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Ein Kasperltheater vom 10. Juni 1982 in vorläufig zwei Akten
Bühnenmeister: Meine hochverehrten Herrschaften! Ich habe die Ehre . . .
Kasperl (steckt den Kopf aus dem Vorhang): Habe die Ehre! (Verschwindet.)
Bühnenmeister (zu Kasperl): Halt' den Mund, Kasperl. (Zum Publikum): Ich habe die Ehre, ihnen den Dachgarten des Grand Hotel de Pékin vorzuführen, das Leben, das sich hier oben allabendlich entfaltet. Sie sehen den Mond über dem Dachgarten, aber die Herrschaften, die vorzuführen ich die Ehre habe . . .
Kasperl (wie oben): Habe die Ehre!
Bühnenmeister: Laß doch, laß doch, Kasperl, du bringst mich ganz aus dem Konzept. Wo bin ich denn nur stehengeblieben?
Kasperl: Auf dem Mond.
Bühnenmeister: Ja, richtig, ich sprach vom Mond. Den Mond sehen die Gäste des Dachgartens nicht, denn sie tanzen unter Guirlanden aus bunten elektrischen 262 Glühlampen. Außerdem sieht da oben jeder nur sich selbst, bis zu dem Augenblick, da der Held meines Stückes mit seiner Gefolgschaft eintreten wird. Dann werden alle auf den einen starren, alle nur von dem einen sprechen.
Kasperl: Warum werden dann alle auf den einen starren? Warum werden alle nur von dem einen sprechen? Ist er denn ein so hoher Herr?
Bühnenmeister: Nicht deshalb. Alle hier sind ja hohe Herren.
Kasperl: Natürlich sind sie hoch, wenn sie auf dem Dachgarten sind, haha!
Bühnenmeister: Du Dummkopf, es sind Prominente. Auf meiner Bühne treten nur Prominente auf, Dummkopf, du.
Kasperl: Nein, ich bin kein Dummkopf, aber du bist ein alberner Flausenmacher. (Nachäffend): »Auf meiner Bühne treten nur Prominente auf.« Wenn du gesagt hättest, der Mann mit dem Gefolge, auf den alle bei seinem Eintritt starren werden, der sei prominent, – gut. Aber daß alle prominent sind, wer soll dir denn solchen Unsinn glauben?
Bühnenmeister: Das kann ich sofort beweisen. Ich rufe einen x-beliebigen von den Herren im weißen Frack oder von den Damen in goldenen Abendtoiletten. Zum Beispiel diesen da. (Ruft hinter die Bühne): Wollen Sie, bitte, einen Augenblick vortreten. Ja, Sie! So, stellen Sie sich einmal daher und sagen Sie dem Publikum, wie Sie heißen.
Lord Lytton: Mein Name ist Lord Lytton.
Kasperl: So ein langer Lulatsch.
Bühnenmeister: Ihr Beruf, Mylord? 263
Lord Lytton: Ich habe keinen Beruf.
Bühnenmeister: Also Ihre Beschäftigung, Eure Lordschaft?
Lord Lytton: Ich habe keine Beschäftigung. Ich habe die Leitung der Völkerbundskommission.
Kasperl: Haha, hat die aber eine lange Leitung.
Bühnenmeister: Entschuldigen Sie, daß ich Sie bemüht habe, Mylord. Ich wollte nur meinem P. T. Publikum zeigen, daß ein Herr, der bald mit seinem Gefolge auftreten und hier oben Aufsehen erregen wird, nicht der einzige Prominente auf dem Dachgarten ist.
Lord Lytton: Aber ich bin unbedingt der Prominenteste, ich habe politische Weltbedeutung. Sogar mein Spazierstock ist weltbedeutend. Haben Sie nicht von meinem Spazierstock in der Zeitung gelesen?
Bühnenmeister: Jawohl, Eure Lordschaft. Ich weiß allerdings nicht, ob mein Publikum das weiß. Vielleicht haben Sie die Güte, darüber einen kurzen Bericht zu geben.
