Egon Erwin Kisch
Hetzjagd durch die Zeit
Egon Erwin Kisch

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Prag – Wysotschan – Paris

Von Wysotschan nach Paris geht's schnell, in kaum sieben Stunden ist man mit dem Flugzeug dort. Aber von Prag nach Wysotschan, da ziagt si der Weg! Bevor man den Paß bekommt, muß man die ältesten Steuern und die neuesten Gebühren bezahlen, Photographien beibringen, auf der Polizei warten, Gebühr über Gebühr, französisches Visum, deutsches Visum (für den Fall eines Todessturzes auf deutschem Boden) und überall den Bescheid hören: »Warte nur! Balde.«

Wenn man am Grandprioratsplatz den Paß mit dem Vermerk »Bon pour se rendre en France« doch endlich erhalten hat, dann tut einem der Aufenthalt in Prag nicht mehr weh. Man weiß: Schmeckt mir das Mittagessen beim Piskaček nicht mehr, so nachtmahle ich am selben Abend in der Maison Dorée auf dem Boulevard des Italiens . . . Und vielleicht wäre ich, den visierten Freiheitsbrief in der Tasche, aus Trägheit noch den ganzen Sommer in Prag geblieben, wenn . . . Der kleine Pilot Gaston, der zweimal in der Woche sein Flugzeug von Prag nach Warschau und wieder zurück nach Prag lenkt, zwinkerte mir am Samstag, im Vorgarten der Passagebar, vom Nebentischchen zu. »Mademoiselle Riri fliegt übermorgen nach Paris . . .« – »Allein?« – »Ja.« – Petit Gaston wußte ganz genau, daß die Tänzerin Riri meine Aufforderung, doch mit mir ein Tänzlein zu wagen, hochnäsig abgelehnt hatte. Der kleine Pilot konnte sich denken, daß ich die übermorgige Gelegenheit, die Dame kennenzulernen und womöglich im Fluge zu erobern, beim Schopfe packen werde. Aber ich habe den Petit im Verdacht einer »Petite«: daß er mir die Mitteilung nicht aus Altruismus machte. Sicherlich wollte er der Tänzerin einen Streich spielen, die für ihre Landsleute und deren Edelvaluta viel Sympathie hat, aber den kleinen Piloten nicht bei sich landen ließ, weil ihr der Generalsekretär irgendeiner französischen Einkaufsgesellschaft noch französischer, das heißt edelvalutarischer erschien.

In der Kanzlei der Französisch-Rumänischen Luftschifffahrtsgesellschaft holte ich mir mein Billett. Mein Vermögen wechselte ich in Franken um, da jeder Passagier nur fünfzehn Kilogramm Gepäck mitnehmen darf. Um halb elf Uhr vormittags war ich mit meinem Koffer im Büro der Aérienne. Einige Pakete mit Gablonzer Ware und ein Kollo mit Briefen wurden dort abgegeben.

Im Auto der Gesellschaft fuhren wir nach Wysotschan, auf das Flugfeld von Kbell, der Direktor der Franco-Roumaine, der jeden Aeroplan abfertigt, ein Beamter, der heute in Straßburg sein muß und mit den Postpaketen in einem eigenen Flugzeug hinfährt, und meine Wenigkeit; Mademoiselle Riri hatte erklärt, direkt auf das Flugfeld zu kommen. Draußen: eine Baracke für Büro, Post, Paßabfertigung, Zollrevision, alles noch etwas primitiv. Man pickt auf meinen Koffer eine Vignette mit blau-roter, dreieckiger Flagge und den Buchstaben FRA. Darüber freue ich mich, denn es ist unendlich lange her, seit mein Koffer mit solchen papierenen Ehrenzeichen beklebt war, zur Erinnerung an schöne Reisen und schöne Stationen. Sieben magere Jahre sind vergangen (auf den Tornister hat man keine Vignetten geklebt), aber jetzt kommt hoffentlich wieder deine Zeit, mein Kofferchen, und man wird dich wieder mit bunten Zetteln schmücken!

