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III.
Indien

Râmeshvârâm

Wie die Nacht hereinbrach, winkten mich die Brahmanen in den Tempel hinein. Ich folgte ihnen, ohne zu wissen, was ich sollte. Da gewahrte ich Pilger ohne Ende, Hierophanten und Tempelbedienstete um ikonenhaft geschmückte Elefanten, um goldglänzende Wagen und Tragbahren herum sich bei Fackelschein zu festlichem Zuge rüsten. Und ehe ich mich dessen versah, befand ich mich an dessen Spitze. Vor mir schritten würdevoll die Elefanten, sie, die bewährtesten Träger der Tradition; hinter mir folgte die Göttin, hochthronend auf kostbarem Palankin. So ging es, bei dröhnendem Paukengerassel, bei grellem Klarinettengekreisch, bis tief in die Nacht in feierlichem Rundgang durch die herrlichsten Säulengänge der Welt, an deren Wänden die aufgereihten Frommen, von den Fackeln sprunghaft belichtet, sich ehrfurchterschauernd neigten.

Welch wundersame Einführung in das Inderland! Der Tempel zu Râmeshvârâm, auf dem südlichsten Vorsprung der Halbinsel einsam gelegen, meerumschlungen, palmenumstanden, ein Gebäude, kaum kleiner als die größten der Klöster, die unser frühes Mittelalter schuf, mit Korridoren, die an Schönheit der Formen und Farben auf Erden kaum ihresgleichen finden, soll von Râma selbst gegründet worden sein, nachdem er Sîta dem Râvana abgerungen hätte. Er gilt als zweitheiligste Stätte Hindustans. Wer irgend kann, wallfahret von Benares noch hierher. Und wahrhaftig scheint ganz Indien hier vertreten. Alle Farben, alle Trachten, alle Typen gewahre ich, vom dunklen Tamylen bis zum weißen Kaschmiri, vom stolzen Radschput bis zum Sanyassi, dessen Haupthaar zu Filz verwachsen ist. Sprachen und Dialekte ohne Zahl durchschwirren einander, hundert verschiedene Gesinnungen blicken aus den Gesichtern, Kaste stößt sich an Kaste, Vorurteil an Vorurteil. Gleich reiche Mannigfaltigkeit unter Menschen haben meine Augen noch niemals gesehen.

Was mir auffällt, ist, daß diese noch so verschiedenartigen Pilger irgendwie doch eines Geistes sind. In welchem Sinne? Dem des Glaubens? Vielleicht sind sie dies, aber das meine ich nicht; ich meine etwas, was ich noch nie vorher gewahrt. Ich meine nicht das metaphysische Bewußtsein, daß alles äußerlich Geschiedene doch innerlich zusammenhängt: so sehr es für »den« Inder charakteristisch sei, bei denen, die hier versammelt sind – meist kleinen, einfachen Leuten, ohne Befähigung zur Spekulation – ist es sicher nur schwach entwickelt. Was mich bei allen beeindruckt, ist das Dasein einer Bewußtseinslage, die das Auffassen von Wirklichkeiten ermöglicht, welche den durchschnittlichen Westländer nicht berühren. Diese Pilger verstehen offenbar die Bedeutung der Symbole. Und es handelt sich bei ihnen nicht um jenen einfältigen Glauben, mit dem der ungebildete Katholik sich zum Kult verhält, auch nicht um das mittelbare Verständnis des gebildeten, das a posteriori aus reflektierter Erkenntnis entspringt: diesen Pilgern scheint das Symbol seinen Sinn unmittelbar zu enthüllen; ihre Seelen scheinen unmittelbar von den heiligen Worten ( Mantras) berührt. Das setzt eine Bewußtseinslage voraus, die von der normaleuropäischen wesentlich abweicht. Mir ist sie nicht unbekannt. Wer den Akzent seines Bewußtseins aus der Sphäre der Dinge in die der Vorstellungen hinüberverlegt, so daß er diese ernster nimmt als jene, in diesen das eigentlich Wirkliche sieht, entdeckt, daß sich ihm damit neue Erfahrungsmöglichkeiten öffnen. Während Vorstellungsverknüpfungen sonst ihren Sinn an dem haben, was ihnen draußen in der Natur entspricht, offenbaren sie nun einen Eigen-Sinn, der völlig unabhängig ist von aller Außenwelt. Nun erweist es sich, daß Vorstellungen in doppelter Richtung sinnvoll sein können: einmal im üblichen Verstande, als Bilder oder Erkenntnisschemen objektiver Wirklichkeit, dann aber auch als unmittelbare Erscheinungsformen eines ihnen ursprünglich innewohnenden Sinns. Jeder, der offenen Geistes an religiösen Zeremonien teilgenommen hat, wird erfahren haben, daß sie verschieden wirken; daß einige gar nicht, andere stark beeindrucken, und dieses, je nach dem Ritus, in verschiedener Richtung: es scheint Normen für den Ablauf des inneren Erlebens zu geben, genau wie es Naturgesetze gibt. Bestimmte Laut- und Vorstellungsverknüpfungen scheinen mit hoher Konstanz bestimmten psychischen Inhalten zu entsprechen. Freilich muß das Bewußtsein in besonderer Lage ruhen, auf daß diese Gesetzmäßigkeit sich offenbare; der moderne Europäer in normaler Seelenverfassung spürt wenig von ihr. Von seinem Standpunkt aus hat er nicht unrecht, sie zu leugnen, denn für ihn gilt sie wirklich nicht. Sie gilt im selben Sinne nicht für ihn, wie die Gesetze der musikalischen Harmonie für den Unmusikalischen nicht gelten. Er wird sich der besonderen Beziehungen, die zwischen Lauten und psychischen Inhalten walten, vielleicht nur mehr im Falle der Musik und, seltener, der Poesie bewußt: hier gibt er sich unbefangen den Einwirkungen von Rhythmus und Vorstellungsfolge hin und erlebt so, was ihm sonst verschlossen bliebe; während ihn religiöse Feiern allenfalls dann ergreifen, wenn eine starke innere Erschütterung seine Bewußtseinslage zeitweilig verschoben hat. Immerhin: wissen kann es auch er, daß es sich bei den symbolischen Handlungen, die im Gottesdienst, uralter Tradition gemäß, vollzogen werden, nicht überall um Willkürverknüpfungen von Sinn und Erscheinung handelt. Aber Wissen und Erleben sind zweierlei. Was Europäer allenfalls erkennen, gehört zum selbstverständlichen Erleben der meisten Pilger, die gläubig in Râmeshvârâm zusammengeströmt sind. Aus ihren Gesichtern spricht unverkennbares Verständnis für den Sinn der Vorgänge, denen sie beiwohnen. Wenn diesen gesagt wird, ein bestimmtes Mantra sei Devata (eine bestimmte Lautverknüpfung stelle den wahrhaftigen Leib der Gottheit dar), das Imaginieren bestimmter Bilder in bestimmter Folge bringe die beabsichtigte Wirklichkeit tatsächlich hervor, Beschwörungen wirkten, geistliche Übungen verwandelten die Seele, so dürften sie nicht allein glauben, sondern verstehen. Sie dürften verstehen, was gemeint ist. Auch ich verstehe. Ich weiß, daß das Psychische ein ebenso Objektives ist wie das Materielle, daß Vorstellungen ein genau so entsprechender Leib von Metaphysisch-Wirklichem sein können, wie feste Körper, daß es überall möglich ist im Prinzip, vom Geiste her den Stoff zu beeinflussen. Allein, daß ich verstehe und weiß, ist nicht weiter interessant. Das Bedeutsame ist, daß diese einfachen Leute wissen. Sie sind keine Denker, keine Versteher; sie sind außerstande, irgendein Wirkliches im Geiste vorauszuerleben. Sie müssen wirklich erleben, so wirklich, wie sie essen und schlafen. Sie müssen, kurz gesagt, zur psychischen Wirklichkeit im gleichen Verhältnis stehen, wie der Westländer zur physischen.

