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Auf der Alm, da gibt's ka Sünd, und Verbrechen schon gar nicht, das wäre ja noch schöner, sanft weidet das Lämmlein, »how lovely«, flötet die Amerikanerin, gutmütig glotzt Rindvieh die Touristen an, jodeln tut die Sennerin, wie ist der Älpler, bieder ist der Älpler, unschuldsweiß strahlen die Gipfel, wunschlos lebt es sich in der Hütte, golden geht die Sonne auf, reichlich grünen die Matten, Edelweiß und Alpenrose sind schön, kindlich murmeln die Bächlein, Friede zieht dir ins Herz hinein und so weiter. Und kommt man nach Bern, ist es beinahe noch idyllischer, ein naives Volk freut sich stundenlang der Bären im Zwinger, Redner der Heilsarmee und frommer Sekten sprechen sonntags auf den Plätzen; Lauben, Brunnen, Wahrzeichen der Häuser und Traditionen der Bürger und gar der Burger sind jahrhundertealt, in der rechten Laube spazieren die ledigen Leute, Studenten, höhere Töchter, Hörerinnen der Hotelschule, die »verheiratete Laube« gegenüber dient den Eiligen. Ja, das Berner Oberland ist einfach und ehrlich, in Stadt und Land, und nur aus Prinzipienreiterei bin ich diesmal meinem alten Grundsatz nicht untreu geworden, in jeder Stadt das Polizeimuseum zu besuchen. Wie armselig muß die Sammlung kriminalistischer Dinge sein in dieser glücklichen Welt, dachte ich, was kann schon darin sein, das Apothekchen eines Kurpfuschers, Stöcke, mit denen sich Burschen bei der Kirchweih geprügelt haben, und vielleicht die Liebestropfen einer Berghexe? Dachte ich . . .
. . . und sah Bilder und Andenken an Mord und Totschlag. Da ist der Fall des Kaufmannes Grieder am Kornhausplatz in Bern; er rüstete die Hausierer aus, die mit Kurzwaren in die einsamen Bauernhütten kraxeln, um dort ihre Schätze auszubreiten, zu handeln, mit Milch und Brot bewirtet zu werden und mit einem »Vergelt's Gott« weiterzuziehen. Solche biederen Hausierer bezogen also vom Kaufmann Grieder ihre Waren, bis ihn 1914 in seinem Laden solch ein biederer Hausierer namens Witwer mit Hammer und Messergriff erschlug, daß Blut und Hirn auf die Schachteln spritzten, wie hier noch zu sehen ist; mit reichem Raub entfloh der Täter, binnen kurzem aber wurde er verhaftet. Nicht jeder läßt sich so leicht festnehmen; der Browning liegt in der Vitrine, mit dem der Einbrecher Neukomm 1923 im Wald bei Lotzwyl einen Landjäger tödlich traf, und ein hübsches Bauernhaus von Feisau bei Brenngarten ist in effigie da, das eines Wilderers, der es mit dem ihn arretierenden Gendarmen ebenso machte. Auf dem Gsteig im Saanengebiet, zweitausend Meter hoch, schleppt sich, mehrfach verwundet, ein Jäger zur Sennhütte – er stirbt mit der Angabe, daß zwei Burschen gegen ihn gefeuert haben, die er wegen Wilderns stellen wollte; die Täter wurden nie erwischt. Vor zwei Jahren erregte das Verbrechen auf dem Säntis Aufsehen in der alpinen Welt: Der Hüttenwart und seine Frau wurden von einem Tiroler Bergführer erschlagen und beraubt; drei Wochen vermochte der Täter, aller Verfolgungen spottend, in den unwegsamsten Höhen verborgen zu bleiben; schließlich ging ihm der Proviant aus, und er erhängte sich an einer Felszacke. Selbst gerichtet hat sich auch der Handlungsgehilfe Gnauck, er hat 1922 Raubmord an einem Konfektionär in Bern verübt, flüchtete in einem Mietauto, nachdem er den Chauffeur an einsamer Stelle des Waldes verwundete, und erschoß sich in Solothurn. In der Kantonalen Strafanstalt zu Thorberg büßen Mörder ihre Taten ab. Der Händler Alfred Grasser, der hoch oben im Jura, auf der Plagne, eine verheiratete Frau durch drei Schüsse entleibte, um sie loszuwerden, und sein Gegenspieler, der Franzose Delacour, der auf einer Tour im Berner Oberland seinen Freund Cerisier umbrachte, um dessen Frau heiraten zu können. Im gleichen Zuchthaus versucht ein Mann namens Kern, Mörder einer Wirtin in der Genfer Gasse zu Bern, immerfort neue Ausbrüche, trotzdem seine Zelle betoniert und besonders bewacht ist. Vielleicht ist sein Vorbild jener Pole Makowsky, dessen Ausbruchswerkzeuge der Clou des Berner Polizeimuseums sind: Mit nichts als einer Schere und einem Eisenstück, das ihm beim Garnhaspeln in der Einzelzelle zum Beschweren des Fadens diente, hat er aus seiner Suppenschale eine ganze Garnitur vollkommenster Schlüssel mit kompliziertem Bart und ausgearbeitetem Griff für die Zelle, für die Barrieren, die den Korridor sperren, und für das Anstaltstor hergestellt und ging von dannen; erst nach Monaten erwischte man ihn mitsamt seinen Fabrikaten, gegen die alle anderen Diebeshaken und Einbruchsinstrumente hier – Dietriche von Bern! – armselige Stümperarbeit sind.
