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Es war einer jener sommerlichen Spaziergänge in der Umgebung von Peking, die nichts mehr mit Peking und seiner Umgebung zu tun haben. Unser Hirn war übersättigt von Eindrücken, unser Auge überbelichtet.
Hier stand eine Pagode, vierzehnstöckig, als vierzehn malachitgrüne, parallele Wellen mit goldenen Kämmen schwammen die Dächer im Äther, dort überwölbte eine bunt bemalte Ehrenpforte den Weg. Wir streiften Pagode und Bogen kaum mit einem Blick, waren es müde, immerfort entzückt zu sein.
Auf solchen Spaziergängen pflegt sich die Laune in einem Gespräch über die chinesische Landschaft zu entladen.
Es gäbe keine chinesische Landschaft, behauptet der eine. Die Westberge hier, sie sind Berge, weiter nichts. Ebensogut könnten sie Berge in der Schweiz sein oder in der Eifel. Die Äcker? Äcker sind überall korngelb, Wiesen überall grün.
Der Gesprächsgegner – morgen können die Rollen vertauscht sein – kehrt Spezifisches hervor: die Form der Pappelweiden, die silberglitzernden Streifen der 82 Reisfelder. Und diesen Zug von nickenden Kamelen, findest du den auch in der Schweiz oder in der Eifel?
Nein, aber in der Türkei oder in Afrika!
Du mußt doch zugeben, daß es solche Porzellanzäune und die Katafalke auf den Feldern nur in China gibt!
Sie haben nichts mit der Landschaft zu tun. Sie sind Architektur, – willst du vielleicht auch die Tigerbrücke oder die Minggräber in die Natur einbeziehen?
So redeten wir, um zu reden; dabei gingen wir vorwärts, immer in gleicher Richtung, einen Tempelhügel hinan und auf der andern Seite hinab. Im Tal stellte sich eine Mauer quer. Wir, von der Hartnäckigkeit der Ziellosen besessen, wollten unsere Richtung beibehalten und schritten die Mauer ab, um dorthin zu kommen, wo sie uns den Weg wieder freigeben würde.
Nach hundert Schritten öffnete sie sich breit, es war das Portal eines Meierhofes, durch das wir – unsere Richtung, unsere Richtung! – hindurch mußten. Hunde umsprangen uns kläffend, feig und aggressiv jagten sie um uns her, drei Schritte Distanz, sie blieben lauernd stehen, wenn wir stehen blieben, drei Schritte Distanz. Ein solches Gefolge war nicht eben angenehm. »Man sollte immer einen Stock mitnehmen,« sagten wir.
Dennoch vergaßen wir die Hunde bald. Die Menschen, die uns entgegenkamen, sahen einander in befremdlicher Weise ähnlich. Mit jeder neuen Begegnung wirkte diese Gemeinsamkeit stärker, und schließlich wurde sie unheimlich.
Es waren durchweg alte Frauen, offenbar Arbeiterinnen des Gutshofs, die einen führten Vieh an der Leine, die andern trugen Säcke huckepack oder kamen mit 83 Rechen und Heugabel vorbei. Sie hatten dunkelblaue Hosen an, wie es bei den arbeitenden Frauen hierzulande Sitte ist, jedoch waren, allem Gebrauch zuwider, ihre Oberkörper nackt, die Brüste hingen schamlos herab.
Die Matronen sprachen miteinander, und obwohl sie nicht schrien, klang ihre Stimme schrill, genauer gesagt: ein schrilles Nebengeräusch begleitete jeden Laut.
Auf einem strohbeladenen Wagen stand stämmig eine Frau, ihr Gesicht war von zahllosen Runzelchen schraffiert. Unten bearbeitete man Getreide nach der altbiblischen und noch immer neuchinesischen Art: das in der Tretmühle gemahlene Korn wird mit einer Holzschaufel emporgeworfen, die Körner fallen kraft ihrer Schwere senkrecht zur Tenne hinab, die leichte Spreu, wie eine Staubwolke fortgeweht, findet ein paar Schritte abseits ihren Boden.
Alle Arbeit leisteten die alten Frauen. Locker wackelte ihr Kinn im Kiefergelenk. Kahlgeschoren der Kopf, nur auf dem Scheitel ein »Dutt«, ein so dünnes, so graues Büschel Haare, daß es das vorgeschrittene Alter der Trägerin verriet. Von Gebrechlichkeit war nichts zu bemerken, alle packten ihre Arbeit wacker an.
Plötzlich überraschte und verwirrte uns eine Kleinigkeit und brachte uns dennoch im gleichen Moment die Spur einer Aufklärung: eine der Frauen, uns abgekehrt, verrichtete stehend ihre Notdurft, stehend, wie es Männer tun.
