich mich beim Pomoschtschnik vom Dienst, der die Morgenpawierka machte, wie es wohl käme, daß ich nicht auch freigelassen worden sei; ich hätte es doch schriftlich, daß ich kein böser Feind, sondern nur ein harmloser politischer Verbrecher sei? Er wußte es nicht.
Im Laufe des Vormittags erschienen zwei vom Revolutionären Komitee und fragten nach dem Pan. Natürlich, es war klar, daß er zu Unrecht saß, wenn auch die Paragraphen widersprachen. Da sei 'ne Kommission, die würde seinen Fall noch prüfen; dann könne er raus.
Ich mußte mir die neuen Herrscher doch auch ansehen, die Helden mit der reinen Stirn, die das verruchte alte System gestürzt, die goldene neue Zeit heraufgeführt, und nun nach ihren Lehren in Menschlichkeit und Liebe die Brüder sich regieren lassen wollten.
Ich fragte – na, wie man so fragt – weshalb ich wohl noch säße? Es muß wohl an mir liegen, daß meine Fragen in der Regel sauer schmecken; anders kann ich es mir nicht erklären; den Herren vom Revolutionären Komitee verschlug's zunächst die Sprache. Dann erklärten sie: mit mir dürften sie nicht reden, ich sei Feind! Es wäre besser, wenn ich als einzelner hier umkäme, als daß draußen an der Front zehntausend Brüder stürben. »Schön,« sagte ich. »wenn wir nicht miteinander reden dürfen, dann können wir vielleicht miteinander sprechen?« Das ging. »Also bitte: ich will auch raus.« Na, ich sei doch Feind! Für mich könnten sie nichts tun. Die neue Regierung müsse befehlen, was mit mir zu machen sei. »Gut, hat sie schon: die politischen Verbrecher sind ohne jede Ausnahme freizulassen. Weshalb laßt Ihr mich da nicht frei? Ist das die neue Gerechtigkeit, daß die Gesetze parteiisch anzuwenden sind? Dem Bochmann habt Ihr eben erklärt, daß die verfluchte Ungerechtigkeit abgeschafft und daß es Eure Aufgabe sei, den Unterdrückten zu ihrem Rechte zu verhelfen! Wenn ich bis gestern sagte, ich sei Feind und will als ehrlicher Feind behandelt werden, dann sagtet Ihr, ich sei ein politischer Verbrecher, aber kein Feind. Jetzt aber, wo das Gesetz für mich ist, da bin ich mit einem Male Feind, aber kein politischer Verbrecher?«
England und Frankreich unterstützten die Revolution, erzählen sie. Die ganze Nacht wären sie auf gewesen. Große Begeisterung herrsche. Umzüge in der Stadt. Es lebe die Freiheit! Früher sei in Rußland keine Freiheit gewesen, aber jetzt wird welche sein; früher ... Im übrigen würden sie uns verdammte Deutsche alle totschlagen. Kampf bis aufs Messer sei jetzt die Parole!
Was die beiden Halunken mit einem Male in Patriotismus machten! Bis gestern saßen sie mit mir als Sträflinge im selben Zuchthaus, freuten sich über jede Niederlage, die das Kaiserliche Rußland erlitt, heute saßen sie im Revolutionären Komitee der Stadt Jaroslawl und redeten zusammenhanglos, wie Halbverrückte auf mich ein.
Ich konnte mit dem Ergebnis meiner Unterhaltung zufrieden sein: Rußland war in guten Händen! Kein Krieg würde es jemals so schwächen können, als wie es selbst sich schwächte. Ich werde den Triumph von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wohl noch erleben, überlegte ich: den Einsturz alles festgefügten staatlichen Lebens, den Zusammenbruch des Heeres, der Autorität, der Finanzen, den Untergang der wenigen Industrien, die Lähmung und dann das Verschwinden von jeglichem Verkehr und damit die Erdrosselung von Handel und Wandel, das gegenseitige Schädeleinschlagen im Namen der Menschlichkeit und Nächstenliebe, die Unterdrückung jeder Meinungsäußerung im Namen der Gedankenfreiheit, den Zuchthausstaat des heiligen Sozialismus, den Untergang von Bildung und Kultur; als Krone des Ganzen schließlich eine gewisse Sippschaft auf fetter Pfründe sitzen sehen zu Häupten des betörten Volkes. Blickt nach Osten!
