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Die Flucht der Geister


Das Lied des Bienenjungen.

Bienen! Bienen! Was summen sie leis?
»Gib dein Geheimnis den Menschen nicht preis!
Doch uns mußt du alle Erlebnisse sagen.
Sonst hören wir auf, dir den Honig zu tragen!«

Die Braut am Hochzeitstage
Schleicht heimlich aus dem Haus,
Daß sie's den Bienen sage,
Sonst fliegen sie ihr aus!
Fliegen aus – sterben aus –
Schwinden, lassen sie im Stich!
Doch wenn du deine Bienen liebst,
Dann lieben sie auch dich!

Hochzeit, Tauf' und Todesfall,
Ein Brief aus weiter Ferne,
Die Freuden und die Schmerzen all,
Die Bienen hören's gerne.
Wo am Korb die kleine Tür,
Dort sollst du's ihnen flüstern,
Denn die Bienen sind wie wir
Nach Neuigkeiten lüstern.

Weile nicht, wo Bäume sind,
Bei Gewittergraus;
Hasse nicht, wo Bienen sind,
Sonst fliegen sie dir aus.
Fliegen aus – sterben aus –
Schwinden, lassen dich im Stich!
Doch wenn du deine Bienen liebst,
Dann lieben sie auch dich!

Die Flucht der Geister.

Eben brach die Dämmerung herein, als ein sanfter Septemberschauer auf die Hopfenpflücker herabzurieseln begann. Die Mutter zog die federnden Kinderwagen aus dem Garten; man stellte die Behälter beiseite und schloß die Berechnungen ab. Das junge Volk schlenderte paarweise unter einem Regenschirm heim, und die Alleinstehenden gingen lachend hinterher. Dan und Una, die nach dem Unterrichte beim Pflücken geholfen hatten, eilten zur Darre »auf geröstete Kartoffeln«. Denn Hobden, ihr alter Freund, lebte dort mit seinem Jagdhunde »Betty« den ganzen Monat hindurch, um den Hopfen zu dörren.

Sie lagerten sich wie gewöhnlich auf dem mit Säcken bedeckten Boden der Hütte vor der Feuerstatt und starrten wie immer, wenn Hobden einen Schieber öffnete, auf das glühende Kohlenbett, das seine Hitze in den dunklen Schacht des altertümlichen Kamins ausströmte. Der Alte faßte bedächtig ein paar frische Kohlen und legte sie mit ruhiger Hand gerade an jenen Platz, wo sie am wirksamsten sein mußten. Dann langte er ebenso langsam nach rückwärts, und Dan füllte ihm die hohle Hand mit Kartoffeln; die legte er nun behutsam um das Feuer herum und stand ein Weilchen wartend, wobei sich seine Gestalt ganz schwarz gegen die Glut abhob. Wenn er dann den Schieber wieder verschloß, erschien es um so finsterer, wiewohl draußen noch Tag war, und er steckte die Kerze in der Laterne an. All das hatten die Kinder so gerne, weil es ihnen so wohl vertraut war.

Hobdens Sohn, der Bienenjunge, der nicht ganz recht im Kopfe ist, aber mit den Bienen wunderbar umzugehen weiß, kam wie ein Schatten hereingehuscht. Das aber erkannten sie nur daran, daß »Bettys« wedelnder Stumpfschwanz ihren Körper berührte.

Da hörte man auf einmal eine derbe Stimme vor der Türe singen:

»Die Mutter Scholzen legte man im Winter in die Erd' hinab,
Doch als die Hopfenernte kam, da sprang sie wieder aus dem Grab.«

Hobden drehte sich hastig um. »Es gibt nur einen Menschen mit so 'nem Gekrächze!« rief er.

»Denn,« sagte sie, »die Burschen, die zur Jugendzeit mit mir gepflückt,
Sind sicher alle wieder da und ich – –«

Nun stand der Fremde in der Tür.

»Ist's denn möglich? Es heißt zwar, die Hopfenpflücke zieht selbst die Toten aus dem Grabe – aber nu glaub' ich's wirklich! Du, Thomas? Thomas Schmidt?« Hobden hob die Laterne vom Nagel.

