Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kandy

Zauberhaft sind die Landschaftsbilder, die sich wieder und wieder vor dem entzückten Reisenden entrollen, den die Spirale der Bergbahn vom schwülen Colombo zum kühleren Kandy hinanführt. Der Reichtum der Flora ist überschwänglich allerorts, aber jede Höhenlage ist besonders bestanden, so daß das Auge bei weiteren Ausblicken nicht eine Natur, sondern viele Naturen auf einmal überschaut, die bald schroff gegeneinander abgrenzen, bald nuanciert ineinander übergehen, und überall in der vollkommenen Schönheit, die das vollkommen Sinngemäße auszeichnet. Und nun Kandy! Dieser friedliche See, umrahmt von dunkelgrünen Bergen, umstanden von Bäumen, die gleich Blumen blühen, eingebettet in üppigste Matten – dieser See mit seinen unsicheren, nebelhaften Farben, in dem das grelle Sonnenlicht sich nur wie im Echo widerspiegelt, wirkt wie ein Mondstein auf dunklem Sammetgrund. Wie ich ankam, ward ich dermaßen begeistert, daß ich alsbald einen langen Streifzug unternahm. Und wie ich dann heimkehrte und mich müde niederließ, in kosigem Liegestuhl auf schattigem Balkon, da dachte ich mir: du bist im Paradies. Hier sind alle, auch deine kühnsten Erwartungen übertroffen; deine maßlosesten Wünsche sind erfüllt. Jetzt solltest du vollkommen glücklich sein.

Bin ich's? Es ist undankbar von mir, allein ich bin es nicht. Ich bin es nicht, gerade weil jeder Wunsch erfüllt erscheint. In der Erfüllung ist die Sehnsucht aufgehoben, und mit der Sehnsucht hört das Leben, das ich meine, auf; meine eigenste Lebensmöglichkeit fühle ich mir abgeschnitten. Noch nie habe ich in einer Welt geweilt, deren anregende Kraft geringer wäre. Im Augenblick regt sie mich natürlich an, doch das liegt nicht an ihr, sondern an dem, daß sie mir fremd ist und Sinne und Verstand immerfort zu Neuem in Beziehung treten. Ich kann mir auch vorstellen, daß maßlose Naturen, wie Gauguin und Stevenson, an ihr dauernde Anregung finden mochten, denn den Maßlosen befriedigt selbst das Übermaß nicht. Was mich aber betrifft, so bin ich des gewiß, daß meine Einbildungskraft hier bald erlahmen würde. Wo alles Erfüllung ist, erscheint der Sehnsucht der Boden entzogen.

Sehnsucht und Erfüllung! Enthält das normale Verhältnis dieses Begriffspaares nicht die Lösung des ganzen Problems, weswegen die gemäßigte, nicht die heiße Zone der Schauplatz aller Großtaten des Geistes gewesen ist? Wo alles vorhanden, dort sucht man nicht, und das Äußerste hat keiner je gefunden, der nicht ein Suchender gewesen wäre; wo alles gegeben, dort fehlt dem Willen der Ansporn, und aus der Trägheit geht keine Heldentat hervor; wo alles nur Mögliche verwirklicht ist, dort bleibt kein Idealismus lebendig. So tragen die originalen Schöpfungen des Tropengürtels allesamt seltsam ungeistige Züge. Im Tropenklima vegetiert, wie alles, auch die Phantasie. Wohl treibt sie manchmal wunderherrliche Blüten, bald wildphantastisch, wie die volkstümlichen Göttermythen, bald duftigschwül, wie die Lyrik verfeinerter Hofdichter; sie bringt auch hier und da Gebilde hervor, die, gleich der Palme, fest und stark in der Linie sind. Aber alle diese Schöpfungen, so schön sie seien, verbleiben in der Sphäre des Naturhaften; sie sind nicht aus geistiger Tiefe neubeseelt, nicht aus dem Geiste wiedergeboren. Sie sind »Geistesausdruck« nur im Sinn der Blume. Die Natur als solche kann eben, so üppig sie sei, zu den Höhen der Geistigkeit nicht hinanwachsen; dorthin gelangt nur der Mensch, der sich in kraftvoller Anstrengung über die Sphäre seines Ursprungs hinauferhob. Aber dem Tropenbewohner fehlt der Anlaß, sich anzustrengen, denn alles Mögliche geschieht ja schon von selbst. Und zum Begehren des Unmöglichen fehlt ihm die Energie.

Sein Bewußtsein muß erschrecklich arm sein. Bewußt wird nur das, was nicht von selbst geschieht; wo alles automatisch verläuft, was bleibt? Er kann auch die Liebe nicht kennen. Was wir Liebe heißen, beruht rein auf Einbildungskraft. Wo der Wunsch dem Genuß, die Vorstellung der Wirklichkeit vorauseilt, dort entsteht jenes wundersame Gebild, und es wird reicher und zarter und schöner, je weiter der Abstand zwischen Sehnsucht und Erfüllung ist. Daher hat die Liebe im Norden, wo der Geist gern im Traumlande weilt, so viel köstlichere Blüten getrieben als im Süden mit seinem größeren Wirklichkeitssinn. Je südlicher die Zone, die sie bewohnen, desto animalisch-sinnlicher sind die Menschen, desto weniger aktiv ist ihre Phantasie. Der Weg zwischen Sehnsucht und Erfüllung wird zuletzt so kurz, daß psychische Bildungen kaum entstehen können. Das Erleben geht über das Begehren nicht hinaus; es kommt nicht zu dem Dichtungsprozesse, welcher Liebe im nordischen Sinn zeugt. In den Tropen erscheint es selbstverständlich, daß die sich haben, die sich erotisch angezogen fühlen. Wo die indischen Dichter Sehnsucht schildern, da handelt es sich um den Schmerz getrennter Gatten, die im Genießen aussetzen müssen, nie um ein Sehnen nach dem Unerreichbaren, dem Unbekannten. Unser Sehnen kennen die Tropen nicht.

Nur eine Sehnsucht kann in ihnen Nahrung finden, lebendig bleiben und anwachsen, bis daß sie dasteht als weltbewegende Macht: die Sehnsucht aus der Fülle hinaus. Auch im Norden sind manchmal Geister aufgetaucht, die sich abweisend zur Wirklichkeit stellten, aber ihr Motiv war nie Befreiungsdrang, sondern Unbefriedigtheit mit dem Gebotenen. So fehlte ihrem Verneinen der tiefe Grund; es ist im großen nie produktiv geworden. In den Tropen hat gerade die Sehnsucht hinaus aus der Welt sich als die schöpferischste bewährt; sie allein hat das Tiefste im Menschen an die Oberfläche gebracht, denn sie allein wurzelt in der Tiefe. In der Tat, wo nichts zu wünschen übrig bleibt, dort beengt die Fülle ebenso, wie sonst der Mangel; sie hindert die Kraftentfaltung, schwächt das Lebensgefühl, droht das Selbstbewußtsein zu ersticken. Gerade der Kraftvolle ist dort am weltfeindlichsten. So kommt es, daß eben die Lehren, die bei uns als die schwächlichsten wirken, als Ausgeburten verkommenden Lebens, die Lehren von dem Unwerte des Daseins, in den Tropen Kraftfülle atmen. Daß hier »Geist« nur da gewaltig am Werke erscheint, wo es nicht Wirklichkeit zu schaffen, sondern zu verneinen gilt. – Die Mondsichel spiegelt sich im See. In den Palmenwipfeln zirpen tausend Insektenstimmen. Wie ich mich nach dem Nirwana sehne! Nach einem Dasein, wo die Schöpfung nicht übermächtig wäre, wo die Natur den Geist nicht überwucherte! Nach einem Zustand des nicht-individuellen, nicht-bestimmten Seins, in dem ich frei wäre von allem, was mich bindet, von Freud und Leid, von Göttern und von Menschen, und von mir selbst ...

