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Wie Furcht kam

Der Pfuhl verschrumpft, der Strom entwich,
Nun sind wir Brüder, du und ich,
Die Flank' verstaubt, der Schlund verbrannt,
Wir drängen uns zum Uferrand.
Vom Schreck der Dürre still gemacht
Schweigt das Gelüst nach Mord und Jagd.
Das Rehkalb unterm Reh nicht schreckt
Der hagre Wolf, nah hingestreckt,
Der Hirsch scheut nicht das Mordgebiß,
Das seines Vaters Brust zerriß.
Der Pfuhl verschrumpft, der Strom entwich,
Gefährten sind wir, du und ich.
Doch birst die Wolke, strömt der Guß –
Gut Jagd und Wasserfriedens Schluß!

Wie Furcht kam.

Das Gesetz des Dschungels, bei weitem das älteste Gesetz der Welt, hat fast für jeden Unfall, der dem Dschungelvolk begegnen kann, seine Bestimmungen voraus getroffen, so daß diese Gesetzessammlung nun so vollkommen ist, wie Zeit und Gebrauch sie machen können, wenn ihr die anderen Geschichten von Mogli gelesen habt, so werdet ihr euch erinnern, daß er einen großen Teil seines Lebens unter dem Rudel der Sionie-Wölfe zubrachte und dort von Balu, dem braunen Bären, in den Gesetzen unterwiesen wurde. Balu sagte, wenn der Knabe bei den ewigen Zurechtweisungen ungeduldig wurde: »Das Gesetz ist wie die Riesenliane; so oft du ihr auch ausweichen willst, sie fällt dir immer wieder auf den Rücken.

Wenn du so lang gelebt hast, wie ich, kleiner Bruder, wirst du sehen, wie das ganze Dschungel wenigstens einem Gesetze gehorcht.

Und das wird keine erfreuliche Erfahrung für dich sein,« setzte Baku hinzu.

Diese Rede ging zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder heraus, denn ein Knabe, der sein Leben nur mit Essen und Schlafen hinbringt, kümmert sich erst um andere Dinge, wenn sie ihm geradezu auf den Leib rücken. Aber es kam ein Jahr, da wurde Balus Wort wahr, und das ganze Dschungel gehorchte einem Gesetze.

Es begann damit, daß die Winterregen fast ganz ausblieben. Sahi, das Stachelschwein, begegnete Mogli im Bambusdickicht und erzählte ihm, daß die wilden Brotwurzeln vertrockneten. Da nun jeder weiß, daß Sahi lächerlich wählerisch in seiner Nahrung ist und immer nur das Beste und Reifste mag, so lachte Mogli und sagte: »Was kümmert das mich?«

»Jetzt noch nicht viel,« meinte Sahi, »aber wir werden ja sehen,« und dabei rasselte es seine Stacheln auf eine ungemütliche und hochtrabende Weise aneinander. »Kannst du denn noch deine Tauchübungen im tiefen Pfuhl zwischen den Bienenfelsen machen, kleiner Bruder?«

»Ach, das dumme Wasser läuft ja ganz ab, und ich habe keine Lust, mir den Kopf an den Steinen zu zerstoßen,« sagte Mogli, der sich so klug dünkte, wie fünf Leute vom Dschungelvolk zusammen.

»Das ist schade um dich, durch ein kleines Loch wäre vielleicht ein wenig Verstand in deinen Kopf hineingekommen!« Sahi zog bei diesen Worten rasch den Kopf ein, damit ihn Mogli nicht am Schnurrbart zupfen könnte.

Mogli erzählte Balu, was Sahi gesagt. Der machte ein ernstes Gesicht und murmelte: »Wäre ich allein, so würde ich jetzt meine Jagdgründe verlegen, ehe die anderen daran denken. Aber Jagen in der Fremde endet mit Kampf, und da könnte mir mein Menschenjunges zu Schaden kommen. Warten wir's ab, wie der Mohwa blüht.«

Der Mohwabaum aber, den Balu so liebte, blühte in dem Frühling nicht. Die wachsweichen, milchfarbenen Blüten wurden, ehe sie geboren, von der Hitze getötet, und nur einige übelriechende Blättchen fielen nieder, wenn Balu auf den Hinterfüßen stand und den Baum schüttelte. Dann kroch Zoll für Zoll die übermäßige Hitze bis in das Herz des Dschungels und sengte alles gelb, braun und zuletzt schwarz. Die grünen Hängepflanzen in den Hohlwegen wurden hart wie Draht und rollten sich zu toten Hülsen zusammen. Die sonst beschatteten Teiche sanken ein und bildeten eine klebrige Masse, auf der die Fährten sich abdrückten, als wären sie in Eisen gegossen; die saftigen Schlingpflanzen fielen herunter von den Bäumen, die sie umschlungen hatten, und starben über ihren Wurzeln; der verdorrte Bambus rasselte in dem heißen Wind, und das Moos schälte sich von den Felsen tief im Innern des Dschungels ab, bis sie ebenso nackt und glühend dastanden wie das durch die Luft flimmernde Geröll im Bett des Stromes.

Die Vögel und das Affenvolk wanderten früh im Jahre nordwärts, denn sie wußten, was kommen würde; das Wild und die Wildschweine rannten bis in die verdorrten Felder der Dörfer und starben vor den Augen der Menschen, die zu matt waren, sie zu töten. Tschil, der Geier, harrte aus und wurde fett, denn Aas gab es genug; und Abend für Abend brachte er den Tieren, die zu schwach waren, um nach neuen Jagdgründen durchzudringen, dieselbe Botschaft: ›daß die Sonne das Dschungel töte, so weit hinaus, als dreitägiger Flug ihn trage‹.

