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Wie 1000 : 1 – wer erlebte es nicht? – standen die Aussichten für Gelingen oder Mißlingen, Tun oder Unterlassen, und Tausend zerrann, und Eins gewann ...
Wem folgen wir? Dem stärksten Motiv, das scheint klar. Doch wie es in die Erscheinung tritt, das bleibt wunderbar. »Hände weg!« mahnt eine innere Stimme; »Hände weg!« fordern die Umstände: »Hände weg!« denkst du nun selbst – da zerbricht ein ungestümes Wollen alle Widerstände. »Handle!« befiehlt es, und du gehorchst; weißt nicht zu sagen, weshalb es geschieht; du weißt nur das eine: du mußt ihm folgen, dem Dämon, der dich rief, dem stärksten Motiv, und es trägt dich empor, oder läßt dich fallen – abgrundtief.
Davon wird die Rede sein. Aber ich werde niemanden – etwa durch ein Trompetensignal – auf das Erscheinen des Dämonen aufmerksam machen, niemanden, weil's unnützes Beginnen wäre, denn Dämonen sieht und hört man nicht: sie sind da. –
Weiter werde ich von so manchem sprechen und dabei nur sagen können, daß es war, und verschweigen müssen, wie's geschah. Wer jemals fremde oder auch eigene Interessen zu vertreten und – zu wahren hatte, weiß, daß der Freund nicht wissen darf, was der Feind nicht wissen soll. –
Wenn ferner die Geschehnisse nicht immer dazu angetan waren, eine günstige Meinung über unsere Bundesgenossen, die Österreicher, aufkommen zu lassen, so darf doch die k.u.k. Armee in ihrer Gesamtheit nicht im Lichte dieser Einzelerlebnisse betrachtet werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit für jeden billig Denkenden. Da auch ich den von mir nicht stets mit Anerkennung bedachten Bundesgenossen nicht ohne Not wehe tun möchte, habe ich erläuternd zu bemerken, daß »Österreicher« für mich der Sammelname für alle Völker ist, die in der k.u.k. Armee den Waffenrock trugen. Ich konnte nicht stets feststellen, welchem Volkssplitter die einzelnen angehörten. Ich mußte mich ans Äußerliche, an ihr Kleid halten. Lob und Tadel sind daher, nach dem in der weiten Welt gültigen Grundsatze verteilt: einer für alle, alle für einen. –
Ich habe mich zu diesen Hinweisen veranlaßt gesehen, um langatmige Erörterungen zu vermeiden und verständliche Fragen im voraus zu beantworten. Indem ich nunmehr berichte, wie meine Aufzeichnungen den Weg aus dem russischen Zuchthaus in die Heimat fanden, habe ich vorausgeschickt, was vorauszuschicken war. –
Bis in den November 1916 führte ich eine Art Tagebuch, dessen habhaft zu werden, den Russen niemals glückte. Es schließt mit der Voraussage der Revolution. Dann steckte ich diese Art Schreiberei auf. Ich hatte mich auf etwas anderes verlegt und konnte mir das Schreiben nach drei Richtungen hin: für mich, für den Fall, daß ich damit gefaßt werde, und für einen ungewissen Leser schenken. Damit ging die Zeit dahin und brachte uns der Revolution näher.
Im Lazarett war seit kurzem eine jüdische Zahntechnikerin tätig. Sie hantierte mit verschiedenem Gerät im Munde der Zuchthäusler herum: meisterhaft verstand sie es dabei, trotz aller Aufsicht, von allerlei großen Dingen zu erzählen, die da kommen würden, und die Verbindung mit all denen aufzunehmen, die es anging. Ich lasse es dahingestellt, ob es ein Zufall war, daß die Zahl der Behandlung Bedürftigen ständig zunahm; im höchsten Grade interessant vom medizinischen Standpunkt aus aber war die Feststellung einer offensichtlichen Belebung der schlummernden revolutionären Gesinnung der Katorschanje durch die zahnärztliche Pflege ihrer kariösen Zähne. Die offizielle Mär: die russische Revolution sei eine Art Krakatau-Ausbruch der gemarterten russischen Volksseele gewesen, scheint mir keines stärkeren Beweises bedürftig, als ich ihn eben zu führen versuchte. –
Je kritischer sich allmählich die Entwicklung der inneren Lage gestaltete, um so mehr entsprach sie den Wünschen der Eingesperrten. Mit instinktiver Sicherheit erwarteten sie vom Bersten der Ordnung mit Recht nur Vorteile für sich: zunächst Freiheit und damit Rückgabe ihres Betätigungsfeldes, des Neides in seinem weitesten Umfang. Raub und Mord, Diebstahl und Betrug winkten wieder verheißungsvoll, und neue Wege lockten zu alten Lastern. –
Als ich die ersten Tage der Revolution hinter mir hatte, da war mir klar: wenn es mir nicht bald gelang, meine Schreiberei irgendwo in Sicherheit zu bringen, dann war sie für mich verloren.