 

Ich bemühe mich, die Pflanzen wachsen zu sehen; auf Ceylon müßte es gelingen. Dieses Gestrüpp kocht buchstäblich vom Boden auf, diese Bambusstäbe schießen förmlich gen Himmel. Die ganze Schöpfung ist in ständigem Fluß begriffen: hier bedarf es keines Herakleitos, um einem das deutlich zu machen. Wie anders stellt sich ein Wald in den Tropen dar, als bei uns! In gemäßigten Breiten bedeutet »Wald« den Kollektivbegriff, unter dem viele Einzelbäume zusammengefaßt werden; hier wirkt der Wald als das Konkretere den Bäumen gegenüber, die sich nur mit Mühe aus dem verfilzten Grün abstrahieren lassen. Und der Wachstumsprozeß erfolgt mit so rasender Schnelligkeit, so üppig, so überreich und schrankenlos, die Formen hängen so innig zusammen, gehen so unmerklich ineinander über, daß die äußere Anschauung keinerlei Anlaß gibt, eine Theorie des Seins zu konstruieren: alles ist vielmehr nachweislich im Werden, und jenseits des Werdens gibt es nichts. Die Anschauung jedes Augenblicks beweist die Wahrheit von Buddhas Erscheinungslehre.

Buddhas Phänomenologie ist die exakteste Theorie der Vegetation, die jemals aufgestellt worden wäre. So weit das Leben der Pflanze für alles Leben typisch ist, so weit hat Buddha auch für Menschen wahrgesprochen, und das ist viel. Alle äußersten Probleme sind in der Pflanze genau so vollständig aufgegeben und gelöst, wie im höchsten Menschendasein: die Probleme der Freiheit, der Unsterblichkeit, des letzten Wesensgrundes. Immerhin hat es sein Mißliches, den Menschen von der Pflanze her zu bestimmen: seinem Wesen tritt man damit nicht zu nahe, aber man wird seiner Sondererscheinung nicht gerecht. Indem man auf die Ähnlichkeit mit der Pflanze den Hauptnachdruck legt, beachtet man nicht, worin er sich von ihr unterscheidet. Während ich Buddhas Lehren studierte, habe ich mich des öfteren gefragt: wollte er die Menschen zu Pflanzen machen? Getan hat er es unzweifelhaft. Seine Lehre ist so sehr auf das Gemeinsame aller Lebensformen zugeschnitten, daß die Wesen, die sie befolgten, sich notwendig diesem Gemeinsamen zu entwickeln mußten. Die Passivität des buddhistischen Menschen hat keinen anderen Sinn, als daß er pflanzenartig ist.

Seitdem ich in den Tropen weile, verwundert es mich nicht mehr, daß Buddha die Phänomenologie des Pflanzenlebens seiner Heilslehre zugrunde gelegt hat: das Leben ist hier Vegetation; Körper sowohl als Geist vegetieren. Und dieses Vegetieren erschöpft alle körperliche Daseinsmöglichkeit so vollständig, daß sich die Frage nach einer vielleicht höheren Bestimmung des Menschen nicht stellt.

 

Nun ist mein Organismus von den Einflüssen der Tropenwelt so weit verwandelt, daß ich in buddhistischer Bewußtseinslage verharren kann. Dieses Erlebnis ist mir überaus lehrreich. Dem Buddhismus als Theorie gerecht zu werden, hält nicht schwer: er ist eines Geistes mit allen empiristischen Systemen des Westens. Die Psychologien Taines, Ernst Machs, William James, die Weltanschauungen Auguste Comtes, Herbert Spencers, Wilhelm Ostwalds, sogar Bergsons haben alle, eine jede von einer besonderen Seite her, eine bestimmte Wegstrecke entlang und bis zu einem bestimmten Grade der Konsequenz, mit Buddhas Lehren das Wesentliche gemein. Das macht, daß alle empiristischen Denker das Geschehen in seinem aktuellen Ablauf ins Auge fassen; mit dieser Fragestellung ist das mögliche Ergebnis vorgezeichnet; stimmen nicht alle empiristischen Denker in allem überein, so ist das auf Perspektive- oder Begabungsunterschiede zurückzuführen. Spencer und Ostwald und Mach hätten gleiches wie Bergson gelehrt, wenn sie gleich scharfsinnig gewesen wären, denn ihre Absicht war ursprünglich die gleiche. Buddhas Philosophie hat nun, von allen westlichen Denkern, mit derjenigen Ernst Machs die größte Ähnlichkeit; sie hat die gleichen Grundvorzüge und die gleichen Grundgebrechen. Jene wurzeln in der Exaktheit der Beobachtungen, diese darin, daß die Beobachtung nicht tief genug eindringt. Wohl ist es möglich, im Aktuellen alles Wirkliche und Mögliche verdichtet zu sehen; das ist 600 Jahre nach Buddha Açvagosha gelungen, dem Begründer der Mahayâna-Lehre, und in unseren Tagen wiederum Bergson; diese Leistung der philosophischen Erkenntnis erscheint, aus menschlichem Gesichtswinkel betrachtet, besonders wertvoll, weil das Bild, das dieser Standpunkt gewährt, den eigentümlichen Charakter der Welt am vollständigsten und unverzerrtesten wiedergibt. Aber Buddha hat die Aktualität so tief zu erfassen nicht vermocht. Er hat Sein und Werden nicht zusammengeschaut, sondern ausschließlich das Werden bemerkt.

Daß sich nun ein abstrakter Gelehrtengeist mit einer Weltanschauung wie der buddhistischen zufrieden gibt, ist wohl verständlich. Ein Mann wie Mach hat kein metaphysisches Bedürfnis, in ihm lebt kein religiöses Gefühl, also bescheidet er sich gern bei seinem phänomenologischen Relativismus. Wo hingegen ein Mann, der als Erkenner zu buddhoiden Ergebnissen gelangt ist, überdies in lebendiger Beziehung zum Universalen steht, dort neigt er in der Regel zum Absolutismus. Er glaubt ein Absolutes in irgendeiner Form. So war es bei allen indischen Weisen, deren phänomenologische Anschauungen mit denen Buddhas in allem wesentlichen übereinstimmten; so war es im Westen bei Auguste Comte, der sogar eine extrem emotionelle Religion gestiftet hat, bei William James, der an einen persönlichen Gott glaubte, bei Herbert Spencer, dessen »Unerforschliches« mehr und mehr, je älter er wurde, zur Substanz sich verdichtete. Buddha hingegen hat eine Religion begründet, die nichts anderes als phänomenologischer Relativismus ist. Er hat getan, was Ernst Mach sich geleistet hätte, wenn er die Ergebnisse seiner Empfindungsanalyse als Evangelium verkündet hätte. Das ist es, was dem westlichen Betrachter so paradox erscheint, was die brahmanischen Weisen auf den Buddhismus verächtlich herabsehen läßt; das ist es, was auch mich bisher befremdet hatte. Nun aber beginne ich zu verstehen. Unter den physiologischen Voraussetzungen, die für den Menschen in den Tropen gelten, bedeutet der Buddhismus wirklich ein Evangelium, oder kann es wenigstens bedeuten.

