Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Lenins möbliertes Zimmer

Die Spiegelgasse buckelt sich aufwärts und seitwärts, sie ist eng, daß selbst ein Handkarren nicht durchfahren könnte, und wenn sie auch anfangs Miene macht, den Züricher Berg zu erklimmen, so muß sie doch dieses Beginnen auf halbem Wege aufgeben und sich wieder senken, ohne den Fenstern ihrer Häuschen eine Aussicht auf die Wellen des Limmat, auf die kristallene Unendlichkeit des Sees und die blaugrünen Bergwälder zu gewähren. Hier wohnen keine Touristen, keine Vergnügungsreisenden, hier sind kleine Handwerker und Arbeiter ansässig, hier hat Wladimir Iljitsch Uljanow gelebt, in Sozialistenkreisen unter dem Namen Lenin bekannt, von den Fraktionsgenossen verehrt, von den anderen wegen seiner Konsequenz und Konzessionslosigkeit belächelt – ein Mathematiker der Utopie, ein Narr, der Details für eine Diktatur des Proletariats ausrechnete, als ob die Romanows gewillt seien, sich ihres seit Jahrhunderten ererbten Thrones wegen dieser Berechnungen eines Exilierten zu entäußern und den Kreml zu verlassen, damit dort der Untermieter eines Züricher Flickschusters einziehen könne . . .

Ja, Herr T. Kammerer ist ein Flickschuster; ich habe seine Bekanntschaft gemacht, indem ich seinen Laden in der Spiegelgasse aufsuchte, um meine Stiefel ausbessern zu lassen. Nachdem er die Arbeit mit achtzig Rappen bewertet hatte, zog ich die Schuhe aus, er stülpte sie über den Leisten, und das Gespräch konnte nun leicht auf den Mieter gelenkt werden, der anderthalb Jahre, von Anfang 1916 bis zum April 1917, bei ihm logiert hat, im Hause neben der Schusterwerkstätte, Spiegelgasse 14, oben im zweiten Stock. Meister Kammerer hat die Wohnung zum Maitermin 1917 gekündigt und ist in die Culmannstraße übergesiedelt, wo er für Herrn und Frau Uljanow gleichfalls ein Zimmerchen reservierte.

»Es ist leider nicht dazu gekommen«, erklärt der Schuhmacher, »am 8. April 1917 hat mir Herr Uljanow mitgeteilt, daß er gleich abreisen muß. Ich hab ihm geantwortet: ›Das Zimmer ist doch bis zum 1. Mai bezahlt, warum wollen Sie jetzt schon weg?‹ Er hat dringend in Rußland zu tun, sagte er mir darauf. Na, ich hab den Kopf geschüttelt, denn daß jemand die Miete für einen halben Monat verfallen läßt, noch dazu, wenn man kein überflüssiges Geld hat wie Herr Uljanow, ist sehr komisch, das müssen Sie doch selbst zugeben. Was er für ein Mieter war, der Herr Uljanow? Mein Gott, ich war zufrieden mit ihm, achtundzwanzig Franken hat er monatlich für das Zimmer bezahlt, das war genug im Krieg, heute würde es mehr kosten, fünfunddreißig bis vierzig Franken mindestens, und er hat uns nicht viel zu schaffen gegeben. Küchenbenutzung war ausgemacht, Frau Uljanow hat gekocht, meistens Eier, soviel Pfeffer hat sie daraufgestreut, und Tee haben sie immer getrunken. Herr Uljanow hat den ganzen lieben Tag am Tisch gesessen, Bücher gelesen und Zeitungen und bis spät in die Nacht hinein geschrieben. Jesus, hat der Briefe und Zeitungen bekommen! Sehen Sie, dieser Winkel war täglich voll, und Herr Uljanow hat sie geholt, damit der Postbote nicht so oft die Treppen steigen muß.«

Der Winkel ist die Ecke eines Regals gleich neben der Tür, eine Reihe alter Pappkartons mit der Aufschrift »Bottines« liegt unten, und darüber ist Raum genug, Briefe und Berichte von Gorki, von Bucharin, von Sinowjew, von Rosa Luxemburg, von Tschitscherin und Radek aufzunehmen.

»Manche Briefe waren an ›Lenin‹ adressiert, und ich hab die Frau Uljanow gefragt, wieso das kommt, da hat sie mir erklärt, ›wir sind russische Flüchtlinge, und das ist ein angenommener Namen‹ – ›gut‹, hab ich gesagt, ›das geht mich nichts an, Sie sind beim Meldeamt eingetragen, alles andere kümmert mich nicht‹.«

Herr Kammerer sitzt auf dem Schemel und hämmert auf den Absatz meines Stiefels, sein jüngster Sohn hockt, mit der Ahle hantierend, neben ihm. »Wie sie weggezogen sind, Herr Uljanow und seine Frau, hab ich eine Unmenge von Schriften und Zeitungen verbrannt, einen ganzen Berg, ich konnt's ja nicht in die neue Wohnung mitnehmen, und daß er ein so großes Tier in Rußland wird, hätte ich nie gedacht, das schwöre ich Ihnen. Zum Abschied habe ich ihm Glück gewünscht und ihm gesagt: ›Hoffentlich werden Sie in Rußland nicht so viel arbeiten müssen wie hier, Herr Uljanow!‹ Da hat er nachdenklich geantwortet: ›Ich glaube, Herr Kammerer, ich werde in Petersburg noch mehr Arbeit haben.‹ – ›Na, na‹, hab ich darauf gemeint, ›mehr schreiben als hier können Sie ja gar nicht. Werden Sie denn gleich ein Zimmer finden in Rußland, dort soll doch große Wohnungsnot sein?‹ – ›Ein Zimmer krieg ich jedenfalls‹, hat der Herr Uljanow zu mir gesprochen, ›aber ob es so still sein wird wie bei Ihnen, Herr Kammerer, das weiß ich noch nicht.‹ Dann ist er halt weggefahren.«

Herr Kammerer klopft, zur Bekräftigung dieses von seinem Mieter erhaltenen Lobes, mit dem Hammer auf den Flicken, der meinen Stiefel zieren wird, nimmt das Geld entgegen, und während ich die Schuhe anziehe, zeigt er auf das Nachbarhaus. »Da oben das Fenster, dort hat Herr Uljanow sein Zimmer gehabt. Der Tapezierer Stocker wohnt jetzt drinnen.«

Abgebröckelter Mörtel kennzeichnet die Fassade, ebenerdig ist eine Gastwirtschaft »Zum Jakobsbrunnen«, die Holztreppe steil – schon mehr Leiter als Stiege. Frau Stocker führt mich in die Kammer, die Herr Kammerer an Lenin vermietet hatte. Ganz niedrig ist das Zimmerchen, man kann den Arm nicht hochstrecken, ohne die flache Decke zu berühren, drei Meter breit, kaum vier, fünf Meter lang, rechts an der Tür ein eiserner Ofen, dessen Rohr durch das ganze Zimmer geht, in der Holzverkleidung der Mauer neben dem Fenster eine eingelassene Kommode. Das Doppelbett und die vielen Heiligenbilder an den Wänden sind Eigentum der neuen Mieter, doch die Anordnung der Möbel dürfte auch früher nicht wesentlich anders gewesen sein. Dort, wo jetzt der Tisch ist, muß, denn sonst ist kein Platz da, immer ein Tisch gestanden haben in dieser dumpfigen Armeleutestube für achtundzwanzig Franken Monatsmiete, der Tisch, an dem ein Flüchtling im trüben Licht der engen Gasse saß.

 


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