Lord Lytton: Einen Bericht, – recht gerne, dazu bin ich ja da. Also, ich habe vor ein paar Tagen eine Landpartie gemacht, und als ich nach Peking zurückkam, merkte ich, daß mein Spazierstock weg ist. Vielleicht habe ich ihn in irgendeinem Tempel vergessen. Oder ich habe ihn verloren. Möglicherweise ist er mir gestohlen worden. Jedenfalls verlautbart die Regierung, daß alle Rikschakulis, die uns gezogen haben, verhaftet sind. Großzügige Streifungen nach dem Verbleib des Spazierstocks sind angesetzt. Belohnungen für die Wiederbringung des Spazierstocks sind ausgesetzt. 264
Bühnenmeister: Von Ihnen, Lord?
Lord Lytton: Von mir? Von seiten der chinesischen Regierung selbstverständlich.
Bühnenmeister: War denn der Stock so wertvoll?
Lord Lytton: Gar nicht. Aber man kann mich doch nicht einfach bestehlen lassen! Wenn ich den Stock nicht wiederkriege, spreche ich den Japanern die Mandschurei zu.
Kasperl: Einen Stock! Ein Königreich für einen Stock!
Lord Lytton: Jawohl, die Chinesen sollen sich's nur merken. Entweder Rückgabe des Stocks oder Anerkennung der Mandschukuo.
General Mac Coy (stürzt auf die Bühne): Eure Lordschaft, ich protestiere, Sie geben hier Erklärungen ab . . . ich protestiere namens der Regierung der Vereinigten Staaten und der Vereinigten Textilindustrie von Amerika.
Lord Lytton: General Mac Coy, die amerikanische Regierung und Textilindustrie haben meinen Stock auch nicht geschützt. Wenn ich ihn nicht wiederkriege, kriegt China die Mandschurei auch nicht wieder.
General Mac Coy: Aber Eure Lordschaft, damit schwächen Sie doch die Position der Nanking-Regierung!
Lord Lytton: Geht mich nichts an. Die Nanking-Regierung hat sich weder um meinen Stock, noch um die Mandschurei gekümmert.
General Mac Coy: Bedenken Sie doch, Lord Lytton, der Sturz der Nanking-Regierung würde den Sieg der chinesischen Sowjets bedeuten! 60 Millionen Chinesen haben schon Sowjet-Verwaltung, und mindestens 265 ebensoviel sympathisieren mit ihr, weil sie die Landaufteilung durchgeführt, das Opium abgeschafft und unbestochene Behörden eingesetzt hat. Wenn Tschangkaischek jetzt fällt, haben wir ein kommunistisches China.
Lord Lytton: Um Gottes willen, da verzichte ich lieber auf meinen Stock. Kommen Sie, ich will das gleich offiziell erklären. (Beide ab.)
Bühnenmeister (zum Publikum): Sie sehen, meine Herrschaften, daß wirklich nur weltbedeutende Persönlichkeiten auf meinen ditto Brettern verkehren.
Kasperl: Ach, du Schwindler, du hast die beiden einzigen Gäste ausgesucht, die prominent sind.
Bühnenmeister: Haha, daß ich nicht lache, haha. Siehst du dort den Chinesen sitzen?
Kasperl: Den dürren dort?
Bühnenmeister: Jawohl, er hat eine hagere Gestalt, einen englischen Taufnamen und eine belgische Frau. Weißt du jetzt, wer es ist?
Kasperl: Kreuzworträtsel sind meine schwache Seite.
Bühnenmeister: Nun, er wird es dir selber sagen. (Ruft): Hallo, kommen Sie her!
Wellington Koo: Sie wünschen?
Bühnenmeister: Sagen Sie zunächst mal dem Publikum, wie Sie heißen.
Koo: Ich heiße Wellington Koo.
Bühnenmeister: Halten Sie sich für prominent?
Koo: Ich glaube, prominenter als ich kann man nicht sein. Ich war chinesischer Außenminister, gegen meine Teilnahme an der Völkerbundreise nach der 266 Mandschurei hat Japan protestiert. Und das ist alles noch nichts: ich habe bei den Versailler Friedensverhandlungen den Polen ganz Oberschlesien zugesprochen. Meine Stimme allein gab den Ausschlag.