Ich brauche bloß mein eigenes Bewußtsein zu analysieren, wie es im Laufe dieser Tage geworden ist. Mein Betätigungsbedürfnis ist merklich abgeflaut; in mir lebt gar keine Initiative mehr; anstatt zu handeln, lasse ich mit mir geschehen. Damit ist mir die Distanz zu mir normaliter gegeben, die der noch so Kontemplative im Norden zu sich selbst nur ausnahmsweise hat; zugleich jene innere Stille, welche Grundvorbedingung klarer Selbsterkenntnis ist. Wie ich's schon in Colombo niederschrieb: in den Tropen gehört nicht viel dazu, um das psychische Geschehen objektiv zu erfassen. Nun aber kommt ein weiteres: dieses vegetationsartige Geschehen – die organischen Prozesse wirken vegetationsartig, wo sie ohne Ichbestimmtheit vor sich gehen – ist ungeheuer intensiv, viel intensiver als in nördlichen Breiten; als Seele wie als Leib empfinde ich mich als andauernd wuchernd, treibend, wachsend, knospend, blühend, als andauernd werdend und vergehend; ich habe das Gefühl, als würde ich rastlos fortgetrieben durch nicht endenwollende Geburten und Tode hindurch. Dies bedingt zweierlei: erstens daß ich mir des wahren Charakters des Geschehens – einer endlosen Kette von Geburten – mit unerhörter Deutlichkeit bewußt bin; zweitens aber, daß es mir unmöglich ist, über das Samsâra hinauszublicken. Ich kann nicht finden, daß es jenseits oder außerhalb des Unbeständigen irgendein Beharrliches gibt; alles Daseinsbewußtsein geht in der wechselnden Gestaltung auf. Einerseits fühle ich mich mit ihr nicht identisch, andrerseits ist das Bewußtsein des Nicht-Ich-Prozesses so intensiv, daß für ein selbständiges Ichbewußtsein kein Raum übrig bleibt. Lausche ich nun von dieser Erlebnis-Basis aus der Lehre Buddhas, nach der es nichts geben soll, als einen anfangs- und endlosen Prozeß, in welchem endlose Kausalitätsreihen interferieren, nach der alle scheinbar feste Gestaltungen nur vorübergehende Schnittpunkte des Werdens bezeichnen, nach der es kein Ich gibt jenseits dieses Werdens, keine selbstgegründete Seele, keine Persönlichkeit, so erkenne ich in ihr, in wunderbar klarer Begriffsfassung, mein eigenstes Erleben wieder. Nun kann mich diese Lehre nicht befremden: wo kein Ichgefühl lebt, dort verlangt man nicht nach seiner Fortdauer; wo kein Unsterblichkeitsbewußtsein dem Erleben ursprünglich zugrunde liegt, dort sehnt man sich auch nicht nach Unsterblichkeit. Die Lehre vom Nicht-Ich bedeutet unter der Voraussetzung der physiologischen Basis, auf der das Bewußtsein in den Tropen ruht, eben das, wie die Lehre vom Ich und dessen Fortdauer unter europäischen Voraussetzungen. So verstehe ich jetzt gut, wie die Zuhörer Buddhas eine Lehre freudig begrüßen konnten, deren Anerkennung durch den Verstand unter Westländern Verzweiflung zur Folge gehabt hätte: der Mensch ist immer freudig bewegt, wo ein anderer ihm sein eigenstes Erleben deutlich macht.

Mit dieser Erkenntnis fallen denn alle Schwierigkeiten des buddhistischen Nirwana-Gedankens fort. Der tropische Mensch fühlt sich im Nicht-Ich befangen, einer übermächtigen Natur, die sein Bewußtsein allseits erfüllt. Solange er in diesem Prozesse aufzugehen vermag, solange fragt er nicht weiter, nicht mehr als irgendein lebensfroher Jüngling des Westens auch im Mittelalter je nach dem Himmel gefragt hat. Kommt aber der Tag, der selten ausbleibt, an dem er seines Zustandes müde wird, an dem die Ahnung eines Höheren in ihm erwacht, so kann sich der Tropenbewohner dieses Höhere nur auf die Weise vorstellen, daß er den Fesseln des Naturgeschehens entrissen wird. In dieses hinein, im Sinne eines Lebens im Himmel, kann er sein Ideal nicht verlegen, da jedes vorstellbare Leben dem Wesen nach identisch sein würde mit dem, dessen er müde ist; sein Ideal ist mit Notwendigkeit eines der Auflösung. Was versteht er nun eigentlich unter Nirwana? Wie sollte er das begrifflich bestimmen? Bewußtsein eines Ich im Gegensatz zur verfließenden Natur besitzt er nicht; also kann er nicht behaupten, daß er sich nach einem höheren positiven Zustande sehnte. Ebensowenig aber kann er behaupten, daß er im Nichts zu zergehen wünscht, denn damit, daß er dem Naturprozesse entrinnen will, bekennt er ja schon, daß er sich in diesem nicht völlig aufgehen spürt. Er hat ein sehr bestimmtes Gefühl der Sehnsucht aus dem Getriebe des Werdens und Vergehens hinaus, ein bestimmtes Gefühl der Sehnsucht, das mit einer unbestimmten Erwartung eines positiv Besseren verquickt ist. Dieses Gefühl lebt auf Ceylon auch in mir. Und suche ich es zu fassen, so finde ich, daß mir dies nicht besser gelingt als den buddhistischen Weisen. Es hatte seinen guten philosophischen Grund, daß Buddha über das Nirwana nichts Bestimmtes gelehrt, ja, jeden Versuch einer Bestimmung als Ketzerei verurteilt hat. Nur so viel vermöchte ich zu sagen. Die Sehnsucht nach Nirwana bedeutet Sehnsucht nach Erlösung aus den Banden der Natur, die allgemein-menschliche Sehnsucht nach Befreiung, die allen eschatologischen Vorstellungen als Letztes zugrunde liegt. Diese Befreiung wird der, dem ein starkes Ichbewußtsein eignet, mit positiven Vorstellungen verknüpfen: er wird sich ein ewiges Leben ausmalen, oder, wo er besonnener ist, wie die Brahmanen, einen Zustand jenseits aller Individualisierung, in welchem er, nach Abstreifung seiner Person, desto mehr er selbst würde. Wie aber mit dem, welchem Ichbewußtsein fehlt? In ihm führt das gleiche Befreiungsstreben zu wesentlich anderen Gestaltungen. Was er ersehnt, ist das Freiwerden von der Natur schlechthin; er kennt keine Sehnsucht darüber hinaus. Wo das Naturbewußtsein übermächtig ist und das des Ich kaum existiert, kann sich das Selbstgefühl nicht positiv zur Geltung bringen. Die Sehnsucht aus der Erscheinung hinaus ist das metaphysische Erlebnis des Buddhisten; es ist sein äußerstes Erlebnis – weiter fragt er nicht. Und fragt ein anderer ihn weiter, so beweist er damit, daß er ihn mißversteht.

 

Dieses ist nun der dritte Tag, den ich beinahe ausschließlich in der Atmosphäre der buddhistischen Kirche zugebracht habe. Ich habe vielen Gottesdiensten beigewohnt, mit Priestern und Mönchen viel geplaudert und so manche Stunde hindurch in der kühlen, traulichen Dombibliothek droben im Kuppelbau mit der schönen Aussicht über den See in den Pali-Texten studiert, während aus den Hallen unter mir die Litaneien oder die schrillen, von Trommelwirbeln begleiteten Koloraturen der Klarinette, welche die Frommen zur Andacht ruft, gedämpft herauftönen. Wieder einmal erfahre ich's: die Kenntnis des geistigen Gehaltes einer Lehre macht einen noch lange nicht zum Kenner derselben; ihre Konkretisierung birgt immer Überraschungen. Gleichviel, ob eine Kirche die »reine« Lehre vertritt oder nicht – sie ist ein lebendiger Ausdruck ihres Geistes. Selbst wo die Kirche die Lehre nachweislich verbildet hat, tritt dieser in ihr doch deutlicher zutage, als in noch so unverstümmelten Schrifttexten, wie denn der Krüppel das Leben immer noch besser zum Ausdruck bringt als die beste Lebenstheorie.

