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Einführung

Wie ist Mogli, das Kind ehrsamer indischer Holzhauersleute, unter die Wölfe in das Dschungel geraten? Kiplings erstes Dschungelbuch hat davon erzählt.

Die Welt des indischen Waldes tut sich auf, mit seinen grellen Farben und dem üppigen Durcheinander seiner säftestrotzenden Vegetation. Hohe, wuchernde Stämme, und der Boden mit Schlingpflanzen bedeckt. Die recken sich in die Höhe und greifen von Baum zu Baum, von Ast zu Ast. Es ist, als wolle der Wald den Wald ersticken. Und gellende Laute schwirren durch die Luft: das Gekreisch der Vögel, der Schrei eines Raubtiers, das Zischen der Schlangen. Aber erst, wenn die Sonne niedergegangen und im Mondlicht sich groteske Schatten zeichnen, erwacht das eigentliche Leben im Dschungel. Die Jäger des indischen Waldes, der Wolf, der schwarze Panther, der Tiger ziehen aus auf Beute.

Das Märchen hat sie belauscht. Und doch, es sind das nicht Märchenwesen, von denen es erzählt, es ist das leibhaftige Raubtier mit all seinen wilden Instinkten, dem hungrigen Gieren nach Beute, dem stolzen Gefühl der Kraft seiner Sehnen; ihre Gewohnheiten sind die ihrer Art, ihre Gesetze die ihres Zusammenlebens. Das Märchen, das sie realistisch schafft, ist wirklichkeitdeutend. Aus der Stimmung des indischen Dschungels ist es erstanden. Indische Urwaldstimmung verdichtet es zu lebenstrotzenden Gestalten.

An einem warmen Abend war's. Wolf und Wölfin rekelten sich in ihrer Höhle und leckten ihre vier Jungen. Kam Tabaqui, der Schakal, der üble Gesell, zu ihnen, machte sich an einem alten, abgenagten Knochen zu schaffen und erzählte voll feiger, tückischer Schadenfreude, Schier Khan, der alte, lahme Tiger, sei in ihr Jagdrevier gekommen und wolle sich's da wohl sein lassen. Wo aber ein Tiger, der Menschenmörder, haust, ist's um die Sicherheit bald schlecht bestellt. Denn dahin kommen die Menschen, um zu rächen und zu strafen. Und wie der Wolf noch mißmutig in seiner Höhle auf und ab trottet, ertönt schon der gelle Ruf des Tigers. Und gleich darauf ein Weh- und Wutgeheul. Holzhauersleute hatte der Tiger aufgespürt, war aber zu kurz gesprungen, und in das Feuer, um das sie lagerten. Ein paar Augenblicke vergehen, da rutscht ein unbestimmtes, kleines Etwas in den Eingang der Wolfshöhle. Der Wolf springt drauf zu, wirft sich aber selbst im Sprunge zurück. Und das nackte, kleine Etwas krabbelt lustig und unbekümmert vorwärts und streckt sich zu den jungen Wölfen. Ein Menschenkind! Und ist gleich zutunlich zu den Jungen, und die Alte leckt es wie die Ihren. Und weil es wie ein Frosch aussieht, nennen sie es Mogli, denn das heißt in der Wolfssprache »Frosch«. Plötzlich aber wird's in der Höhle finster. Durch das Eingangsloch hat der Tiger seinen Riesenkopf gestreckt. Er fordert seine Jagdbeute, das Menschenkind. Da springt die Wölfin auf und tut ihm ein für allemal kund und zu wissen, daß er hier unter den freien Wölfen ganz und gar nichts zu suchen habe. Und mit Schimpf und Schande muß Schier Khan, der Tiger, abziehen.

Vollmond ist's. Hell liegt sein Licht auf dem felsigen Fleck mitten im Dschungel. Da wird's rege. Von allen Seiten schleicht's lautlos herzu. Graue Leiber der Wölfe werden zwischen dem Buschwerk sichtbar. Und auf höherem Felsstein liegt Akila, der alte, starke Wolf, ihr Führer. Das ist die Nacht, in der die Wölfe alle aus dem Dschungel sich einstellen und ihre Jungen mitbringen, damit die andern sie kennen lernen und Jagdrecht ihnen zugestehen. Und nun steht Mogli, das Menschenkind, mitten im hellen Mondschein und rings um ihn die Wölfe, und phantastische Schatten spielen auf dem Boden. Und Schier Khan, der Tiger, ist nicht fern und fordert wieder die alte Jagdbeute, Mogli. Fragt Akila, ob einer ringsum für das Menschenkind bürgen wolle, daß es in das Wolfspack ausgenommen werde. Balu, der Bär, der die jungen Wölfe Jagdrecht lehrt, tritt für ihn ein. Und dann ergreift auch Baghira, der schwarze Panther, für ihn das Wort; doch da er im Wolfsrat nicht Recht und Stimme hat, muß er's mit einem fetten, just erlegten Bullen bekräftigen. So wird Mogli, das Menschenkind, im Wolfsrat als Bruder ausgenommen.