»Das braucht aber Zeit, ehe du's glaubst, Rudi!« Der Gast trat ein. Er war gute drei Zoll größer als Hobden, ein graubärtiger, gebräunter Riese mit klaren, blauen Augen. Sie schüttelten sich die Hände, und man hörte, wie sich die rauhen Handflächen aneinander rieben.

»Na, du hast aber deinen festen Griff noch nicht verloren!« lachte Hobden. »Ist's dreißig oder vierzig Jahre her, seit du mir beim Jahrmarktsfest den Schädel eingeschlagen hast?«

»Dreißig erst. Und was das Schädeleinschlagen anbelangt, sind wir quitt. Du hast's mir ja mit 'ner Hopfenstange fein abgezahlt! – Wie sind wir nur dazumal heimgekommen? Schwimmend?«

»Geradeso wie Enten in die Diebstasche – ein bißchen Glück und 'n bißchen Hexerei,« lachte Hobden mit seiner tiefen Stimme.

»Merk' schon, du kennst dich noch immer im Walde aus. Tust etwa noch manchmal dabei mit?« Der Fremde tat, als ziele er mit einer Flinte.

Hobden antwortete mit einer schnellen Handbewegung, als ob er eine Hasenschlinge an einem Pflocke in die Erde stieße. »Nein. Nur das ist mir geblieben. Im Alter heißt's fein bescheiden sein! Und was gibt's bei dir Neues seit all den Jahren?«

»Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,«

war die heitere Antwort. »Glaub', ich kenn' Altengland besser als irgendeiner.« Dabei blickte er die Kinder mit keckem Augenzwinkern an.

»Altengland? Dir hat wohl mancher 'nen Haufen Lügen angehängt,« meinte Hobden. »Ich bin freilich nicht weit hinausgekommen.«

»'s gibt überall wunderliche Geschichten! Na – du hast ja immer schön zu Hause gehockt, Rudi.«

»'nen alten Baum soll man nicht verpflanzen,« kicherte Hobden. – »Aber du siehst mir nicht aus wie einer, der mir heut' nacht beim Hopfenwenden helfen möchte.«

Der große Fremde lehnte sich an die Ziegelwand des Kamins. »Willst mich dingen?« meinte er kurz, und beide stapften lachend die Stiege hinauf.

Nun hörten die Kinder, wie die Schaufeln über die Tücher raschelten, in denen der gelbe Hopfen über dem Feuer trocknet, und das ganze Haus durchzog ein süßer, einschläfernder Geruch, der von den gewendeten Blüten kam.

»Wer ist das?« flüsterte Una dem Bienenjungen zu.

»Weiß nicht – wenn ihr's nicht wißt?« entgegnete er lächelnd.

Auf dem Dörrboden plauderten und kicherten die beiden Stimmen, und die schweren Tritte wanderten hin und her. Und jetzt senkte sich ein Sack mit Hopfen in die Öffnung der Presse über ihnen und wurde immer voller und straffer, je mehr sie ihn von oben anfüllten. »Klatsch!« schloß sich die Presse und quetschte die lose Masse zu einem festen Teig.

siehe Bildunterschrift

»Weiß wohl, von welcher Art du bist,« brummte Hobden, indem er die Kartoffeln herausscharrte.

»Nur schön langsam,« hörten sie Hobden rufen. »Du verdirbst den Hopfen, wenn du so zuhaust. Thomas, du bist so hitzig, grad' wie Gleasons Stier! Komm, sehen wir uns wieder zum Feuer; für heute ist's gut.«

Sie kamen wieder herunter, und während Hobden den Schieber öffnete, um nach den Kartoffeln zu sehen, sagte Thomas zu den Kindern: »Streut tüchtig Salz drauf! Ihr könnt daran erkennen, von welcher Art ich bin.« Und wieder zwinkerte er; der Bienenjunge lachte auf, und Una starrte Dan an.

»Weiß wohl, von welcher Art du bist,« brummte Hobden, indem er die Kartoffeln herausscharrte.