Ich muß nun sagen, daß der buddhistische Priester mich durch die Höhe seines Niveaus überrascht. Nicht seines geistigen Niveaus, sondern seines menschlichen. Sein Typus ist dem des christlichen überlegen. Ihm eignet eine Sanftmut, ein Allverständnis, ein Wohlwollen, ein Über-den-Dingen-stehen, von dem der noch so Voreingenommene nicht behaupten wird, daß er für den christlichen Geistlichen charakteristisch sei. Ohne Zweifel liegt das an der vollendeten Uninteressiertheit, die der Buddhismus in seinen Gläubigen großzieht. In der Idee mag es wohl schöner erscheinen, für andere als sich selbst zu leben: so wie die Menschen einmal sind, macht aktive Nächstenliebe nicht weit, sondern eng; nur in Ausnahmefällen artet sie nicht in Zudringlichkeit und Herrschsucht aus. Wie taktlos sind alle Menschenverbesserer! Wie beschränkt alle Missionäre! Mag ein Mann von Hause aus noch so weitherzig sein, mag der Glaube, den er bekennt, der universellste der Welt sein – das bloße Bekehrenwollen macht eng, denn psychologisch bedeutet es immer nur eines: das Aufdrängen der eigenen Ansicht einem anderen. Wer das tut, ist facto ipso beschränkt, und wer das dauernd tut, ja professionell betreibt, wird von Tag zu Tag beschränkter. Deswegen gehören Engherzigkeit, Agressivität, Herrschsucht, Taktmangel und Unverständnis zu den typischen Zügen des christlichen, zumal des protestantischen Priesters. Eine Religion nun, welche, gleich dem Buddhismus, die Sorge um das eigene Heil als einziges Motiv des Daseins hinstellt, kann solche Erscheinungen nicht zeitigen. Wohl scheint es, als müßte sie statt dessen den krassesten Egoismus großziehen, aber dies geschieht innerhalb des Buddhismus aus zwei Gründen nicht: erstens, weil das eigene Heil dem Buddhismus nicht ewige Seligkeit des Individuums, sondern Loskommen von den Schranken der Individualität ist; wonach selbstische Wünsche ein Mißverständnis bedeuten. Dann aber, weil Wohlwollen und Mitleiden den Buddhisten als die Tugenden gelten, deren Ausübung das Freiwerden vom Selbst am meisten begünstigt und beschleunigt. Dem Zusammenwirken der Ideale der Uninteressiertheit und der Nächstenliebe ist denn die Stimmung entsprossen, die dem Buddhismus wohl vor allem anderen seine Überlegenheit gibt: die spezifisch buddhistische Carität. Carität im christlichen Verstande bedeutet Gutes-Tun-Wollen; im buddhistischen: jeden auf seiner Stufe gelten lassen. Und dieses nicht im Sinne des Gleichgültigseins gegenüber dem Zustand, in dem ein anderer sich befindet, sondern des warmen Verständnisses für das Positive jedes Zustandes. Nach allgemein-indischer Anschauung steht jeder einzelne genau auf der Stufe, auf die er hingehört, auf die er durch sein eigenes Verdienst hinauf- oder hinabgestiegen ist; also ist jedes Stadium innerlich berechtigt. Wohl wäre es wünschenswert, daß jeder einzelne zum Höchsten hinaufgelangte, allein zum Höchsten hinauf führt kein Sprung, sondern nur langsam-stufenweiser Aufstieg, und jede Stufe hat ihre besondere Idealität. Während also das Christentum, solange es asketisch gesinnt war, das Leben in der Welt dem mönchischen gegenüber gering schätzte und am liebsten die ganze Menschheit auf einmal ins Kloster gesteckt hätte, liegt es dem Buddhismus, dessen Gesinnung prinzipiell noch weltfeindlicher ist, als die urchristliche, dem der Zustand des Mönches ausdrücklich als höchster gilt, dennoch fern, um des Höheren willen das Niedere zu verurteilen. Jeder Zustand ist notwendig und insofern gut. Die Blüte widerlegt nicht das Blatt, und dieses nicht den Stengel und die Wurzel. Den Menschen wohlwollen, heißt nicht alle Blätter gewaltsam zu Blüten umwandeln wollen, sondern sie als Blätter gelten zu lassen und liebend zu verstehen. Diese wunderbar überlegene Carität spricht aus allen, sonst noch so unbedeutenden buddhistischen Priestergesichtern. Nun wundere ich mich nicht mehr über die beispiellose Verehrung, die der buddhistische Geistliche beim Volk genießt. Es scheint ja auf den ersten Blick paradox, daß der Uninteressierte mehr Verehrung genießen sollte als der, welcher sich tätig um das Wohl seiner Mitmenschen bemüht. Tatsächlich ist dem überall so: der Mensch will nicht bevormundet werden; wer überzeugen will, überzeugt weit schwerer, als wer ohne Absicht und Hintergedanken für seine Person das ihm Rechterscheinende tut. Das absichtslose, selbstlose, reine Leben, das der Bhikshu führt, ist unter buddhistischen Voraussetzungen das höchste, das ein Mensch auf Erden führen kann. So dient, wer den Mönchen dient, seinem Ideal.

Die Atmosphäre dieser Kirche tut mir wunderbar wohl. Noch nie habe ich inmitten solchen Friedens geweilt. Und doch ist mir heute klarer denn je, daß der Buddhismus für den Europäer keine mögliche Religion bedeutet. Um so zu wirken, so formend, so positiv, wie er es unter den Singhalesen getan hat, muß das Seelenmaterial entsprechend sein – anders, sehr anders, als wir es liefern können. Bei uns, die wir das Phänomen durchaus bejahen, die wir nicht rasten können, deren ganze Energie kinetisch ist, würde das Leben für das eigene Heil sofort zu krassem Egoismus, das allgemeine Mitleid und Wohlwollen sofort zu plattem Tierschutzwesen ausarten und das Streben nach Nirwana alle die Übelstände zeitigen, welche Unwahrhaftigkeit gegen sich selbst unabwendbar nach sich zieht.

 