Bühnenmeister: Sagen Sie, Exzellenz, hier unter uns – unter uns, tief unter uns liegt Peking – haben Sie dafür polnische Millionen bekommen oder hat Ihnen Ihre belgische Schwiegermutter Ihre Haltung diktiert oder wollten Sie damit die chinesischen Interessen in Oberschlesien wahren?
Koo: Darüber verweigere ich die Aussage. Jedenfalls kann ich, der ich solcherart Länder wegnehme und vergebe, mich wohl mit Recht als prominent bezeichnen. Guten Abend, meine Herrschaften. (Ab.)
Bühnenmeister: Nun, Kasperl, glaubst du mir jetzt?
Kasperl: Du scheinst da wirklich einen komischen Stall beisammen zu haben. Reite uns doch noch ein paar von den hohen Tieren vor.
Bühnenmeister: Ich kenne selbst nicht alle. (Nach hinten): Zum Beispiel diesen da. Darf ich um Ihren werten Namen bitten?
Conte Ciani: Mein Name ist Conte Ciani.
Bühnenmeister: Freut mich sehr. Darf ich Sie fragen, ob Sie prominent sind?
Conte Ciani: Magnifico! Wissen Sie denn nicht, wer ich bin? Ich bin der Gatte von Eda Mussolini. Ich bin der Schwiegersohn des Faschismus. Ich bin italienischer Gesandter in China. Kann man mit 28 Jahren prominenter sein?
Kasperl: Porco di Maccaroni! Schwiegersohn des 267 Faschismus, das muß ein feiner Posten sein! Sagen Sie, hat der Mussolini nicht noch eine Tochter?
Conte Ciani (zum Bühnenmeister): Wünschen Sie sonst noch etwas?
Bühnenmeister: Danke, nein, Herr Graf.
Conte Ciani (hebt die flache Hand): Eja, Eja, Alala! A noi! (Ab.)
Kasperl: Ei, ei, Tralala! Ahoi! Das war ja eine ulkige Nudel! (Zum Bühnenmeister): Hast du noch mehr solche auf Lager? Wer ist denn zum Beispiel dieser schwule Jüngling mit dem Monokel?
Bühnenmeister: Das ist gerade das Gegenteil von einem schwulen Jüngling mit einem Monokel.
Kasperl: Das Gegenteil?
Bühnenmeister: Ja. Nämlich eine schwule Jungfrau mit Monokel. (Nach hinten): Bitte, treten Sie näher, Lady. Wollen Sie uns Ihren werten Namen nennen?
Nadin Huang: Mein Name ist Nadin Huang.
Kasperl: Sind Sie ein Mannerl oder ein Weiberl?
Huang: Ich trage Männerkleider, weil man als Frau in China schief angesehen wird.
Kasperl: Die Chinesen schauen dich aber nicht deshalb schief an, weil sie schiefe Augen haben, sondern weil du ins Berliner »Eldorado« gehörst.
Huang: Ganz recht, meine rückständigen Landsleute haben keine Ahnung davon, was in Europa schick ist.
Bühnenmeister: Haben Sie auch einen Beruf, Herr Huang oder Fräulein Huang – ich weiß nicht, wie ich Sie ansprechen soll?
Huang: Sagen Sie »Herr« zu mir. Ich bin Adjutant 268 bei Tschangsoliang, dem jungen Marschall, der übrigens dort drüben sitzt. Auf Wiedersehen. (Ab.)
Kasperl: Auf Wiedersehen, du Loser. Mir ist ganz warm geworden.
Bühnenmeister (zu Kasperl): Hast du gehört, was er gesagt hat? Marschall Tschangsoliang ist auch hier, der Sohn von Tschangsolin und Stellvertreter von Tschangkaischek. Solche Persönlichkeiten gehören zu meinem Ensemble – Tschangsoliang ist der zweitmächtigste Mann Chinas und der mächtigste Mann Nordchinas einschließlich der Mandschurei . . .
