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Es war ein wundervoller Tag. Am frühen Nachmittag trafen wir im Garnison-Kommando ein. Das Gebäude war wie ausgestorben. Nach langem Suchen fand der Führer meines Konvois endlich einen Schreiber. Der konnte jedoch keine Auskunft geben, was mit mir geschehen sollte. Immerhin war er gefällig und ging, um einen Offizier zu suchen. Die Revolution hatte an den Wartezeiten in Rußland nichts geändert. Wir warteten stundenlang. Gegen Abend kam der Schreiber zurück. Er brachte einen schriftlichen Befehl für den Begleit-Unteroffizier mit. Die Soldaten ergriffen meine Sachen.
Ich wollte mich überraschen lassen und fragte daher nicht nach dem Ziel. Durch belebte Straßen, an zahlreichen Kirchen vorbei, ging es in die anbrechende Nacht hinein. Endlich hielten wir vor der Garnison-Arrest-Anstalt. Der wachthabende Offizier nahm mir gegen Quittung mein Geld ab. Alles andere ließ er mir. In dem Offizier-Arrestzimmer wurde ich untergebracht.
Als ich jetzt daran ging, meine Habe des Näheren zu untersuchen, fand ich, daß in geradezu vorbildlicher und rührender Weise an alles gedacht war, was im Lande der unbegreiflichen Vergeßlichkeiten vonnöten war: von allem ein wenig und alles sehr, sehr einfach; es genügte doch, um in mir das Gefühl der herzlichsten Dankbarkeit auszulösen.
Ich weiß nicht, worin der Dank des Vaterlandes bestanden hat, den es diesen mutigen, unermüdlichen und in aufopfernder Tätigkeit arbeitenden Schwestern schuldet. Abertausenden haben sie wohlgetan und Tausenden haben sie versucht zu helfen. Deshalb sei es wenigstens an dieser Stelle ausgesprochen, daß in ungezählten Herzen ein treues Gedenken für all die Teilnahme und Fürsorge lebt.
Dank der eingepackten Lebensmittel brauchte ich nicht zu hungern. Verpflegung gab es nicht. Das heiße Wasser für den Tee brachte mir der Wachthabende. Am Mantel trug er den Georg IV. Das auffallend junge Gesicht des Unteroffiziers veranlaßte mich zu der Frage nach seinem Alter. »18 Jahre.« Wobei er den Georg bekommen habe? Seine Kompagnie sei am Stochod völlig aufgerieben worden, durch Feuer, Hunger und Kälte. Er und drei Mann seien übrig geblieben. Sie hätten den Georg erhalten, weil sie lebendig zurückgekommen seien; gleichzeitig sei er zum Unteroffizier ernannt worden.
Ich fragte ihn und andere Soldaten der Wache, die an der Front gewesen waren, was sie von der Neuordnung der Dinge, wie merkwürdigerweise die Auflösung alles Bestehenden genannt wurde, hielten. Da war nicht einer, der nicht die Revolution verwarf. Mit wievielen Soldaten – wohlgemerkt: Soldaten! – Offizieren und Mannschaften ich auch sonst gesprochen habe, vom Gebiet der nördlichen Wolga bis zum Zusammenstrom des Ussuri mit dem Amur, da war keiner, der nicht die Revolution ein Verbrechen nannte. Ich habe Leute fast jeden Alters, fast jeden Standes, fast jeden Berufes gefragt, alle waren gleich in ihrer Vaterlandsliebe, gleich in ihrem verdammenden Urteil. Das läßt mich die Frage aufwerfen: weshalb mag wohl der russische Soldat weitergekämpft haben, als die Revolution sein Land verriet? Kann im Ernst ein Vernünftiger glauben, daß eine inmitten eines Krieges durchgeführte Umwälzung der staatlichen Ordnung, eine Revolution mit all ihren unvermeidlichen Begleiterscheinungen ein Volk aus Fährnis zu führen vermag? Bleibt eine Brücke tragfähig, wenn ich sie der Stützen beraube? Wie dem auch sei, die Tatsache besteht, die Russen haben sich weiter geschlagen. Die Gegner einer Fortsetzung des Kampfes vertraten die Meinung, daß das Heer keinesfalls mit der Revolution gehen dürfe. Mochte die neue Regierung zusehen, wo sie ohne die Truppe blieb. Damit war dem Soldaten die Freiheit des Handelns zurückgegeben: er konnte in der Hand der Führer bleiben und der machtlosen Regierung seinen Willen aufzwingen. Wolle man aber diesen Weg nicht beschreiten, dann sei einem Paktieren mit den neuen Machthabern die sofortige Auflösung der Armee immer noch vorzuziehen: jeder habe zuzusehen, wie er nach Hause käme. Hierbei würde das Vaterland ein zwar heftiges, doch kurzes Fieber schütteln, an dem es schlimmstenfalls auch nur sterben könne, was es aber ganz gewiß tun werde, wenn es weiter kämpfe. Die obsiegende Anschauung indessen, die sich auch die oberen Kommandostellen zu eigen gemacht hatten, war: ein jeder bleibt auf seinem Posten und versucht zu retten, was zu retten ist; geht es über das eigene Vermögen, dann bleibt immer noch das Bewußtsein, der Heimat bis zum äußersten treu gewesen zu sein.
Um es vorweg zu nehmen: in mir hat diese Losung, die später – leider – auch bei uns von der Obersten Heeresleitung ausgegeben wurde, keinen begeisterten Anhänger gefunden. Indessen ihr mußte gehorcht werden. Was sie genutzt oder verhütet haben soll, ist mir unerfindlich. Doch ich spreche von Rußland.
Die Nummer 56 des Ruskij Invalid vom 5. März 1917 a. St. brachte in der vierten Spalte die Antwort-Telegramme der Heeres-Gruppen-Kommandeure an der Westfront, der Generale Brussiloff und Ruskij, an die Revolutions-Regierung. Brussiloff hatte telegraphiert: »Habe Ihr Telegramm erhalten. Werde meine Pflicht Heimat und Zar gegenüber erfüllen.« Inhaltlich das gleiche sagt Ruskij. In der Nummer 2 der Iswjästija vom 28. Februar 1917 a. St. stehen die Reden Rodsjankos an das Erste Garde-Regiment (Preobraschenzen) und die Leib-Grenadiere, sowie die anderer Redner an weitere Truppenteile. Der Erfolg? Offizier-Korps und Mannschaften gehen mit der Revolutions-Regierung.