Was wurde wohl aus mir? Die Lage hatte sich zunächst zu meinen Ungunsten verschoben. Der Deutschenhaß, der ab und zu in diesem und jenem beamteten Russen aufgeflackert war, hatte sich in den letzten Monaten gelegt. Die Sträflinge waren bislang alles andere eher als Deutschenfeinde gewesen. Daher war mir die eben gehörte Melodie neu. Wenn ich ihr einen Sinn unterzulegen versuchte, dann war es der: England und Frankreich unterstützten die Halunken, die die Revolution machten, unter der Bedingung, daß sie bei der Stange blieben und noch einmal versuchten, den deutschen Wall zu durchbrechen.
Halunken? Wir dürfen sie ruhig so nennen, denn nur Schurken oder Idioten werden dem Vaterlande in den Rücken fallen, wenn es im Kampfe steht.
Pst! Du bist in Deutschland.
Ich weiß, doch ich spreche von Rußland.
Es wurde daher schnell die Parole ausgegeben, was dem verfluchten alten System nicht gelungen sei, das werde das freie Rußland vollbringen: den Feind aus der Heimat vertreiben und dem unterworfenen Gegner den Frieden diktieren! Wer jetzt Frieden wolle, der sei ein Verräter an Rußlands heiliger Sache!
Hei! wie lustig flatterte die Flagge des demokratischen Rußlands im Winde! Ihr zu folgen, bedeutete von nun an, Anspruch auf die heiß ersehnte Macht zu haben, an der gefüllten Futterkrippe zu sitzen und auf den geringsten persönlichen Vorteil bedacht sein zu können. Alles andere war vom Übel. Wer wird die tadeln wollen, die ihr folgten?
Für uns Deutsche aber ziehe ich die Nutzanwendung: werft Mut und Tapferkeit ins Feuer – sie waren ja nur Inhalt alter Heldenmären und haben uns in beispiellosen Taten aus Not und Elend in das Licht geführt – und greift statt ihrer zu der Frechheit, wie dies so jedem Wicht geziemt. Die Ehre, die uns Achtung schuf, die müssen wir durch alle Gossen schleifen, damit uns jeder Paria verachten kann. Wenn dann von einem freien Mann in uns noch etwas lebt, ersticken wir es in Erbärmlichkeit, weil tausendfältige Schmach sich nicht mit Anstand, Sitte, Recht verträgt. Wenn wir das alles wohl besorgt, dann endlich sind wir unserem Vorbild gleich, und auf dem weiten Erdenrund wird sich nicht eine Stimme finden, die uns den Namen Lumpenpack verweigert.
Die russischen Lumpen, mit denen ich zusammen war, hatten eine gute Witterung dafür, woher der Wind wehte. Wer auch nur einige Aussicht hatte, frei zu kommen, nahm die Parole auf, und ein frischer Wind aufs neu erwachten Deutschenhasses wehte durch das Zuchthaus. Der erste Hauch war in meine Zelle gedrungen.
Was wurde aus mir? Als im Januar und Februar die Schwierigkeiten für das Kaiserliche Rußland sich häuften, da fürchtete so mancher Katorschanin, daß die Regierung nach berühmtem Muster kurzerhand den Befehl geben könnte: alles, was im Zuchthaus sitzt, ist aufzuhängen! Niemand zweifelte an der Zweckmäßigkeit dieser Maßregel, alle erwarteten sie. Der glatte Zusammenbruch der zaristischen Herrschaft indessen hatte die Katorschanje von diesem Alp befreit. Als nun die Parole aufflammte: »Kampf den Deutschen bis aufs Messer!« da fanden sich mit einem Male eine Menge Leute, die ihr patriotisches Herz entdeckten. Von einer sichtbaren Bekundung ihres Patriotismus' erhofften sie die Freiheit. Wie aber konnten sie die Vaterlandsliebe, die in ihnen glühte, für alle erkennbar zum Ausdruck bringen; denen beweisen, deren Gesinnung etwa niederträchtig genug war, an ihrem Vorhandensein überhaupt zu zweifeln? Nun, da war doch nichts einfacher, es lag ja geradezu auf der Hand, und man empfahl sich den neuen Gewalthabern sicherlich aufs beste damit, wenn alles, was an Deutschen im Zuchthaus saß, totgeschlagen wurde. Natürlich, so mußte es gemacht werden! Konnte es einen stärkeren Beweis heiliger Liebe zum Vaterland geben, als eine solche von berechtigtem Zorne vollbrachte Tat?