Mogli, der nie zuvor wirklichen Hunger gekannt, lebte von hartem, drei Jahre alten Honig, so schwarz wie Schlehen und staubig wie verbrannter Zucker, den er aus verlassenen Bienenstöcken herauskratzte. Er jagte auch nach Würmern, die sich tief unter die Rinde der Bäume einbohren, und raubte den Wespen die Brut. Alles Wild im Dschungel war nur noch Haut und Knochen, und Baghira, der schwarze Panther, konnte dreimal in der Nacht töten und hatte doch keine volle Mahlzeit. Aber der Wassermangel war das schlimmste; denn wenn das Dschungelvolk auch selten trinkt, es muß doch viel trinken.

Und die Hitze dauerte fort und fort und sog jeden Tropfen Feuchtigkeit auf, bis zuletzt der Hauptarm der Waingunga der einzige Strom war, der einen armseligen Rest von Wasser zwischen seinen toten Ufern hinschleppte. Und als Hathi, der wilde Elefant, der hundert Jahre und länger lebt, ein langes, flaches, blaues Felsenriff trocken aus der Mitte des Stromes herausstarren sah, wußte er, daß er den Felsen des Friedens erblickte. Er erhob seinen Rüssel und verkündete die Wasser-Waffenruhe, wie sein Vater fünfzig Jahre vor ihm sie verkündet hatte. Die Hirsche, die Wildschweine und Büffel gaben den Ruf heiser weiter, und Tschil, der Geier, zog große, weite Kreise und pfiff und schrie ihn in die Ferne.

Das Gesetz des Dschungels verbietet bei Todesstrafe, an den Trinkplätzen zu töten, sobald die Wasser-Waffenruhe verkündet ist. Denn Trinken geht vor Essen. Das ganze Dschungelvolk kann sich wohl eine Zeitlang durchhelfen, wenn die Jagd nichts ergibt; aber Wasser ist Wasser, – und bleibt nur noch ein einziger Wasserquell als letzter Retter in der Not, so versammelt sich alles Volk um ihn, und in seiner Nähe hört jede Jagd auf. Wer in guten, wasserreichen Jahren aus der Waingunga oder sonstwo trinken wollte, tat es mit Todesgefahr, und diese Gefahr bildete den Hauptreiz der Nächte. So leise hinabzuschleichen, daß kein Blatt sich bewegte, knietief in der tosenden Untiefe zu waten, die jedes Geräusch erstickt, zu trinken mit rückwärts über die Schulter spähendem Blick, jede Muskel gespannt zum ersten verzweifelten Sprung des Entsetzens; mit feuchter Schnauze und drall gefüllt sich am sandigen Ufer zu kollern und dann zurückzuspringen zu der bewundernden Herde, das war das Entzücken der jungen Rehböcke mit den glänzenden Hörnern, gerade weil sie wußten, daß Baghira oder Schier Khan sie in jedem Augenblick niederwerfen und forttragen konnten. Aber nun war das Spiel um Leben und Tod zu Ende, und das Dschungelvolk kam ermüdet und verschmachtend zu dem eingesunkenen Fluß – Tiger, Bär, Rotwild, Büffel und Eber zusammen tranken das faulende Wasser und lungerten darüber, zu ermattet, sich weiter zu schleppen.

Wild und Wildschweine waren den ganzen Tag umher gestreift, um etwas mehr zu finden als trockene Rinde und verwelkte Blätter. Die Büffel hatten keine Pfütze, sich zu kühlen, und keine grüne Ähre zu beißen gefunden. Die Schlangen hatten das Dschungel verlassen und schoben sich hinunter an den Fluß, in der Hoffnung, einen verirrten Frosch zu erwischen. Sie wickelten sich um nasse Steine und versuchten nicht einmal zu beißen, wenn die Schnauze eines wühlenden Schweines sie beiseite warf. Die Flußschildkröten waren längst von Baghira, dem geschicktesten Jäger, getötet, und die Fische hatten sich tief im Schlamm vergraben. Nur der Fels des Friedens lag, einer langen Schlange gleich, mitten in der Untiefe, und die kleinen, müden Wellenringe zischten und verdampften an seinem heißen Rand.

Hierher kam Mogli allnächtlich, um Kühle und Gefährten zu finden. Der hungrigste seiner Feinde würde sich jetzt kaum viel aus dem Knaben gemacht haben. Seine nackte Haut ließ ihn noch abgemagerter und elender erscheinen, als irgendeinen seiner Gefährten. Sein Haar war von der Sonne flachsfarben gebleicht; feine Rippen standen hervor wie die Stäbe eines Korbes, und die Schwielen an seinen Knien und Ellenbogen, auf die er sich zu stützen pflegte, wenn er auf allen vieren kroch, gaben seinen zusammengeschrumpften Gliedern das Ansehen knotiger Grasstengel. Aber sein Auge blickte kühl und ruhig unter dem verblichenen Haarschopf hervor, denn Baghira, sein Berater in dieser Zeit der Not, befahl ihm, sich langsam zu bewegen, ruhig zu jagen und niemals, um keinen Preis, sich zu erzürnen.