Ein Jahr später kannst du dir von russischen Offizieren in Uniform Streichhölzer auf der Straße kaufen oder auch die Stiefel reinigen lassen, wie du willst. Mit dem sozialen Niedergang des russischen Offizier-Korps hielt der Verfall seiner Heimat gleichen Schritt. Ist jemand zu finden, der glauben wollte, daß die russischen Generale und das Offizier-Korps beabsichtigten, den Untergang ihres Vaterlandes und ihres Standes dadurch herbeizuführen, daß sie sich der Revolutions-Regierung zur Verfügung stellten? Nein, retten wollten sie ihr Vaterland, retten! Also scheint der von ihnen eingeschlagene Weg der verkehrte gewesen zu sein. Nein, scheint nicht nur, sondern war es. Es war eine ungeheure Selbsttäuschung, die da glaubte, noch retten zu können, wo nichts mehr zu retten war. Es war ein gewaltsames Nichtsehenwollen, daß nicht nur der Krieg, sondern auch die Heimat verloren war. Die Armee hatte auf die falsche Karte gesetzt, sie durfte die Revolutionäre nicht unterstützen, und das Schicksal zog unerbittlich den Einsatz ein. –
Die Einrichtung des Offizier-Zimmers in der Garnison-Arrestanstalt Jaroslawl läßt sich nicht gut mit der eines Salonwagens vergleichen. Ich war daher angenehm überrascht, als am nächsten Tage ein neuer Konvoi erschien, um mich abzuholen. Doch zunächst erhielt meine Freude einen Dämpfer. Als ich mein gestern abgegebenes Geld forderte, wurde mir erklärt, es sei dem Garnison-Kommando abgeliefert worden. Ich mußte ohne meine Barschaft abziehen. Der Weg führte uns an Klöstern und Kirchen vorbei, die mir außerordentlich bekannt vorkamen, und als wir um eine Straßenecke bogen, da lag es vor uns, das Gouvernements-Gefängnis. Freundlich winkte es mir im Frühlingssonnenschein zu, ein paar Schritte noch, und ich stand wieder, wie im Juli '15, in derselben Halle, in der zu Ehren meines Monokels ein Kaiserlich Russischer Pomoschtschnik einst einen Niggertanz aufgeführt hatte.
Der Offizier der Wache und ein Beamter bemühten sich um meine Unterbringung. Es dauerte nicht lange, und eine schmucke Zelle nahm mich auf. Sie hatte das übliche Inventar sowie das zugehörige Ungeziefer.
Ich gestehe: die Insassen eines Zuchthauses sind mir lieber als die eines Gefängnisses. Gewiß sind auch da reizende Leute, aber das Gros besteht doch aus schwankenden Gestalten: halb wollen sie ehrliche Leute sein, und zu dreiviertel sind es erbärmliche Spitzbuben. Allein schon aus dieser Arithmetik ist zu lernen, daß niemals ein ganzer Kerl im Gefängnis zu finden ist. Meine neuen Gefährten gefielen mir nicht. Sie waren nichts für mich.
Natürlich herrschte auch Freizügigkeit im Gefängnis, das versteht sich. Jedweder Zuzug erweckte das Interesse aller. Leider beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit. Ich soll sehr kurz angebunden sein können. Dessen erinnerte ich mich. Mir einem alten Katorschanin, einem aus der höchsten Kaste: einem Beßrotschnik wollten diese Anfänger ihre Gesellschaft aufdrängen? Mir? Sie machten, daß sie davon kamen!
Aber am nächsten Tage rächten sie sich. Als die neue Wache kam, ließen sie mich von ihr unter irgend einem Vorwande einsperren: Vaterland in Gefahr, Spion und so. Der Wachthabende war nicht zu erreichen. Ich saß also wieder 'mal hinter Schloß und Riegel, ließ die Wanzen exerzieren und lauschte dem Gesang der Läuse. Am Vormittag des nächsten Tages sagte eine Stimme durch das Guckloch in der Zellentür: »Guten Tag, Herr Leutnant! Warum sind Sie eingesperrt? Wollen Sie, daß Ihre Zelle verschlossen ist?« Ich gehe zur Tür. Da steht draußen einer, mit dem ich drüben, jenseits der Wolga, im Zuchthaus gesessen hatte. »Nein,« gebe ich Bescheid, »die neue Wache hat mich eingesperrt.« – »Woll'n Sie 'raus?« – »Ja.« Fünf Minuten später war die Tür offen. Der Wachthabende kam selbst und entschuldigte sich. Um ihn herum standen an zwanzig Katorschanje. Was war denn los?
Wer gleich Soldat werden wollte, den hatte man eingestellt. Wer Urlaub wollte, hatte Urlaub erhalten. Aber da waren noch die, die weder Aufschub haben, noch Soldat werden wollten. Freigelassen wollten sie werden, bedingungslos, mehr nicht. Um nicht vor dem Willen der Katorschanje gänzlich zurückweichen zu müssen, war das Ausführende Komitee auf einen Ausweg verfallen: zwangsweise Ansiedlung auf die Dauer von drei Jahren in Sibirien. Einige vierzig Mann hatten sich hierzu bereit erklärt. Sie waren bis zu ihrem Abtransport im Gefängnis einquartiert worden. Hier hatten sie zunächst nachgeprüft, ob die Freiheit es auch bequem genug im neuen Heim habe. Dabei stellten sie zu ihrem Befremden fest, daß die Männer von den Weibern immer noch ein verschlossenes Gitter trennte. Selbstverständlich wurde diesem Uebelstand sofort abgeholfen. Dann fanden sie meine Tür verschlossen. Gegen meinen Willen verschlossen; die Zelle eines Mannes, der ihnen Genosse gewesen war, mit ihnen gelitten und geduldet hatte, und bei ihnen etwas galt. Das sollte Freiheit sein? Wenn die Soldaten nicht wollten, daß sie auf der Stelle von ihnen wegen Freiheitsberaubung eingesperrt würden, wenn sie nicht wollten, daß sie sofort das ganze Zuchthaus zu Hilfe riefen, wenn sie nicht wollten, daß man ein paar von ihnen den Kragen umdrehte, dann sollten sie augenblicklich meine Zelle aufschließen: das sagten sie ihnen. Von Stund an wußte jeder im Gefängnis, daß ich eine Großmacht war. –
Meine Bemühungen, mein Geld vom Garnison-Kommando zurückzubekommen, hatten bislang keinen Erfolg gehabt. Jetzt, wo ich im Gefängnis wieder frei aus- und eingehen konnte, mußte ich die Gelegenheit benutzen, um wieder in den Besitz meines Vermögens zu gelangen. Das Beste schien mir, selbst nach dem Kommando zu gehen und es aus der Tasche oder Kasse, in die es geflossen war, zu holen. Das zu tun, war wenigstens in seinem ersten Teil sehr einfach. Ich ging ins Nachtlokal, sagte, daß ich zum Garnison-Kommando ginge, trug mich in eine Liste ein und versprach, am Abend wieder zurück zu sein. Damit warem alle Formalitäten erfüllt, die einen Sträfling ans Gefängnis banden. Manche schliefen hier nur. Tagsüber gingen sie ihrer Beschäftigung nach. So sparten sie die Miete für die Wohnung. Das Ganze aber hieß: Strafverbüßung.
Mir taten die Offiziere leid, die inmitten des Revolutionstohuwabohus in den Geschäftszimmern arbeiten sollten. Sie beneideten mich und schämten sich vor mir, weil ich damals noch einem Volke angehörte, von dem so ungeheurer Frevel am Vaterlande nicht denkbar schien. Die Armen! Eineinhalb Jahre später konnten sie die gleichen Bilder bei uns sehen.
