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Der Tempel von Madura bei Nacht ruft Vorstellungen des Schreckens in meiner Seele wach. Indem ich mich in den düsteren, von Öllampen matt erhellten Gängen ergehe und dem Schattenspiel der seltsamen Gebärden zuschaue, welche die Beter um butterbeschmierte Lingams herum vollführen, während über mir Scharen von Fledermäusen kreischend und zirpend hin und her flattern; indem ich die vielarmigen Götter betrachte, die sich im unsicheren künstlichen Licht so viel furchtbarer ausnehmen als bei Tag, muß ich der Riten der Phöniker gedenken, die Flaubert uns so eindrucksvoll geschildert hat. Wohl weiß ich's: nichts Furchtbares geschieht; der Hinduismus, der heute an den heiligen Stätten Süd-Indiens gepflegt wird, ist sanft und mild. Aber seine überkommenen Formen tragen unverkennbar die Züge der wilderen Zeiten, in denen sie entstanden sind. Kâli hat Menschenopfer gefordert, fordert sie eigentlich heute noch. Und Kâli ist die Gattin des Shiva, dem der Tempel von Madura geweiht ist, und Shiva selbst ist, in vielen seiner Aspekte, furchtbar genug ... Ich kann mir nicht helfen: alle Vorstellungen sind schreckhaft, welche die Bilder dieser Nacht in mir auslösen. Aber das Schreckhafte begeistert mich. Heute verstehe ich gut, weshalb alle frühesten Gottesdienste furchtbar waren, sein mußten. Mir kommen die Worte in den Sinn, die Dostojewsky dem Dimitry Karamasoff, dem Urmenschen unter den Brüdern, in den Mund legt: »Was dem Verstand als Schmach und Schande gilt, erscheint dem Herzen als eitel Schönheit. – Sollte die Schönheit in Sodom liegen? – Glaube es mir, in Sodom wohnt sie für die Überzahl der Menschen ... Entsetzlich ist's, daß Schönheit nicht nur ein Furchtbares, sondern auch ein Geheimnisvolles ist. Dort ringt der Teufel mit Gott – und das Schlachtfeld ist das Menschenherz.« Als schön gilt dem Menschen, was sein Lebensgefühl steigert. Und das bewirkt beim primitiven Wesen nur die Ekstase des Fleisches. Nur im Rausch, in der Wollust, in der Grausamkeit gelangen solche hinaus über sich selbst, erfahren sie, was der vorgeschrittene Mensch in stiller Schauung Gottes erlebt. Deshalb tragen die Kulte aller tief religiösen Völker in deren Jugend furchtbaren Charakter; in ihnen tobt sich das religiöse Bewußtsein aus. Es werden Orgien der Lust und der Grausamkeit gefeiert, es wird frenetisch genossen und gelitten, in wildem Taumel Leben geschaffen oder zerstört. So muß es sein. Frühe Menschen sind tief nur in ihren Trieben, nur sinnlichkeitsgetragene Begeisterung vereinigt sie mit ihrer Substanz; nur in Form des Triebmäßigen können sie ihr Tiefstes erleben und äußern. Und gilt dies von den zeitlich frühen allein? Was bedeutet denn der Kult, der in Europa wieder und wieder mit der Liebe zwischen Mann und Weib getrieben wird, und nicht selten mit deren rohester Form, anderes als eine Reaktion gegen eine allzu vergeistigte Weltanschauung? Wie viele bedürfen noch der »geistigen« Getränke, um sich zu steigern, der Sensationen, der Aufpeitschung des Fleisches! Sie alle stehen noch, mit einem Teil ihres Wesens mindestens, auf der Stufe, welcher die Orgie oder das Menschenopfer der eigentliche Ausdruck des religiösen Empfindens wäre ... Des Menschenopfers bedürfen die Hindus nicht; sie sind zu weiblich-sanft, um am Zerstören Wollust zu empfinden. Aber der ganze schaivaitische Kult ist durchdrungen vom Geist animalischer Prokreation. Hier, zum erstenmal in meinem Leben, sehe ich Schaustellung sexueller Vorgänge nicht als Unreines, sondern als Heiliges aufgefaßt, als das Sinnbild des Göttlichen in der Natur. Keine obszöne Assoziation schien den Frommen in den Sinn zu kommen, die bei der Feier zu Râmeshvârâm der von Puppen versinnbildlichten Vereinigung Shivas und Shaktis beiwohnten. Keine der Frauen, die sich heute Nacht hier vor dem Lingam neigen, scheint anders gesinnt als eine spanische Nonne etwa, die zur Unbefleckten Empfängnis fleht. Von allen gläubigen Hindus wird die sinnliche Liebe als Sinnbild göttlicher Schöpferkraft verehrt, und benutzt als Gefäß frommer Opfergedanken. Mann und Weib, lehren die Shastras, sollen sich niemals nahen, ohne derweil zu gedenken, daß Brahma durch sie schafft. Als göttlich sollen sie einander verehren, sofern sie lieben, im Geist nicht des Genießens, sondern gotthaften Gebens das Leben fortpflanzen; so wird alles triebhaft Tierische zum Ausdruck des Göttlichen geweiht.