Kasperl: . . . gewesen.
Bühnenmeister: Na ja. Er konnte sich den Japanern nicht gegenüberstellen, als sie Mukden besetzten, weil er für diesen Abend eine Loge im Theater von Mei-Lan-Fang bestellt hatte. Eine Loge im Theater von Mei-Lan-Fang bekommt man nicht alle Tage und kann sie wirklich nicht verfallen lassen.
Kasperl: Natürlich. Da läßt man lieber die Mandschurei verfallen. Sag' mal, wer ist denn der alte Herr dort?
Bühnenmeister: Das ist Dr. Schnee, der Ex-Gouverneur von Ex-Deutsch-Ostafrika.
Kasperl: Aha, Schnee vom Vorjahr. Was macht denn der hier?
Bühnenmeister: Das kannst du ihn selber fragen. Exzellenz Schnee, möchten Sie nicht herüberkommen und uns einige Aufklärungen geben? Wie, bitte? Aber natürlich, bringen Sie die andern Herren ruhig mit, wenn Sie keinen Schritt allein machen dürfen. 269
Claudel (stellt sich vor): General Claudel, Vertreter Frankreichs.
Aldrovandi (ebenso): Conte Aldrovandi, Vertreter Italiens.
Schnee (ebenso): Schnee, Vertreter Deutschlands.
Bühnenmeister: Darf ich die Herren fragen, was Sie hier tun?
Die drei: Gar nichts. Wir sind die Völkerbundkommission.
Bühnenmeister: Und was macht die Völkerbundkommission?
Die drei: Spesen natürlich.
Ein Mann aus dem Publikum: Ja, das haben wir heute in den Pekinger Abendblättern gelesen. Die Stadtgemeinde Peking hat für den Aufenthalt der Kommission des Völkerbundes bisher 60.000 Dollar bezahlt. Eine Landpartie der Herren nach Tai-Schan hat 8000 Dollar gekostet.
Kasperl: Dafür hat Lord Lytton seinen Spazierstock dortgelassen.
Ein Mann aus dem Publikum: Der Stadtrat von Peking hat wegen dieser Ausgaben die Gehälter der Beamten um 20 Prozent gekürzt, aber das macht erst 3000 Dollar im Monat aus, und würde die Spesen unserer Herren Gäste erst in 20 Monaten decken. Deshalb wurde auch die Pekinger Armenpflege eingestellt.
Die drei: Daran sind wir nicht schuld. Die Stadtgemeinde Peking kann sich ihre Ausgaben von der chinesischen Reichsregierung ersetzen lassen.
Das Publikum (lacht): Hoho! Hoho! 270
Kasperl: Ruhe! Wenn der Völkerbund etwas sagt, gibt es nichts zu lachen!
Die drei: Außerdem bleiben wir nicht nur in Peking. Wir sind erst zwanzig Tage in Peking und schon vier Monate in China.
Kasperl: Da kann man sich ausrechnen, was der ganze Aufenthalt kostet.
Ein Mann aus dem Publikum: Der Eisenbahnzug, der zur Verfügung der Kommission seit zwanzig Tagen auf dem Pekinger Bahnhof steht, bedeutet einen Verlust von 174.000 Dollar.
Die drei: Uns sind vom Völkerbundsrat 500.000 Schweizer Franken bewilligt. Warum hat China nicht in Genf gegen unsere Reise protestiert? Übrigens fahren wir jetzt nach Japan und dort werden die Japaner zahlen müssen.
Publikum: Glückliche Reise! Glückliche Reise!
Die drei (mit Verneigung): Besten Dank. Wir werden die herzlichen Wünsche, die uns das chinesische Volk dargebracht hat, in unserem Bericht erwähnen.
Ein Mann aus dem Publikum: Wir möchten gerne wissen, was die Völkerbundkommission hier erreicht hat?