Der Mann, der über mein Geld verfügte, war nicht da; ich müsse noch einmal vorsprechen. Ich tat es zwei Tage darauf und erhielt meine Barschaft. Ich käme nach dem Lager Blagowjäschtschensk am Amur, erfuhr ich. Bis zum Abtransport aber vergingen noch einige Tage. Ich beschäftigte mich damit, Zeitungen aller Parteirichtungen zu lesen.
Sträflinge, die in die Stadt zum Bummeln gingen, oder auch ehemalige Katorschanje, die jetzt Soldaten waren und zu Besuch zu mir kamen, brachten sie mir mit. Diesem oder jenem hatte ich gelegentlich etwas Tabak geschenkt oder eine Karte an seinen in deutscher Gefangenschaft befindlichen Bruder geschrieben. Das hatten sie nicht vergessen und nun kamen sie, und kamen nie mit leeren Händen. Eier, Butter, Tee, Zucker, Heringe, Kuchen, Tabak, von allem, was sie selber gern mochten, brachten sie mir. Die dankbare Gesinnung, die sich hierin offenbarte, wird mir unvergeßlich sein. –
Im Gefängnis befanden sich auch einige Deutsche, die irgendwo im Sirjänischen Gebiet interniert und nach wochenlangen Märschen hier eingetroffen waren, um sich vor Gericht zu verantworten. Der Paragraph aber, gegen den sie sich vergangen hatten, war von der Revolution weggespült worden.
Es waren die ersten Reichsdeutschen, die ich seit meiner Gefangennahme traf. Pfui Teufel, war das 'ne Sorte! Einen nehme ich aus, der war ein ordentlicher Mann. Die anderen aber hatten sich teils in den Tagen der Mobilmachung, teils als die Berufung ihres Jahrganges in Sicht war, gedrückt. Sie gehörten durchweg der Handelsmarine an und hatten es verstanden, die Internierung als Lebensversicherung ausfindig zu machen. Was war ihnen das Vaterland? Ballast, dessen sie sich entledigten, wenn es im Augenblicke günstig schien: eine melkende Kuh, an die sie sich pfleglich hielten, wenn dies die Stunde erheischte. Leider, leider vergalt die Heimat nicht Gleiches mit Gleichem; teilte Geld und Liebesgaben aus, ohne nach der Würdigkeit zu fragen.
Wenn ich mir überlege, wie es so manchem oft an dem Nötigsten fehlte, der mit jeder Faser seines Herzens an der Heimat hing und unter Entbehrungen und zahllosen Gefahren den Weg zu ihr sich zu erkämpfen suchte; wenn ich bedenke, wie oft durch das Fehlen weniger Rubel all ihre unsäglichen Mühen und Anstrengungen schließlich doch vergebens waren; dann krampft Bitterkeit das Herz zusammen, daß das, was jenen fehlte, an ein Gesindel verschwendet wurde, von dem es gänzlich gleichgültig war, wo es verreckte.
Gerechtigkeit aber gebietet, einzugestehen, daß diese Fahnenflüchtigen nicht gut anders handeln konnten, als sie es taten. Die unter der falschen Flagge der Volkserlösung betriebene Aufwiegelung der breiten Masse hatte sie den falschen Weg gewiesen. Nun standen sie dicht vor dem Ziele, zu dem er geführt hatte: von Freund und Feind verachtet, getreten und gestoßen, wehr- und schutzlos, irgendwo und -wann zu sterben und zu verderben. –
Trotz aller Nachgiebigkeit den dunkelsten Elementen und ihren Trieben gegenüber, drohte dem Ausführenden Komitee jegliche Regierungsgewalt zu entgleiten. Die Furcht, auch noch den letzten Rest von Ansehen zu verlieren, bewirkte den Entschluß, abermals nachzugeben und die jetzt lautesten Schreier, die für die Ansiedlung in Sibirien bestimmten Sträflinge, ihrem Verlangen gemäß, beschleunigt abzuschieben. Mit einem Wort, die Jaroslawler taten, was alle Leute tun, die vom Regieren keine Ahnung haben: sie holten die Zauberformel vor, die noch jeden Staat zugrunde gerichtet hat, und – gaben nach.
Ein Konvoi erschien, die Liste der ehemaligen Zuchthäusler wurde verlesen, ich wurde dem Transport zugeteilt, und wir setzten uns in Bewegung. Das war Montag, den 23. April.
Am Bahnhof herrschte Leben. Ich setzte mich auf die oberste Leiste eines Zauns, ließ die Beine herabbaumeln und schaute in das Getriebe.
Neben mir lehnte am Zaun und hockte auf dem Boden meine Leibwache. Die letzte Revolution hatte sie ins Zuchthaus gebracht. Damals waren sie junge Leute, und der Revolutionsbetrieb hatte ihnen Mordsspaß gemacht. »Hände hoch!« – und schon warst du deine Barschaft los. »Hände hoch!« – und im Nu floß die Postkasse in ihre Taschen. Das sah man so einander ab. Junge Leute auf der Straße. Der Raub war ein Vergnügen, wie jedes andere auch. Heute dachten sie anders über die Späße von damals. Wir hatten uns zusammengetan, weil es notwendig war, gegenseitig auf das Eigentum zu achten.
Der Räuber verachtet den Dieb. In aller Heimlichkeit zu kommen und zu stehlen: pfui, wie gemein! Er war fast immer eine liebenswürdige Persönlichkeit, von ausgesuchter Höflichkeit, bisweilen sogar Ritterlichkeit. »Fünfzig Rubel. Dein Ganzes? Lauf!... Halt! Bleib stehen! Hier hast Du noch hundert dazu, für den ausgestandenen Schreck.« So etwa sah ein Räuber aus.
Ein Mann trat auf mich zu. »Guten Tag, Herr Leutnant!« redete er mich auf Berlinsch an. »Guten Tag,« erwiderte ich. »Das sind bulgarische Truppen?« fragte er und zeigte auf die Katorschanje. die in ihren schwarzen Anzügen mit den braunen Kragen und braunen Unterärmeln die Täuschung wachgerufen hatten. »Nee,« lachte ich, »die Bulgaren heißen hierzulande Zuchthäusler.« Er war Gemüsehändler in Berlin; das Geschäft ging gut. Hier ging es ihm auch gut.
In Rußland ging es nämlich nicht allen Kriegsgefangenen schlecht. Viele, viele lebten da besser als zu Hause. Hatten sich die Frau eines Russen, der im Felde stand, oder auch gefallen war, zugelegt; konnten ihr Handwerk ausüben, das in der Regel viel einbrachte; oder sonst irgend einer Beschäftigung nachgehen. Wie es gerade traf.