»Wirklich?« fuhr Thomas hinter ihm fort. »Viele von uns können kein Hufeisen oder Glockengeläute oder fließendes Wasser vertragen. – Weil wir grade von Wasser reden,« wandte er sich wieder an Hobden, »denkst du noch der großen Überschwemmung von Robertsbridge, wo der Müller auf der Straße ertrank?«

»Will ich meinen!« Hobden setzte sich auf den Kohlenhaufen beim Ofen, »'s war ja in dem Jahre, als ich meine Alte freite. War damals Fuhrmann mit zehn Schilling die Woche. Meine Selige war von der Marsche – hatte genug zu tun, bis ich sie dazu brachte, mit mir fortzuziehn.«

»Von wo war sie, Rudi? Hab's schon vergessen.«

»Dymkirchen beim Deiche.«

»Dann war sie eine Pett – oder eine Whitgift, nicht?«

»Whitgift.« Hobden brach eine Kartoffel auf und aß mit der merkwürdigen Reinlichkeit jener Leute, die ihre Mahlzeiten meistens im Freien zu sich nehmen. »Mit der Zeit, als sie lange genug hier im Walde lebte, wurde sie ganz vernünftig. Aber in den ersten zwanzig Jahren, da war sie oft seltsam – nicht zum sagen! Und auf Bienen verstand sie sich großartig!« Damit schnitt er ein Stückchen von seiner Kartoffel weg und warf es zur Türe hin.

»Ja, man sagt, die Whitgifts können weiter durch 'nen Mühlstein schauen, als mancher andere. War das auch bei ihr so?«

»Ach, mit der schwarzen Kunst hatte sie wahrhaftig nichts zu schaffen. Doch verstand sie sich auf Zeichen und wußte, was der Flug der Vögel, der Fall eines Sternes, das Schwärmen der Bienen und dergleichen zu bedeuten haben. Und in der Nacht lag sie wach – um auf die Stimmen zu lauschen, meinte sie.«

»Das beweist nichts,« lachte Thomas. »Die Leute von der Marsche sind alle seit Urväterzeiten Schmuggler gewesen. Lag ihr wohl im Blute – das Aufpassen bei Nacht.«

»Das stimmt!« erwiderte Hobden schmunzelnd. »Aber das war's nicht, was meiner Alten zu schaffen gab. Es war« (flüsterte er) »das dumme Zeug – das mit den Geistern.«

»Ja – ich weiß, die Leute auf der Marsche glauben daran,« fügte Thomas hinzu, auf die Kinder blickend, die ihn offenen Mundes anstarrten.

»Das Volk der Berge!« ließ sich der Bienenjunge vernehmen und warf gleichfalls eine halbe Kartoffel zur Türe.

»Da hast du's!« Hobden zeigte auf seinen Sohn. »Mein Junge hat den hellen Blick und das Gefühl für das Unsichtbare (so hat sie's immer genannt!) von ihr geerbt!«

»Und – was hältst du von all dem?«

»Hm – hm!« brummte Hobden. »Wenn wer, wie ich, die Nacht so oft in Feld und Wald zugebracht hat, der hält sich immer lieber auf dem Wege – außer wenn mal 'n Finanzer kommt, natürlich.«

»Bleiben wir mal bei der Sache,« beharrte Thomas. »Ich sah eben, wie du das Opferstückchen zur Türe geworfen hast. Glaubst du also dran oder – was ist's?«

»Ach was, 's war halt ein Auge drin,« brummte Hobden unwillig.

»Na, ich hab' keins gesehen! – Sah ganz so aus, als sollte es für – für jemand sein, der's haben möchte. Bleiben wir also mal bei der Sache! Glaubst du dran oder – – na?«

»Ich sage gar nichts! Hab' nie was gesehen, nie was gehört. Aber wenn du behaupten würdest, daß es im Walde bei Nacht noch etwas anderes gibt als Mensch, Vogel, Fisch und Raubtier, wer weiß, ob ich mich getrauen würde, dich 'nen Lügner zu heißen! – Nun kommst du an die Reihe, Thomas – sag', wie hältst du es?«

»So wie du. Sage gar nichts! Aber ich will euch 'ne Geschichte erzählen, die mögt ihr euch dann zusammenreimen, wie ihr wollt.«

»Wird 'n schöner Unsinn sein!« brummte Hobden. Aber er füllte dennoch seine Pfeife von neuem.