Die drei: Oh, wir haben schon einen Erfolg erzielt. Obwohl Japan die größte Stadt Chinas ohne Kriegserklärung zerschossen, die drei besten chinesischen Provinzen besetzt hat, hat China nicht gewagt, die diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen, – dem einzigen Reich, das ihm helfen würde. Das ist unserem Eingreifen zu danken. 271
Ein Mann aus dem Publikum: Herr Doktor Schnee, warum gibt sich Deutschland dazu her, an dieser Kommission teilzunehmen? Deutschland ist wie China durch den Frieden von Versailles zerstückelt worden. Jetzt sehen wir, daß Deutschland mit den Feinden Chinas gemeinsame Sache macht.
Dr. Schnee: Deutschland darf sich bei internationalen politischen Aktionen nicht ausschalten lassen. Auch diese sind ein Platz an der Sonne.
Ein Mann aus dem Publikum: Und was arbeitet die Kommission hier?
Dr. Schnee: Da müssen Sie sich an die Sekretäre und Experten der Kommission wenden. (Ab.)
Bühnenmeister: Darf ich die Herren Sekretäre und Experten der Kommission bitten?
Sekretäre und Experten (durcheinander): Poschalujsta, Gospodin. Kanetschnjo, Gospodin.
Kasperl: Sind denn das Russen?
Expert Pokrowski: Selbstverständlich, wir mandschurischen Experten sind Russen.
Bühnenmeister: Sowjetrussen?
Pokrowski: Sind Sie wahnsinnig geworden? Wollen Sie mich beleidigen? Ich bin selbstverständlich Emigrant. Was hat Sowjetrußland mit dem Völkerbund zu tun?
Chor der Sekretäre und Experten: Wahrscheinlich haben die Sowjetrussen überhaupt keinen weißen Frack.
Haha, haha,
Haha, haha,
. . . überhaupt keinen weißen Frack. 272
Bühnenmeister: Ist niemand unter Ihnen, der kein Russe ist?
Pastuhov: Ja na primer, ja ne russki.
Bühnenmeister: Was heißt das?
Pastuhov: Das heißt: »Ich zum Beispiel bin kein Russe.«
Bühnenmeister: Warum sprechen Sie dann russisch?
Pastuhov: Ich bin Pole und habe einen tschechoslowakischen Paß. Aber russisch ist unsere Geschäftssprache, weil alle unsere offiziellen Freundinnen russische Huren aus Charbin sind. (Zu den andern): Sie entschuldigen doch den Ausdruck, meine Herren?
Chor der Sekretäre und Experten: Aber, bitte sehr. Was wahr ist, ist wahr.
Bühnenmeister: Herr Legationsrat, würden Sie uns sagen, wie die Kommission hier den Tag verbringt?
Pastuhov: Das ist natürlich nicht bei allen Herren gleich. Um sieben Uhr morgens reitet man auf Ponies aus, um neun Uhr badet man im Swimming-Pool und spielt Tennis oder kauft Curios ein. Dann nimmt man das Tiffin, das Mittagessen, hier im Hotel und ruht ein wenig aus, weil man in der Nachmittagsglut nicht arbeiten kann. Um fünf Uhr ist man zum Tee eingeladen oder spielt Golf, abends zieht man den weißen Frack an und geht auf den Dachgarten, um mit der Freundin Abendbrot zu essen und mit der Freundin zu tanzen und nachher zu schlafen.
Kasperl: Schlafen auch? Die Ärmsten, nicht einmal bei Nacht haben sie Ruhe! 273
Pastuhov: Bei Nacht erfahren wir gerade die wichtigsten Dinge. So können wir vieles voraussehen.
Kasperl: Voraussehen? Diplomaten, die etwas voraussehen? Das ließ sich allerdings nicht voraussehen!
Bühnenmeister: Was können Sie denn zum Beispiel voraussehen, Herr Legationsrat?
Pastuhov: Ach, vielerlei. Nehmen wir zum Beispiel den norwegischen Attaché, der dort mit der russischen Dame sitzt.
Bühnenmeister: Was sehen Sie bei dem voraus?
Pastuhov: Erstens wird er heute nacht erfahren, daß die Sowjets einen Überfall auf Norwegen beabsichtigen, und zweitens wird er übermorgen erfahren, daß er einen Mordstripper hat. (Ab.)