Nie habe ich Gebärden gesehen, die dem Geiste der Fruchtbarkeit so gemäß wären wie die wiegenden Bewegungen der Bajaderen während festlichen Umschreitens der Götterbilder. Und wie ich nun meinen Blick von jenen diesen zuwende, zu der seltsam übertreibenden Stilisierung, die ihre Formen beherrscht, wird mir auf einmal die Identität des Geistes in beiden Erscheinungen bewußt. Diese Gestalten sind Verkörperungen unserer Grundtriebe, wie sie gegenständlicher schwer hätten erdacht werden können. Was sind diese ohne Rückbezug auf eine geistige Einheit, auf das, was man Ich oder Seele heißt? Gewalten für sich, wahrhaftige Dämonen, denen Menschengestalt kaum angemessen scheint. Wer Berserkern oder Satyrn begegnet ist, Leibeigenen der Lust oder der Zerstörungswut, wird aus Erfahrung wissen, was ich meine: solche Wesen sind keine Menschen; sie lügen, indem sie sich menschlich darstellen; sie sind Personifikationen elementarer Naturkräfte. Aber das gilt nicht nur von diesen, es gilt von allen, welche irgendein Trieb ganz besitzt. Es gilt von den Müttern, die im Gattungsinstinkte aufgehen, von den Bräuten, denen der Gatte alles ist; es gilt von den heiligen Männern und Frauen, deren Herz in göttlicher Geberlust die Welt umfängt: jeder Trieb gibt dem Menschenantlitz einen neuen verwandelnden Ausdruck: hier vertierend, dort verschönernd, hier verteufelnd, dort verklärend, so sehr, daß man mit Recht von »Transfigurieren« spricht. Aber solchem Ausdruck sind die Ausdrucksmittel der physischen Natur oft nur unvollkommen gemäß. Der Religiöse ahnt hinter der Erscheinung einen besonderen Geist, der den Menschen zeitweilig besitzt; den Künstler treibt es, ihm einen Leib zu schaffen, der sein Wesen ganz zum Ausdruck brächte. So sind auf dem weiten Erdenrund Legionen von Göttergestalten entstanden. Die meisten sind nicht, was sie sein sollen, Aphrodite ist nicht die personifizierte Liebe, die Jungfrau Maria nicht die personifizierte Mutterschaft. Beide Göttinnen sind nur Abbilder von Menschen, keine selbständigen Verkörperungen von Urtrieben. Der Westen war selbst im Mittelalter zu wissenschaftlich gesinnt, um Irrationelles vollkommen auszudrücken. Gerade dieses haben die Hindus vermocht. Die Gestalten des indischen Pantheon sind, wo sie Urkräfte verkörpern, von solcher Überzeugungskraft, daß ich heute jenem Seher glauben möchte, der mir einst sagte, sie seien wahrhaftige Abbilder göttlicher Wirklichkeit.
Wahrscheinlich sind nur Menschen solcher Schöpfertat fähig, die sich zur geistigen Persönlichkeit noch nicht verdichtet haben; die wesentlich vielfach sind, bald von diesem, bald jenem Trieb besessen, ohne deutliches Bewußtsein des vereinigenden Bands. Solche Menschen sind, vom Atman her betrachtet, oberflächlich, denn vom Selbste wissen sie nichts. Eben deshalb aber kann ihr Tiefstes die Oberfläche beseelen, wie dies beim Durchgeistigten nimmermehr geschieht; die ganze Tiefe der Welt kann eine sinnlose Leidenschaft laden. Die einzelnen Triebe verdichten in sich dann soviel Substanz, wachsen zu Wesenheiten von so massiver Wucht heran, daß man sich nicht darüber zu verwundern braucht, wenn auch bei uns noch heute viele wähnen, sie seien wesentlich tief. In eben dem Sinn ist das indische Pantheon, obschon an sich ein Oberflächenprodukt, dennoch ein Tiefes: ein so tiefgreifender, gespannter, erschöpfender Ausdruck des Oberflächlichen in Mensch und Natur, wie ihn eine vertieftere Menschheit nicht hätte finden können.
Es wundert mich nicht, daß europäische Besucher der drawidischen Kunst so schwer gerecht werden: denn keiner unserer gewohnten Maßstäbe ist hier anlegbar; nichts vielleicht am Tempel von Madura ist von der Vernunft her zu verstehen. Kein einheitlicher Grundriß liegt dem Bau zugrunde, keine leitende Idee hat Ausführung und Ausschmückung beherrscht, kein geistiger Gehalt beseelt das Ganze. Seine Größe, seine Monumentalität ist ohne symbolische Bedeutung: sie ist das Zufallsergebnis reicher Mittel. Seine Zinnen scheinen planlos hervorgesprossen, wie die Arme eines Korallenstocks, seine Ornamente wildem Fleisch gleich hervorgewuchert zu sein. Von allen Vergleichen der gegenständlichste ist der, welcher diesen Tempel zu einem Knospenagglomerat in Beziehung setzt: allenthalben wachsen, drängen, stoßen Einzelgebilde aneinander in überschwenglicher Fülle; die nur undeutlich erkennbare Gesamtgestalt wirkt als Naturspiel fast im gleichen Maße wie die Form einer gotischen Kathedrale, die hier und da in den Riffbergen Tirols des Steigers Auge überrascht.