Kein Zweifel, nur Tropenbewohnern ist der südliche Buddhismus gemäß; das darf nie aus den Augen verloren werden. Aber ist dieses einmal vorausgesetzt und zugestanden, ist man sich einmal darüber klar, daß zum Buddhismus eine sanfte, indolente Naturbasis gehört, dann muß man die Gestaltungskraft, die er bewiesen hat, bewundern. Es ist kaum glaublich, bis zu welchem Grade er gerade die Masse veredelt hat. Noch bin ich in Indien nicht gewesen, aber wenn nicht alle Berichte trügen, so hat der Brahmanismus nie auch nur annähernd so günstig auf die unteren Volksschichten eingewirkt; er hat sie ja auch nie für voll genommen. Buddhas sozialpolitische Großtat war, daß er die schroffe Grenzscheide zwischen esoterischer und exoterischer Weisheit niederriß und gleich Christus ein Evangelium für alle verkündete. Dessen Charakter war, wie schon bemerkt, sehr bestimmten Verhältnissen angepaßt; wie denn auch alle Überlieferungen darin übereinstimmen, daß Buddha in der Hinâyâna-Lehre (welche die südliche Kirche bekennt) nicht sein ganzes Wissen, sondern nur den Teil desselben, der einer unentwickelten Menschheit frommen könnte, geoffenbart hat; diese Lehre ist wirklich ein wenig simplistisch, kultivierteren Geistern wenig mundgerecht. Aber wie weise trägt sie der Volksseele Rechnung! In dieser Hinsicht schlägt sie Brahmanismus sowohl als Christentum. Der Brahmanismus hatte wohl eine besondere Lehre ad usum populi entwickelt, aber in dieser fehlten gerade sein Bestes und sein Tiefstes; die Brahmanen hatten sich hochmütig dabei beruhigt, daß die Plebs dieses doch nicht würde würdigen können. Die Botschaft Christi wendet sich wohl an alle, aber sie wendet sich an sie in Bausch und Bogen vom Standpunkte eines absoluten Ideales her, ohne Berücksichtigung der Wirklichkeit. Und so sehr hier der mittelalterliche Katholizismus nachgeholfen hat – abstellen können hat er das ursprüngliche Gebrechen nicht. Er hat, gleich dem Brahmanismus, zwischen höherer und niederer Wahrheit unterschieden, und wie dort, ist auch hier die Masse dabei zu kurz gekommen. Im Protestantismus aber, dem letzten Versuch, der gemacht ward, den reinen Geist der Heilslehre praktisch wirksam zu machen, hat das Christentum teils seine Gestaltungskraft eingebüßt (Luthertum), teils ist es zum alttestamentlichen Religionstypus zurückgeschlagen (Calvinismus). Es ist nicht wahr, daß der Geist Jesu Christi die Massen der Völker, die sich zu ihm bekannten, je innerlich erfaßt hätte: er hat überall von außen nach innen gewirkt, und in den meisten Fällen ist es bis zuletzt bei einer äußerlichen Gestaltung geblieben. Wie schroff ist der Gegensatz zwischen dem Bekenntnisse des durchschnittlichen Christen und der Art, wie er sich im Leben bewährt! Diesen Gegensatz gewahrt man bei den buddhistischen Massen nicht. Buddha hat seine Lehre so meisterhaft formuliert, daß sie von den Seelen ihrer Bekenner wirklich innerlich Besitz ergriffen hat. Auf dem Wege einfacher, jedermann faßlicher Sätze und Vorschriften hat er tiefste Weisheit in das Gemüt des kleinen Mannes hineingesenkt; so tief, daß weder Aberglaube noch praktische Abirrungen die wesentlich buddhistische Gesinnung je haben verdrängen können. Bis zu einem gewissen, erstaunlich hohen Grade sind die buddhistischen Tugenden die Tugenden der meisten Buddhisten.

Woher dieser Vorzug der Lehre Gautamas? Woher dessen Fähigkeit, seine tiefe Erkenntnis in so einzig wirkungskräftige Form zu fassen? – Das Genie läßt sich nicht weiter ableiten. Allein mir scheint doch, daß ein allgemeines Moment hierbei von großer Bedeutung war: daß Buddha einem Herrscherhause entstammte.

Begabung, Geist, Verstand, metaphysischer Tiefsinn, religiöses Intuitionsvermögen sind von edler Geburt weder abhängig, noch kommt diese ihnen irgendwie zustatten. Im Gegenteil: der Hochgeborene ist selten einseitig genug, um ein spezielles Talent bis zum Äußersten auszubilden. Aber an Weitblick, an herrscherischer Überlegenheit ist der Aristokrat dem Plebejer immer voraus. Nur er steht von Hause aus über den Parteien, nur er ist ohne Ressentiment, nur er hat zu den Schwächen der Menschen ein rein objektives Verhältnis, schon allein weil er kraft seiner Stellung selten subjektiv unter ihnen zu leiden hat. So übertrifft er, wo es die Menschheit zu übersehen und ihren Bedürfnissen im großen gerecht zu werden gilt, selbst den höherbegabten Mann aus dem Volk. Buddhas ganze Lehre nun trägt unverkennbar den Stempel solch fürstlicher Geistesart; er war ein typischer Kschattrya. An philosophischem Tiefsinn stand er hinter den Brahmanen zurück, hielt überhaupt nicht eben viel von Philosophie, gleich den meisten Politikern und Militärs. Aber wie keiner vor ihm im Inderlande verstand und kannte er die Menschen, wußte er ihren Bedürfnissen und Schwächen Rechnung zu tragen und seine Gebote in solcher Form zu erlassen, daß sie nicht allein zu einem religiösen, sondern auch zu einem politisch-sozialen Optimum führten. Hier, an diesem Punkte, erweist sich der Buddhismus dem Christentum entscheidend überlegen. Buddha, der Fürstensohn, der über den Parteien Stehende, hat eine Lehre in die Welt gesetzt, die nichts Bestehendes besonders verneint (sie verneint alles Vergängliche in Bausch und Bogen), daher keinerlei Intoleranz hervorrufen und gleichmäßig alle dem positiv Besseren zuführen konnte. Das Christentum war ursprünglich eine Proletarierreligion und stand von vornherein im Gegensatz zu den bevorzugten Klassen. Parteilichkeit für die gescheiterten Existenzen, Ressentiment den Glücklichen gegenüber gehört zur Seele, wenn nicht zum Geiste dieser Religion, und so trägt sie, wohin sie sich auch wendet, den Samen des Zwiespaltes mit sich fort. Es ist von der größten Bedeutsamkeit, daß die Religion des Friedens par excellence am meisten Unfrieden gestiftet hat: der noch so hohe Geist ihres Begründers war kein weltlich überlegener Geist.

 

Wie lieblich ist der buddhistische Gottesdienst! – Wenn die Sonne untergegangen ist, rufen die Glöckner die Gemeinde zur Andacht. Da strömen denn die sanften braunen Menschen mit dem langen blau glänzenden Haar und den wunderschönen Händen, Männer und Weiber voneinander kaum zu unterscheiden, im Dalâda Maligâwa zusammen. Wer immer kann, der stiftet eine Kerze, und alle bringen duftende Blumen dar. Vor dem Heiligtum, in dem der Zahn des Buddha ruht, mit seinen goldglänzenden Türen, seinen kostbaren Bildwerken, steht, im gelben Gewand, der freundliche Priester und nimmt mit ermunterndem Lächeln die Gaben der Gemeinde entgegen. – Selbst in Ceylon, wo noch heute die Urlehre in ihrer Reinheit herrscht, wird Buddha vom Volk als Gott verehrt; und um ihn scharen sich viele andere mythische Gestalten – Engel, Heilige, Hindugötter, Divinitäten aus dem tamylischen Urpantheon. Aber wunderbar: all diese Auswüchse und Wucherungen haben dem Sinn der Buddhalehre nichts anhaben und ihre formgebende Kraft nicht beeinträchtigen können. Es sind auch von der Kirche, daß ich wüßte, nie Schritte gegen die Mythenbildung ergriffen worden. Hier hat eben die Erscheinungswelt fast nichts zu bedeuten; die Mâyâlehre ist diesen Menschen eingeboren. Die Vorstellungen werden nie ganz ernst genommen, es kümmert sich auch keiner um Zusammenhang oder Widerspruch. Alle wissen es: die Vorstellungen gehören zum vegetativen Leben des Geistes, das wie selbstverständlich wächst und sprießt und blüht – das Eigentliche liegt in anderer Dimension. Buddhas Heilslehre gilt unabhängig von aller Konfession; wie denn Buddha selbst nie versucht hat, seinen Jüngern ihren Götterglauben zu nehmen. Er lehrte sie nur, daß auch die Götter, gleich allen Erscheinungen, unwesenhaft und vergänglich sind.

