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Schwer hatten die Bewohner Orsovas am Kriege zu leiden. Zwar schützte die Donau, eingedenk des Umstandes, daß sich ihr Lebenslauf fast ganz im österreichisch-ungarischen Staate abspielte, das äußerste Städtchen der Monarchie vor dem Herüberkommen der Serben, deren Gewehrprojektile fanden über das sechshundert Meter breite Strombett kein sicheres Ziel, nur Fensterscheiben fielen den Übungen serbischer Schützen zum Opfer, und die vielen Löcher in den Holzwänden der Hafenmagazine sind kein Unglück. Um so heftiger waren die Kanonen, in den hohen Waldungen von Tekija aufgefahren; sie tasteten das Nordviertel der Stadt ab, wo sie die Staatsbahnstation, die Petroleumfabrik und das Elektrizitätswerk wußten, und am 12. September 1914 steckte auch richtig ein Volltreffer das Bahnhofsgebäude in Brand. Französische Flieger warfen Bomben.
Die Züge mußten schon vor der Stadt, beim Wächterhäuschen 100, Endstation machen, Passagiere und Gepäckträger hatten einen weiten Weg zu Fuß. Tot war der Hafen. Von den Bewohnern Orsovas, die bei Schiffahrtsgesellschaften angestellt oder sonst vom Transportwesen abhängig sind, war die Mehrheit beschäftigungslos geworden. Fünfzehn Monate lang brannte in den Straßen keine Laterne, fünfzehn Monate lang durfte man in keinem Hause Licht anzünden, fünfzehn Monate lang mußte die Bevölkerung mancher Stadtteile in Kellern nächtigen, um nicht schlafend von einem Geschoß zerfetzt zu werden. Zur Zeit der Kukuruzernte trat die Czerna, die hier in die Donau mündet, aus den Ufern, Hochwasser, und die Orsovaner hatten die Wahl, in ihren unterirdischen Quartieren zu ertrinken oder in ihren Wohnungen durch Schrapnelle zu sterben – zwei Grenzmöglichkeiten, innerhalb deren es Zwischenstufen gab, wie Rheumatismus und Verwundung.
Mitte Oktober 1915 traf man Anstalten, das Städtchen zu befreien, geräuschvolle Anstalten: Österreichische Kanonen feuerten in beängstigend kurzen Intervallen gegen Süden, Granaten eines Zweiundvierzigzentimetermörsers flogen über den Strom, daß die Luft und die Donau bebten. Drüben barsten die Gipfel der Hügel, in die Bergwälder wurden Lichtungen gerissen, das Feuer vom anderen Ufer verstummte. Deutsche Truppen kamen. Am 23. Oktober, morgens um neun Uhr (zwei Stunden vorher war, durch drei Mörserschüsse eingeleitet, ein mörderisches Bombardement losgegangen), übersetzten Mackensens Soldaten die Donau. Ganz Orsova sah von den Anhöhen den Pionieren zu, die Pontons in der reißenden Strömung serbenwärts bewegten. Der erste stieß ans gegnerische Ufer, ein schwarzer Fleck, der sich im Nu in Punkte auflöste – die Passagiere schwärmten aus und rückten vor. Auf Zillen, landesüblichen Kähnen und auf dem bislang hinter Ada Kaleh versteckt gelegenen Dampferchen »Sellö« folgten weitere Soldaten und verschwanden in den Forsten des Longtomberges und des Hügels mit dem serbischen Fort »Elisabeth«, das die Donau über das Eiserne Tor hinaus und stromaufwärts zur Felsenenge von Kasan beherrscht. Je zwei Pontons, durch Bretter miteinander verbunden, auf denen Pferde standen, brachten die Maschinengewehrabteilungen. Die Orsovaner lauschten dem Schießen, bis sich dort oben am Kamm, dessen Konturen von aufgeworfenen Schützengräben nachdunkelten, ganze Figuren zeigten: Die Höhen waren erklommen, die Pontons kehrten mit verwundeten Serben, Österreichern, Deutschen und Ungarn zurück, und mittags führte schon ein Telefonkabel aus Serbien in die Monarchie.
Am Abend brennen in den Straßen Orsovas zum erstenmal seit nahezu anderthalb Jahren die Glühlampen, in den Gasthäusern spielen Zigeunerkapellen, Bürger holen ihre Betten aus den Kellern und brechen die Holzverschalung der Fenster ab, Eisenbahnzüge fahren wieder in die Bahnhofshalle ein und von dort weiter bis zur alten Endstation Verciorova in Rumänien.