Mademoiselle Riri und ihr Generalsekretär waren schon da. Sie trug weißen Crêpe Georgette mit einem Spitzenvolant und machte wieder ihr hochnäsiges Gesicht, als ob ich für sie Luft wäre – aber man soll die Luft nicht unterschätzen, wenn man ins Aero steigt. Ich schaute sie überhaupt nicht an, um den Generalsekretär nicht vorzeitig aufmerksam zu machen. Er brachte ihr aus der Kantine ein Glas Zitronenlimonade, und da es heiß war, hatte ich große Lust, auch eine zu trinken. Aber man hatte mir eingeschärft, zwei Stunden vor dem Start nichts mehr zu essen und nichts mehr zu trinken, und so ließ ich es sein. Unser Vehikel hatte eine zweisitzige Limousine mit gewölbtem Blechdach, in dem zwei gläserne Schiebefenster waren. Über eine angelegte Holztreppe stieg Mademoiselle Riri ein (ja richtig, sie hatte außer dem Crêpe Georgette auch lange, sehr lange weiße Seidenstrümpfe), setzte sich auf ein Stockerl und mochte neugierig warten, wer ihr Partner sein werde. Nach einer Spannungspause schwebte ich, geradezu elastischen Schrittes, auf das Fallreep, warf oben in weitem Bogen die Zigarette weg, da man im Abteil nicht rauchen darf, und sprang neben Mademoiselle Riri in die Badewanne – wie die Pariser sagen: jako by nic.

Das Dach der Limousine wird zugeklappt, das Schiebefenster geöffnet, der Einkaufsgeneralsekretär von Riri macht ein langes Gesicht, der Pilot kurbelt an, die Dame schwenkt ihr reines Taschentuch, ich hingegen das meinige, der Propeller beginnt Krawall zu schlagen, das Flugzeug jagt über das Feld wie ein einbeiniger Storch, hebt sich in die Höhe, macht eine schöne Schleife, ich stecke meinen Kopf durchs Fenster und grüße mit leutseliger Handbewegung den Generalsekretär von Mademoiselle Riri, der Apparat schwingt sich noch höher, der Magen der Dame auch, ihre Zitronenlimonade auf meine Hosen, sie entschuldigt sich mit einer bedauernden Gebärde (denn das gesprochene Wort ist natürlich nicht zu hören), und ich wische die Limonade von meinen Hosen und von ihrem Spitzenvolant, ruhig, wie sich's für einen alten Aviatiker geziemt. (Denn ein Aviatiker – vom lateinischen avis – ist nicht bloß der Pilot, sondern jeder Passagier.)

Wir fliegen über den Holleschowitzer Hafen und haben das Glück, ihn in vollem Betriebe zu sehen, das wogende Hafenleben von der Höhe herab bewundern zu können: Es fährt nämlich gerade ein Mañásek hinaus, der Seelentränker eines Knaben in Schwimmhosen. Über Karolinenthal bis nahe zum Josefsplatz – das Repräsentationshaus sieht von oben genauso schön aus wie von unten – über die Weinberge hin. »Wär's nicht näher durch die Heinrichsgasse?« möchte ich dem Piloten zurufen, der vor der Badewanne sitzt und den wir nicht hören und nicht sehen. Er aber, er kann auch uns nicht sehen und nicht hören, Mademoiselle Riri, ist das nicht fein?