Der diese Idee aufs wärmste befürwortete und aufs lebhafteste propagierte, war ein Kerl, dessen Augen wie die Schienen eines Stellwerks auseinanderliefen: so schielte er. Er befand sich mit einem Mal im Gefolge des Revolutionären Komitees, als es zu einer Rückfrage an der Zellenklappe erschien. »Hui tebja,« sagte er, »Du mußt totgeschlagen werden!« »Durak.« besänftigte ich ihn, »Deine Augen laufen ja wie die Ansichten in der Duma auseinander.« Die Komiteemitglieder lachten, seine Augen aber sprühten irrsinnigen Haß, rollten die hellen Wände entlang, kreuzten sich am Fenster und standen plötzlich verkehrt in ihren 181 Höhlen wieder. Weshalb saß der Patriot nicht in seiner Zelle? Freunde waren wir soeben wohl nicht geworden. Wenn er jetzt als Propagandaredner von Zelle zu Zelle reiste, dann konnte es bald einen kleinen Auflauf vor meiner Wohnung geben, denn der einzige Deutsche im Hause war ich. Zunächst mal eins mit einer Brechstange über den Schädel zu bekommen, dann über die Brüstung vom zweiten Stock herunter auf den Beton des untersten Flures zu fliegen, pfui Teufel, diese Aussicht bot wenig Verlockendes.
Durch die Entlassung der politischen Verbrecher war die Solidarität der Sträflinge geborsten. Jeder trachtete danach, den augenblicklichen Wirrwarr sich zunutze zu machen und freizukommen. Wenn es noch dazu durch ein so verdienstvolles und ungefährliches Unternehmen, wie das Totschlagen eines an Händen und Füßen gefesselten Deutschen geschehen konnte, dann fanden sich gewiß viele, die zu diesem patriotischen Beginnen bereit waren.
Wie könnte ich sie daran hindern, fragte ich mich: vor allem, was wollte ich? Der Umstand allein, daß diese beiden Fragen gestellt wurden, beweist erneut, daß es leider nicht immer identisch ist, das, was man kann und das, was man will.
Also, was wollte ich? Ich wollte an Leib und Seele möglichst unbeschädigt dorthin, wo ich hingehörte: zurück in die Heimat, die immer noch im Kampfe stand. Dies Ziel wollte ich, wie bisher, mit allen Mitteln verfolgen, mit allen Mitteln, nur mit dem einen nicht: weder durch Wort noch durch Miene irgendwen um Gnade anzubetteln. Mit diesem Streben ging Hand in Hand die Pflicht, dem Feind zu schaden, wo und wieviel auch immer ich nur konnte. Zur Durchführung meines Wollens standen mir der Einsatz meines Lebens und meines Wesens stets zur Verfügung: über die äußeren Umstände gebot ich nicht. Nachdem ich mir über mein Wollen erneut klar geworden war, wußte ich auch, was ich tun mußte. Ich konnte mich gegebenenfalls zur Wehr setzen. Monatelanges Üben hatte mich dahin gebracht, die linke Handfessel nach Belieben ab- und wieder anzustreifen. Die schweren Eisenbänder an eiserner Kette in meiner rechten Hand hätten dafür gesorgt, daß ich nicht ohne Gegenwehr, wie ein Märtyrer, gestorben wäre. Die Wahl dieses Weges aber hätte mich nicht einmal als Leiche nach Hause gebracht. Mithin hatte ich ihn zu meiden. Das war klar. Irgendwelcher Schutz von den Aufsehern war nicht zu erwarten. Sie liefen mit verstörten Mienen umher und haschten nach dem Wohlwollen der Sträflinge. Ich hatte selbst für meine Sicherheit zu sorgen. –
Bochmann trabte in der Zelle auf und ab. Er präparierte an der Rede, die er vor der Kommission halten wollte. Ich hörte geduldig zu. Dann sagte ich ihm, er sei verrückt. Wenn er das den Leuten erzählen würde, was er hier vorbrächte, käme er nie heraus. Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich wollte ihm gern helfen, aber die Erregung, in der er sich befand, machte ihn Vemunftgründen unzugänglich. Wir kamen hart aneinander. Schließlich vertrugen wir uns wieder. Die Basis, auf der wir uns geeinigt hatten, duldete beide Auffassungen: seine Erklärung, genau so, wie er hier vor mir spreche, müsse er es auch vor der Kommission tun: er könne nicht anders. Mein Gutachten: er sei komplett verrückt, wenn er das tue und nicht auf mich höre.