Kasperl: Sapperlot, Stallmeister, du hast ja sogar Propheten in deinem Ensemble. Wirklich lauter Prominente. Ich bin neugierig, wer in dieser Gesellschaft soviel Aufsehen erregen kann, wie du am Anfang gesagt hast.
Bühnenmeister: Jetzt hast du mich durch dein Mißtrauen so lange aufgehalten, daß ich eine Pause einschalten muß. In zehn Minuten beginnt der zweite Akt. 274
Die mongolische Fürstin Torgut: Bitte, Lady Astor, borgen Sie mir Ihr Rouge, ich muß mich schön machen, schließlich bin ich doch die Fürstin Torgut und mit einem Völkerbundkommissar hier.
Die englische Lady Astor: Bitte, Fürstin Torgut, borgen Sie mir Ihren Spiegel, ich muß mich schön machen, schließlich bin ich doch die Lady Astor und mit einem Gesandten hier. (Beide ab.)
Botschafter: Herr Botschaftsrat, ich habe Sie herausgebeten, um Sie um Ihr Monokel zu bitten. Ich habe meines zu Hause vergessen, und muß doch schließlich meine Großmacht vor den Vertretern der andern Großmächte repräsentieren. Das ist ja das einzige, was wir in Peking zu tun haben.
Botschaftsrat: Hehehe, aber in Europa glaubt man, daß wir unser Land bei der chinesischen Regierung vertreten. In Europa weiß man nicht, daß die chinesische Regierung in Nanking sitzt, zwei Schnellzugstage von hier.
Botschafter: Hehehe, es ist genau so, als ob der Botschafter beim Vatikan in Stockholm lebte.
Botschaftsrat: Das Auswärtige Amt muß doch wissen, daß wir nicht am Regierungssitz sind, Exzellenz?
Botschafter: Natürlich, aber das A. A. glaubt, unsere Depeschen kommen von hier aus schneller nach Nanking, als die aus Berlin oder Paris. Dabei sind die europäischen Telegramme viel früher in Nanking.
Botschaftsrat: Hehehe! 275
Botschafter: Herr Botschaftsrat, ich muß Sie übrigens bitten, sich ein anderes Monokel von zu Hause zu holen. Sonst können Sie hier unmöglich bleiben. Alle Welt schaut auf uns.
Botschaftsrat: Selbstverständlich, Exzellenz. (Beide ab.)
Chinesische Kellner (stürzen über die Bühne): Baschö-Ell, Baschö-Ell! Der Zweiundachtzig kommt!
Conte Aldrovandi (stürzt über die Bühne): Tschang-Tsung-Tschan ist da! Wozu habe ich nur meinen neuen Frack angezogen!
Botschafter: Hier, Botschaftsrat, haben Sie Ihr Monokel wieder. Wir brauchen kein Monokel mehr, niemand schaut uns mehr an, Tschang-Tsung-Tschan ist da. (Ab.)
Lady Astor: Hier haben Sie Ihren Spiegel zurück, Fürstin Torgut, ich brauch' ihn nicht mehr. Tschang-Tsung-Tschan ist hier mit seinem ganzen Harem.
Chinesische Kellner: Baschö-Ell, Baschö-Ell, der Zweiundachtzig ist da!
Die Geliebten der Völkerbundsekretäre: Tschort wosmi – hol's der Teufel! Jetzt sind wir hier vollständig überflüssig. Unsere Herren werden sich die Augen ausgucken nach dem Harem von Tschang-Tsung-Tschan.
Die Völkerbundsekretäre: Tschort wosmi – hol's der Teufel! Jetzt sind wir hier vollständig überflüssig. Unsere Damen werden sich die Augen ausgucken nach Tschang-Tsung-Tschan, selbstverständlich, der Herr »Zweiundachtzig«!
Kasperl: Was bedeutet »Zweiundachtzig«? 276
Bühnenmeister: Das bedeutet zweiundachtzig übereinandergelegte Dollarstücke.
Kasperl: Und was bedeuten zweiundachtzig übereinandergelegte Dollarstücke?