Aber wer die eigensten Voraussetzungen dieser Kunst erfaßt hat, dem erscheint sie tief bedeutungsvoll. Sie ist der Höchstausdruck physischer Imagination. Gestern schrieb ich vom Sinn der indischen Göttergestaltung: in ihr hätten die Urtriebe Körper gefunden, wie sie entsprechender kein anderes Volk erdichtet; und fügte hinzu, daß solche Schöpfung nur einer unvereinheitlichten Psyche gelingen konnte, einer Psyche, die noch wesentlich vielfältig ist, unverdichtet zur geistigen Einheit: die hinduistische Plastik als Ganzes bedeutet die Wiedergeburt in der Phantasie der Gesamtheit unintellektualisierter Lebenskräfte. Das Wenigste am Leben ist von Hause aus vernunftgemäß, läßt sich ursprünglich auf einen geistigen Grund zurückführen; Begierden, Empfindungen und Gefühle, Impulse und Wollungen, Wachstumsdrang und Altersverzicht sind wesentlich irrationale Phänomene, und man nimmt ihnen ihre Eigenart, indem man sie rationalisiert. Diese Eigenart kommt in der indischen Kunst in einzigartiger Unverfälschtheit zur Geltung. Der Tempel von Madura scheint entstanden, wie ein primitiver Organismus erwächst: planlos, ziellos, ohne Selbstkontrolle, jedem Drang blind folgend, jäh umschlagend von einer Phase in die andere, in seinen Grenzen nur vom Schicksal zusammengehalten; dafür desto unbefangener sich darstellend in jeder Stimmung, unverkümmert durch Verzicht und Vorurteil, voll ausgeschlagen, vollblütig und farbig. So wirkt das Ganze notwendig unvollkommen, aber das Einzelne ist meistens schön. Die Meisterschaft der Hindus in der Detailarbeit gegenüber ihrer Unzulänglichkeit im Planvoll-Großen hat hier ihren tiefsten Grund.
In Ceylon verweilten meine Betrachtungen oft beim vegetationsartigen Charakter tropischer Geistesschöpfung; und ich sprach die Vermutung aus, der Hinduismus in seinem unübersichtlichen Reichtum sei wohl auch als vegetativer Vorgang zu verstehen. Ich hatte recht im Prinzip; aber damals wußte ich nicht, welch ungeheure Potenz dessen Geiste innewohnt: auch dort, wo er tropische Menschen besaß, hat er, in allen positiven Phasen seines Lebens, seine bestimmende Kraft in hohem Grade bewahrt; was vom ceylonesischen Buddhismus durchaus gilt, ist beim Hinduismus nur insoweit wahr, daß es das Grundgewebe seines Körpers bildet. Aber freilich handelt es sich auch bei ihm um kein freies Geistesschaffen: es handelt sich um animalisches Werden. Um ein genau so Naturhaftes wie bei der Vegetation, nur aktiver, selbstbestimmter, zielstrebiger. Ein energischer Geist liegt hier dem Wachstum zugrunde, was dessen Gebilden eine Kraft, eine Gespanntheit gibt, die den buddhistischen fehlt. Ich gedenke der ungeheuren Übertreibungen die alle indische Mythenbildung auszeichnen: hier trinkt ein Weiser das Weltmeer aus, dort ehelicht ein Fürstensohn zehntausend Jungfrauen in einer Nacht; viele Lakhs von Geburten hat Gautama durchgemacht, ehe daß er zum Buddhatum reif ward, Millionen von Armen schwingt Krishna mit einemmal. Ich gedenke des überschwenglichen Reichtums an Göttern, die das indische Pantheon zusammensetzen, der unübersehbar vielfältigen Vorschriften des tantrischen Rituals; der Überzahl an Worten, Begriffen und Vorstellungen, mit denen das Inderdenken operiert: das sind freilich Wucherungserscheinungen und insofern vegetativ, aber eine so fruchtbare Imagination steckt hinter ihnen, und sie selbst sind so lebendig, so bewegt, daß man an Tierleiber zum Vergleiche denkt, nicht an noch so wildwuchernde Gewächse. Mir ist beim Anblick der indischen Formenwelt, als hätte die Phantasie des Fleisches sie erschaffen, als hätte die Einbildungskraft eines großen Dichters sich den Körperzellen eingebildet, so daß jetzt der Körper im gleichen Sinne produziert, wie jener sonst in der psychischen Sphäre. Was geschähe, wenn eine freieste Phantasie unentrinnbar an Fleisch gefesselt wäre? – Es entständen eben solche Gebilde, wie sie für den indischen Mythos charakteristisch sind. Die Idee der Allmutterschaft stellte sich, genau wie am Haupt-Gopuram des Maduratempels, in unendlichem Über- und Aneinandersprossen milchstrotzender Brüste dar, die Allmacht verkörperte sich in hunderttausend Organen, und so fort. So schüfe der Körper, wenn er dichten könnte. So hat der Hindugeist in seiner größten Zeit geschaffen. In seiner Kunst erscheint er ganz unintellektualisiert, unvereinheitlicht, ohne Einheitsbedürfnis; eben deshalb aber auch ausdrucksfähiger, wo es Irrationelles darzustellen gilt, als irgendein anderer. Ihm allein vielleicht ist es geglückt, an sich Unsichtbares überzeugend in die Welt des Sichtbaren hinauszustellen. In ihm haben eben die dunklen bildenden Kräfte mit der gleichen Unbefangenheit gewirkt wie sonst nur im Körper, wo der Drang fast mit Unvermeidlichkeit zur entsprechenden Organschöpfung führt. In einem tanzenden Shiva steckt mehr Göttereigenart als im ganzen Heere der Olympier.