Wieviel leichter wird es dem Tropenbewohner als unsereinem, religiösen Tiefsinn zu beweisen! Selbstverständlich steht keinerlei Vorstellung mit dem metaphysischen Grunde in notwendigem Zusammenhang; selbstverständlich hat der Buddhismus recht. Aber den Westländer hindert seine physiologische Organisation, diese Wahrheit ohne weiteres einzusehen. Er ist zu sehr verstrickt in der Erscheinung, um sie aus gebührender Distanz zu beurteilen. Dies erklärt die ungeheure Wichtigkeit der Dogmen in der Geschichte der Christenheit. Da war es eine Lebensfrage für die Religiosität, zu welchen Vorstellungen sich ein Mensch bekannte. Auswüchse und Wucherungen, die an sich geringfügig waren im Vergleich zu dem, was um die Buddhalehre herum aufgeschossen ist, ohne diese im mindesten zu gefährden, haben die christliche zeitweilig ihres eigensten Geistes beraubt. So erschien es wirklich geboten, um die »wahre Lehre« zu kämpfen, den »richtigen Erlöserbegriff« zu finden, das Verhältnis der Gottheit zur Welt in objektiv gültigen Begriffen darzustellen, weil unser Weg eben nur durch die Erscheinung hindurch zum Sinne führt, daher jede Erscheinung, die nicht unmittelbar den Sinn ausdrückt, den Geist auf Abwege bringt, auf denen er sich verlieren kann. Wieviel besser haben es die Tropenbewohner! Sie brauchen nach keinen genau entsprechenden Ausdrücken zu suchen, ihnen ist jede Form recht oder auch keine, je nachdem. Denn sie sind sich, kraft ihrer bloßen Physiologie, eben dessen wie selbstverständlich bewußt, was sich bei uns nur dem Ausnahmegeiste offenbart.

Dank dieser glücklichen Grundanlage nehmen auch solche Tendenzen unter den Singhalesen wohltätige Formen an, die unter Nordländern sich allemal als Elemente der Zerstörung erwiesen haben: ich denke an die Anlage zum Fanatismus. Heute früh war ich zu einem abgelegenen, unansehnlichen, von Fremden wohl kaum je besuchten Tempel hinausgewandert, den ein echter Eiferer bewohnt; ein Typus von solch leidenschaftlichem Temperament, wie ich ihn unter diesen sanften Androgynen kaum für möglich gehalten hätte. Anfangs stellte er, mißtrauisch und vorsichtig, eine Reihe ebenso elementarer Fragen an mich, wie sie Wotan an Mime oder Gurnemanz an Parsifal gestellt hat, und wie diese, so versagte auch ich zunächst im Antworten: es gibt keinen gewandteren Kunstgriff, einen Gegner der Ignoranz zu überführen, als ihn nach ganz selbstverständlichen Dingen zu fragen, denn im ersten Augenblick wittert der Nichtgewitzigte allemal hinter dem Naheliegenden einen fernliegenden Sinn; welche Methode in meinem Fall besonders gut gelang, da ich über dem Bestreben, in die Denkart meines Unterredners einzudringen, auf die Rolle des Widerpartes ganz vergaß. Aber nachdem ich zuletzt doch beweisen konnte, daß ich im Buddhismus nicht unbewandert war, eröffnete er mir sein Herz. Ja, er war ein Eiferer, einer, dem es leidenschaftlich ernst war um die Wahrheit, welchen Ingrimm über die Verbilder der reinen Lehre erfüllte. – Ob er gegen sie zu Felde ziehen wollte? – Nein, wozu? Was wäre damit erreicht, daß die gleichen Menschen zu neuen Vorstellungen sich bekennten? – Ob er nicht auf die Seelen unmittelbar einzuwirken gedächte? – Ja, das täte er schon gern. Aber ob viel damit zu gewinnen sei? Man muß vorbereitet sein, auf daß die Belehrung wirke, und gerade das seien seine schlimmen Zeitgenossen nicht. Ihre Seelen seien offenbar zu jung. Seiner Überzeugung nach wäre der einzige Weg, den Irrtum aus der Welt zu vertreiben, der, daß jeder wissende Einzelne mit äußerster Energie seiner persönlichen Vervollkommnung lebe. Damit werde ein Beispiel gegeben, das mehr vollbrächte als alle Bekehrungssucht. – Dieser Fanatiker betätigte seine Gesinnung doch nur dahin, daß er mit größerer Intensität als die anderen an seiner Vervollkommnung arbeitete und mit ein wenig weniger Wohlwollen seine Mitmenschen gewähren ließ.

Sie war überaus belehrend für mich, diese Disputa mit dem halbnackten Mann im gelben Büßergewand. Wir redeten im Hofe des Tempels im Schatten des Bodhibaums. Einige ernste, weißgekleidete Büßerinnen hörten andächtig zu, während ein Schwarm brauner Kinder mit glänzenden Augen und buntfarbigen Lendentüchern uns neugierig lärmend von allen Seiten umdrängte.

 

Schon bin ich die Gegenwart der guten Mönche so gewohnt, daß ich sie ungern missen würde. Es hat etwas überaus Beruhigendes, sie stets zu den gleichen Stunden das gleiche verrichten zu sehen: jetzt gehen sie mit ihren Bettelschalen zur Stadt, um von beflissenen Spendern ihre tägliche Mahlzeit abzuholen, dann wieder baden, meditieren sie, geben sie Unterricht in der Schrift und Religion – ein jedes zu seiner Zeit. Schon beginne auch ich, gleich den Singhalesen, sie als einen Teil meiner selbst zu empfinden. Diesen bedeuten sie ihre fleischgewordene Idealität, das lebendige Sinnbild dessen, wie alle eigentlich sein sollten. An nichts hängt der Mensch wohl stärker als an solchen Sinnbildern, sogar dort, wo sie ihm, nach Goethes Wort, ein »ständiger Vorwurf« sind. Dem Singhalesen nun sind die Bhikshus Sinn- und Vorbilder, ohne ihm auch nur irgendwie Vorwürfe zu sein: die Lebenslehre Buddhas in ihrer Weisheit hat allem Ressentiment von vornherein vorgebeugt. Wenn der Mönch auch das beste Leben lebt, so widerlegt seine Wahrheit doch keine andere; ein jeder hat auf seiner Stufe recht. Wie gern dient man einem Ideal, das so verständnisvoll, so großmütig ist! Zumal so wenig dazu gehört, es zu erreichen! – Man pflegt den Buddhismus eine pessimistische Weltanschauung zu heißen, und das ist sie auch dem strikten Buchstaben nach. Da ferner der Buchstabe, wo er stetig wiederkehrt, auf den Geist dessen, welcher ihn niederschrieb, unzweifelhaft Rückschlüsse gestattet, so ist auch die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß Buddha selbst, zeitweilig wenigstens, als Pessimist in unserem Sinn empfunden hat. Wozu hätte er sonst ständig vom Leiden gesprochen, das Leiden gar zum Angelpunkt seiner Heilslehre gemacht? – Aber dem heutigen Buddhismus fehlt jeder pessimistische Unterton; er verklärt das Leben im Gegenteil mit einem milden Glanze stiller Freude. Zunächst bedeutet das Nirwana dem Tropenbewohner das gleiche, wie dem Westländer die ewige Seligkeit; beinahe alles, was uns Anlaß gibt, den Buddhismus als pessimistisches System zu beurteilen, charakterisiert ihn im Bewußtsein seiner Bekenner als frohe Botschaft. Aber das ist nicht alles. Was den Buddhisten von Ceylon ein so stillfreudiges Dasein sichert, ist vor allem die Gewißheit dessen, daß das Heil nicht schwer zu erringen ist. Wie einfach sind die zu befolgenden Vorschriften! Wie wenig strapazenreich ist das Dasein sogar derer, die sich als Mönche endgültig auf den Pfad der Erlösung begeben haben! Da wird keine Austerität verlangt, keine Anspannung, die nicht jeder sich zumuten dürfte. So schauen die Herren im gelben Gewand nicht allein freudig, sondern meistens gemütlich drein. Mir scheint: die Lehre Buddhas hat dem tropischen Menschen Gleichbedeutendes gewonnen, wie das Luthertum dem Nordländer erobert hat: die Möglichkeit eines gottseligen Daseins in der Welt. Buddha sowohl als Luther haben die Autorität der Kirche verleugnet und den Menschen für mündig erklärt; beide haben einen Glauben gelehrt, in dem alle Unterschiede zwischen den Menschen aufgehoben wurden, nach dem der Inspirierte Gott nicht nähersteht als der Einfältige; beide haben dem Leben des Alltags den Heiligenschein verliehen. Zwar hat Buddha die Mönchsorden nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil zu unerhörter Bedeutung emporgehoben, aber in Indien bedeutet Mönchstum nicht das gleiche wie bei uns, keine abnorme, außerordentliche Gestaltung: in ihm erscheint nur der Zustand organisiert, in dem jeder normalerweise lebt, nachdem er sich von den Geschäften zurückgezogen hat. Weilte ich lange genug auf Ceylon, auch mich erfaßte wohl einmal der Wunsch, die gelbe Toga anzulegen.