»Die Leute auf der Marsche nennen's ›Die Flucht der Geister aus Dymkirchen‹,« begann Thomas langsam, »Hast's wohl schon mal gehört?«

»Meine Alte hat's mir oft und oft erzählt – am Ende hab' ich's ihr wirklich geglaubt.« Hobden ging bei diesen Worten zur Laterne hinüber und entzündete sich an ihr die Pfeife. Thomas stützte den schweren Arm auf sein Knie und wandte sich an Dan: »Warst du schon mal auf der Marsche?«

»O ja, einmal – aber nur bis Rye,« war die Antwort.

»Ach, das ist erst der Anfang. Dahinter gibt's nichts als Kirchen mit Türmen dran und Häuser mit weisen Frauen an der Türe, wilde Entenherden in den Wassergräben – bis hinab ans Meer. Die ganze Marsche ist kreuz und quer von Gräben und Schleusen, Flutgattern und Kanälen durchzogen. Du hörst das Rauschen und Brausen drin, wenn die Flut hineingedrungen ist, und dazu tönt das Donnern der Wogen vom Deiche herüber. Hast du gesehen, wie flach die Marsche ist? Glaubst etwa, nichts sei leichter, als sie geradeaus zu durchqueren? Weit gefehlt! Durch die Gräben und Kanäle bilden die Wege ein so verzwicktes Hin und Her, wie das Hexengarn auf der Spindel. Man kann bei hellichtem Tage irregehen!«

»Das ist erst, seit sie die Entwässerungsbauten gemacht haben,« fügte Hobden hinzu. »Als ich um meine Selige freite, da war die Marsche grün – ach, wie herrlich grün war damals alles! –, und frei wie der Nebel ritt noch der Vogt der Marsche hinauf und hinunter.«

»Wer ist das?« fragte Dan.

»Nun, das Fieber – die Marschenkrankheit. Auch mich hat er ein- oder zweimal an der Schulter gepackt, bis es mich gehörig beutelte! Seit der Trockenlegung der Marsche aber ist's mit dem Fieber aus. Drum sagt man im Volke scherzweise: Der Vogt der Marsche hat sich in einem Graben den Hals gebrochen. Und dann – was für ein herrlicher Platz für Enten und Bienen ist es!«

»Seit jeher!« bestätigte Thomas. »Und seit die Welt besteht, hat hier Fleisch und Blut gelebt. Ja und unter uns gesagt: die Marschleute meinen, seit urvordenklichen Zeiten haben die Geister die Marsche jeder anderen Gegend in Altengland vorgezogen. Na, sie müssen's ja wissen! Seit die Schafe Wolle tragen, waren Vater und Sohn zur Nachtzeit draußen, um dies oder das zu schmuggeln. Sie sagen, immer gab's eine Menge Geister zu sehen. Keck wie die Kaninchen, das sind sie! Einmal tanzen sie bei hellichtem Tage auf offener Straße; dann wieder schwenken sie ihre kleinen, grünen Lichter und huschen an den Gräben hin und her, ganz, als wären sie rechtschaffene Schmuggler! Ja und es geschah auch, daß sie am Sonntag die Kirche vor dem Pfarrer und Küster versperrten.«

»Das sind wohl die Schmuggler gewesen, wenn sie Branntwein und Seide drin versteckt hielten, bis sie sie auf die Marsche hinausschaffen konnten,« warf Hobden ein. »So hab' ich's meiner Alten erklärt.«

»Das hat sie dir sicher nie geglaubt – wenn sie wirklich eine Whitgift war. – Ja, es war ein feiner Ort für Geister, bis der Vater der Königin Elisabeth Heinrich VIII., 1509-1547. Anm. d. Übers. mit seiner Reformation daherkam.«

»Das war wohl so ein Parlamentsbeschluß, nicht wahr?« fragte Hobden.