»Es ist eine schwere Zeit,« sagte der schwarze Panther an einem Abend, »so heiß wie ein Schmelzofen; aber sie wird vorübergehen, wenn wir es nur bis zum Ende aushalten. Ist dein Magen gefüllt, Menschenjunges?«

»Es ist Nahrung in meinem Magen, aber ich habe nichts Gutes davon. Was denkst du, Baghira, haben die Regen uns ganz vergessen und werden sie niemals wiederkehren?«

»Das glaube ich nicht. Wir werden den Mohwa wieder blühen und die kleinen Rehkälber fett sehen vom jungen Gras. Komm hinunter zum Friedensfelsen, laß uns hören, was es Neues gibt. Auf meinen Rücken, kleiner Bruder.«

»Die Zeit taugt nicht zum Lastentragen. Ich kann noch allein gehen, aber – wirklich! fette Ochsen sind wir gerade nicht, wir zwei.«

Baghira blickte auf seine hageren, staubigen Flanken und flüsterte: »Letzte Nacht tötete ich einen Ochsen im Joch. So tief war ich herunter, daß ich glaube, ich hätte nicht den Mut zum Sprung gefunden, wenn er frei gestanden hätte. Es ist ein Jammer ... Wuau!«

Mogli lachte. »Ja, wir sind jetzt große Jäger, ich bin so tapfer, Würmer zu jagen,« – und die beiden kamen zusammen hinunter durch das rasselnde Gestrüpp zum Uferrand und in das netzartige Gewirr der ausgetrockneten Wasserrinnen, die von demselben nach allen Richtungen ausliefen.

»Das Wasser kann nicht lange mehr leben,« sagte Balu, sich zu ihnen gesellend. »Schaut hinüber! Dort sind Fährten, so breit wie Menschenstraßen.«

Aus der flachen Ebene, am andern Ufer, war das zehn Fuß hohe, harte Dschungelgras aufrechtstehend vertrocknet und mumienhaft geworden. Die ausgetretenen Fährten des Wildes und der Wildschweine führten alle zum Fluß und durchfurchten die farblose Fläche mit staubigen, durch das zehn Fuß hohe Gras getriebenen Hohlwegen. Trotz der frühen Morgenstunde waren alle diese Gänge voller Tiere, die eilig zu dem Wasser drängten. Die Hirschkühe und die Rehkälbchen hörte man husten in der staubigen Luft.

Stromaufwärts, bei der Biegung des trägen Wassers um den Friedensfelsen, den Wächter der Waffenruhe, stand im Mondlicht, grau und abgemagert, Hathy, der wilde Elefant, mit seinen Söhnen, sich hin und her wiegend, immer wiegend. Etwas unterhalb stand die Vorhut des Wildes; weiter unten die Schweine und die wilden Büffel; und am jenseitigen Ufer, wo die hohen Bäume bis an des Wassers Rand standen, war der abgesonderte Platz für die Fleischfresser, die Tiger, Wölfe, Panther, Bären und die anderen.

»Wir stehen wahrlich alle unter einem Gesetz,« sagte Baghira, während er in das Wasser watete und hinüberblickte, wo in langer Reihe klappernde Geweihe aneinander stießen, furchtsame Augen starrten, wo die Wildschweine und das Rotwild sich drängend vor- und rückwärts schoben. »Gute Jagd euch allen von meinem Blut!« fügte er hinzu, legte sich in voller Länge mit der einen Flanke in das seichte Wasser, während die andere daraus hervortrat, und stieß dann leise zwischen den Zähnen hervor: »Wäre das Gesetz nicht da, so könnte es eine sehr gute Jagd geben.«

Die flink gespitzten Ohren des Wildes vernahmen diese letzten Worte, ein furchtsames Geflüster flog durch die Reihen: »Die Waffenruhe! Gedenke der Wasser-Waffenruhe!«

»Frieden dort, Frieden!« gurgelte Hathi, der wilde Elefant. »Die Waffenruhe besteht zu Recht, Baghira. Es ist nicht an der Zeit, von Jagd zu reden.«

»Wer wüßte das besser als ich?« antwortete Baghira, und seine gelben Augen blickten rollend stromaufwärts. »Ich fresse Schildkröten, ich fange Frösche. Ngaayah! könnte ich doch nur Blätter verdauen!«

»Wir wünschen das auch, sehr, sehr,« blökte ein junger Rehbock, der erst in diesem Frühling geboren und gar nicht damit zufrieden war. So elend das Dschungelvolk auch war, konnte doch selbst Hathi ein heimliches Schmunzeln nicht unterdrücken, und Mogli, der, auf seine Ellenbogen gestützt, im warmen Wasser lag, lachte laut auf und schlug den Schaum mit seinen Füßen hoch.

»Wohl gesprochen, kleines Knospenhorn,« schnurrte Baghira, »wenn die Waffenruhe endet, werde ich zu deinen Gunsten daran denken,« und er blickte scharf durch die Dunkelheit nach dem Böcklein, um es später wiederzuerkennen.

So flogen die Reden auf- und abwärts an den Trinkplätzen. Man hörte die grunzenden Schweine sich um den Platz balgen, die Büffel stöhnen, wenn sie sich aus den Sandbänken hervorarbeiteten, das Wild trübselige Geschichten erzählen, von wund gelaufenen Füßen, auf der Suche nach Futter. Fragen wurden flußüber zu den Fleischfressern geschickt, aber nur trostloser Bescheid kam zurück; und die heißen Windstöße aus dem Dschungel kamen und gingen und tobten zwischen den Felsen und in dem rasselnden Gezweig und schleuderten Äste und Staub in das Wasser.