Ein Telegramm meldet, die erste bulgarische Armee habe den Anschluß an die österreichischen und die deutschen Truppen bei Kladova vollzogen, gerade an der Stelle, von der aus die Stadt bombardiert worden war. Durch die Besetzung des Ostzipfels von Serbien ist die Stromverbindung mit Bulgarien und der Türkei frei, der Hafen von Orsova Umschlagplatz zwischen Okzident und Orient. Nie hat das letzte Donaustädtchen des Reiches einen solchen Verkehr erlebt, und nie mehr wird es ihn wieder erleben! Stromaufwärts kommen Lastdampfer und Remorqueure mit Warenkähnen, Schafwolle und anderen Rohmaterialien, die in Orsova ausgeladen und in Waggons verfrachtet werden. Vom Norden langen per Achse Tausende von Fässern und Ballen ein, Stoffe, Wäsche, Steinsalz, Zigaretten- und Pflanzenfaserpapier, Weine, Liköre, Sprit, vor allem und jedem aber die Hauptprodukte mitteleuropäischer Kultur, Munition und Waffen, und eine geheimnisvolle Neuheit: lange Eisenbehälter, die giftige Gase für den Frontkampf enthalten sollen. Das alles bringen wir nach dem Balkan. Unaufhörlich, unaufhörlich drehen sich Krane, rollen Ankerketten, pfeifen Lokomotiven, schreien Schiffssirenen, im Tageslicht und im grellen Strahl des Scheinwerfers bilden Hände wallachischer Hafenarbeiter, hierherkommandierter Soldaten, mohrenschwarzer rumänischer Zigeuner und russischer Kriegsgefangener von den Verladeräumen der Schiffe bis zu den Waggons der Lastzüge einen Paternoster, auf dem sich Pakete bewegen. Die Landungsbrücken hinab torkeln Handwagen und Karren, über und über beladen, gelöscht wird und gebunkert, verstaut und geschippt, geladen und sortiert, geheizt und gewogen, wie im größten Meereshafen zu Zeiten friedlichsten Güterverkehrs, Automobile werden von der Rampe auf die Schiffe geschoben, Schienen, Schwellen, Traversen aufwärts und abwärts getragen, Säcke und Kisten aufgeschichtet, Pferde von Fuhrkolonnen mittels Aufzügen an Bord befördert: Jeder Gaul tritt in eine schmale hohe Kiste, deren freie Wand nun durch eine Planke verschlossen wird, der Kran hebt die Bretterbude mitsamt dem wiehernden Inhalt vom Kai und senkt sie in den Laderaum, das Roß zittert und schnaubt wie »Trompette«, der Kohlengaul in »Germinal«, der in den Schacht muß.
Die Schleppkähne des Bayerischen Lloyd sind blau-weiß lackiert, und auf Deck stehen ein Holzhäuschen mit bunten Fensterläden und Vorhängen, einer Maringotte gleich, eine Speisekammer, eine Hundehütte, ein kleiner Hühnerhof, ein Schweinekoben, ein Gänsestall und ein Taubenschlag. Während die Hafenarbeiter Säcke mit Blaustein, Mais und Fellen aus dem Schiffsbauch in die Waggons umschlagen, plättet eine deutsche Steuermannsgattin, der Schifferstadt Dolna entstammend, die Familienwäsche und schilt ihre auf der Ankerkette schaukelnden Buben. Der Kontrolleur der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft, der eben in harbstem Wienerisch einem türkischen Kurier Auskunft über die Kabinen gibt, stammt aus Turn-Severin, das sich aus einer Werft der DDSG zur rumänischen Hafenstadt entwickelte – die Fremdlinge der »Mahala niemcaska«, des deutschen Viertels, sind die Ureinwohner der Stadt. Die ganze Kriegszeit hindurch mußte die Donauflottille in der Matschin, einem Seitenarm der Donau in der Dobrudscha, nahe der russischen Grenze, vor Anker liegen. Jetzt bewegen sich die Dampfer wieder fahrplanmäßig, nur sind die Passagiere größtenteils Offiziere und Soldaten mit Marschroute oder »offenem Befehl«, die keinen Fahrpreis zahlen.
Für Fußgänger ist im Hafen bloß ein Pfad zwischen Kairand und Schienenstrang. Geht man diesen Weg bei Nacht, rennt hart nebenher ein belfernder und jappender Wächterhund, aber er verläßt den Schleppkahn nicht, den er zu schützen hat, springt nicht auf den Kai, und nachdem er den Passanten von Heck zu Bug begleitet hat, übergibt er ihn der Aufsicht des nächsten Hundepostens.