Die Mittagssonne brannte vom Himmel. »Sie erlauben doch, daß ich Ihnen etwas Milch anbiete?« – »Gerne.« Er ging weg. Bald darauf kam er in Begleitung einiger Leute wieder, die auch Gefangene waren. Sie brachten Milch, Weißbrot, Wurst, Bonbons. »Tausend Dank!« Ich trank einen Stalleimer Milch. Mehr ging beim besten Willen nicht. Den Rest bekam mein Stab. Die Eßwaren packte ich ein. Der Zug nach Wologda war da. Nochmaliger Dank. Mein Gefolge ergriff mein Gepäck.
Wir kletterten in den Arrestantenwagen. Der Konvoi wurde über seine Pflichten von uns belehrt: das Gitter bleibt unverschlossen; Einkäufe werden ohne Begleitung besorgt: kurz, nichts wurde verabsäumt, um ihm verständlich zu machen, daß er gänzlich überflüssig war.
Am nächsten Vormittag waren wir in Wologda. Tiefer Frieden herrschte noch im Gouvernement, das, wenn ich nicht irre, ein Gebiet von etwa Preußens Größe umfaßt. Friedlich und still lagen die Straßen da. Eine neue Regierung hatte sich in Petrograd aufgetan? Weshalb nicht? Der alte Gubernator regierte ruhig weiter.
Wir standen vor dem Gefängnis. Das Tor ging auf. Wir traten ein: siebenundvierzig Mann und ein Kriegsgefangener. Der Konvoi hatte uns richtig abgeliefert. Der Konvoi ging. Die Nasiratel waren nicht freundlich. Nein, sie waren nicht freundlich. »Seid ruhig! wir wollen es uns doch erst mal ansehen.« Wir sollten zu zweien und dreien eingeschlossen werden. Wir! Bedingungsweise freigelassene Katorschanje und ein Kriegsgefangener! »Was?!« – »Vorwärts! Geht!« wollte ein Nasiratel die Vordersten in die Zelle drängen. Rrums, schon knallte er gegen die nächste Tür, taumelte, kam zum Stehen und blickte verstört um sich. Seine Kollegen kamen nicht dazu, sich einzumengen. »Weg die Waffen!« Die Revolver flogen auf den Fußboden, die Säbel hinterdrein. »Türen auf!« Die Türen wurden aufgeschlossen. »Rein mit den Nasirateln!« Schon saßen sie drin.
Die Freiheit hatte in dem Gouvernement Wologda Einzug gehalten.
Wie man uns zu behandeln wagte! Ha, hier mußte Ordnung geschaffen werden. Auf ins Geschäftszimmer! Den Ton kannten sie hier noch nicht. »Alles, was Ihr wollt!« Eine Abordnung ging zum Gubemator. Es wären keine Wagen zum Weitertransport da, wir müßten einige Tage hier warten. »Dann schafft welche! Wir wollen weiter! Rasch! Jetzt gehen wir uns die Stadt ansehen.« Dreißig Katorschanje wiegelten in der Stadt die Leute auf. Das war ihr gutes Recht, denn sie waren freie Bürger, wenigstens beinahe freie Bürger: bedingungsweise freigelassene Zuchthäusler!
Der Regierung wurde himmelangst. Nur 'raus mit der Gesellschaft! Unablässig arbeitete der Telegraph. Am Abend waren Wagen da. Ein Konvoi holte uns ab. Wir rollten in die Nacht hinein nach Osten.
Tag und Nacht, Nacht und Tag flossen dahin. Wir fuhren und fuhren. In Wjatka wechselte der Konvoi. Wir fuhren weiter. Die Kama lag hinter uns. Sacht ging es den Ural hinan. Schlanke Brücken brachten uns über den Tobol, Irtisch, Ob. Die Barabinskische Steppe dehnte sich rechts und links. Wir fuhren weiter nach Osten. Krasnojarsk, das war das Ziel. Im Gouvernement Jenisseisk sollten sich die Katorschanje niederlassen.
In unendlichen Debatten wurde die Zeit totgeschlagen. Karten halfen dabei. Pläne wurden gemacht. Das war sicher: keiner blieb da. Schließlich ging das Fortkommen noch leichter, als sie alle gedacht. Wie der in den See geworfene Stein immer weitere Kreise zieht, so erfaßte der Petrograder Freiheitstaumel auch immer weitere Gebiete. Die erste Kunde von der Revolution hatte der Telegraph in jene Gebiete getragen, Gerüchte hatten sie weiter verbreitet, Gefängnisse hatten sich hier und da geöffnet, aber niemand hatte bislang Augen- und Ohrenzeugen der großen Begebenheiten gesehen, die sich im Reiche abspielten. Nun kamen wir, die ersten Freiheitszeugen, bedingungsweise freigelassene Zuchthäusler von der oberen Wolga.
Um 3. Mai trafen wir ein. Ein eisiger Wind wehte. Blau wölbte sich der Himmel. Kein Baum, kein Strauch blühte. Zwischen massigen Bergrücken lag die Stadt: düstere Holzhäuser, soweit das Auge reichte. Hoch ragten die goldenen Zwiebeln zweier Kirchen und blitzten im Sonnenschein. Wir waren am Jenissei, in Krasnojarsk.
Weitläufig lag das Gefängnis da. Eine Stadt für sich. Das Tor knirschte in den Angeln. Eine schnurgerade Straße kroch vor uns her. Rechts und links von ihr bildeten Gebäude Spalier. Da stand das Männergefängnis, die Kapelle, das Weibergefängnis, das Badehaus und das Lazarett. Links waren die Geschäftszimmer, Nasiratelwohnungen, der Laden und ein Dorf für sich, die Perissilnaja, das Überführungsgefängnis.
Wir hielten auf der Gefängnisstraße. An dreitausend Werst hatten wir zurückgelegt. Jetzt gingen wir keinen Schritt mehr weiter, weder ins Männergefängnis, noch in die Perissilnaja. Schluß. Es lebe die Freiheit!
Wo ist die Freiheit? Ist das die Freiheit, daß man uns mehr als dreitausend Werst von einem Gefängnishof in den andern schleift? Was? Ist das die Freiheit, daß wir jetzt hier stehen und auf den Herrn Prokuror warten dürfen? Wie? Habt Ihr denn noch immer kein Ausführendes Komitee? Wollt Ihr das nicht gefälligst rufen lassen? Oder sollen wir die Stadt anzünden, damit endlich Licht in Eure verdammten Schädel dringt?
Da stehen sie, die Sendboten der neuen Zeit, und predigen. Wie wird das erst werden, wenn auch sie noch die Stadt unsicher machen? Schon ist es so, daß keine Nacht mehr ohne Verbrechen ist. Ungehindert, straflos und frei geht es seinen Weg. Was tun? Da endlich haben sie das bewahrte Mittel: es liegt zum Greifen nahe: was keiner will, das gibt er fort. »Brüder! was wollt Ihr hier? Was sollt Ihr hier? Fahrt nach Hause, Genossen! Dort seid Ihr bei den Euren. Wir spenden Euch den Freifahrtschein und fünfzig Rubel Zehrgeld obendrein. Glückliche Reise, Kameraden!« Sprach's und ward nicht mehr geseh'n. War das ein erleuchteter Kopf! Heiliges Deutschland, wenn du nur nicht die Menge von der gleichen Sorte hättest!