Für heute will ich diese Betrachtungen nicht weiterspinnen; ich will der Erfahrung in der Einbildung nicht vorgreifen. Aber so viel drängt es mich doch, auszusprechen: wenn die normale Bewußtseinslage frommer Hindus wirklich so beschaffen ist, wie mir heute scheint, dann mag ein guter Teil noch so abenteuerlich klingender Behauptungen ihrer Ritualphilosophie (der Tantra) zutreffen; wenn die Formen, Zeremonien und Inkantationen unmittelbar ihrem Sinn entsprechend aufgefaßt werden, dann mögen sie leicht »Wunder« wirken; dann mögen sie sämtliche Folgeerscheinungen zeitigen, die sie im äußersten Falle zeitigen könnten. Und persönlich zweifle ich kaum daran, daß die notwendigen Voraussetzungen zutreffen. Ich betrachte die Pilger ringsumher: sie alle haben die Augen von Träumern, blicken seltsam unaufmerksam in die Natur hinaus. Aber sie alle scheinen ebenso aufmerksam auf Beziehungen, die der exakte Naturbeobachter übersieht. Ihre eigentliche Heimat liegt in einer anderen Welt. Ist diese wirklich? Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil der Maßstab, der sonst zu ihrer Entscheidung dient, jetzt nicht anwendbar erscheint. Wenn das Psychische als das Primäre gilt, die Vorstellung als dichteste Wirklichkeit, dann sind Träume und Erfahrungen gleichwertig; dann sind Erfindungen und Entdeckungen gleich wahr; dann besteht zwischen Lügen und die Wahrheit sprechen kaum ein Unterschied. Von unserem Standpunkte aus würde man urteilen müssen, daß die Inder in der Unwirklichkeit leben, und allerdings versagen sie meistens in dieser Welt. Aber damit wäre die Frage nicht erledigt. Jede Bewußtseinslage offenbart eine andere Schicht der Natur. Wer in der des Hindu weilt, unterliegt Einflüssen, hat Erfahrungen, Erlebnisse, die andere nicht kennen. In seinem Fall treten Kausalreihen in die Erscheinung, die sonst nicht nachweisbar sind. Und wohl mag es sein, daß von seiner Ebene aus der Weg zur letzten, tiefsten Selbstbesinnung kürzer und gangbarer ist als von der unsrigen her. Hiermit dürfte ich denn wohl den Schlüssel zum Problem der indischen Weltanschauung halten: dem Inder gilt das Psychische als das Primäre, ihm ist es ein Wirklicheres als das Physische. Vom Absoluten her gesehen, ist er mit dieser Akzentverlegung nicht minder im Irrtum wie sein Antipode, der das Physische allein für wirklich hält. Doch wie der Okzidentale eben deshalb die Materie so tief begriffen hat, weil er sie überschätzt, so dürfte der Inder eben deshalb in die Welt des Psychischen tiefer eingedrungen sein als irgendein anderer Mensch, weil er nur sie ganz ernst genommen hat.


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