Am späten Nachmittag wurde er vor das Revolutionäre Komitee gerufen. Er ergriff seine wenigen Habseligkeiten. Vom Augenblicke überwältigt, traten ihm die Tränen in die Augen; er schlang seine Arme um meinen Hals und küßte mich. Alles Gute!
Er ging voller Hoffnung und voller Zweifel. Wenn er an seine Rede dachte, die er nun halten würde: »Genossen!« wollte er sagen, »Kameraden! Hochverehrtes Revolutionäres Tribunal!« dann – ja dann mußte er unbedingt freikommen: aber wenn ihm sein Traum einfiel, dieser schreckliche Traum von heute nacht, dann kam ihm das Frösteln an, und er wollte verzagen. Er war in einer Kirche gewesen – eine Kirche im Traum sehen, bedeutet Gefängnis – einer schönen Kirche, und da sei sie plötzlich zusammengestürzt und habe ihn unter ihren Trümmern begraben: er werde wohl bis an sein Lebensende im Zuchthaus sitzen müssen. Dann wieder peitschte ihn neue Hoffnung aus seiner Verzweiflung: es waren doch so viele freigekommen, deren Vergehen zu den politischen Paragraphen in gleichem Zusammenhang standen, wie die Weichsel mit dem Kaukasus. War er denn nicht besser als sie! Gewiß, es mußte ihm glücken: seine Augen leuchteten in irrem Glanze und er memorierte weiter an seiner Rede: »Genossen!« wollte er sagen, »Kameraden! Hochverehrtes Revolutionäres Tribunal!« – –
Der Nasiratel vom Korridordienst sah hinein. Nun wäre ich allein, sagte er. »Ja, ich bin allein,« antwortete ich. »Ja, ja,« wiederholte er, seufzte und ging weiter.
Mein Blick fiel auf das blanke Kupfer. Nun mußt du den ganzen Krempel wieder allein putzen, dachte ich. Ich wurde mir der Schattenseiten der standesgemäßen Einzelhaft erneut bewußt. Den Staub auf dem Fußboden darfst du jetzt auch allein mit deinen Händen zusammenfegen, fiel mir ein: einen Handfeger gab es schon seit Monaten im ganzen Zuchthaus nicht mehr. C'est la guerre! sagte der Franzose, aber der Russe zog nicht die Folgerungen daraus: er verlangte, daß der Beton auch ohne Besen blitzsauber sei. So lernte ich mit den Handflächen eine Zelle fegen, wie ich früher die anderen russischen Kunststücke auch gelernt hatte. Alles in allem: mehr Arbeit, überlegte ich, aber sie wird durch das Hochgefühl des Mitsichalleinseins reichlich aufgewogen.
Ich wanderte in der Zelle auf und ab. Jenseits der Tür herrschte das ungewohnte Leben und Treiben, das die Revolution mit sich gebracht hatte. Jetzt stand der Pan vor den Halunken, die jedes Recht verhöhnten, indem sie sich selbst zu Richtern machten – im Namen des Gesetzes. Ich wanderte weiter auf und ab. Himmel und Hölle mußte ich in Bewegung setzen, um hier herauszukommen, aber wie? Darüber grübelte ich.