Und mit den Wölfen wächst Mogli auf. Er jagt mit ihnen und schläft in ihrer Höhle. Balu, der Bär, und Baghira, der schwarze Panther, nehmen sich seiner an. Klettern, schwimmen und jagen lehrt ihn Baghira; Balu aber hat bessere Weisheit; den Erkennungs- und Jagdruf aller Tiere im Dschungel lehrt er ihn, in dem Art zu Art sich findet. Grüßt Mogli die Schlangen mit ihrem gezischten Willkommen, ist er vor ihrem Giftzahn sicher. Und alle die Tiere im Dschungel haben Mogli lieb. Aber in die Augen ihm zu sehen, das vermag keines.

Einmal aber, wie Balu vom wohlmeinenden Züchtigungsrecht gegen Mogli allzu energisch Gebrauch gemacht hat – was weiß so ein Bär davon, wie ein sanft gemeinter Schlag mit der Tatze einem nackten Knaben tut? – ist Mogli auf einen Baum geklettert und unter das Affenvolk geraten. Wie er wieder herab kommt, verweisen Balu und auch Baghira ihm die Affengesellschaft sehr dringlich. Denn verächtlich vor allen Tieren und verachtet sind die Affen; ohne Gesetze leben sie und ohne Führer auf ihren Ästen, alles mit großem Geschrei ins Werk setzend und nichts zu Ende führend. Und indem noch Balu davon redet, hageln Nüsse auf sie nieder, und kurze Zeit darauf ist Mogli – verschwunden. In toller Flucht haben ihn die Affen davongeschleppt. Und Balu und auch Baghira wissen sich nicht anders zu helfen, als daß sie Kaa, die große, dicke Riesenschlange, zu Hilfe rufen.

Und wieder ist der Mond über dem Dschungel aufgegangen, und gespenstisch ragen die Trümmer der alten verfallenen indischen Königsstadt aus dem wuchernden Grün. Die Affen treiben zwischen ihren Mauern ihre tollen Spiele, in ihrer Mitte ihr Gefangener: Mogli. Und dann ist Baghira, der große, schwarze Panther, zur Stelle und Balu, der schwerfällige, alte Bär, und es setzt heißen Kampf, und das Gekreisch der Affen schrillt durch die Ruinen. Und dann ein Zischen, das die Affen erstarren macht. Im Mondlicht glitzert der bunte Leib der Riesenschlange Kaa. Und sie tanzt ihren Hungertanz, und zu tollen Figuren ringelt und löst sich ihr Leib. Sie richtet sich auf und zischelt: »Näher!«, und gebannt stürzen die Reihen der Affen ihr wehrlos entgegen. Eine Wolke verdeckt den Mond. Mogli ist gerettet.

Der Haß aber Schier Khans, des Tigers, auf die ihm entrissene Jagdbeute, Mogli, schlummert nicht. Dessen eigen Volk, die Wölfe, hat er mit heimtückischen Einflüsterungen gegen ihn aufgehetzt, und Akila, ihr Führer, ist alt geworden, und schon hat er im Sprunge auf einen Bock, seine Kraftprobe, gefehlt, und sein Tod ist beschlossen. Stirbt er, so wird Mogli mit ihm sterben. Ein schwarzer Panther aber hat ein leises Ohr, und Baghira hat wohl vernommen, was der Tiger zu den Wölfen flüsterte. Er rät dem Liebling, zu seinem Schutz die Rote Blume in dem Hindudorfe an Dschungels Rand zu suchen. Die Rote Blume ist das Feuer. Das fürchten die Tiere alle. Und in einem Topf bringt Mogli den Feuerbrand zum Rate der Wölfe.

Akilas Tod ist beschlossen, und Mogli soll dem Tiger ausgeliefert werden. Im Mondlicht drängen sich drohend die grauen Rücken zusammen, und mordlüstern glühen die Augen. Und der nackte, braune Knabe springt auf, den welken Ast entzündet er am Feuer und schlägt mit dem Brand auf die Wölfe und auf den Tiger, und gelles Geheul tönt aus dem Dschungel. Und fahl leuchtet das Mondlicht auf die flüchtenden Tiere und auf den hochgewachsenen Knaben, der in der Hand die Feuerrute schwingt. An Akila wagt sich fürder keiner zu vergreifen; Mogli aber verläßt das Dschungel, von seinem Stamm, den Wölfen, verbannt. Und in sein Auge tritt die erste Träne, das Schmerzenszeichen seines Menschentums.