»Natürlich. Man kann in Altengland nichts ohne Gesetz, Vollmacht und Satzung machen. Das Parlament hat's ihm bewilligt, und nun verfuhr er mit den Pfarrkirchen, daß es ein Jammer war! Gott weiß, wie viele dazumal gefoltert und hingemordet wurden! Viele standen auf seiner Seite; andere wieder dachten halt anders, und der Schluß war, daß die einen die anderen verbrannten, je nachdem, welche Partei gerade obenauf war. Das verscheuchte nun die Geister: denn Friede unter Fleisch und Blut ist Speise und Trank für sie, und Zwietracht ist Gift.«

»Wie bei den Bienen,« nickte der Bienenjunge. »Die wollen auch bei keinem Hause bleiben, in dem der Haß wohnt.«

»Stimmt. Die Reformation verscheuchte die Geister. Von allen Seiten kamen sie in die Marsche und meinten: ›Es nützt nichts; wir müssen fort. Das lustige Altengland von ehemals ist nicht mehr, und man zählt uns unter die Götzen.‹«

»So haben es alle gehalten?« fragte Hobden.

»Alle – nur einen ausgenommen, den das Volk Robin nennt – wirst wohl von ihm gehört haben. Warum lachst du?« wandte er sich an Dan. »Robin also, den ging die Not der Elfen nichts an, da er sich stets zum Volke gehalten hatte. Der dachte nicht daran, Altengland zu verlassen – er nicht! Er wurde also geschickt, um von Fleisch und Blut Hilfe zu holen. Aber Fleisch und Blut denkt immer nur an seine eigenen Bedürfnisse, und Robin konnte nicht an sie heran – versteht ihr? Sie hielten es für den Widerhall der Flut auf der Marsche.«

»Was wolltest du – die Geister mein' ich! – von den Menschen?« fragte Una.

»Ein Boot natürlich. Sie hätten mit ihren kleinen Flügeln ebensowenig übers Meer hinüberkönnen wie ein müder Schmetterling. Sie wollten ein Boot mit Bemannung, um nach Frankreich überzusetzen, wo die Menschen einstweilen die Kirchenbilder noch nicht herabgerissen hatten. Sie konnten's eben nicht aushalten, wenn die grausamen Glocken von Canterbury immer wieder zur Verbrennung armer Ketzer läuteten, und die stolzen Sendboten des Königs mit dem Befehle das Land durchritten, alle Bilder zu vernichten. Das war zu viel für sie, und doch konnten sie das Boot mit Bemannung für ihre Flucht nur durch Zustimmung und Wohlwollen von Fleisch und Blut bekommen. Fleisch und Blut aber ging ruhig seinen Geschäften nach, während die Marsche von Geistern aus ganz England nur so wimmelte, die sich vergeblich mühten, an Fleisch und Blut heranzukommen, und ihm ihre schlimme Not mitzuteilen ... Habt ihr schon mal gehört, daß es mit den Geistern geradeso ist wie mit Hühnern? Ja – wenn man zu viele Hühner in einen Stall pfercht, wird der Boden krank (möchte ich sagen), die Menschen kriegen Beulen, und die Hühner gehen ein. Und wenn sich die Elfen an einem Orte zusammendrängen, ist's gerade so! Sie sterben freilich nicht, aber die Menschen in der Nähe werden leicht krank und siechen dahin. Die Geister haben's nicht gewollt, und die Menschen wissen's nicht, aber es ist mal so – so hab' ich's immer sagen hören! Als also die Geister in Furcht zusammenströmten und sich mühten, mit ihrem Anliegen vernehmbar zu werden, da verwandelten sie eben die Luft und die Säfte in Fleisch und Blut. Wie eine Gewitterwolke lag's über der Marsche! Am Abend sahen die Menschen ihre Kirchen von Irrfeuern lodernd; sie hörten die Rinderherden auseinanderstieben, ohne daß sie jemand scheuchte; die Schafe rannten, ohne daß sie jemand trieb; die Pferde schäumten, ohne daß sie jemand am Zügel hielt; sie sahen mehr Lichter an den Gräben als je zuvor; hörten immerfort kleine Füße um die Häuser trippeln; Tag um Tag, Nacht um Nacht war es ihnen, als ob sich etwas an sie herandränge, als ob ihnen irgendwer seine Bedrängnis andeute, weil er sie nicht ausdrücken könne. O, es war ihnen wohl übel zumute! Jung und alt, Männern und Frauen versagte die Natur ihren Dienst, solange die Geister auf der Marsche schwärmten. Aber sie waren Fleisch und Blut – und Marschleute obendrein! Sie glaubten, die Zeichen bedeuteten ein Unheil für die Marsche; oder daß die See sich gegen den Deich empören und das ganze Land überfluten würde; oder daß die Pest komme. So suchten sie die Erklärung in der See oder in den Wolken – in der Ferne und in der Höhe. Aber es fiel ihnen nie ein, an die unmittelbare Nähe zu denken, weil sie dort nichts sehen konnten.