Eine Stunde mochte vergangen sein. Stimmen. Schritte. Man hält vor meiner Zelle. Die Tür krächzt in ihren Angeln. »Bitte!« höre ich im gleichen Augenblick. Der Nasiratel tritt zurück, und Bochmann, leichenblaß, mit eingefallenen Wangen, Schweiß auf der Stirn, taumelt in die Zelle. Irgendwo fällt sein Sack mit dem Brot, der Zahnbürste und der Kruschka zu Boden. Tief in ihren Höhlen brennen seine dunklen Augen. »Ja propall,« sagt er und sinkt auf das Taburett nieder. »Nicht darüber nachdenken!« tröstete ich ihn und gab damit einen Rat weiter, den mir einst ein Räuber aus dem Kaukasus in Moskau gegeben hatte, als ich dort auf den Gefängnishof starrte. Mitleid zerriß mein Herz. »Nicht verzweifeln,« munterte ich ihn auf, »was beim ersten Male nicht gelang, gelingt beim zweiten!« Er hatte seine große Rede gehalten, dann war er herausgeworfen worden. »Genossen!« hatte er gesagt, »Kameraden! Hochverehrtes Revolutionäres Tribunal! Ich bin nicht gekommen, um Euch um etwas zu bitten, als Gleicher stehe ich vor Euch und will mein Recht.« Dann hatte er mit der Erschaffung der Welt begonnen und schließlich erklärt: »Ich bin kein Halunke, wie Ihr sie bereits haufenweise herausgelassen habt, nur weil sie Euch richtig um den Bart gegangen sind. Ich bin kein Spitzbube, wie dieses vollgefressene Schwein da unter Euch. Ich bin nicht Euer Genosse, denn ich habe niemanden begaunert oder betrogen. Ich bin nicht Euer Kamerad, denn vor Euch kann ich nur ausspucken. Frei will ich sein! Herauslassen sollt Ihr mich aus dieser Hölle! Denn Ihr habt kein Recht, mich hier zu behalten, weil ich solche Lumpen, wie Euch, niemals als ein Revolutionäres Tribunal, als meine Richter anerkennen werde.«
Der Nasiratel vom Nachtdienst reichte durch die Klappe den Stellschlüssel hinein, um das ›Bett‹ von der Wand zu schließen. »Nun, was?« fragte er. Bochmann erzählte ihm von seiner Niederlage. Der Nasiratel schüttelte den Kopf. »Ja, ja,« meinte er dann, »das war nicht richtig, ja, ja.« Er wünschte noch »Gute Nacht!« dann schloß er die Klappe.
Die Revolution hatte uns die erste Erleichterung gebracht. Während sonst die Betten erst kurz vor dem Schlafengehen freigegeben wurden, geschah es heute bereits gleich nach dem Abendbrot. Ich begrüßte diese Neuerung mit Freuden. Ich war an diesem Abend noch naiv genug, an nichts anderes zu denken, als daß es herrlich sei, sich eine Stunde früher als sonst auf gefaserter Lindenrinde auszustrecken.
Es pfiff zur Abendpawierka. Es dauerte endlos lange bis der Trupp, der da von Zelle zu Zelle ging, zu der unsrigen kam. Ein unbekannter Staatsanwalt fragte, ob wir politische Verbrecher wären.
Die revolutionäre Regierung hatte für das ganze Reich befohlen, daß die zuständigen Gerichte durch ihre Organe nachzuprüfen hätten, ob auch tatsächlich alle politischen Verbrecher befehlsgemäß freigelassen worden waren.
Bochmann schwieg. Seine Augen aber hielten eine Anklagerede. Ich fragte – ich betrieb es nunmehr als Sport – weshalb ich nicht freigelassen sei? Zugleich verfolgte ich damit eine kleine Nebenabsicht. So wie ich meine Russen von Seiner Hochwohlgeboren an aufwärts kannte, mußte es sie schwer kränken, wenn ich mich teilnahmsvoll nach dem Ergehen der neuen Regierung erkundigte, wenn es auch nur, wie hier, zart durch die Blume geschah. Der Prokuror verstand auch prompt kein Deutsch. Daraufhin wiederholte ich meine Frage auf Französisch. Russisch sprach und verstand ich nur, wenn es mir paßte. »Das ist Knobelsdorff,« wurde der Staatsanwalt vom Pomoschtschnik vom Nachtdienst belehrt: »der Kriegsgefangene,« echote einer aus dem Gefolge. Ich sei Kriegsgefangener, belehrte mich daraufhin die juristische Autorität. Ob er mir dann vielleicht sagen könne, wer nun eigentlich in Rußland regiere? Ich bäte, meine Frage als offiziell gestellt zu betrachten. »Njeiswjästno,« unbekannt, weiß nicht, erpreßte ich ihm das Geständnis. Ich lächelte, diskret, zartfühlend, verständnisvoll, nachsichtig; vielleicht das Lächeln eines Bischofs über eine kleine menschliche Schwäche...