Im Hindudorfe wird er aufgenommen und lernt die Sprache der Menschen, und er hat die Büffelherde des Dorfes zu hüten. Aber die Brüder-Wölfe, die mit ihm in gemeinsamer Höhle aufgewachsen sind, und Akila, dem er das Leben gerettet, lassen von ihm nicht. Und abends finden sie sich zu ihm und berichten ihm von Schier Khans Racheplänen. Und dann ist die Stunde der Rache gekommen, aber die Rachestunde für Mogli an dem Tiger. Sattgefressen liegt der in enger Schlucht. Durch seine Wölfe hat Mogli davon erfahren, und auf sein Geheiß jagt Akila die Büffelherde in zwei Herden auseinander. Je eine Herde hetzen die Wölfe von beiden Seiten in die Schlucht. Und die wild gereizten Büffel stampfen Schier Khan zu Tode. Wie ein Hund muß der Tiger verrecken.

Und Mogli macht sich daran, das Fell ihm abzustreifen. Kommt der Alte des Dorfes und macht Mogli frech die Siegesbeute streitig, denn auf den Tiger hat die wohlweise Regierung einen Preis gesetzt. Mit Mühe entgeht der Alte Moglis Wölfen. Als aber am Abend Mogli mit seiner Herde ins Dorf heimkehren will, empfangen ihn Steinwürfe, und der fette Priester mit dem Allerheiligsten des Hindugottes kommt ihm fluchend entgegen, denn ein Knabe, der mit Wölfen geheime Zwiesprach hält, muß ein Zauberer sein. Und ihrem Fluchen und ihren Steinwürfen muß Mogli weichen – verbannt von den Menschen, wie vordem von den Wölfen verbannt.

In das Dschungel kehrt Mogli zurück. Denselben Abend noch kann Baghira, der schwarze Panther, sich behaglich auf dem Tigerfell strecken. Hinfort aber wird Mogli nicht mehr mit den Wölfen, sondern als sein eigner freier Herr im Dschungel jagen.

Von den Erlebnissen, die ihm bevorstehen, erzählt das Neue Dschungelbuch. Auch davon erzählt es, wie es wieder einmal Frühling im Dschungel wird, wie Mogli wieder die Träne ins Auge tritt, und wie es ihn zurücktreibt zu den Menschen. »Mogli, der Frosch, bin ich gewesen und habe gesagt, ich bin Mogli, der Wolf. Nun muß ich Mogli, der Affe, sein, bevor ich Mogli, der Bock, werde. Und schließlich werde ich Mogli, der Mensch, sein.«

* * *

Wer ist Mogli? Die indische Dschungelstimmung hat sich Kipling zu dieser Gestalt verdichtet, Mogli ist gleichsam aus der Waldesstimmung heraus geboren. Gleichzeitig aber ersteht in Mogli ein altes Problem wieder, das die englische Dichtung seit Jahrhunderten beschäftigt hat: die Frage nach dem Urmenschen. An Shakespeares Miranda mag man denken, an Miltons Adam und an den wilden Gefährten, den Defoe seinem Robinson gegeben hat. Den »Urweltswanderer« hat Briton Rivière zwischen den Vögeln des Strandes gemalt. Mogli, der unter den Tieren des Dschungels aufwächst, macht in der kurzen Spanne seiner Jugend die Wandlungen alle durch, die für die Vorzeitsgeschichte der Menschheit ebensoviel Perioden bedeuten. Ein Bruder der Tiere, löst er sich langsam mehr und mehr von ihnen los. Wie die Liebe in seinem Herzen erwacht, wird er Mensch.

Und Mogli ist mehr, als nur der kühle Vertreter eines historischen Problems. Das Heimweh des Dichters hat ihn geboren, das Heimweh und die heiße Sehnsucht des Kulturmenschen nach Rückkehr in den Schoß der Allerzeugerin. Das emanzipierte Kind des Jahrhunderts bangt nach seiner Mutter, der Natur, zurück. Bei ihr ist Frieden. Der Traum von Mogli, dem Kinde, das im Dschungeldickicht mit seinen Brüdern, den Tieren, aufwächst, ist der Traum unserer Zeit, den die Sehnsucht eingibt, aus seinem wehen Geheimnis heraus gestaltet. Das pantheistische Heimweh hat hier seinen Friedensgruß gefunden. Und Mogli mit all seinen Abenteuern und Kämpfen – uns ist er ein Bote des Friedens. Denn sein Leben ist ein Leben im Schoß der Natur.

Und nun zu Moglis Erlebnissen im Neuen Dschungelbuch! Moglis Jagdruf zum Gruß:

Wir sind Blut von gleichem Blute. Glückliche Jagd!

Ernst Heilborn.


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