»Auch das Menschenvolk stirbt neben seinen Pflügen,« sagte ein junger Hirsch. »Ich sah drei von ihnen zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Sie lagen still und ihre Ochsen bei ihnen. Wir werden auch bald still liegen.«

»Der Fluß ist noch gefallen seit der letzten Nacht,« sagte Balu. »O Hathi! hast du jemals solche Dürre gesehen?«

»Sie wird vorübergehen, sie wird vorübergehen,« sagte Hathi, sich Rücken und Seiten mit Wasser bespritzend.

»Wir haben einen hier, der es nicht lange ertragen kann,« sagte Balu, und er sah den Knaben an, den er lieb hatte.

»Ich?« sagte Mogli ärgerlich, sich im Wasser aufrechtsetzend. »Ich habe zwar kein dickes Fell, um meine Knochen zu bedecken, aber wenn man dir dein Fell abzöge, Balu ...«

Hathi schüttelte sich bei dem Gedanken, und Balu sagte streng:

»Menschenjunges, es schickt sich nicht, daß du zu einem Lehrer der Gesetze also sprichst. Noch nie hat man mich ohne mein Fell gesehen.«

»Nun, ich meinte es nicht bös, Balu, wollte nur sagen: du wärest gleich einer Kokosnuß in der Schale, und ich gleich einer nackten Kokosnuß – – nun sieh: deine braune Hülse ...« Mogli demonstrierte, mit gekreuzten Beinen und mit erhobenem Zeigefinger, wie es seine Gewohnheit war, als plötzlich Baghira, mit sanfter Pfote, ihn kopfüber rücklings ins Wasser warf.

»Immer schlimmer,« sagte der schwarze Panther, während der Knabe sich prustend herausarbeitete, »erst soll Balu die Haut abgezogen werden, und nun ist er eine Kokosnuß. Nimm dich in acht, daß er dir nicht tut, was oft reife Kokosnüsse tun.«

»Und was tun die?« fragte Mogli, der im Augenblick nicht auf seiner Hut war, obwohl das einer der ältesten Scherze im Dschungel ist.

»Dir den Kopf zerschlagen,« sagte Baghira ruhig und tauchte ihn im Nu wieder unter.

»Es ist nicht recht von dir, dich über deinen Lehrer lustig zu machen,« sagte der Bär, als Mogli zum drittenmal untergetaucht war und plätschernd emporschnellte.

»Nicht recht, nicht recht? Was willst du, Balu? Das nackte Ding rennt hin und her, treibt seinen Affenspaß mit Leuten, die einst gute Jäger waren, und zupft die besten von uns am Bart aus Übermut,« rief Schier Khan, der lahme Tiger, zum Wasser hinunterhinkend. Er stand einen Augenblick still, um sich an dem Schreck des Rehwildes auf dem andern Ufer zu weiden, dann senkte er den vierschrötigen Kopf mit der faltigen Stirn und begann zu schlecken, brummend: »Das Dschungel ist ein Tummelplatz für junge Hunde geworden. Sieh mir ins Auge, Menschenjunges.«

Mogli sah, starrte ihn an, so unverschämt, wie er irgend konnte, und nach einer Minute wandte Schier Khan sich unruhig ab. »Menschenjunges hin und Menschenjunges her,« knurrte er, weiter trinkend; »das Junge ist weder Mensch noch Tier, sonst würde es sich gefürchtet haben. Nächstes Jahr werde ich es um Erlaubnis fragen müssen, ob ich trinken darf. Aurgh!«

»Das ist möglich,« sagte Baghira, ihm scharf zwischen die Augen sehend, »das ist möglich ... fohw, Schier Khan! Welch neue Schande hast du über uns gebracht?«

Der lahme Tiger hatte Kinn und Backen ins Wasser getaucht, und dunkle, ölige Streifen flossen von ihm stromab.

»Mensch,« sagte Schier Khan kaltblütig, »getötet vor einer Stunde,« und er schnurrte und knurrte in sich hinein.

Die Reihen der Tiere schwankten aufgeregt hin und her, ihr Geflüster wuchs an zum Schrei: »Menschen, Menschen, er hat Menschen getötet!« Dann blickte alles auf Hathi; aber der schien nichts zu hören. Hathi, der wilde Elefant, handelt stets nur, wenn es rechte Zeit ist, und das ist mit ein Grund, warum er so lange lebt.

»In solcher Zeit wie dieser Menschen töten! War kein anderes Wild zu haben?« rief Baghira zornig, während er aus dem besudelten Wasser trat, und schüttelte jede Tatze nach Katzenart.

»Ich tötete zum Zeitvertreib, nicht um zu fressen.«

Das entsetzte Geflüster hub aufs neue an, und Hathis kleines, wachsames, weißes Auge blinzelte nach Schier Rhan hin.

»Zum Zeitvertreib,« wiederholte Schier Khan, das Wort dehnend. »Nun will ich mich satt trinken und wieder reinmachen. Wer hat etwas dagegen?«

Baghira machte einen Buckel, wie ein Bambus, der vom Sturm gebogen wird; aber Hathi erhob seinen Rüssel und fragte ruhig:

»Du tötetest zum Zeitvertreib?«

Und wenn Hathi eine Frage tut, ist's geraten, zu antworten.

»Jawohl! Es war mein Recht und meine Nacht. Du weißt es, o Hathi.« Schier Rhan sprach beinahe höflich.