Nun lebte da eine arme Witwe zu Dymkirchen am Deiche, die war ohne Gatten und Besitz und hatte daher Zeit genug, auf ihre Gefühle zu horchen. Und so wurde es ihr klar, daß es vor ihrem Hause eine Not gäbe, größer und schwerer, als sie jemals zu tragen hatte. Zwei Söhne hatte sie – einer war blind zur Welt gekommen, der andere war durch einen Sturz als Kind stumm geworden. Jetzt waren sie erwachsen, doch verdienten sie nichts, und die Mutter erhielt sie, indem sie Bienen züchtete und Fragen beantwortete.«

»Was für Fragen denn?« wollte Dan wissen.

»Nun, zum Beispiel: wo verlorene Dinge zu finden seien, oder was man einem krummen Kinde um den Hals legen soll, oder wie zwei voneinander geschiedene Liebende sich wiederfinden könnten. – Sie fühlte also die Bedrängnis auf der Marsche, wie die Aale den Donner fühlen; war halt eine weise Frau!«

»Auch meine Selige war für das Wetter empfindlich, daß man staunen mußte,« warf Hobden ein. »Bei Gewittern sah ich manchmal, daß ihr Funken aus dem Haare wie von einem Amboß wegsprühten, wenn sie darüber strich. Ans Beantworten von Fragen aber hat sie sich nie gewagt.«

»Diese Witwe war also so was wie eine Wahrheitssuchende; und wer sucht, der findet oft. Eines Nachts, da sie glühend und von Schmerzen gequält im Bette lag, da kam ein Traumgesicht und flüsterte immerzu: ›Witwe Whitgift! Witwe Whitgift!‹ Anfangs glaubte sie, das Flattern und Pfeifen rühre von Möwen her, dann aber stand sie auf, zog sich an und öffnete die Türe gegen die Marsche und fühlte die Angst und das Seufzen ringsum so stark wie Fieber und Frost; sie rief: ›Was ist das, o, was ist das?‹

Da war's, als ob Frösche in den Gräben lärmten, als ob das Röhricht in den Kanälen raschelte; dann toste die Flut am Deiche, und sie konnte nichts anderes vernehmen. Dreimal rief sie und dreimal übertönte sie die Brandung. Dann aber benützte sie einen Augenblick der Stille und rief: ›Welcher Art ist die Not, die sich seit einem Monat mit meinem Herzen niederlegt und mit meinem Körper aufsteht?‹ Da fühlte sie eine kleine Hand ihren Rocksaum erfassen, und sie bückte sich zur Erde.

›Wird das Meer über die Marsche hereinbrechen?‹ Das war als echte Marschenbewohnerin ihre erste Frage.

›Nein,‹ rief ein feines Stimmchen. ›Sei darob ohne Sorge!‹

›Kommt die Pest übers Land?‹ Sie kannte nur diese beiden Plagen.

›Nein,‹ antwortete ihr Robin. ›Sei darob ohne Sorge!‹

Da drehte sie sich um und wollte wieder hineingehen; aber die Stimmen wehklagten so schrill und traurig, daß sie wieder umkehrte und rief: ›Wenn es keine Not für Fleisch und Blut ist, was kann ich tun?‹

Da riefen die Stimmen ringsum, sie sollte ihnen ein Boot verschaffen, das sie auf immer nach Frankreich führen könne.