Mehr und mehr nimmt der Geist des Polytheismus von meiner offenen Seele Besitz. Wie selbstverständlich substantifiziere ich, was an Kräften in und außer mir wirkt, und stündlich reicher wird mein Pantheon. Entsprechend farbiger wird mein Erleben. Indem ich jeder Sonderregung ein Sonderwesen zuerkenne, werde ich aufmerksamer auf sie, und mein Qualitätsbewußtsein differenziert sich. Dies Universum erscheint mir als buntes Durcheinander unendlich vieler Monaden, jede einzelne deutlich charakterisiert, keine unmittelbar auf andere zurückführbar noch von identischen Normen regiert, aber keine der anderen widersprechend. Ich werde auch etwaiger Widersprüche nicht gewahr, denn deren Begriff bedeutet mir nichts mehr. Was sollen Einheit, Zusammenhang, Konsequenz in einer Welt, die nichts als Qualitäten enthält? Es gibt keinen Generalnenner für Qualitäten. So bekümmern mich auch die Probleme nicht mehr, die dem Gottsucher sonst so viel Sorge bereiten – des Bösen, seiner Vereinbarkeit mit dem Guten, der allzuhäufigen Unrentabilität eines tugendsamen Lebenswandels und andere mehr: es gibt eben böse und gute Gewalten, moralische und amoralische; die Macht ist nicht notwendig an Liebe gekettet, noch das Wissen an einen guten Willen; das Sonderschicksal des einzelnen wie das totale der Welt hängt vom Zusammenwirken so vieler selbständiger Variablen ab, daß es selbst Brahma in seinem Mathematikeraspekte nimmer gelänge, das Geschehen aus allgemeiner Formel heraus zu verstehen. Worauf es ankommt, ist, die Augen offen zu halten, möglichst viel Sondermomente zu übersehen; allen günstigen Einflüssen die Wege zu ebnen, den ungünstigen nach Maß der Kräfte vorzubeugen. Und hierzu gibt es ja, allen Göttern sei Dank dafür, Regeln. Wieder und wieder haben sie gnädig Gebete und Riten geoffenbart, welche dieses und jenes bewirken, wieder und wieder Winke dafür gegeben, was einer in diesem und jenem Falle tun und lassen soll. So erscheint das Leben, wenn man nur treu befolgt, was die Shastras und Tantras verordnen, wenn man nur nicht versäumt, sich in allen entscheidenden Momenten das Gutachten weiser Brahmanen einzuholen, in einer geisterdurchschwirrten Welt kaum gefährdeter, als es dem scheint, der nichts Überirdisches glaubt. Sicher aber ist es interessanter. Jeden Augenblick geht irgend etwas vor sich, ist irgend etwas zu beachten, zu bedenken, was noch so geringfügigem Erleben transzendente Bedeutung verleiht; überall sind Wesenheiten im Spiele, die zum mindesten merkwürdig sind. So gefalle ich mir als Göttergläubiger besser als ich mir je früher gefallen habe. Ich bin reicher, farbiger, versatiler, viel nuancierter im Erleben und Auffassen. Mich wundert nicht mehr, daß große Kunst immer nur unter Polytheisten geblüht hat (denn die katholische Kirche ist ein polytheistisches System, und die meisten größeren Dichter haben sich gleich Goethe als Künstler zur Vielgötterei bekannt): nur wo das Besondere unbefangen als solches gelten gelassen wird, wo die Einbildungskraft, anstatt es zu reduzieren, es zu verherrlichen, zu verstärken strebt, kann Künstlerschaft Großes schaffen. Umgekehrt ist jede Künstlernatur typischerweise durch die Züge ausgezeichnet, welche polytheistische Völker definieren: das Unvereinheitlichte ihrer Psyche. Hätte Shakespeare sich ganz zur geistigen Persönlichkeit vertieft – nie hätte er so viel Menschen beseelen können. Der Monotheismus löst früher oder später überall, wo nicht andere Momente dem entgegenwirken, den reicheren Glauben ab; wenn die Seele sich vereinheitlicht hat, wenn ein eindeutiges Ichbewußtsein an Stelle des der Vielfachheit der Triebe getreten ist, ballt auch die Göttersubstanz, bisher verstreut, sich zu einer Gottheit zusammen. Damit löst Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Zusammenhang das ursprüngliche Wirrsal ab. Aber gleichzeitig wird das Weltall widerspruchsvoll: jetzt, wo alles zusammenstimmen soll, zeigt sich erst, wie wenig es wirklich zusammenstimmt. Es wird ferner verdürftigt: denn nun, wo ein Ideal über der ganzen Schöpfung schwebt, wird das geleugnet, ignoriert oder bekämpft, was zu ihm in keiner denkbaren positiven Beziehung steht, und da dessen nur zu viel ist, wird die Natur in ihrem unbefangenen Wachstum gehemmt. Das Weltall wird gefestigt, moralisiert; überall unter Monotheisten sind die Charaktere stärker, die Grundsätze fester, die Lebensformen reiner. Aber dafür sind ihre Seelen farbloser, starrer, meist auch dürrer. Ein Freund, einst ein begnadeter Don Juan, hatte sich zum mustergültigen Ehemann verwandelt. Ich fragte ihn, wie er sich nun vorkomme? Er erwiderte seufzend: die Tugend hat freilich ihr Gutes, allein ich spüre, daß meine Natur versimpelt; zu viele ihrer Seiten bleiben außer Gebrauch; ich fürchte, es bekommt dem Mann nicht gut, nur einem Weibe zu leben.