»Ja, ich weiß,« antwortete Hathi, und – nach kurzem Schweigen: »Hast du dich satt getrunken?«

»Für diese Nacht, ja.«

»Geh' denn. Der Fluß ist zum Trinken da und nicht zum Besudeln. Keiner, als der lahme Tiger, würde mit seinem Recht prahlen in einer Zeit wie dieser, – wo wir zusammen leiden, Menschen- und Dschungelvolk. Rein oder unrein, geh' in deine Höhle, Schier Khan!«

Die letzten Worte schmetterte er heraus wie mit silberner Trompete, und Hathis drei Söhne schoben sich einen halben Schritt vorwärts; aber es war nicht nötig. Schier Khan schlich fort, er wagte nicht zu knurren, denn er wußte, was jedermann weiß: wenn es zum Treffen kommt, ist Hathi der Herr des Dschungels.

»Was ist das für ein Recht, von dem Schier Khan sprach?« flüsterte Mogli in Balus Ohr. »Menschen zu töten, ist immer schändlich. Das Gesetz sagt das. Und doch spricht Hathi ...«

»Frag' ihn. Ich weiß es nicht, kleiner Bruder. Recht oder nicht Recht, wenn Hathi nicht gesprochen hätte, würde ich dem lahmen Schlächter seine Lektion erteilt haben. Zum Friedensfelsen kommen, frisch vom Menschenmord, und sich des rühmen, ist ein Schakalstreich! Und dazu noch das gute Wasser zu besudeln!«

Mogli wartete eine Minute, um sich ein Herz zu fassen, denn es ist keine Kleinigkeit, Hathi so direkt anzureden, und dann rief er: »Was ist Schier Khans Recht, o Hathi?«

An beiden Ufern wurden seine Worte wiederholt, denn alles Volk im Dschungel ist unbändig neugierig. Man hatte eben etwas gehört, was niemand verstand, Balu ausgenommen, der sehr gedankenvoll blickte.

»Es ist eine alte Geschichte,« sagte Hathi, »eine Geschichte, älter als das Dschungel. Seid ruhig, ihr alle an den Ufern, und ich will euch die Geschichte erzählen.«

Es folgten ein oder zwei Minuten, während deren die Schweine und Büffel einander hin und her schoben, und dann riefen die Leiter der Herden, einer nach dem andern: »Wir warten,« und Hathi schritt vorwärts, bis er fast knietief in dem Pfuhl beim Friedensfelsen stand. So vergilbt auch seine Zähne vom Alter waren, und so abgemagert und runzlig sein Leib, man sah doch, er war, wofür das Volk des Dschungels ihn hielt, ihr Meister.

»Ihr wißt, Kinder,« begann er, »daß ihr mehr als alles den Menschen fürchtet.« Ein Gemurmel der Zustimmung folgte.

»Diese Geschichte geht dich an, kleiner Bruder,« sagte Baghira zu Mogli.

»Mich? Ich gehöre zum Pack. Ich bin ein Jäger aus dem freien Volk! Was habe ich mit den Menschen zu tun!«

»Und ihr wißt nicht, warum ihr den Menschen fürchtet?« fuhr Hathi fort. »Dies ist der Grund:

Im Anfang, als das Dschungel noch neu war, und keiner weiß, wann das war, gingen wir alle vom Dschungel nachbarlich zusammen, und keiner hatte Furcht vor dem andern. In jenen Tagen gab es keine Dürre, und Blätter, Blumen und Früchte wuchsen zugleich auf einem Baum, und wir aßen nur Blätter, Blumen und Gras und Früchte und Rinde.«

»Gut, daß ich nicht in jenen Tagen geboren wurde,« sagte Baghira. »Rinde! Die Klauen kann man sich daran schärfen, sonst ist nichts damit anzufangen!«

»Und der Herr des Dschungels war Tha, der Urvater der Elefanten. Mit seinem Rüssel zog er das Dschungel aus den tiefen Wassern, und wo er mit den Zähnen Furchen in die Erdrinde zog, da rannen Flüsse, und wo er mit seinem Fuß aufstampfte, kamen Teiche mit gutem, kühlem Wasser hervor, und wenn er durch den Rüssel blies – so – fielen die Bäume nieder. So wurde das Dschungel von Tha gemacht, und so ward mir die Geschichte erzählt.«

»Die Geschichte hat mit dem Alter Fett angesetzt,« wisperte Baghira, und Mogli lachte hinter seiner Hand.

»In jenen Tagen gab es weder Mais, noch Melonen, noch Pfeffer, noch Zuckerrohr, auch keine kleinen Hütten, wie wir alle sie schon gesehen; und das Dschungelvolk wußte nichts vom Menschen und lebte einträchtiglich zusammen als ein Volk. Nach einiger Zeit aber fing man an, sich um das Futter zu streiten, obwohl die Weide für alle ausreichte. Man wurde träge. Jeder wollte da essen, wo er gerade lag, so wie wir es noch heut zuweilen können, wenn die Frühlingsregen gut sind. Tha, der Urahn der Elefanten, arbeitete fleißig weiter an der Einrichtung neuer Dschungel und Flüsse. Er konnte nicht überall sein; und so machte er den Urahnen der Tiger zum Meister und Richter des Dschungels, vor den das Dschungelvolk seine Streitigkeiten bringen sollte. In jenen Tagen aß der Stammvater der Tiger Früchte und Gras gleich den andern. Er war so groß, wie ich bin, und er war sehr schön, seine Farbe glich der Blüte der gelben Liane. Es war kein Fleck und kein Streifen auf seiner Haut in jenen guten Tagen, als das Dschungel neu war. Das Dschungelvolk trat vor ihn ohne Furcht, und sein Wort war das Gesetz für das ganze Dschungel. Denn wir waren damals ja ein Volk. Aber einst, in einer Nacht, entstand ein Streit zwischen zwei Böcken, ein Futterstreit, wie ihr ihn jetzt mit Kopf und Vorderfüßen ausfechtet – und es heißt: als die zwei ihren Streit vor den Stammvater der Tiger brachten, der zwischen den Blumen lag, da stieß ein Bock ihn mit den Hörnern, und der Stammvater der Tiger vergaß, daß er der Meister und Richter des Dschungels war, und sprang auf den Bock und brach ihm das Genick.