›Am Deiche liegt ein Boot,‹ erwiderte sie. ›Aber ich kann es nicht ins Meer lassen und vermag auch nicht, das Segel aufzuziehen.‹

›Borg' uns deine Söhne!‹ riefen alle Geister. ›Gib ihnen Erlaubnis, uns hinüberzuführen, Mutter – o Mutter!‹

›Der eine ist stumm, der andere blind! Doch ich liebe sie drum um so mehr. Sie werden auf hoher See umkommen!‹ Aber die Stimmen gellten, daß es ihr durchs Herz schnitt; und auch Kinderstimmen waren darunter. Das war mehr, als sie ertragen konnte, so sehr sie sich sträubte. So sagte sie: ›Könnt ihr meine Söhne dazu bringen, euch zu helfen, so will ich's ihnen nicht wehren. Mehr könnt ihr von einer Mutter nicht verlangen!‹

Da sah sie die kleinen, grünen Lichter hin und her schießen, daß ihr schwindelte. Sie hörte Tausende von kleinen Füßen umhertrippeln; wieder läuteten die grausamen Glocken von Canterbury, und aufs neue peitschten die Wogen den Deich. Inzwischen woben die Elfen den Traum, der die schlafenden Söhne erwecken sollte. Und während die Witwe in den Finger biß, um nicht aufzuschreien, sah sie, wie sich ihre eigenen Söhne erhoben und wortlos an ihr vorüberschritten. Sie folgte ihnen, bitter weinend, bis zum Boote am Deiche. Dieses faßten sie nun und schoben es ins Meer.

Als sie Mast und Segel aufrichteten, sagte der Blinde: ›Mutter, gibst du uns aus freien Stücken Erlaubnis, sie hinüberzufahren?‹«

Thomas warf den Kopf zurück und schloß die Augen. »Fürwahr, Witwe Whitgift war ein wackeres, tapferes Weib! Sie stand da, wand ihr langes Haar um ihre Finger und zitterte wie eine Pappel im Sturm, während sie mit sich kämpfte. Und alle Elfen geboten ihren Kindern Stille, und lautlos wartete alles auf ihre Entscheidung. Von ihren Worten hing ja ihre Rettung ab! Ohne ihre willige Zustimmung konnten die Söhne nicht fort; denn sie war die Mutter. So stand sie zitternd da; dann brachte sie mühsam die Worte heraus: ›Geht! Geht mit meiner willigen Zustimmung!‹

Und dann sah ich – das heißt, man erzählt, dann mußte sie sich ihren Rückweg erkämpfen, als ob sie durch die Flut watete. Denn die Elfen strömten heran und stürmten hinunter zum Strande und ins Boot. Gott weiß, wie viele ihrer waren – die da mit Weib und Kind und Habe aus dem grausamen Altengland flohen. Man hörte Silber klirren, kleine Bündel fielen auf den Boden des Bootes, kleine Schwerter und Schilde rasselten, und kleine Finger und Zehen klopften an die Planken, als die beiden Söhne vom Lande stießen. Immer tiefer sank das Boot ein, aber alles, was die Mutter sehen konnte, war, daß die Söhne bei der Arbeit am Segel von allen Seiten gehindert waren. Doch schließlich ging das Segel in die Höhe, und fort ging's in den Nebel auf der hohen See. Mutter Whitgift aber saß am Strande und kämpfte mit ihrem Kummer, bis es Tag wurde.«

»Aber ich habe immer gehört, daß sie nicht ganz allein war,« meinte Hobden.

»Richtig. Ich erinnere mich. Der, den sie Robin nannten, blieb bei ihr; so heißt es. Sie aber war zu sehr betrübt, um auf seine Versprechungen zu hören.«

»O, hätt' sie sich doch ihren Lohn zuvor ausgemacht!« rief Hobden. »Das hab' ich immer zu meiner Frau gesagt.«

»Nein. Sie gab ihre Söhne aus Erbarmen her, weil sie die Not auf der Marsche fühlte und gern hilfreich war. Das tat sie! Ja, und das ganze Land, kranke Männer und sieche Frauen, blasse Mädchen und weinende Kinder, alle fühlten die Erleichterung in der Luft, als die Elfen davongezogen waren. Wie Schnecken nach dem Regen kamen die Leute frisch und strahlend aus den Häusern heraus. Und inzwischen saß die Witwe in ihrem Gram auf dem Deiche. Sie hätt' uns doch glauben sollen – sie hätt' sicher sein können, daß ihre Söhne wiederkommen würden. So aber war sie ganz närrisch vor Freude, als das Boot nach drei Tagen wieder heimkehrte.«

»Und nun waren ihre Söhne natürlich geheilt?« rief Una.