»Wem gehört dieses Gut?« fragten wir eine andere Alte, die mit den jappenden Hunden bereits eine geraume Weile um uns herumschlich. Sie trat näher: »Wir sind kaiserliche Hofbeamte, und das ist unser Kloster.« 84
Nun begriffen wir vollends. Ohne zu wissen oder zu wollen, waren wir in das Altersheim der Eunuchen geraten.
Korn und Spreu wurden emporgeworfen, Eselchen im Kreise getrieben, um Getreide zu mahlen, Garben auf Wagen geladen – wir starrten die Leute an. Vor fünf Minuten hatten wir sie als Frauen angesehen, dann schienen sie uns Männer zu sein, jetzt wußten wir, was sie waren.
Diese und ihresgleichen hatten im kaiserlichen China von eh' und je die tragende Rolle als Günstlinge und Begünstiger gespielt, waren Staatsmänner, Ratgeber, Drahtzieher, Intriganten gewesen, Kuppler für die Paläste und Henker für die Hütten.
Die Eunuchen schraubten das Maß der Tribute an ungemünztem Gold, gegossenen Taels, gestickten Drachengewändern und bemalter Tributseide so hoch hinauf, daß sich die Provinzen auflehnten. Die Eunuchen führten durch Staatsstreich oder Giftmord das Ende von Dynastien herbei, um besser zahlenden Herren auf den Thron zu helfen. Die Eunuchen verwendeten das für den Bau der Kriegsflotte bestimmte Geld für den Bau des Pekinger Sommerpalastes, und der Krieg gegen Japan wurde 1895 verloren.
Fünf Jahre später bedrohten Reformbestrebungen die Stellung der kastrierten Schranzen. Rasch bemächtigten sie sich der Boxersekte und nährten planmäßig den Glauben des Kaiserhofs, daß die Boxer kugelfest und überhaupt unverwundbar seien. Unter diesem Einfluß unterstützte die Kaiserin den aussichtslosen Aufstand gegen die Fremden. Aber als die Bewegung zusammenbrach, war kein Eunuch auf der langen Liste derjenigen, deren 85 öffentliche Hinrichtung die europäischen Großmächte racheschnaubend-blutrünstig forderten, – die gelben Höflinge und die weißen Diplomaten hatten sich zu verständigen gewußt.
Einmütig war der Haß des Volkes gegen die Palast-Eunuchen, die einander innerlich und äußerlich glichen wie ein Ei dem andern, sofern dieser Vergleich hier am Platz ist. Man haßte sie mehr als Kaiser und Prinzen, als Konkubinen und Mandarine, und viele Denkschriften der »Zensoren«, der im Land verteilten, beamteten Horchposten verlangten die Beseitigung der höfischen Eunuchen, wörtlich: »der verschnittenen Kerzen im Schatten des Thrones«.
Wirklich wurde auch nach mißglückten Unternehmungen mancher Eunuch als Sündenbock in die Wüste geschickt, obwohl ihm organisch mehr zu Sünden und zum Bock fehlte, als den andern höfischen Herren. Allerdings nicht jedem. An-Te-Hai zum Beispiel trug den Titel eines Obereunuchen, aber er war es nicht, denn er zeugte mit der Kaiserinwitwe Tsu-Hsi einen Sohn, der noch heute in China lebt. Die andere Kaiserinwitwe Tsu-An, eifersüchtig auf An-Te-Hai, ließ ihn hinrichten und mußte diesen Befehl mit dem Tod durch Gift büßen. An-Te-Hais Nachfolger wurde Li-Lien-Jen, er bekleidete das Obereunuchat bis zum Jahr 1911, bis zum Sturz des Kaisertums.
An der Institution selbst konnte nichts geändert werden, man bedurfte erprobt fähiger, beweisbar unfähiger Hüter des Serails, sonst hätten sich angesichts des Erbfolgeprinzips Kaiserinnen und Konkubinen zwecks Kinderkriegens aller erreichbaren. Mannspersonen bedient. 86
Kastraten standen Wache vor dem kaiserlichen Frauenzimmer und hüteten ihrer Herren eheliche Ehre. Wenn aber ein Haremswächter einem fremden Schlüssel zu öffnen erlaubte, dann war die daraufhin entstehende Kaiserinmutter mitsamt ihrem Sprößling in seiner gierigen Macht.
Vor uns wird Garbe auf Garbe geladen, Spreu vom Weizen gesondert und Korn gemahlen von den einst Mächtigen . . . Der Alte fragt uns, ob wir den Tempel besichtigen wollen. Mitten durch ein Wohngebäude des Stifts führt der Weg zum Tempel; die Hunde, züngelnd, begleiten uns. Wir passieren die Diele, nur durch die halbgeöffnete Tür empfängt sie ihr Licht, ein mehr als spärliches Licht. Über dem Teetisch schaukeln Köpfe von Greisinnen mit hochgestecktem Zopf. Ein Keifen, das vielleicht keines ist, zersägt die Atmosphäre.