Poly- und Monotheismus widerstreiten sich; der Mystiker hiergegen, dessen Gottesbewußtsein man so schlecht meist Pantheismus heißt, ist dem Polytheismus niemals feind, im Gegenteil: in dessen Atmosphäre ist seinesgleichen immer am besten gediehen, so in Europa im Schoß der katholischen Kirche. Es ist nur bedingt richtig, zu behaupten, daß der Mystiker die Einheit der Gottheit erlebt: sein Erlebnis liegt jenseits aller Zählbarkeit; wenn er von Einheit spricht, so meint er das, was weder Einheit noch Vielheit und gleichzeitig beides ist, er nennt es Einheit, weil dieser Begriff auch hienieden sowohl Zahl als Nicht-Zahl bezeichnet. Auf alle Fälle ist er niemals Monotheist im jüdisch-puritanisch-islamischen Sinne, obschon natürlich Mystiker genug auch unter vorgeblichen Monotheisten vorkommen. Mystiker ist der Kontemplative, welcher ganz von innen heraus lebt, ganz im Wesen und für das Wesen; dessen Bewußtsein im Atman Wurzel gefaßt hat, der folglich vollkommen wahrhaftig ist, ganz unbefangen sein Innerstes ausströmt. Ein solcher kann keine Lebensäußerung verleugnen. In jeder sieht er die göttliche Kraft am Werk, jede ist ihm ehrwürdig, und Unbefangenheit, wie immer sie sich äußere, gilt ihm heiliger überall, als Bestimmtheit durch äußere Norm und Vorurteil. So versteht es sich von selbst, daß für das indische Bewußtsein, das mystisch geweckter ist als irgendein anderes, keinerlei Widerstreit besteht zwischen dem animalischen Hinduismus und der geläuterten Weisheit der Rishis: ihm sind es Ausdrucksformen des Gleichen auf verschiedenen Stufen. Der unbefangene und wahrhaftige primitive Mensch kann nicht umhin, sich als Vielfachheit von Trieben zu spüren; der unbefangene Weise ebensowenig umhin, sich aller Gestaltung überlegen zu wissen. Und beider Erlebnis hat den gleichen Sinn. Freilich ist es verfehlt, zu glauben (wie die indische Scholastik dies vielfach wahr haben möchte), die vielfache Gestaltung sei von vornherein als Symbol des Einen gemeint worden: entstanden ist sie als animalische Knospung; ursprünglich liegt keinerlei Einheit dem indischen Pantheon zugrunde. Aber dessen Vielfachheit bedeutet eben das, wie das Einheitsbewußtsein reiferer Stadien; deshalb ist die Priesterschaft metaphysisch dennoch im Recht, allen Götterglauben für orthodox, als mit den Veden und Upanishads vereinbar zu erklären. In empirischer Hinsicht ist freilich mancherlei gegen ihre Auslegungen zu erinnern: der vielleicht größere Teil aller Göttersagen ist abseits von der brahmanischen Tradition entstanden, gehört dem folklore der nicht-arischen Ureinwohner an, ist erst spät dem Brahmanismus angegliedert worden und erhielt von diesem dann einen Sinn, den er von Hause aus sicher nicht besaß. Diese Verhältnisse hat wohl Sir Alfred Lyall richtig erkannt und auseinandergesetzt. Allein die Fälschung, welche die Brahmanen verübt, war metaphysisch berechtigt: die Götter sind und bedeuten wirklich das, was die Brahmanen von ihnen behaupten; wenn diese lehren, ein Lokalgott eines obskuren Stammes sei tatsächlich ein Vishnu-Avatar und als solcher ein Aspekt des Einen Brahman, so sprechen sie damit, in mythisch-farbiger Ausdrucksweise, eine metaphysische Wahrheit aus: in jedem Triebe schafft das Göttliche; alle Oberfläche wird von der Tiefe her beseelt, kann insofern als deren Ausdruck betrachtet werden. Und indem sie also betrachtet wird, wird sie zur Tiefe. Der Volksglaube vertieft sich dank der Deutung, die er seitens der Wissenden erfährt, so daß zuletzt auch empirisch wirklich wird, was zuerst nur symbolisch wahr gewesen war: er wird zum Ausdruck des höchsten Wissens.
Kein indischer Weiser, auch Buddha nicht, hat den Götterglauben jemals bekämpft; die meisten, allen voran Shankara, der Begründer des radikalen Monismus, haben ihn selber aufrichtig bekannt. Sie waren sich einerseits der Unausdrückbarkeit des Göttlichen als solchen, andererseits der unendlichen Anzahl möglicher Manifestationen desselben so tief bewußt, daß sie den vielfachen Ausdruck dem einfachen meistens vorzogen. Mir fällt die berühmte Hymne an Mahadevi (aus dem fünften Mâtâmya des Tschandi) ein: dort wird sie, die Göttin, als Ishwara, als Höchstes Wesen verehrt; im besonderen bald als Ganga, bald als Saraswati, bald als Lakshmi; und in einer Strophe wird von ihr, nachdem verkündet ward, daß sie in der Form des Friedens, der Kraft, der Vernunft, der Erinnerung, der Berufstüchtigkeit, der Fülle, der Gnade, der Demut, des Hungers, des Schlafes, des Glaubens, der Schönheit und des Bewußtseins alle Wesen der Welt beseele, auch gesagt, daß sie in der Form des Irrtums allen Geschöpfen innewohne. Mir scheint: diese Vielfachheit in ihrem Zusammenhang ist ein besserer Ausdruck dessen, was der indische Fromme meint, als irgendeine tiefsinnig-einfache Formel sein könnte.