Beim Gottesdienste hatte ich die Bekanntschaft eines sehr ordentlichen Mannes gemacht. Er war mir aufgefallen, weil die anständige Gesinnung ihm im Gesicht geschrieben stand. Er hatte nur wenige Jahre Zwangsarbeit zu verbüßen. Wie war er zu ihnen gekommen? Der Kriegsausbruch sah ihn als Inspektor auf dem Gute eines polnischen Grafen. Da kamen die Deutschen, nahmen, was sie brauchten, und – bezahlten. Dann wurden die Deutschen zurückgedrängt, die Russen folgten. Ein Kosak nahm ihm sein gutes Pferd und stellte dafür einen abgetriebenen Gaul ohne jede weitere Entschädigung in den Stall. Nicht wahr, du findest es billig, daß der Feind bezahlt, was er nimmt und du sagst nichts, wenn der Landsmann, der dich schützen soll, dich bestiehlt? Mein Inspektor schimpfte. Laut und vernehmbar. Da ging der Kosak hin und zeigte ihn an, und nun wurde der Schreier festgesetzt. Denn was hatte der als Letztes dem Kosaken noch nachgerufen? »Ihr könnt ja überhaupt nur mit einer Hand schießen!« Das war entweder eine Kunstfertigkeit, an die niemand so recht zu glauben vermochte, oder aber eine Herabsetzung der russischen Armee, die der Zar auf seinen Soldaten nicht sitzen lassen durfte. Das Gericht fragte den Inspektor: »Was soll das heißen, Ihr könnt ja überhaupt nur mit einer Hand schießen?« – »Mit der anderen müßt Ihr Euch die Läuse vom Kopfe kratzen,« erwiderte der Inspektor. Vier Jahre Zwangsarbeit, wegen Beleidigung der russischen Armee.
An diesen Mann wandte ich mich.
Natürlich war er bereit, die Weiterleitung der Tagebücher und einiger Revolutionszeitungen in die Hand zu nehmen. Das war nicht ganz leicht. Aber er bekam sie heraus. Die Post des revolutionären Rußlands trug sie nach dem Kaukasus. Dort warteten sie.
Im August 1918 erreichte mich ein Schreiben der russischen Abteilung unserer Kriegsgefangenenfürsorge. Es fragte nach der Adresse des Vetters Curt, des Generals; ein Paket aus Moskau sei an ihn eingegangen. »Deine Tagebücher!« durchzuckte es mich. Ich fuhr nach Berlin. Ein Reserveoffizier meines Regiments saß im »Prinzen Albrecht«, und ohne irgend welche Scherereien erhielt ich mein Eigentum.
Meinem Regimentskameraden Ruville, mit dem mich gemeinsam bestandene Gefahren und so mancher gemeinsame Erfolg verbanden, war es durch den Beistand einer liebenden Frau im Frühjahr 1918 gelungen, aus dem Gefangenenlager Krasnojarsk am Jenissei zu entfliehen. Da sich auf dem geraden Weg nach Westen unüberwindliche Hindernisse türmten, bogen sie über Samara aus, um über Konstantinopel nach Hause zu gelangen. Unterwegs erkrankte Ruville an Flecktyphus. Seine Reisegefährtin pflegte ihn in Baku gesund. Dort hörten die Verwandten des Inspektors von ihm, nahmen die Verbindung mit ihm auf und stellten fest, daß er mein Begleiter gewesen war. Als sie erfuhren, daß er nunmehr nach Moskau wolle, wo zurzeit die deutsche Hauptkommission tagte, gaben sie ihm meine Tagebücher mit der Bitte, sie mir mitzubringen. Er brachte sie nach Moskau und händigte sie dort unserer Vertretung aus. Unterwegs hatten sie ihm von meinem Erleben berichtet.
Ruville war es, wie er mir im Sommer 1918 erzählte, nach unserer Trennung glücklicherweise besser als mir ergangen. Die Behandlung in der Strafanstalt von Orel war menschlicher als die meine in dem berüchtigten ›Grabe der Zuchthäusler‹, und später landete er glatt im Gefangenenlager. Auch dort ging es ihm den Umständen nach gut, wie ich dies zu meiner Freude bereits im Juli 1917 vom Grafen Bonde in Irkutsk hörte.
Am 19. August 1919 starb Hans-Carl v. Ruville einen vorzeitigen Tod. Unerschrocken und tapfer, stets bereit, sein Leben für des Vaterlandes Macht und Größe und Gedeihen einzusetzen, so kannte ich ihn. –