Totschläge an Wildhütern (Racheakt oder Vereitelung der Festnahme) sind in den Bergen nichts Seltenes, ebensowenig Raufhändel mit tödlichem Ausgang, und die Polizei hat Auftrag, jedem verdächtigen Todesfall nachzugehen. Photographien dieser Tatbestände sind von ganz anderer Art als die der großstädtischen Polizeibehörden: Ein auf der Bergstraße aufgefundener Leichnam zum Beispiel schien auf eine Rückgratzertrümmerung durch Stockhiebe hinzuweisen, aber die Spurenaufnahme ergab, daß der Mann in Mietholz bei Kantergrund auf Eis geraten und ins Rutschen gekommen war, dreimal mit dem Körper an Baumstämme schlagend, und schließlich mitten auf dem Karrenweg liegenblieb. Ähnliche Ergebnisse zeitigte die kriminalistische Untersuchung an der Leiche einer Medizinerin aus Berlin, auf die 1923 Holzfäller bei Bad Weißenburg stießen, und der eines Schusters aus Thun, der beim Pflücken von Alpenveilchen auf der Wimmisseite des Niesen abgestürzt war.
Allen Vermißten muß nachgeforscht werden, die Landjäger des Oberlands haben Steigeisen, Skier und Seile. Knapp vor dem Krieg ging ein Student aus Pommern vom Jungfraugipfel gegen Fiesch und kehrte nicht zurück. Man hatte große Geldsummen bei ihm gesehen, und das Gerücht eines von Führern begangenen Raubmordes wollte nicht verstummen. Eine Führerkolonne machte sich auf, ihn zu suchen. Vergeblich. Er war damals in eine Gletscherspalte gefallen, und durch die Abwärtsbewegung des Gletschers trat erst nach elf Jahren die Leiche zutage, Körper, Gesicht und Kleider unversehrt, nur die rechte Hand hatten Füchse abgefressen. In der Tasche des Verunglückten lagen seine Papiere und der Geldbetrag in Schweizer Franken. Die Eltern, die alljährlich in die Gegend gereist waren, um dem unbekannten Grabe des Sohnes nahe zu sein, kamen in dem Augenblick vorüber, als man ihn fand . . .
Manchmal bewahrt der Gletscher seine Beute dreißig Jahre lang, und so ist die Hoffnung nicht aufzugeben, daß man auch noch Georg Winklers Leiche entdecken wird, jenes berühmten jungen Alpinisten, Ersteigers des Winklerturmes in der Rosengartengruppe und des Winklerweges auf der Cima di Madonna, der in den Neunzigerjahren an der Ostwand des Weißhorns in den Schrund gestürzt ist.
Natürlich kann hier oben in den Bergen manches Verbrechen ungesühnt bleiben, wer vermöchte zu sagen, ob es ein Fehltritt oder der Stoß des Begleiters war, was einen Unglücklichen über den Grat riß?
Sehr zahlreich sind Corpora delicti von Wilddieben, Vogelstellern und Fischfrevlern vertreten, Stockflinten, meist Eigenbau, mit dem Lauf ausrangierter Vetterligewehre der Miliz, zusammenlegbare Stutzen, Vogelfallen, die man aus dem Fenster steckt, um Distelfinken und Goldammern zu fangen, Gewehre für Gemsen, Rehe, Steinwild und Hasen, Klemmen und Schlingen für Füchse, Dachse und Murmeltiere, verbotene Doppelangeln und Netze mit zu engen Maschen, womit in der Aare und in der Emme, im Thuner und Brienzer See Lachs und Forellen gefischt werden. Auch von Brandstiftungen bleibt die höchste Region nicht verschont, in der Einsamkeit werden Falschmünzerwerkstätten etabliert, und das Museum bewahrt die Apparatur eines Baders zu Biel auf, der Sennerinnen von Folgen der »Sünde« half.
Das alles hätte ich hier beileibe nicht vermutet, als ich wie eingangs erwähnt, ohne Laune und bloß aus Prinzip das Kriminalmuseum betrat, und ich bin benommen von den Dramen des Hasses und Blutvergießens, die sich hinter den idyllischen Kulissen abspielen, in den zuhöchst erhabenen Erdenwinkeln. Ich kann nun wieder hinausgehen aufs Schänzli, den Blick auf Wälder und Berg zu richten und auf die Hütten, in denen man Friede und Sitte zu Hause glaubt, die Sonne geht unter, alles strahlt in glücklichem Schein. Aber der täuscht mich nicht mehr.