Ja, diese Mönche sind liebe Leute. Überlege ich mir freilich ihre Eigenart, dann kann ich nicht umhin zu erkennen, daß in ihnen die aurea mediocritas idealisiert erscheint; nichts an ihnen ist bewundernswert. Im buddhistischen Mönchtum treten, deutlicher vielleicht als irgendwo sonst, die Nachteile eines allzu billigen Idealismus zutage. Die Idealisierung der Mittelmäßigkeit verklärt diese zunächst tatsächlich: sie wird vertieft; die lutherische Innigkeit, die buddhistische Duldsamkeit bedeuten eminent positive Zustände, die nur dank jener Idealisierung zu erzielen waren. Aber gleichzeitig verlegt sie den Weg zu Höherem; sie entsteigert, entspannt, wirkt hohem Streben entgegen. Das ist überall so, wo dem ganzen Menschengeschlecht ein Ideal zur Nacheiferung vorgehalten wird und dieses Ideal nicht im Reich des Unmöglichen liegt, denn nur auf Unmögliches hin ist eine Nivellierung denkbar in der Idee, die nicht nach unten zu verliefe. Beim Buddhismus wirken diese Nachteile nicht so schwerwiegend wie innerhalb des Luthertums, weil hoher Idealismus in der Tropenluft ohnehin nicht gedeiht; aber vorhanden sind sie. Wahrscheinlich könnten auch unter Singhalesen bedeutendere Typen entstehen, als dies geschieht, wenn der Bhikshu nicht das äußerste Ideal verkörperte.

 

Überhaupt ist der faktische Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum größer, als die theoretische Betrachtung aus den beiderseitigen Geboten und Regeln, die in so vielen wichtigen Punkten übereinstimmen, abzuleiten geneigt wäre. Die entscheidende Nuance scheint mir jener chinesische Staatsmann gut erfaßt zu haben, der die orientalische Ethik von der okzidentalischen dahin differenzierte, daß jene lehre: tue keinem, was du nicht willst, daß man dir wiedertäte; diese jedoch: handele andern gegenüber so, wie du wünschest, daß sie sich zu dir verhielten. Jene sei wesentlich zurückhaltend, diese wesentlich angreiferisch. So ist es. Die Menschenliebe des Buddhisten unterscheidet sich von der christlichen durch nichts so sehr als dadurch, daß sie kein amor militans ist. Sie ist für unsere Begriffe matt und kühl, und bei aller Verständnistiefe zu vernünftig, um groß zu wirken. Gewiß, aber wie sollte werktätige Liebe dem ein Ideal dünken, der das Individuum mit seinen Freuden und Leiden nicht ernst nimmt? Die Unbedeutsamkeit des Individuums ist dem Buddhisten seine selbstverständliche Grundvoraussetzung, nicht, wie dem Christen, der unendliche Wert der Menschenseele. Im Buddhismus hat das allgemein indische Ideal des Détachements seine äußerste historische Verwirklichung erfahren.

Jeder echte Weise wird sich für seine Person wohl zum indischen Ideale bekennen, und dies mit Recht. Wessen Bewußtseinszentrum schon jenseits des Flusses der Phänomene verankert liegt, der kann seine Ideale unmöglich an der Oberfläche forttreiben lassen. Den wird Unabhängigkeit auch nie kalt und gleichgültig machen, da er auf der Stufenleiter der Wesen schon so hoch hinangestiegen ist, daß er am reinen Geben seine höchste Freude findet und zum Wohlwollen des Abhängigseins nicht mehr bedarf. Daß nun ganz Indien sich zum Ideal des Weisen bekennt, rührt daher, daß dessen Weltanschauung eben von Weisen erdacht worden ist. Aber im brahmanischen Indien gilt das Ideal des Détachements doch nur insoweit allgemein, als der Weise allgemein für den höchsten Menschentypus gilt, und dieser détachiert sein soll; den niederen wird im Gegenteil gelehrt, daß sie sich binden sollen, da nur dank den Erschütterungen, die das Wechselspiel von Freud und Leid bedingt, ein Fortschreiten für sie zu erhoffen sei. Der Buddhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum absoluten, schlechthin allgemeingültigen Ideal erhoben.

Daß er das tat, war die logische Konsequenz seiner Anatmantheorie: wenn es kein Ich gibt, wenn keinerlei Substanz hinter dem Fluß der Bewußtseinszustände beharrt, dann hat es keinen Sinn, die Erscheinung, nach Art des Brahmanismus, auch nur vorläufig zu bejahen. Aber hier erweist es sich mit seltener Deutlichkeit, daß verfehlte theoretische Grundvoraussetzungen unabwendbar verderbliche praktische Folgen zeitigen, selbst dann, wenn sie als solche kaum beachtet werden und ihre Wirkungskraft durch Vorstellungen anderen Geistes beträchtlich abgeschwächt erscheint. Der Buddhismus hat über alle Unterschiede zwischen den Menschen in einer entscheidenden Hinsicht hinweggesehen: das hat sie nivelliert; dem hat das Caritätsideal nicht steuern können. Die buddhistische Menschheit wirkt, verglichen mit der christlichen, auffallend farblos, charakterlos. Das Ideal des Détachements setzt eben der Vitalität aller, die nicht geborene Weisen sind, einen Dämpfer auf. Der Normalmensch kann sich nur so vollenden, daß er alles Lebendige in sich durchaus bejaht; er muß tief in dieses Leben hineintauchen. Schwingt er sich vorzeitig darüber hinaus, so verkümmert er. Hierher rührt es, daß die Buddhisten von Ceylon wohl liebenswerte, seelisch gebildete, gute, mitunter sogar weise Leute, aber niemals Vollmenschen sind.