Wie sollten unsere abgeklärten Begriffe dem irrational-animalischen Werden der indischen Formen gerecht werden? Nicht umsonst gibt es im Sanskrit vielleicht mehr Worte für philosophisch-religiöse Gedankeninhalte als im Griechischen, Lateinischen und Deutschen zusammengenommen: wie die Sprachen primitiver Völker, wo diese begabt, an Bezeichnungen für Konkretes reicher sind als die entwickelterer, weil frühe Menschen nicht zu abstrahieren wissen und daher viele Sonderausdrücke anwenden eben dort, wo spätere mit wenigen Allgemeinbegriffen auskommen, so war der Wortschatz der (allerdings abstraktionsfähigen!) alten Inder deshalb so reich und wurde reicher fast mit jeder Generation, weil mit noch so klug gewählten Allgemeinbegriffen ihrer überreichen Vorstellungswelt schlechterdings nicht beizukommen war. Allgemeinbegriffe nützen nur dort, wo das Erkenntnisobjekt rational oder rationalisierbar ist; und dieses gilt von der indischen Gestaltung nirgends. Alles Lebendige in diesem wundersamen Land ist fleischmäßig unverantwortlich hervorgewachsen, aufs Geratewohl, ohne Vorsatz und festes Ziel. So läßt sich nicht allein in seinen Tempeln kein Grundriß nachweisen und innerhalb seiner Glaubensformen keine einheitliche Grundidee – es gibt in Indien auch keine Nation; keinen Volksgeist und kein Volksbewußtsein; es gibt keine Hindus in dem Sinne, wie es Deutsche und Engländer gibt. Synthesen der genannten Art entstehen nur dort, wo die Vernunft noch so unmerklich das Werden der Formen regiert, wo Verallgemeinerungsbedürfnis und Einheitsstreben vorliegen; und diese fehlen in Hindustan. Hier wachsen die besonderen Formen planlos in- und durcheinander, bald schroff und dauernd geschieden, bald die unwahrscheinlichsten Verbindungen eingehend; jede Form gilt als solche berechtigt, nie wird versucht ihre Eigenart auszumerzen; es ist Raum für alles in der Welt. Man wähne nicht, der Brahmanismus läge immerhin der Mannigfaltigkeit als einziger Geist zugrunde: erstens ist er kein einziger Geist, zweitens beseelt er nicht alle Formen, und drittens tut er dies, wo er es tut, in so unbestimmtem Sinn, daß er zwischen den Sondergebilden keine konkrete Verbindung schafft. Von einem Beseelen aller Erscheinung in dem Sinne und Maße, wie der Geist des Buddhismus alles Leben auf Ceylon beseelt, kann beim Brahmanismus nicht die Rede sein.
Dieser Unbekümmertheit um Zusammenhang und Einheitlichkeit verdankt das Indertum seine einzigartige Farbenpracht, an der mein Herz sich täglich mehr erfreut. Noch bin ich in Indien kaum gereist und habe doch schon mehr Mannigfaltigkeit gesehen als irgendwo sonst unter Menschen. Nie und nirgends hat hier die gestrenge Vernunft das leichtsinnige Wuchern behindert. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Hindus doch berühmt sind gerade als Dialektiker, als Logiker und verzwickte Systematiker; alles und jedes haben sie in ein System gebracht, von der Dichtkunst bis zum Räuberhandwerk, vom Lebenswandel, der zu Gott führt, bis zur Art, wie die Brautnacht verbracht werden soll: wie reimt sich das mit ihrer Irrationalität zusammen? Es reimt sich insofern zusammen, als die Systemsucht ein irrationaler Trieb unter anderen ist, gleich allen anderen seine selbständigen Wege geht, gleich allen anderen unverantwortlich wuchert. Ebenso üppig und wild wie die Vorstellungen vegetieren auch deren Interpretationen; ebenso schrankenlos wie die Götter und Geister vermehren sich die Systeme der Philosophie. Nie hat die Logik in Indien die Prätention gehabt, letztmögliche Zusammenhänge herzustellen; das hat sie in richtiger Selbsteinschätzung der mystischen Intuition überlassen. Sie hat entweder Gegebenes systematisiert, oder von Gegebenem her ausschweifend fortspekuliert, oder Vorgefundenes haarspalterisch zergliedert. Ihre Leistungen sind typische Scholastikerarbeiten, meist ohne jeden wissenschaftlichen Wert; von allen Gestaltungen der indischen Phantasie sind sie gewiß die unerfreulichsten. Aber man tut Unrecht, indem man ihr zum Vorwurf macht, daß sie nie das Äußerste erstrebt hätte; daß unter den Indern kein Parmenides und kein Hegel erstanden sind. An logischer Schärfe stehen die Hindus den Europäern nicht nach; es wäre ihnen gewiß nicht schwergefallen, ähnliche Weltsysteme zu konstruieren. Sie haben es nicht getan, weil sie als Metaphysiker zu tief hierzu waren; sie haben gewußt, daß der logische Verstand nicht bis zur Wurzel reicht; sie sind nie Rationalisten gewesen. Dies ist denn wohl eines der großen Beispiele, die das Indervolk der Menschheit gegeben hat: daß Verstandesbegabung nicht notwendig Rationalismus zeitigt; daß ein Höchstmaß logischen Scharfsinns die Unbefangenheit nicht notwendig vernichtet. In Indien gelten drei Grunddeutungen der Vedânta-Sûtras als gleich orthodox: eine monistische, eine dualistische und eine theistische; und von diesen ausgehend