Die Schwimmschulen sind wie winzige Bilderrahmen, an einer Wand hängend, auf dem Schittkauer Wehr sind kleine gelbe Flecke; das sind Männer und Frauen im Badekostüm, und ich weiß auch, welch saubere Reden sie dort führen, und spucke entrüstet hinunter auf das Gesindel; das Flugzeug steigt etwas höher, grüne Rechtecke, gelbe Rechtecke, von weißen Linien durchzogen, sind rechts und links von uns die Felder und Straßen hinter Zlichow; der Apparat schaukelt ein wenig, Mademoiselle Riri fällt in meine Arme, ich halte sie fest . . . Während der Mann am vorderen Volant – dem des Apparates – in eine kühle Höhe von etwa sechshundert Metern geht, sind wir bereits im Himmel; und als ich wieder hinunterblicke, ob wir vielleicht schon über Radlitz sind, sehe ich erstaunt die scharfkantige Kontur von – Stuttgart unter mir. Bald darauf fahren wir ein grauglitzerndes Band entlang. »C'est le Rhin«, rufe ich meiner Freundin zu, ohne allzusehr schreien zu müssen, denn jetzt weiß ich, daß sie, die unten nichts von mir hören wollte, mir hier oben willig Gehör schenkt.

Zu Straßburg auf der Schanz, auf dem sogenannten Oktogon von Neuhof, schwingt sich unser Apparat wieder zur Erde nieder. Wir kriechen hinaus, ich stelle mich artig meiner Begleiterin vor, damit sie weiß, mit wem sie das Vergnügen gehabt hat. Unsere Pässe werden vidiert: »Vu à l'entrée en France par avion; Strasbourg, le 1er août; l'inspecteur de police spéciale: E. Minker.« Auch Zollrevision ist, und mein Koffer kriegt noch ein Zettelchen.

Unser neuer Wagen und drei neue Passagiere warten bereits vor der Tafel, die die Windverhältnisse in Prag, Tabor, Eger und Varsovie anzeigt, und wir steigen ein. Die Limousine ist wieder Type Potez, aber bedeutend größer, für fünf Personen berechnet, und für eine sechste ist neben dem Piloten Platz, der nun auf einem erhöhten Sitze hinter uns ist. Rundfenster auf den Seiten, eine verschließbare Luke über unserem Kopf. Die Korbsessel tragen Riemen, mit denen man sich festschnallen kann, jedoch wir machen keinen Gebrauch von ihnen, sondern klettern abwechselnd auf den Aussichtsplatz neben dem »Chauffeur«, zuerst natürlich Riri.

Eine Abflußöffnung ist nirgends im Boden zu sehen, auch kein Spucknapf oder etwas Ähnliches, für den Fall, daß dem Luftschiffer etwas passieren sollte, wie zum Beispiel meiner Riri mit ihrer Zitronenlimonade. Aber es passiert nichts. Ein paarmal schieben sich schwarze Wegelagerer (oder wenn man will: Wolkenlagerer) auf unsere Strecke, wir springen über sie hinweg oder fahren mitten durch sie, es wird schnell wieder hell, Riri baumelt mit den Füßen, die andern lesen die Zeitung, der Pilot hat den kardanisch gehängten Kompaß neben sich und fährt nach O, was aber nicht Osten ist, sondern ganz im Gegenteil »Ouest«. Unter uns haben Kinder Ritterburgen, Festungen und Städte aufgestellt und aus winzigen Zweigen Gärtchen dazu errichtet, Nancy, Avricourt, Frouard, Châlons, Epernay, dann sieht man in fernen Dünsten den Eiffelturm; eine Abwärtsschwingung des Apparates, ein Gleiten auf weitem Feld, ein Geruch von verbranntem Öl, ein Halten knapp vor dem Hangar der FRA in Le Bourget, dem Aërogare, dem großen Fliegerzentrum des Kontinents Europa. Ein Beamter nimmt die Flugbilletts ab, Autotaxi der Gesellschaft stehen bereit, und ich fahre mit Riri durch die Rue de Flandre, über den Boulevard Strasbourg, den Boulevard Sébastopol, versinkend in einem Wellenstrom des Lichts, durch die Rue de Rivoli – wann fuhr ich von Wysotschan ab, vor sieben Stunden oder vor sieben Jahren? –, durch das Louvre-Tor über den Place du Caroussel, Quai des Tuileries, Pont des Arts und über die glitzernde Seine durch Paris, durch Paris!!

 


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