Was aber wird mit mir? Morgen rollt ein Transport weiter nach Osten. Mit dem soll ich mitgehen. Bis zum Abmarsch jedoch muß ich in die Perissilnaja. Dazu ist sie da.
Die ständigen Insassen der Gefängnisse sind von denen getrennt, die nur vorübergehend dort weilen, von den Sträflingstransporten, die von Etappe zu Etappe schleichen, bis sie schließlich irgendwo am Ziele sind. Früher ging's zu Fuß, durch Glut und Eis. In Ketten. Jetzt fährst du mit der Bahn. Nur was abseits vom Schienenstrang liegt, was auch zu Wasser nicht zu erreichen ist, das kennt auch heute noch die fürchterlichen Todeskarawanen. Was ist dein Leid, gemessen an den Martern und den Qualen, von denen diese Wege und Halte wissen? Was bist du, Mensch? Wer kann es sagen?
Ich steuerte auf eins der Gebäude zu. Sie enthielten ein Erdgeschoß und ein oberes Stockwerk. Je ein Saal erfüllte den ganzen Raum. Holzpritschen standen in mehreren Kolonnen nebeneinander. Ein Ofen lehnte an der einen Schmalwand. Das war die Einrichtung.
Erster Stock! entschied ich mich. Der Saal hatte nur einen Zugang, war also leicht zu bewachen. Unten konnte zu leicht einer durchs Fenster verschwinden.
In den Spalten der Pritschen wimmelte es von Ungeziefer. Die vorsorgliche Schwester hatte mich auch mit Insektenpulver versehen. Ich kann sie nicht genug loben; glänzend hatte sie mich ausgerüstet.
Ich suchte mir einen Platz an der hinteren Schmalwand. Dann nahm ich das Insektenpulver und streute Gift in meinem Bereich. Auf diese Unterlage stellte ich meinen Strohkoffer. Ob du dir's zutraust, dich auf die Pritsche hinzuhauen? Brr, der Ekel schüttelte mich. Hoho! ich war also schon wieder obenauf!
»Wir kommen sämtlich heute noch weg; alle Schreiber sitzen und machen unsere Papiere fertig,« erzählt Besuch. »Ein deutscher Offizier sitzt im Gefängnis; soll ich machen, daß Sie ihn zu sehen bekommen?« Ein deutscher Offizier! Der Gedanke elektrisierte mich. »Ich werde ihm sagen, er soll verlangen, nach dem Laden zu gehen: kommen Sie dann in einer halben Stunde auch hin!«
Innerhalb der Perissilnaija konnte ich nach Belieben schalten und walten; verlassen aber durfte ich sie nicht. »Ich möchte nach dem Laden,« erklärte ich an der Pforte. »Gut.« Einer von den Wächtern ging mit. Der Laden war eng. Sträflinge und Aufseher drängten sich an der Theke. »Da kommt er.« Einer meiner bisherigen Reisegefährten zeigte auf mich. Ein blonder Kopf wandte sich um: ich blickte in ein lebhaftes, frisches Gesicht; in tadellosem Feldgrau stand ein Leutnant vor mir. »Knobelsdorff,« sagte ich; »von Strenger,« stellte er sich vor. Der Ton lag auf dem »Von«. Kling! unterstrichen ein paar blitzende Anschnallsporen das Adelsprädikat. Feiner Hund! dachte ich und sah mir mein Gegenüber nochmals von oben bis unten für den Bruchteil einer Sekunde an. Alles war tadellos. Noch bevor wir ein weiteres Wort sprachen, drängte ihn sein Begleiter, ein graubärtiger Nasiratel, zum Gehen. »Ja, ich komm' schon,« versuchte er ihn abzuwehren. »Ich gehe morgen mit dem Transport nach Blagowjäschtschensk, « informierte ich ihn rasch. »Und ich mit demselben nach Chabarowsk,« ruft er mir von der Tür her zu. »Auf Wiedersehen!« Schon stand er draußen. Sein Begleitmann hatte ihn hinausbugsiert. Ich kaufte eine Kleinigkeit: der Zweck war erreicht.
Von Strenger? Der Name war mir nicht geläufig. In meinem Regimente würden sie gefeixt haben, wenn ich mich einem Kalckreuth oder Oertzen mit ›von‹ Knobelsdorff vorgestellt hätte. Man trug seinen alten Namen, hatte ihm Ehre zu machen, und damit war der Fall erledigt. Von Strenger! Ich lächelte....
Mittag war vorüber. Das war leicht daran zu merken, daß es nichts zu essen gab. Sorg' für dich selbst, ein anderer tut's nicht, das hatte ich schon längst gelernt. Meine Mahlzeit war beendet. Da wurden ein paar hereingetrieben, Chinesen, Tataren, und noch drei, die im Gefängnis groß geworden waren. Prüfend glitt mein Auge über die Gestalten, die da näher kamen. Schlag weiter, Herz! Was ist der Krieg? Gewiß, er ist gehäuftes Leid, doch tausend Dinge gibt's, die grausiger sind.
Den Dreien gefiel ich nicht. Mein Haus war ihnen nicht schön genug. Sie suchten sich ein anderes. Die 'reingekommen waren, warfen ihre Habe hin und streckten sich am Ofen. Er brannte nicht.
Der Wind hatte sich gelegt: die Sonne lockte ins Freie. Die Ankömmlinge verließen den Saal: nur die Wachen blieben. Ich wartete noch eine Weile, dann ging auch ich: die dageblieben waren, würden mir wohl nichts stehlen. Ich nahm die Tüte mit den Eiern und dem gekochten Schinken, den ich vorhin erstanden hatte, und im Vorbeigehen steckte ich die Sachen dem matten Graukopf zu, dem Siechtum, Elend, Jammer aus den Zügen blickten.
Fieber schüttelte einen von den Chinesen; gierig trank er die Wärme. Wie lange noch?
Niemand darf wissen, daß du ein paar Rubel bei dir trägst, das ist eins der Gebote, die in der Perissilnaja keiner ungestraft übertritt. Um einer einzigen Kopeke willen verlor schon mancher da sein Leben. Was gilt ein Leben? Nichts. Eine Kopeke? Viel. Allein schon das Papier für zwanzig Zigaretten! Braucht einer das Papier, und du hast die Kopeke, so ist das Grund genug für dich, zu sterben. Wild rauschte das Leben in den Menschheitstiefen, in welche das Schicksal mich geschleudert hatte.
Eine kleine, winzige Wohltat da, und du sprachst dir dort das Todesurteil. Vorsichtig mußte man sein und auf sich bedacht.