»Bis zu dieser Nacht war niemals einer von uns gestorben, und als der Urvater der Tiger sah, was er getan hatte, und von dem Geruch des Blutes rasend geworden war, da rannte er fort nach den Sümpfen des Nordens – und wir, das Dschungelvolk, nun ohne Richter, kämpften untereinander. Tha hörte den Lärm und kam zurück; und einige von uns sagten dies und andere jenes; er aber sah den toten Bock zwischen den Blumen und fragte, wer ihn getötet. Und wir vom Dschungel wollten es nicht sagen, weil der Geruch des Blutes auch uns toll gemacht hatte, so wie er uns heute toll macht. Wir liefen im Kreise herum, machten Luftsprünge, schrien und schüttelten unsere Köpfe. Deshalb gab Tha den Bäumen mit hängenden Zweigen und den gewundenen Schlingpflanzen Befehl, den Mörder des Bockes zu zeichnen, daß er ihn erkenne; und Tha sagte: ›Wer will nun Meister des Dschungelvolks sein?‹ Da sprang der graue Affe, der in den Ästen lebt, herbei und sagte: ›Ich will jetzt der Meister des Dschungels sein.‹ Da lachte Tha und sagte: ›So sei es,‹ und ging zornig fort.

»Kinder, ihr kennt den grauen Affen. Er war damals, wie er heute ist. Zuerst setzte er ein weises Gesicht auf, bald aber fing er an, sich zu kratzen und auf und ab zu klettern; und als Tha zurückkehrte, fand er den grauen Affen, Kopf nach unten, an einem Aste baumelnd, die Untenstehenden nachäffend, und diese ihn verspottend. Und so gab es kein Gesetz mehr im Dschungel, nur sinnlose Worte und törichtes Geschwätz.

»Da rief Tha uns alle zusammen und sagte: ›Der erste eurer Meister hat Tod in das Dschungel gebracht, der zweite Schande. Es ist Zeit, daß ein Gesetz gemacht wird, ein Gesetz, das ihr nicht brechen könnt. Nun sollt ihr Furcht kennen lernen, und Furcht soll euer Meister sein – und das andere wird folgen.‹ Da sagten wir vom Dschungel: ›Was ist Furcht?‹ Und Tha sagte: ›Suchet, bis ihr findet.‹ So liefen wir im Dschungel auf und ab und suchten Furcht, und da kamen die Büffel –«

»Uff–f!« brummte Mysa, der Leiter der Büffel, von der Sandbank her.

»Ja, Mysa, es waren die Büffel. Sie kamen zurück mit der Neuigkeit, Furcht sitze in einer Höhle im Dschungel, sei unbehaart und gehe auf den Hinterbeinen. Da folgten wir vom Dschungel der Herde, bis wir zu der Höhle kamen, und Furcht stand vor dem Schlund der Höhle, und er war, wie die Büffel gesagt, haarlos und ging auf seinen Hinterbeinen. Er schrie auf, als er uns sah, und seine Stimme erfüllte uns mit dem Schrecken, den wir noch heute fühlen, und wir rannten fort und stießen und traten einander nieder, denn wir fürchteten uns. In jener Nacht, so wurde mir erzählt, lagen wir vom Dschungel nicht beieinander, wie es unsere Gewohnheit war – jeder Stamm blieb für sich, Schwein mit Schwein, Wild mit Wild, Horn mit Horn, Huf mit Huf, gleiches bei gleichem, und so lagen sie zitternd im Dschungel.

Nur der Stammvater der Tiger war nicht unter uns, er verbarg sich noch in den Sümpfen des Nordens, und als ihm Kunde kam von dem Ding, das wir in der Höhle gesehen, da sagte er: ›Ich will hingehen und dem Ding das Genick brechen.‹ Und er rannte die ganze Nacht durch, bis er zu der Höhle kam – aber die Bäume und die Schlingpflanzen gedachten Thas Befehl, senkten ihre Zweige nieder und zeichneten ihn, als er dahinrannte; sie fuhren mit ihren Fingern ihm über Rücken, Flanken, Kopf und Wangen. Wo immer sie ihn berührten, da blieben Streifen und Zeichen auf seiner gelben Haut. Und diese Streifen tragen seine Kinder noch diesen Tag. Als er zu der Höhle kam, streckte der Haarlose seine Hand aus und nannte ihn: ›der Gestreifte, der bei Nacht kommt‹ – und der Stammvater der Tiger fürchtete sich vor dem Haarlosen und rannte heulend zurück nach den Sümpfen.«

Mogli lachte leise, mit dem Kinn im Wasser.