mehrere Hunderte sich mehr oder weniger widersprechender Systeme. Was bedeutet das? daß die Inder sich tief bewußt sind der Kontingenz aller Vernunftkonstruktion; daß sie wissen, daß es keiner gelingen kann, vom metaphysisch Wirklichen ein unverfälschtes Bild zu geben; daß sie alle à peu près bedeuten. Die Europäer, wenn sie ähnliches erkennen, erklären der Vernunft daraufhin den Krieg. Die Inder, auch hierhin die weiseren, lassen sie desto freier gewähren. Keine Gestaltung ist metaphysisch ernst zu nehmen; aber alle sind empirisch existenzberechtigt. So mag, wenn es den Körper freut, Gestalt auf Gestalt aus sich herauszustellen, wenn die Einbildungskraft sich daran ergötzt, die Himmel mit Göttern zu übervölkern, auch die Vernunft unbehelligt gewähren.
Ich sitze an einem der Teiche im Innern des Heiligtums und höre zu, wie ein Brahmane aus dem Ramâyâna vorträgt. Sein Gehilfe unterbricht wieder und wieder den Sanskritvortrag durch psalmodierende Erläuterung im Volksdialekt. Mit glühenden Augen, mit einer Aufmerksamkeit, die an Verzückung grenzt, lauscht die Menge dem heiligen Gesange.
Die großen Epen – das Ramâyâna, der Mahâbhâratam – bedeuten den Hindus, was den vertriebenen Juden etwa das Buch der Könige bedeutet hat: die Chronik der Zeiten, da sie irdisch groß waren und zugleich mit den Himmlischen täglichen Umgang pflogen. Sie bedeuten ihnen also menschlich mehr als alle Shastras. Kein einfacher Hindu zweifelt an ihrer historischen Wahrheit, und nicht viele unter den Gelehrten tun es. Gern zitieren diese Episoden aus dem Mahâbhâratam zu wissenschaftlich gültigem Beweise; nicht selten werden gar Geschehnisse aus dem Himmel angeführt zur Erläuterung irdischer Ereignisse. Die Inder wissen von Historie nichts; haben kein Organ für geschichtliche Wahrheit; ihnen sind Mythos und Wirklichkeit eins. So wird bald die Sage als Wirklichkeit beurteilt, bald die Wirklichkeit zur Sage verdichtet, und jedesmal, als verstünde sich dies von selbst. Nicht nur der Tote und der Ferne wird verwandelt – immer wieder ist ein Lebender und Anwesender als Avatar erkannt und von der Menge als Gott verehrt worden. Im übrigen verfolgt das Leben seinen normalen Lauf. Das Auftauchen eines Gottes auf Erden erscheint den Hindus von heute nicht außerordentlicher als den homerischen Helden das Eingreifen der Olympier in den trojanischen Krieg. Sie glauben alles mit gleicher Bereitwilligkeit, das Alltägliche sowie das Unwahrscheinliche, und nehmen nichts, weil es historisch-wirklich sei, besonders ernst.
Erst hier, wo ihre konkrete Bewußtseinsart sich mir erschlossen hat, gelingt es mir, diese Tatsachen zu verstehen. Ihr Unzulängliches liegt auf der Hand: die Hindus unterscheiden nicht rein zwischen Dichtung und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, zwischen Eingebildetem und Vorgefallenem; so ist auf ihre Aussagen selten Verlaß, ist ihre Wissenschaft unexakt, sind ihre Beobachtungen unpräzis. Aber jede Bewußtseinslage hat ihr Positives, und dieses werde ich nun je mehr und mehr gewahr. Schon zu Rameshvârâm schrieb ich es nieder, daß eine Einstellung, bei welcher der Akzent des Bewußtseins auf der Vorstellung als solcher ruht, nicht auf dem äußeren Gegenstande, dem sie gilt, im allgemeinen Seiten der Wirklichkeit wahrnehmbar macht, die der Aufmerksamkeit sonst entgehen. Dies gilt im besonderen auch von der, dank welcher Wirklichkeit und Mythos in eins verrinnen. Wie verwandelt der Mythos die Wirklichkeit? Auf sinnlose Weise oder einem Sinn gemäß? Immer sinnvoll; in der mythischen Umdichtung wird das Bedeutsame des Wirklichen gesteigert; es tritt das Wesentliche mehr und mehr hervor. Zwar nicht notwendig das Wesentliche dessen, der den Gegenstand der Umdichtung bezeichnet, aber immer das, was dem Dichter und seiner Zeit als das Wesentliche an ihm erschien. Der modern-okzidentalische Mythos verwandelt beinahe wissenschaftlich exakt: aus jeder neuen Metamorphose geht Goethe seinem metaphysischen Selbste ähnlicher hervor; der indische hat meist nur das gesteigert, was sein Held dem Volke bedeutete. Betrachte ich diese Tatsachen nun im Zusammenhang mit dem Problem des Positiven an der indischen Bewußtseinslage, so erscheint dieses seiner Lösung nicht mehr fern: in seiner indischen Lage faßt das Bewußtsein unmittelbar das Bedeutsame als solches auf. Es steht jedem Ereignis so gegenüber, wie der Fromme einem religiösen Mysterium. Oder, um einen anderen, prägnanteren Vergleich anzuführen: es erlebt so, wie die Zeitgenossen Goethe erlebt haben müßten, um seine ewige Bedeutung gleich klar zu erkennen wie wir. Was ist nun das Wertvolle, das Wesentliche – die Bedeutung oder der Tatbestand? Die Bedeutung ist es, sie allein; Tatsachen als solche sind ganz gleichgültig. Also hat das mythisierende Indien, vom Standpunkte des Lebens her beurteilt, gegenüber dem exakten Europa das bessere Teil erwählt.