Bühnenmeister: Das bedeutet einen besonders männlichen Körperbau.
Kasperl: Versteh' ich nicht.
Bühnenmeister: Brauchst du auch nicht zu verstehen.
Ein Völkerbundexperte: Haben Herr General seinen Harem gesehen? Ein Mädchen schöner als das andere! Die Jüngste ist acht Jahre alt.
Der General (lüstern): Acht Jahre! Acht Jahre! Ach . . . (Er stirbt.)
Eine Amerikanerin: Zweiundachtzig! Wie zweiundachtzig übereinandergelegte Dollarstücke! Zweiundach . . . (Sie stirbt.)
Ein französischer Journalist: Mon ambassadeur, für wann könnten Sie mir ein Interview mit Tschang-Tsung-Tschan verschaffen?
L'Ambassadeur: Ich? Er lehnt es sogar ab, mich zu empfangen.
Die Gemahlin des Ambassadeurs: Er lehnt es ab, meinen Mann zu empfangen – den Botschafter Frankreichs! Das ist zu viel! (Sie stirbt.)
L'Ambassadeur (beugt sich über die Leiche): Adieu, ma chérie. (Zum Journalisten): Wenden Sie sich an Bardaque, den Direktor unserer Banque de l'Industrie. Von dem bekommt Tschang-Tsung-Tschan Geld und Waffen. Wenn Bardaque sich dafür einsetzt, wird der General Sie vielleicht empfangen. (Ab.) 277
Gräfin Berg: Sagen Sie, Professor Tung-Tsching-Lei, er hat doch nur ganz junge Mädchen, – wie macht er das?
Professor Tung-Tsching-Lei: Nach zwei Jahren schickt er jede seiner Frauen mit Ruhestandsgehalt davon. Frauen, mit denen er unzufrieden ist, verheiratet er mit Kulis. Als er vor fünf Jahren nach Japan flüchten mußte, hat er seine schönsten Mädchen erschossen, damit sie keinem andern Mann angehören können.
Gräfin Berg: Arme Chinesenmädchen!
Professor Tung-Tsching-Lei: Nicht nur Chinesenmädchen – damals waren auch Europäerinnen dabei. Er rühmte sich, 50 Frauen von 50 Nationen in seinem Harem zu haben.
Gräfin Berg (durchs Lorgnon schauend): Ein stattlicher Mann, dieser Tschang-Tsung-Tschan. Sagen Sie, nimmt er jetzt keine Europäerinnen mehr?
Professor Tung-Tsching-Lei: Nein. Er sagt, Europäerinnen seien nichts wert. Seit 1929 nimmt er keine mehr. (Gräfin Berg stirbt.)
Admiral Doherty (kommt mit Frau): Ich halte es hier nicht mehr aus. Wenn ich bedenke, daß dieser Kuli mit Dutzenden der hübschesten Mädchen lebt, während ich mit dir mein ganzes Leben verbringe, du ausrangierte Ziege . . .
Frau Admiral Doherty: »Ausrangierte Ziege« sagst du zu mir, einer Lady?! Und was bist du? Du bist nicht einmal ein ausrangierter Ziegenbock. Du hättest selbst in deiner Jugend mit diesen hübschen Mädchen nichts anfangen können. Ich war gestern bei Colonel Bey, 278 der ist fünf Jahre älter als du, und noch ein ganzer Mann . . .
Admiral Doherty: Du warst bei Colonel Bey . . . (Er stirbt.)
Ku Wei-Den, ein junger Chinese: Li-Ba, warum sind wir nur hier heraufgegangen, warum nur!
Li-Ba, eine junge Chinesin: Sei doch nicht so aufgeregt. Was liegt denn daran, daß wir auf den Dachgarten des Peking-Hotel gekommen sind, um einmal zu sehen, wie es hier zugeht?
Ku Wei-Den: Wie es hier zugeht! Es geht schrecklich zu! Ich schäme mich für mein Volk. Die Fremden spreizen sich hier auf unsere Kosten und halten uns für minderwertig. Und dann kommt dieser Kerl herauf, dieser Tschang-Tsung-Tschan, und gibt ihnen volles Recht, uns zu verachten.