»So laut heulte er, daß Tha ihn hörte und sagte: ›Was hast du für Kummer?‹ Und der Stammvater der Tiger streckte seine Schnauze zu dem neu gemachten Himmel auf, der nun so alt ist, und rief: ›Gib mir meine Macht zurück, o Tha. Ich bin vor dem ganzen Dschungel geschändet, und ich bin geflohen vor dem Haarlosen, und er rief mich mit schimpflichem Namen.‹ ›Und weshalb?‹ sagte Tha. ›Weil ich beschmutzt bin mit dem Schlamm der Sümpfe,‹ sagte der Stammvater der Tiger. ›Dann geh schwimmen,‹ sagte Tha, ›und rolle dich im nassen Gras umher; wenn es Schlamm ist, wird er sicher abgewaschen;‹ und der Stammvater der Tiger schwamm und rollte und rollte sich, bis das Dschungel sich rundum drehte vor seinen Augen; aber nicht der kleinste Streifen auf seiner Haut war verschwunden, und Tha, der ihm zugesehen, lachte. Da sagte der Stammvater der Tiger: ›Was habe ich getan, daß dies über mich kommen mußte?‹

»Tha sagte: ›Du hast den Bock getötet, du hast den Tod auf das Dschungel losgelassen, und mit dem Tod ist Furcht gekommen, so daß das Dschungelvolk sich fürchtet voreinander, wie du dich fürchtest vor dem Haarlosen.‹ Der Stammvater der Tiger sagte: ›Mich werden sie niemals fürchten, denn ich kannte sie von Anfang an.‹ Tha sagte: ›Geh' und überzeuge dich!‹

»Und der Stammvater der Tiger lief hin und her und rief laut nach dem Wild, dem Schwein und dem Hirsch und dem Stachelschwein und dem ganzen Dschungelvolk; aber sie liefen fort vor ihm, der einst ihr Richter gewesen, denn sie fürchteten sich.

»Da kam der Stammvater der Tiger zurück; sein Stolz war gebrochen, er schlug seinen Kopf gegen den Boden und riß die Erde mit seinen Tatzen auf und sagte: ›Erinnere dich, o Tha, daß ich einst der Meister des Dschungels war, vergiß mich nicht – laß meinen Kindern die Erinnerung, daß ich einst ohne Furcht und ohne Schande gewesen.‹ – Und Tha sagte: ›Dieses eine will ich für dich tun, weil du mit mir das Dschungel hast werden sehen. Für eine Nacht in jedem Jahr soll es sein wie vordem, ehe du den Bock getötet, für dich und für deine Kinder! Wenn du den Haarlosen – des Name Mensch ist – in der Nacht triffst, sollst du ihn nicht fürchten, aber er soll dich fürchten, als wärest du noch Richter und Meister des Dschungels! Zeige ihm Barmherzigkeit in der Nacht seiner Furcht, denn du weißt, was Furcht ist.‹

»Und der Stammvater der Tiger antwortete: ›Ich bin zufrieden.‹ Aber als er das nächstemal trank, sah er im Wasser die schwarzen Streifen auf seiner Haut, und er gedachte des Namens, den der Haarlose ihm gegeben, und er ward zornig. Ein Jahr lebte er in den Sümpfen und wartete, ob Tha sein Versprechen halten würde. Und in einer Nacht, da der Schakal des Mondes (der Abendstern) klar über dem Dschungel stand, fühlte er, daß seine Nacht über ihm war, und er ging zu der Höhle, den Haarlosen zu treffen. Da geschah, was Tha versprochen, denn der Haarlose fiel nieder vor ihm und lag auf der Erde, und der Oberste der Tiger schlug ihn und zerbrach ihm seinen Rücken. Und er dachte, daß nur ein solches Ding im Dschungel wäre, und daß er Furcht getötet hätte. Da, als er über seinem Opfer schnüffelte, hörte er Tha herniederkommen aus den Wäldern des Nordens und hörte die Stimme des Urvaters der Elefanten, und diese Stimme war dieselbe, die wir jetzt hören –«

Der Donner rollte auf und nieder an den trockenen, zerfurchten Hügeln; aber er brachte keinen Regen – nur Wetterleuchten zuckte hinter den Felsenrücken – und Hathi fuhr fort:

» Das war die Stimme, die er hörte, und Tha sprach: ›Ist dies deine Barmherzigkeit?‹

»Der Stammvater der Tiger leckte seine Lefzen und sagte: ›Was ist los? Ich habe Furcht getötet!‹

»Und Tha sagte: ›Du blinder Tor! Du hast die Füße des Todes entfesselt, und er wird deiner Spur folgen, bis du stirbst – du hast den Menschen töten gelehrt!‹

»Der Stammvater der Tiger blieb starr aufgerichtet über seinem Opfer stehen und sagte: ›Es ist nun so, wie der Bock war! Furcht ist nicht mehr! Nun will ich wieder Richter sein über das Dschungel.‹

»Und Tha sagte: ›Niemals wieder wird das Dschungelvolk zu dir kommen – sie werden deine Spur nicht kreuzen, noch neben dir schlafen, noch dir folgen, noch weiden bei deiner Lagerstatt! Nur Furcht soll dir folgen und mit dem Schlag, den du nicht sehen kannst, dich zwingen nach seinem Willen. Er wird den Boden unter deinem Fuß sich öffnen und die Schlingpflanze deinen Nacken umschnüren und die Bäume um dich her zusammenwachsen heißen, höher, als du springen kannst, und zuletzt wird er dein Fell nehmen und seine Jungen darein wickeln, wenn sie frieren – – du hattest keine Barmherzigkeit für ihn, und keine wird er für dich haben.‹

»Der Stammvater der Tiger war sehr keck, denn seine Nacht war noch über ihm, und er sagte: ›Das Versprechen des Tha bleibt das Versprechen des Tha! Er wird mir meine Nacht nicht nehmen?‹

»Und Tha sagte: ›Deine eine Nacht ist dein, wie ich gesagt; aber du hast dafür zu zahlen. Du hast den Menschen töten gelehrt, und er lernt schnell.‹ –