Ich verweile in der Bewußtseinslage, von welcher her die Schlacht von Kurukshetra, in der die Götter den Menschen sichtbar beistanden, gleich wirklich erscheint wie die von Sedan. Ist die Welt, die sich nun vor mir aufrollt, nicht wesenhafter als die des Forschers? Ist sie nicht in einem viel höheren Sinne wirklich? Unaufhaltsam nehmen die Lehren der indischen Weisheit von meinem kaum mehr befremdeten Geist Besitz. Da heißt es, der Sinn sei das Primäre, das Ewige, das wahrhaft Wirkliche; was man Tatsache nennt, sei nur dessen Abbild, unverläßlich, wie alles, was Mâyâ wirkt; die Substantialität einer Erscheinung messe sich daran, inwieweit sie den Sinn zum Ausdruck bringt. Dementsprechend sei die Astralwelt wirklicher als die körperliche, und wirklicher als jene die Ideenwelt, denn in jeder folgenden trete der Sinn unbehinderter und reiner an den Tag. Hienieden aber sei eben deshalb inspirierten Gedanken höhere Wirklichkeit zuzusprechen als den Ereignissen, die sie scheinbar wiederlegen, denn die Dinge dieser Welt vergehen, der Sinn aber währet ewiglich; und Sagen seien dichter als alle Geschichte, weil sich der Sinn in ihnen in ewiger Symbolik darstellt, in einer Gestalt, die viele Kalpas überdauert. – Hat Krishna wirklich gelebt, dem Arjuna wirklich vor dem Entscheidungskampf die Rede vorgetragen, die heute im Bhagavat-Gîta zu lesen steht? Gewiß, sofern du es glaubst. In den höheren Welten lebt der Sinn an sich, ohne eigene Gestalt, als solcher dem Geist unfaßbar. Er äußert sich, wie du es selber willst; so wie du es glaubst, wünschest, denkst, so tritt er zutage; als Gott oder Göttin, als System der Philosophie, als Bild der Vorzeit, als Legende. Das überläßt er dir. Aber je mehr du strebst, dich in sein Wesen hineinzuversenken, desto würdigere Bilder kommen dir. – Ich halte Zwiesprache mit dem Geiste dieser Weisheit. Er erscheint mir als Mahaguru, als großer Lehrer, der mir sachte und freundlich die Wege weist. Laß dich nicht täuschen von der schlimmen Mâyâ, der Göttin eurer westlichen Wissenschaft! Ihre größte List ist nämlich, daß, was sie schafft, der Kritik des Verstandes immer standhält. Aber das Beweisbare ist niemals wesenhaft. Das Beweisbare vergeht oder verwandelt sich zu einem neuen Beweisbaren und täuscht den Ungewitzigten in jeder Gestalt mit gleichem Erfolg über das Wesen fort. Gewiß sind auch die Einbildungen Mâyâ, sie haben jedoch den Vorzug vor der Körperwelt, daß sie ihr Eigenwesen aufrichtiger zur Schau tragen, überdies dem Sinn ein biegsameres Medium bieten. Wie fern stehen eure Gelehrten dem Herzen der Wirklichkeit! Sie haben Gehirne, wie kein Inder vielleicht es besessen. Aber anstatt damit dem Sinne nachzuforschen, vergeuden sie die kostbare Zeit ihres Menschendaseins auf Studien gleichgültiger Unwirklichkeit und wähnen dann, sie hätten Wunder was erreicht, wenn ihre Erkenntnisse objektiv sind! Natürlich sind sie das; sie sind aber gleichzeitig sinnlos. Und sieh dir hingegen meine Hindus an: die ahnen nichts von exakter Forschung; die finden sich in der Mâyâ gar nicht zurecht; die versagen nur zu oft in dieser Welt. Dafür stehen ihre Seelen weit offen allen möglichen Einflüssen des Sinns, und alle wandeln den Weg zur Befreiung. – Der Tempelhüter ruft mich an; es sei Zeit, das Atrium zu verlassen. In der Tat sind alle Badenden fort. Der Vortrag des Ramâyâna hat aufgehört. Nur einige nackte Yogis harren noch aus in regungsloser Meditation.