Ich ging vor dem Hause auf und ab. Konnte ich dem Kranken helfen? Wie konnte ich das tun? Nun ein paar Kopeken kannst du ruhig entbehren, sagte ich mir. Kopeken? Auch zwei, drei Rubel! Natürlich kannst du das; das sind hier keine Leute, die zu fürchten sind. Meine Barschaft war unterwegs ein wenig zusammengeschmolzen: herrlich war die gebratene Ente in der Barabinstischen Steppe gewesen, wahrhaftig, sie war ihre drei Rubel wert. Die Butter, die Eier, die Milch, die Wurst, sie alle hatten an meinem Kapital gezehrt, denn die fünfzig Kopeken Tagegeld, die es jetzt gab, langten knapp für das tägliche Brot. Doch zwei, drei Rubel, die konnte ich gewiß ganz gut entbehren.
Ich blickte nach dem Fiebernden herüber. Schweig! befahl ich. Ja, sprachen seine Augen. Dann ließ ich in Pausen mein Silber in seine Taschen gleiten. Er verzog keine Miene.
Ich erzähle das hier nun nicht, um mich zu rühmen. Jeder, der ein Herz im Leibe hat, hätte das gleiche, wenn nicht noch mehr getan. Ich erzähle es lediglich, damit in unserem überfressenen Europa dieser oder jener gelegentlich daran denkt, daß es auch hungrige Menschen gibt, und daß ein kleines Scherflein oft genug hinreicht, Trauer in Freude, Haß in Dankbarkeit zu wandeln. Um dies zuwege zu bringen, ist es durchaus nicht nötig, bis nach Sibirien zu wandern. Es braucht auch keiner am eigenen Leibe zu erfahren, was es heißt, Wochen und Monate hindurch von so gut wie nichts zu leben: er spende der Not, wo er sie findet, und was er dem einen tut, hat er allen anderen auch getan. –
Die Sonne hatte ihre Kraft verloren. Es fing an, kühl zu werden. Ich ging ins Haus. Als ich den Saal betrat, erblickte mich der Graukopf. Mühsam erhob er sich von seiner Pritsche, kroch auf mich zu, kniete nieder und küßte meine Füße. Erschüttert und erschrocken hob ich ihn auf.
Ich verbrachte die Nacht, wie ich, ach, so viele Nächte meines Lebens verbracht habe: von Ungeziefer und Schmutz angeekelt, zog ich es vor, durchzuwachen, anstatt mich von allerlei blutgierigem Getier peinigen zu lassen. Es war bitterkalt: alles schwärmte aus, um Holz zu suchen. Da sich kein anderes fand, mußten ein paar Latten von den Pritschen herhalten.
Gegen 400 morgens erschien ein Nasiratel und forderte uns auf, den Saal zu verlassen. Mit zwei Griffen nahm jeder sein Bündel und folgte dem Aufseher.
Wir betraten einen großen Raum in einem Gebäude an der Gefängnisstraße. Eine kleine Petroleumlampe verbreitete spärliches Licht. Sie hatte die Aufgabe, auch den Nebenraum zu erhellen, den man durch eine offene Tür ahnte: die Finsternis zu durchdringen, vermochte das Auge nicht. Ein Tisch stand an der Verbindungstür. Ein paar Konvoisoldaten standen herum. Der Transportführer und ein Gefängnisbeamter saßen am Tisch. Alle anderen hüllte Dunkelheit ein. Namen wurden verlesen. Die Aufgerufenen traten an den Tisch. Der Starschi blickte vom Überweisungspapier auf, nickte mit dem Kopf, und einer nach dem anderen verschwand durch die Tür im Finstern.
Eine neue Kolonne trat ein, Gefängnisinsassen, die weiter sollten. Unter ihnen befand sich Strenger. Trotz der Dunkelheit fanden mich seine Augen überraschend schnell. »Guten Morgen,« grüßten wir. »Wo kommen Sie her?« fragte ich. Er erzählte eine Geschichte, der ich nicht zu folgen vermochte, vielleicht weil ich mit einem Ohr der Verlesung der Namen lauschte: immer gespannter lauschte: mein Name wurde immer noch nicht genannt. In zehn Sätzen berichtete ich auf die Gegenfrage über mein Woher und Wohin. »Können Sie mir wohl einige Rubel leihen?« bat er, als ich geendigt hatte. Verdammt noch mal! Das durfte nicht kommen. Ich besaß noch knapp achtzig Rubel, gerade genug, um bequem bis in mein Gefangenenlager zu gelangen.
In Feindesland ohne Geld, überlegte ich; ich wußte nur zu gut, was das bedeutet. Mit fünfzig Kopeken täglich konnte man auch bei mehrtägiger Fahrt keinen Speck ansetzen. Ihm die Hälfte abgeben? Das schien mir denn doch zu übertriebene Kameradschaft. Ein Drittel meiner Barschaft genügte wohl auch. Ich gab ihm fünfundzwanzig Rubel.
»In welchem Regiment sind Sie eigentlich?« interessierte ich mich. »Alexander.« Alexander? »Sie sind Reserveoffizier?« fragte ich. »Nein,« erwiderte er, »ich war im Spionagebüro.«
Sein Name wird aufgerufen. »Sdieß,« meldete er sich. »Wir sehen uns nachher,« sagte er noch; dann ging er am Tisch vorbei zu den anderen.
Den stauchst du nachher, nahm ich mir vor, spricht hier als Deutscher Russisch, ohne Not. In Feindesland spricht man seine Muttersprache! Nur wenn du vom Gegner etwas erreichen willst, das nicht anders zu erlangen ist, dann darfst du dich im offiziellen Verkehr seiner Sprache bedienen. Das ist doch klar!
Wo war er, fiel mir ein, im Spionagebüro? Spionagebüro? Seit wann haben wir ein ›Spionagebüro‹? Mißtrauen erwachte. Noch drei Namen werden aufgerufen, und dann stehe ich allein im Zimmer.
»Sind Sie nicht verlesen?« werde ich gefragt. »Nein.« – »Ihr Name?« – »Viktor v. Knobelsdorff.« Blatt für Blatt wird nachgesehen. Die Überweisungspapiere enthalten meinen Namen nicht. »Dann müssen Sie hier bleiben,« entscheidet der Transportführer. Ohne Überiweisungspapiere ist nichts zu machen. Verfluchte Schweinerei!
530 morgens werde ich im Krasnojarsker Gefängnis eingeliefert. Ein Nasiratel führt mich in eine leere Zelle im ersten Stock. Ganz anständige Unterbringung, sehe ich. Die Zelle ist groß und geräumig; die Ausrüstung wie üblich: der Fußboden aus Beton. Wie, woher, warum, erkundigt sich der Nasiratel. Er hatte früher einem deutschen Herrn gedient. Keine Spur von Feindschaft ist in ihm.
Bei der Morgenpawierka verlange ich nach dem Natschalnik. Im Laufe des Vormittags werde ich zu ihm geführt. Der Prokuror ist auch da. Ich bitte sehr höflich, mich nach dem Lager Blagowjäschtschensk weiterzuschicken. Natschalnik wie Prokuror sind beide gleichfalls sehr höflich; erklären, mir gern glauben zu wollen, seien aber außerstande, mich ohne irgendwelchen Ausweis ziehen zu lassen.