Li-Ba: Was kümmert er dich?
Ku Wei-Den: Er ist ein Sinnbild unserer Unterdrückung. Die Provinz Kiangsi hat er ausgeplündert, Kirin hat er ausgeplündert, Fengtien hat er ausgeplündert, Shantung hat er ausgeplündert, als Divisionskommandant hat er geraubt, als Okkupationskommissar hat er geraubt, als Armeekommandant hat er geraubt, als Statthalter hat er geraubt.
Li-Ba: Ja, man sieht, daß er viel Geld haben muß. Seine Frauen haben wunderschöne Kleider und kostbaren Schmuck.
Ku Wei-Den: Aber dort, wo er gehaust hat, können die Bauern keinen Reis mehr essen! Bis aufs Blut hat er alles ausgesaugt.
Li-Ba: Was hat er mit dem vielen Geld getan? 279
Ku Wei-Den: Verpraßt hat er alles, Millionen und Millionen. Nichts hat er davon mehr übrig.
Li-Ba: Wie kann er dann solchen Aufwand treiben?
Ku Wei-Den: Die fremden Mächte bezahlen ihn, um sich seiner Hilfe zu vergewissern gegen die Selbständigkeitsbewegung in Anam und gegen unsere Sowjetgebiete. Und er, dieser käufliche Schurke, kommt hierher, um sich ein Gesicht zu geben, und trinkt Champagner und zeigt seine Mädchen . . .
Li-Ba: Seine Mädchen trinken auch Champagner.
Ku Wei-Den: Natürlich, damit er seinen Kredit erhöht, damit man sieht, daß er reich genug ist, sich Soldaten zu kaufen.
Chinesische Kellner (stürzen über die Bühne): Baschö-Ell geht! Die Autos vorfahren!
Li-Ba: Warum nennt man ihn Baschö-Ell?
Ku Wei-Den: Das bedeutet zweiundachtzig übereinandergelegte Dollarmünzen.
Li-Ba (schlägt die Augen nieder): Pfui! Wie alt ist er denn?
Ku Wei-Den: Fünfzig Jahre.
Li-Ba: Und was war er, bevor er General wurde?
Ku Wei-Den: Ein Bandit, wie alle unsere Generale.
Li-Ba: Ein Bandit? So sieht er aber nicht aus.
Ku Wei-Den (eifersüchtig): Er gefällt dir also?
Li-Ba: Mir? Ich finde ihn widerlich.
Ku Wei-Den: Aber du schaust ihn immerfort an.
Li-Ba: Du bist eifersüchtig auf dieses Scheusal, du beleidigst mich damit.
Ku Wei-Den: Verzeihe mir, aber es regt mich auf, daß China mit diesem Gesindel nicht Schluß macht, 280 weil es die Kuomintang und die Fremden nicht zulassen. Sie bezahlen diesen Schurken noch, der . . .
Li-Ba: Pst. Da kommt er.
Tschang-Tsung-Tschan (ein Hüne, mit 13 Mädchen, bleibt vor Li-Ba stehen, greift ihr an den Busen): Zeig' deine Beine. (Li-Ba tut es.) Ganz gut. Du kannst mitkommen.
Li-Ba: Ja. (Tschang-Tsung-Tschan mit Gefolge und Li-Ba ab.)
Ku Wei-Den (will ihr nach, ein Soldat stößt ihn zurück. Ku Wei-Den springt auf die Brüstung des Dachgartens): Dann muß ich sterben . . . Nein. Er muß sterben. Die Feinde müssen sterben, wir müssen leben. (Schreit): China, höre mich! Feinde über dir, China! Fremde über dir, China! Chinesen über dir, China!
Vorhang.
Bühnenmeister: Ich wollte gar nicht, daß das Stück so ernst endet, ich kann nichts dafür.
Kasperl: Ist es denn schon aus?
Bühnenmeister: Hm. Ich glaube, nicht für immer.
Ende