Sehr reich sei das Kloster gewesen, erklärt der Führer, und da er unserm Verständnis nicht traut, zeigt er, wie sehr reich das Kloster gewesen, zeigt es, indem er so tut, als hole er immer wieder Geld aus der Tasche hervor. Aber jetzt, jetzt müsse man schwer arbeiten. Er veranschaulicht: Lasten tragen, Getreide dreschen, kutschieren.
Wir begreifen. In der Kaiserzeit hatten die beinahe omnipotenten Obereunuchen nicht mit Stiftungen für das Stift gespart, in das sie jederzeit von der Höhe der kaiserlichen Huld hinabstürzen konnten. Solange ein Eunuch aktiv im Hofdienst stand, den Verkehr im Harem regelte und im Staatsrat eine hohe Stimme geltend machte, vermochte er leicht für seine im Kloster befindlichen Geschlechtsgenossen zu sorgen und damit allenfalls für sein eigenes Alter. 87
Mit der Dynastie sank auch die politische Zeugungsfähigkeit der Eunuchen dahin. Der Kaiser ging, die Generale blieben. Sie teilen sich mit den fremden Kolonialherren und den Shanghaier Bankiers in die Herrschaft. Ihre Geschäfte besorgt ein bleicher Börsenschieber mit seiner Bonzenschar, die das ist, was die Eunuchen waren.
Die Palasteunuchen von einst bearbeiten ihr Gut. Garbe wird auf Garbe geladen, Spreu vom Weizen gesondert, Korn gemahlen. Sie arbeiten gut, obwohl sie weder für Frauen noch für Kinder zu sorgen haben, sie arbeiten gut, obwohl sie mit dem Erlös der Arbeit ihren Zustand nicht verändern können. Hallo, ist das nicht ein Argument für Reaktionäre? Die wettern doch stets dagegen, daß man dem Menschen seine Klassenlage zum Bewußtsein bringt. Dadurch mache man ihn erst unzufrieden. Sie wollen den Armen in Unwissenheit, Aberglauben und Schmutz erhalten, weil er sich darin wohl fühle. Sollte man nicht noch weitergehen – konsequent wär's! – sollte man nicht durch die Kastration ihn von der Arbeit ablenken? Freilich erst dann, wenn jedermann die erforderliche Zahl von proles, Nachkommen, in die Welt geschafft hat. Geht nicht aus dem vorliegenden Bericht hervor, wie tüchtig Eunuchen arbeiten?
Doch genug von diesem politischen Zukunftsprogramm. Da ist der Tempel, ein Buddhatempel wie andere auch. Im Schrein eine historische Hellebarde, so großmächtig, daß man glaubt, es gehöre ein ganzer Mann dazu, sie zu schwingen. Aber im Gegenteil, ein Eunuch hat sie geschwungen, Kang-Kung hieß er und hat in den Schlachten viele Feinde getötet. Deshalb ist sein Andenken allen 88 Eunuchen heilig. An seinem Grab erstand »Hu-Kuo-Szü« – »Der den Staat beschützende Tempel« samt Kloster und Friedhof.
Der Friedhof ist merkwürdig, weil er ein Friedhof ist. Im allgemeinen läßt sich der Chinese auf freiem Feld begraben, mit Vorliebe in jenem Ort, wo er geboren ist, wo die Mitglieder seiner Familie wohnen. Eunuchen tun das also nicht, sie haben keine Familie, sie haben kein Geschlecht, selbst dann nicht, wenn sie Fürsten sind. Ja, ein Fürst ist auch hier bestattet, jener obenerwähnte Li-Lien-Jen, der vierzig Jahre lang an der Seite der Kaiserinwitwe Tsu-Hsi geschaltet und gewaltet, in ihrem Namen und zu beider Nutzen das Chinesenvolk heillos gebrandschatzt hat.
Wir äußern (in Frageform) zu unserm Führer das Gerücht, Fürst Li-Lien-Jen sei kein richtiger Eunuch gewesen. Grenzenlose Verachtung ist die Antwort. Gilt das unserm kläglichen Chinesisch, gilt das der Tatsache, daß wir einem Eunuchen durch unsere Bemerkung die Ehre abschneiden?
Die fünfzig Cents Führerlohn versöhnen den Alten – vielleicht ein ehemaliger Oberkämmerer oder Hofmarschall – keineswegs. Auch die Hunde geben ihr Mißtrauen gegen uns nicht auf, sie begleiten uns lauernd, sie züngeln und äugen so lange, bis wir wieder aus der Mauer hinaustreten, in deren Bereich wir unversehens geraten waren. 89