Das war der wunde Punkt. Meine Überweisungspapiere lagen entweder noch in Wologda, oder einer der wechselnden Konvois hatte sie verbummelt. Das einzige Papier, das von mir vorhanden war, war mein in Bjäla aufgenommenes Signalement. Es zeigte mein Gesicht von vorn und von der Seite, hatte in Stempelfarbe meine Fingerabdrücke und sagte aus, daß ich zuletzt zum Tode durch den Strang verurteilt, diese Strafe aber in lebenslängliche Zwangsarbeit abgeändert worden sei. Niemandem konnte es verargt werden, wenn man mich 4000 km ab vom Schauplatz dieser Dinge, allein auf diesen Ausweis angewiesen, nicht ohne weiteres weiterziehen lassen wollte. Ich sollte solange dableiben, bis die Bestätigung meiner Angaben eingegangen sei. Die Beamten handelten korrekt. Ich mußte mich fügen.
Die Freiheit, die im Krasnojarsker Gefängnis im Mai 1917 herrschte, war eine kümmerliche Stiefschwester der in Jaroslawl gekannten. Wohl herrschte Freizügigkeit im Gefängnis, aber nur von Pawierka zu Pawierka, von morgens 600 bis abends 600. Die andere Hälfte des Tages waren die Zellen geschlossen. Es gab keine Delegierten und keine Sträflingsmiliz. Dieselben Leute, die unter der Herrschaft des Zaren in der Küche gestohlen hatten, stahlen auch unter dem neuen Regime weiter. Alles war beim alten geblieben, nur die Zellen waren tagsüber auf. Dafür war in den Insassen eine kleine Wandlung eingetreten. Alle, die wirklich große Halunken waren, oder sonst schwere Strafen zu verbüßen hatten, waren längst fort. Was sich jetzt noch innerhalb der Gefängnismauern herumtrieb, das war Geschmeiß. Zu ihm gesellten sich als Neuerscheinung einige Spitzel der alten Regierung. All das war kein Umgang für mich. Das stellte sich auf den ersten Blick heraus.
Ein kurzer Rundgang durch das Gefängnis belehrte mich, daß es zweifellos nicht zu den Unmöglichkeiten gehörte, von hier fortzukommen. Das einzige, was ich hierzu brauchte, war Geld. Das hatte ich aber nicht. Die letzte Vermögensabgabe hatte mein Kapital auf rund dreiundfünfzig Rubel zusammenschmelzen lassen. Diese, auf dem Gefängnishof angestellten, Überlegungen wurden dadurch unterbrochen, daß ein Garde-Füsilier eine tadellose Ehrenbezeugung vor mir ausführte. Die Sachen, die er am Leibe hatte, waren zwar fünfte Garnitur, aber ihre Sauberkeit ließ sie wie einen Brillanten leuchten inmitten von wertlosem Glas. Ich gab ihm die Hand. Er war gelernter Tischler und verwundet in Feindeshand geraten. Im Kansker Lager hatte er einem Kosaken, der ihn und seine Kameraden bei der Arbeit drangsalierte, eine gelangt, die nicht von schlechten Eltern war. Diese schnelle Selbsthilfe hatte ihn ins Gefängnis gebracht. Nun saß er hier, einer von jenen Abertausenden deutscher Söhne, die dem Vaterlande die Treue gehalten hatten.
Ich erkundigte mich nach seinen Verhältnissen. Nun, sie waren so, wie die eines Kriegsgefangenen eben sind, der im Gefängnis sitzt. Dreiundfünfzig Rubel dachte ich, dreiundfünfzig Rubel. Gleichviel, ein Deutscher, der seinen Dienst getan: wir teilen. »Wir wollen zusammen in meiner Zelle essen,« schlug ich zunächst vor, »im übrigen bin ich für Sie stets zu sprechen.« Bescheiden lehnte er ab. Aber da half keine Widerrede. Das wäre ja noch schöner! Offizier und Soldat gehören zusammen, wo immer auch die Not sie hinstellt. Rang und Pflichten, Bildung und Erziehung scheiden sie genug voneinander, um plumpe Vertraulichkeit nicht aufkommen zu lassen.
Mittags erschien der Maikäfer in meiner Zelle. Die Gefängniskost war auch in Krasnojarsk die gleiche, wie sonst in Rußland. Die Gründe sind nunmehr hinreichend bekannt. Die von mir mitgebrachten Nahrungsmittel erlaubten, den Fraß in ein geradezu lukullisches Mahl zu veredeln. Bei Tisch erzählte mir mein Gast, daß außer ihm noch ein Ungar, ein Honved-Soldat, im Gefängnis sitze. Der Ungar wurde geholt. Er sprach leidlich Deutsch. Von nun an waren beide täglich meine Gäste.
Wenn man aus dem allgemeinen Dreck halbwegs ungefährdet herauskommen wollte, dann mußte in erster Linie dafür Sorge getragen werden, daß der Körper widerstandsfähig blieb. Dazu gehörte als Grundbedingung einwandfreie Ernährung und Reinlichkeit. Die Armee erzog ihre Angehörigen, wenn sie nicht von Haus aus schon daran gewöhnt waren, zur Sauberkeit. Was der Deutsche einmal gelernt hat, das pflegt er auch nicht zu vergessen. Mich über das Thema Reinlichkeit (soweit sie unter den ungünstigen Verhältnissen möglich war) zu verbreiten, das konnte ich mir daher sparen. Desto eingehender wurde die Ernährungsfrage erörtert. Ich erklärte: ich gebe das Geld, und Ihr sorgt für das Essen!
Der Ungar arbeitete häufig in der Stadt, in der Regel bei der Straßenreinigung; sie wurde durch Sträflinge besorgt. Da hatte er Gelegenheit, Fleisch oder was es sonst gab, mitzubringen. Zum Glück war alles noch verhältnismäßig billig. Ging es nicht, in der Stadt einzukaufen, dann wurde dem Gefängniskoch das Nötige abgehandelt. Die anderen Insassen bekamen dann mindestens um so viel weniger, als wir erstanden hatten, und wir kauften nicht wenig. Rechnet man hinzu, was das Küchenpersonal über seine Portion hinaus verschlang, was vielleicht sonstige Interessenten noch erhielten, dann wird man sich ungefähr eine Vorstellung davon machen können, wie groß schließlich die Portionen sein mußten, die zur Verteilung gelangten. Ich hatte erst meine Bedenken, ob ich die Gefängnisinsassen dadurch schädigen sollte, daß ich ihnen wegaß, was sie andernfalls vielleicht bekommen hätten. Ich wußte, was hungern heißt: die zweihundert Fastentage im Jahr und der in der fastenfreien Zeit ein- bis zweimal in der Woche verabreichte eine Brocken Fleisch, die hatten es mir beigebracht. Aber ich war Feind! Was war den Russen gleichgültiger, als wenn ich krepierte! Dazu aber durfte ich keinesfalls beitragen. Das Gegenteil hatte ich zu tun, denn Rußland focht noch immer gegen uns. Weil ich dem Gegner hatte schaden wollen, war ich verurteilt worden. Also konnte ich ihm getrost weiter schaden. Der Ungar und der Maikäfer sorgten für das schönste Essen. Natürlich waren es keine Leckereien, die es gab, immerhin aber ein anständiges Mahl.