»Der Stammvater der Tiger sagte: ›Hier liegt er, unter meinem Fuß, mit gebrochenem Rücken. Lasse das Dschungel wissen, daß ich Furcht getötet.‹

»Da lachte Tha und sagte: ›Du hast einen von vielen getötet; aber du selbst magst es dem Dschungel sagen – denn – deine Nacht ist um!‹

»So kam der Tag, und aus dem Schlund der Höhle trat ein anderer Haarloser, und er sah den Ermordeten auf dem Wege und den Stammvater der Tiger über ihm – und er nahm einen spitzen Stab – –«

»Sie werfen solch ein Ding, das schneidet, jetzt noch,« sagte Sahi, das Stachelschwein, vom Ufer herunter rasselnd. – Sahi gilt für ein ungemein gutes Essen bei den Gonds (ein in den Wäldern lebender indischer Stamm). Sie nennen ihn Ho-Igoo – und er weiß etwas zu erzählen von den bösen kleinen Gond-Äxten, die durch die Luft wirbeln, wie die Drachenfliege.

»Es war ein spitzer Stab,« sagte Hathi, »so wie sie ihn in den Grund der Grubenfalle stecken, und er schleuderte ihn tief in die Flanke des Stammvaters der Tiger. So kam es, wie Tha gesagt, und der Stammvater der Tiger rannte heulend auf und ab im Dschungel, bis er den Stab herausgezerrt hatte, und das ganze Dschungel wußte nun, daß der Haarlose von weither treffen konnte, und sie fürchteten sich mehr als je. So kam es, daß der Stammvater der Tiger den Menschen töten lehrte, und ihr wißt, welches Leid dies über unser Volk brachte – durch die Schlinge, die Grube, die versteckte Falle, den fliegenden Stab und die stechende Fliege, die aus dem weißen Dampf hervorkommt (Hathi meinte die Flinte), und die rote Blume Das Feuer., die uns hinaustreibt in das offene Land. – Aber in einer Nacht fürchtet der Haarlose den Tiger, wie Tha versprochen, und niemals hat der Tiger ihm Grund gegeben, ihn mehr zu fürchten. Wo er ihn dann findet, da tötet er ihn, eingedenk, wie der Stammvater der Tiger geschändet wurde. Sonst aber wandelt Furcht durch das Dschungel bei Tage und bei Nacht.«

»Ahi! Ahu!« ächzte das Wild bei dem Gedanken, was das für alle bedeutete.

»Und nur, wenn eine große Furcht über uns allen liegt, wie jetzt, dann legen wir unsere kleine Furcht beiseite und treffen zusammen auf einem Platz, wie wir es heute tun.«

»Nur für eine Nacht fürchtet der Mensch den Tiger?« fragte Mogli.

»Nur für eine Nacht,« sagte Hathi.

»Aber ich, aber wir, aber das ganze Dschungel weiß doch, daß Schier Khan zwei- und dreimal im Monat Menschen tötet.«

»So ist es. Dann springt er von hinten und dreht seinen Kopf zur Seite, wenn er zuschlägt, denn er ist voll Furcht. Wenn der Mensch ihn ansähe, würde er fliehen ... Aber in seiner Nacht geht er offen hinunter in das Dorf und zwischen die Hütten, und er steckt seinen Kopf in die Torwege, und die Menschen fallen auf ihr Gesicht, und dann hat er seinen Mord. – Einen Mord in dieser Nacht.«

»O,« sagte Mogli für sich, sich im Wasser umdrehend, »nun weiß ich, warum Schier Khan mich ihn ansehen hieß! Es hat ihm nichts genutzt, er konnte meinen Blick nicht aushalten, und ich bin ihm sicher nicht zu Füßen gefallen! Aber ich bin ja auch kein Mensch; ich bin vom freien Volk.«

»Umm,« sagte Baghira, tief in seiner zottigen Kehle, »kennt der Tiger seine Nacht?«

»Nicht bevor der Schakal des Mondes klar über dem Abendnebel steht. Zuweilen fällt sie in den trockenen Sommer, zuweilen in die nasse Regenzeit, diese eine Nacht des Tigers. Der Stammvater der Tiger allein trägt an allem die Schuld, und daß wir Furcht kennen.«

Das Wild stöhnte kummervoll – aber Baghiras Lippen kräuselte ein verschmitztes Lächeln. »Kennen die Menschen diese – – diese – Geschichte?« fragte er.

»Keiner kennt sie – nur die Tiger und wir, die Elefanten, die Kinder des Tha – nun habt ihr, an den Wassern, sie gehört – und ich habe gesprochen.«

Hathi senkte seinen Rüssel in das Wasser, zum Zeichen, daß er nicht mehr reden wollte.

»Aber – aber – aber –« sagte Mogli, sich zu Balu wendend, »weshalb denn fraß der Stammvater der Tiger nicht weiter Gras und Blumen und Blätter? Er brach dem Bock wohl das Genick, aber er fraß ihn nicht. Was brachte ihn denn zu dem heißen Fleisch?«

»Die Bäume und die Schlingpflanzen zeichneten ihn, kleiner Bruder, und machten ihn zu dem gestreiften Ding, das wir sehen; niemals wieder wollte er etwas von ihren Früchten wissen. Von dem Tage an rächte er sich an dem Wild und den andern Pflanzenfressern,« sagte Balu.

»Also du kennst die Geschichte? He, weshalb habe ich sie denn nie gehört?«

»Weil das Dschungel vollsteckt von solchen Geschichten. Wenn ich einmal davon angefangen, hätte ich kein Ende gefunden. Laß mein Ohr los, kleiner Bruder.«


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