»O nein. Das wäre gegen die Natur gewesen. Sie bekam sie so zurück, wie sie fortgegangen waren. Der Blinde hatte nichts gesehen, und der Stumme konnte natürlich nicht sagen, was er gesehen hatte. Drum, mein‹ ich, haben auch die Elfen gerade diese beiden für das Werk auserlesen.«

»Aber was hast du – was hat Robin der Witwe versprochen?« fragte Dan.

»Was hat er ihr nur versprochen?« Thomas tat, als ob er nachdenke, »Hat's denn deine Frau nie erzählt – sie war ja eine Whitgift?«

»Sie hat einen Haufen Unsinn erzählt, als mein Junge da geboren wurde. »Er sollte stets weiter durch 'nen Mühlstein schauen können als mancher andere.«

»Das bin ich! Ich!« rief der Bienenjunge so plötzlich, daß alle lachten.

»Jetzt weiß ich's!« rief Thomas und schlug auf sein Knie. »Solange das Blut der Whitgift besteht, so versprach Robin, werde immer einer aus ihrer Sippe leben, den keine Not ankommen, den kein Liebesgram schmerzen solle; den die Nacht nicht schrecken, der Schreck nicht lähmen kann; der die Sünde nicht kennt und den kein Weib zum Narren halten wird.«

»Nun? Stimmt's nicht ganz auf mich?« rief der Bienenjunge, der bei der Türe im Scheine des Septembermondes saß.

»Das waren dieselben Worte, wie meine Selige sagte, als wir sahen, daß er anders war als Kinder sonst sind. – Aber – sag' mal, wie weißt du denn das überhaupt so genau?« Hobden blickte erstaunt auf seinen Freund.

»Ja!« lachte dieser. »Ich hab' eben mehr unterm Hute als Haare.« Er streckte sich und erhob sich. »Weißt was, Rudi? Ich schaffe diese beiden Kinder heim, und dann wollen wir eine Nacht miteinander zubringen, wie in früherer Zeit und uns alte Geschichten erzählen – gelt? Na, wo wohnt ihr denn eigentlich?« wandte er sich mit ernster Miene an Dan. »Und was glauben Sie, Fräuleinchen, krieg' ich wohl 'nen guten Schluck von Papa, wenn ich Euch heimführe?«

Wer diese Worte kicherten die Kinder derart, daß sie davonlaufen mußten. Thomas hob sie empor, setzte sie auf seine breiten Schultern, und nun gings flugs über die Wiesen dahin, wo die Kühe im Mondenschein ihnen den weißen Atem entgegenpusteten.

»O, Puck! Puck! Gleich habe ich dich erkannt, als du das vom Salz gesagt hast! O, wie hast du nur so was machen können?« rief Una in hellem Entzücken.

»Was machen können?« fragte er, während er über den Zaun bei der gestutzten Eiche stieg.

»Dich zu stellen, als ob du der Thomas Schmidt wärest,« lachte Dan. Die Kinder duckten sich jetzt unter den kleinen Eschen, die an der Brücke wachsen. Thomas lief beinahe.

»Ja. So heiß ich, junger Herr.« Er eilte über den ruhig im Monde daliegenden Rasen; nur ein Kaninchen hockte bei dem Weißdorn nahe der Krocketwiese. »Hier sind wir!« Er trat in den Gang zur Küche und ließ die Kinder herab, als eben Ellen heraustrat.

»Ich helfe in der Darre mit,« meinte er zu Ellen. »Nein, ich bin kein Fremder. Ich lebte schon hier, bevor Ihr zur Welt kamt. Und – Ihr wißt, wie heiß einem in der Darre wird, Fräulein – wenn ich bitten dürfte – –«

Da holte Ellen einen Krug, und die Kinder eilten ins Haus – sie waren wiederum mit Eiche, Esche und Dorn verzaubert worden.


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