Aus den Schenken und aus dem »k. u. k. Etappenstationsbordell« grölt nächtlicher Lärm. Im Monat nach der Befreiung Orsovas wurden zwölf geschlechtskranke Soldaten an das Garnisonspital Temesvár eingeliefert, im Dezember bereits dreihundertzwanzig, darunter einundachtzig Frauenspersonen und Zivilisten. Dabei ist die Zahl der Prophylaxestationen auf vier erhöht, Tag und Nacht amtieren sie, und ihre »Nichtbenutzung nach vollzogenem Beischlaf wird als Selbstverstümmelung unnachsichtlich bestraft«. Nächste Woche hört der Export nach Temesvár auf – die Volksschule, die als Unterkunft für Flüchtlinge diente, wird zu einem Spezialspital für venerisch Erkrankte eingerichtet, drei Ärzte (ein Psychiater und zwei Zahnärzte) sind schon da.
Ja, Orsova ist zum Welthafen geworden, nicht allein im Waren-, sondern auch im Personenverkehr. Reisende aus aller Herren Balkanländern kommen und gehen. Offiziere aus Bulgarien und aus der Türkei. Gefangene Serben und befreite österreichische Kriegsgefangene aus Serbien. Diplomaten. Etappenkommanden. Stäbe. Kuriere. Händler. Hochstapler. Spionierer und Spione. Ein Schwarm Kokotten, woher kamen sie so schnell? Wie glänzend klappt die Organisation, die sie dirigiert! Eine Budapester Orpheumsgesellschaft, die nur aus Frauen besteht, aber das Repertoire ihrer wahrscheinlich eingerückten Männer mit den ödesten Eindeutigkeiten zum Vortrag bringt, will ein Mädchen das Ensembles als garantierte Jungfrau an den Meistbietenden losschlagen. Viele Häuser sind für Kanzleien requiriert, der Rest der Wohnungen wird im Schleichhandel vermietet, in den Kellern wohnen Offiziersdiener und Ordonnanzen. Die aus dem Schulgebäude vertriebenen Flüchtlinge bauen eine Baracke, die befreiten Bürger der befreiten Stadt Orsova desgleichen. Tag und Nacht arbeitet die Desinfektionsanstalt, es wimmelt von Läusen und Schleichhändlern, von Schiebern, die Nahrungsmittel aufkaufen, von Schiebern, die Wohnungen besetzen, von Schiebern, die Champagner trinken, von Schiebern, die sich die Waren von schönen Gattinnen der Kaufleute nach Hause bringen lassen, von Schiebern, die in den Proviantmagazinen und auf den Schiffen tuscheln. Alles freut sich, daß Orsova befreit ist, Handel und Wandel blüht, und am 21. Januar, zwei Uhr nachmittags, erschien auch Kaiser Wilhelm II., um den Überschiffungsstellen der Truppen die historische Sanktion zu geben und um die dazische Heerfahrt zu kopieren. Allerdings war Kaiser Trajan zu Pferd dieses Weges gekommen, während sein Nachfahr den Salondampfer »Zsofia Hercegnö« der Ungarischen Fluß- und Seeschiffahrts AG benützte, gesichert und umgeben von kreuzenden Minensuchern und Motorbooten und dem Passagierschiff »Ferencz Josef Föherczeg«, die hin und her fuhren in der lachenden Hoffnung, auf eine Mine zu stoßen und solcherart ihr Leben für das des Auftraggebers alleruntertänigst zu opfern. Sechs Detektive stiegen aus dem Kaiserschiff, acht ihrer Budapester Kollegen hatten in Gemeinschaft mit der Gendarmerie und den Spitzeln der Kundschaftsstelle die Kaschemmen durchsucht und auf der Straße jedermann zur Ausweisleistung angehalten; nun standen die vereinigten Sherlock Holmese am Fallreep und lugten mit ostentativen Argusaugen nach Attentätern aus, trotzdem alle Straßen gesperrt und nur den Spitzen der Behörden und den Offizieren Zulaß zum Landungsplatz gewährt war. Se. Majestät geruhten beim Speisen zu sein und die Empfangshungrigen ein Stündchen warten zu lassen, erschienen dann, die Schneejacke über den Ohren, winkten mit einem goldgekrönten Reitstöckchen die vorbereiteten Ansprachen ab, stiegen mit bekannt elastischem Schritte ins Auto und fuhren nach Bazias. Dafür zeigten die Stewards strahlend ihr Eisernes Kreuz, das sie heute verdient. (Passend wäre die Umschrift: Ich servier.) Ausländische Kettenhändler, die keineswegs Interesse daran gehabt hätten, durch ein Attentat den langsamen Prozeß des Krieges zu stören, aber dennoch gestern in Verwahrungshaft genommen worden waren, wurden nun freigelassen und hielten sich nachts in der gastlichen Wohnung von Madame Kutzner aus Arad schadlos, auch der Großherzog von Mecklenburg, Königliche Hoheit, war da, ein junger Mensch und, fern von seinen Untertanen, durchaus kein Spielverderber.