Es war nicht vorauszusehen, wann ungefähr die Bestätigung meiner Angaben eintreffen konnte, wohl aber konnten wir uns an den Fingern abzählen, daß mein Geld längstens für drei Wochen reichen würde. Mir blieb daher nichts anderes übrig, als eine Geldquelle zu finden. Mit Genehmigung des Staatsanwalts schrieb und telegraphierte ich an die Schwedische Gesandtschaft. Acht Tage später erhielt ich die erbetenen fünfhundert Rubel telegraphisch.
Die Verhältnisse haben mich später wiederholt gezwungen, schwedische Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, und immer wieder hatte ich Gelegenheit, die Tatkraft, Umsicht und nimmermüde und selbstlose Hilfsbereitschaft der schwedischen Vertreter zu bewundern. Das waren ganze Männer und ganze Frauen! Zu ganz besonderem Danke aber bin ich dem Grafen Bonde und den Herren seines engeren Stabes verpflichtet, und in lebhafter Erinnerung steht mir der Genuß, den ich empfand, als ich im fernen Osten mit zwei leibhaftigen Damen, Frau v. Heidenstam und Fräulein Brandström einige Minuten verplaudern durfte.
Niemals werden Worte allein es vermögen, Deutschlands Dankesschuld an Schweden abzutragen. Schweden hat als Vertreter deutscher Interessen in Rußland unendlich viel getan. –
Nicht allein die Zubereitung des Essens war eine freiwillig übernommene Aufgabe des Maikäfers, er betrachtete es auch als selbstverständlich, die Reinigung meiner Zelle und meiner Kleider zu übernehmen. Das war mir nicht nur angenehm, es hatte auch die Wirkung, zunächst wenigstens im Bereich des Gefängnisses, alle die Gerüchte Lügen zu strafen, die den deutschen Soldaten als das beklagenswerte Opfer der unmenschlichen Brutalität seiner Offiziere hinstellten, denen er nur widerwillig und aus Furcht vor Strafe folge. »Glaubt Ihr denn,« fragte mein Maikäfer die Russen auf eine Anzapfung hin, »daß wir deutsche Soldaten erbärmlich genug sind, unsere Offiziere aufsitzen zu lassen, wenn sie in Not sind? Glaubt Ihr denn, wir machten das so wie Ihr? Wir!«
An vielem war zu merken, daß der Garde-Füsilier weder in der Etappe, noch in der Heimat gesessen, sondern in der Front gefochten hatte. »Da war bis heute auch ein Offizier hier, Herr Oberleutnant,« erzählte er, »aber ich glaube, das war gar kein Offizier. Er ist mit einem Transport gekommen und war längere Zeit hier im Lazarett. Vor ein paar Tagen ist er dann hier eingeliefert worden und heute morgen mit dem Schub nach Irkutsk gegangen.« – »Wie hieß er?« fragte ich. »Von Strenger.« Das Spionagebüro fiel mir ein. »Wie kommen Sie darauf,« forschte ich weiter. »Ja, Herr Oberleutnant, wie soll ich das so sagen. So wie unsere Offiziere war er nicht. Das fühlt man, was ein Offizier ist; aber sagen kann man es schlecht. Und auch so.« Also das ›Und-Auch-So‹ fehlte bei näherem Zusehen. Gerade das, was den Offizier ausmacht. Wie soll ich es erklären? Es ist dasselbe, nur in anderer Form, das aus der Frau die Dame macht; dasselbe, das nach Schlieffens Wort den General zum Feldherrn werden läßt: es war der Funke, der sich im Genie entzündet, in dessen Schatten das Talent gedeiht. Das ›Und-Auch-So‹, das wird so mancher heute nicht besitzen: wir sind im dritten Kriegsjahr! dachte ich.
»Er wußte nicht einmal, was ich meinte, als ich auf seine Frage sagte: ich bin Maikäfer! Aber er hat ins Lager raufgeschrieben und Geld und Wäsche, eine Uniform und Kaffee, Zucker und Kakao von dort bekommen. Da wurde ich wieder irre. Der Janos hat den Brief besorgt, und ein Leutnant v. Gayl hat alles hergeschickt. Sie hätten ihm doch nichts geschickt, wenn er keiner gewesen wäre.« – »Gayl?« fragte ich, »vom 1. Garde-Regiment?« – ›Ich kenne ihn sehr gut,‹ hat der Leutnant von Strenger erzählt, ›denn wir sind in derselben Brigade gewesen‹; »aber, Herr Oberleutnant, das kann doch nicht gut sein, denn wir haben in der Instruktion gelernt: eins und drei sind zusammen und Elisabeth und Alexander.« – »Sie haben recht,« erwiderte ich, »der Strenger war ein Schwindler; das ist mir jetzt klar. Mich hat er auch hereingelegt. Vielleicht kann ich ihm noch das Handwerk legen.« – »Haben Sie sonst noch was vom Leutnant v. Gayl gehört,« fragte ich. »O ja, der hat schon zweimal einen Fluchtversuch gemacht, ist aber beide Male erwischt worden.« Todsicher, das war er: ebensoviel Pech wie Schneid, das gab's nur einmal in der Armee.
Ich schrieb an ihn, berichtete von Ruville und mir. Janos besorgte den Brief. Die Antwort traf mich nicht mehr an. Ich hätte sonst erfahren, daß im Lager Ruville war. –
Ich kann der oberen Natschalstwo des Krasnojarsker Gefängnisses das Zeugnis ausstellen, daß sie durchaus Verständnis für meine Lage hatte. Man darf als Feind den guten Willen des Gegners nicht für sich in Anspruch nehmen wollen. Mich auf einstweilen eigene Verantwortung ins Offizierlager zu stecken, wie ich vorgeschlagen, das wollten weder Prokuror noch Natschalnik. Meine Angaben – siehe Strenger – konnten ebensogut erlogen sein. An der Echtheit meines Signalements war leider nicht zu zweifeln. Wenn ich aber lieber nach Irkutsk ins Gefängnis wollte, um dann von dort aus zu versuchen, weiterzukommen, da wollten sie mir keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Auf nach Irkutsk! Vielleicht war dort die Aussicht größer, endlich aus der Gefängnismisere herauszukommen.
Ich nahm herzlichen Abschied von dem Maikäfer und dem Ungarn. So gut ich konnte, sorgte ich für die zwei. In dem Gardefüsilier hatte ich einen durch und durch anständigen Menschen und furchtlosen Soldaten kennengelernt: wenn ich seinen Namen unterschlage, so geschieht es aus dem einfachen Grunde, weil ich ihn vergessen habe. –