In diesem Zusammenhang erscheint denn das Christentum dem Buddhismus unbedingt überlegen. Auch dieser Glaube nivelliert. Aber wenn schon ein Ideal für alle gelten soll, dann ist das christliche des Attachements ersprießlicher. Die christliche Liebe ist alles eher als weltüberlegen; sie wurzelt, betätigt, erfüllt sich in der Welt, bejaht die Erdgebundenheit: so ruft sie alle Lebensgeister wach. Und die christlichen Grundgebote der Hilfsbereitschaft, der Arbeit zur Ehre Gottes und zum Heil der Welt erhalten dauernd in Spannung. Hierher rührt die einzigartige Effikazität des Christenglaubens in bezug auf die Gestaltung dieser Welt. Wirksamkeit beweist nun nicht notwendig metaphysische Wahrheit, aber in diesem Falle tut sie es: wird das Phänomen überhaupt ernst genommen, dann bezeichnet die Bewußtseinslage des Attachierten nicht nur die praktischere, sondern auch die tiefere gegenüber der entgegengesetzten. Wer ernstlich lieben kann, ist tiefer als der kühle Skeptiker. Nur das schlechthin Positive hat unbedingten Wert. Allerdings ist es möglich, positiv und unabhängig zugleich zu sein, aber solches gilt niemals vom Gleichgültigen, denn der ist negativ. Eben das, was auf der höchsten Daseinsstufe als Freiheit zutage tritt, äußert sich auf niederen als Mut zum Abhängigsein; als Mut zum Schmerz, zum Opfer, zum Verlust. So ist der durchschnittliche Christ, welcher Freud und Leid mutig bejaht, gegenüber dem durchschnittlichen Buddhisten auf dem besseren Wege.

 

So bezeichnet der südliche Buddhismus, um es in einem Satz zu sagen, die ideale Religion der Mittelmäßigkeit. Er enthält kein beschleunigendes Motiv; er begünstigt keinen hohen Idealismus, potenziert nicht, vertieft auch nicht. In der einseitigen Belichtung des Buddhismus stellt sich das höchste Dasein nicht wertvoller als das geringste dar. Alles bestimmte Leben ist vom Übel, im Nirwana allein liegt alles Heil, und dem Nirwana näher führt keine Steigerung des Menschenzustandes. Diese Weltanschauung verleiht dem großen Mann, wie Buddha selbst einer war, einzigartige Überlegenheit: nichts wirkt grandioser als die Nichtachtung des Lebens seitens eines, der in den Augen aller einen höchsten Wert verkörpert; den kleinen Mann macht sie nicht größer. Aber sie verdirbt ihn auch nicht, wie die Spielart des Christentums es tut, die den Niedrigen als solchen seligpreist, die ihm einredet, er sei mehr als der Große. Der Buddhismus, von königlichem Geiste beseelt, läßt jeden Zustand gelten, wie er ist; der Fürst bleibt ihm Fürst, der Knecht ein Knecht, vor Göttern wie vor Menschen. Aber die empirischen Unterschiede sind ihm ohne transiente Bedeutung. Der Fürst als Fürst ist Gott nicht näher als der Sklave, wie die alten Ägypter meinten, noch umgekehrt dieser, weil er gering ist, nach der Lehre eines bestimmten Christentums; alle Zustände erscheinen als gleichwertig, vom Ziele her besehen. So zieht der Buddhismus in der Seele des kleinen Mannes ein Détachement, eine Überlegenheit heran, die sonst nur unter Bevorzugten vorkommt. Nicht die Stimmung freudigen Duldens in der Zuversicht auf ewigen Lohn, wie beim leidenden Christen, nicht Epiktets Ataraxie, den Zynismus eines Diogenes – beides Ausdrücke nicht echter Freiheit, sondern des Gedecktseins durch den Panzer der Vernunft –, sondern die Überlegenheit des Grandseigneurs. Wieder und wieder bin ich unter mittelmäßigen Buddhisten Eigenschaften begegnet, die ich bisher nur unter Großen für möglich hielt: so gewaltig war das psychologische Genie des Sakyersohns. – Dieser Tage habe ich, des Vergleiches halber, wieder einmal in Thomas a Kempis gelesen, der doch als Leuchte gilt in der ganzen Christenheit; und gestehe, daß ich mich angeekelt fühlte. Wie so ganz unüberlegen ist die Gesinnung, die aus der Nachahmung spricht! Es hat etwas widerwärtig Plebejisches, dieses Kriechen vor Gott, diese würdelose Unterwürfigkeit, diese ständige Angst, es nicht recht zu machen, dieses Sichabrackern um der Seligkeit willen. Dabei war Thomas ohne Zweifel ein edler und reiner Geist. Seine Vorstellungen sind ihm verbildet worden durch eine Tradition, die zwischen Gott und Welt die absurde Beziehung statuierte, daß das empirisch Minderwertige eben deshalb metaphysisch wertvoll sei. Den überlegenen Naturen unter den Christen hat dieser Aberglauben wohl nie viel geschadet, da er nie unmittelbar ihr Leben bestimmte, sondern in kontrapunktischem Verhältnis zu ihm stand; aber die kleinen hat er noch kleiner gemacht. Er hat jede ursprüngliche Überlegenheit im Keim erstickt, indem er sie anhielt, nicht über ihrem Zustande zu stehen, und überdies noch eine Art metaphysischer Schadenfreude in ihre Seelen hineingesäet und zum Reifen gebracht, einen geistlichen Hochmut, einen anmaßenden Glauben an ihr Recht auf Unterstützung und Behagen, welche heute, wo sie sich von eschatologischen Vorstellungen dissoziiert und mit sozialökonomischen vermählt haben, häßlicher denn je wirken und mich oft mit ernster Sorge erfüllen ob der Zukunft der westlichen Kultur.

Es bedingt doch einen gewaltigen Unterschied, ob spirituelle Wahrheiten von in psychologisch-philosophischem Verstande »Wissenden« oder »Unwissenden« verkündet und fortgepflanzt werden. Jesus war nicht weniger erleuchtet als der Buddha. Seine Bewußtseinslage ist an Tiefe von nur wenigen Weisen Indiens übertroffen worden, und seine Lehren bedeuten dem Sinne nach ein Evangelium, welches das Menschengeschlecht niemals verleugnen wird. Aber er war ganz und gar kein Erkenner, hat sich über sein Wissen nie in klaren Begriffen Rechenschaft abgelegt, so daß es kein Wunder ist, daß nur zu viele der Lehren, die auf den Buchstaben seiner Predigt zurückgehen, mehr Mißverstehen als Einsicht verkörpern. Was ist das für eine Demut, auf die es ankommt? – Nicht Unterwürfigkeit, Würdelosigkeit, sondern reine Rezeptivität gegenüber den Einflüssen aus der Tiefe. Inwiefern soll man den Nächsten mehr lieben als sich selbst, sein Ich zum Opfer bringen? – Nicht insofern, als anderer Leben wertvoller sei als das eigene, sondern als das Höchste darin bestände, der Sonne gleich nur zu geben, nicht zu nehmen. Inwiefern ist Niedrigkeit der Größe vorzuziehen? – Nicht insofern der Niedrige als solcher Gott wohlgefälliger wäre, sondern weniger Anlaß hat, mit der Aufmerksamkeit an der Erscheinung zu haften. Und so fort. Den wahren, d. h. objektiv richtigen Sinn der christlichen Lehren hat die Christenheit bis heute kaum verstanden. So haben sie, neben sehr vielem Guten, auch viel Unheil über uns gebracht. Sie haben die westliche Menschheit niedrig gesinnt gemacht. Der ekle Materialismus unserer Tage ist das Enkelkind des mittelalterlichen Strebens nach dem Himmelreich, die immer ernstlicher drohende Herrschaft der rohen Plebs über alle feineren und geistigeren Elemente eine unmittelbare Konsequenz dessen, daß die Armen im Geist über ein Jahrtausend lang selig gepriesen worden sind. Sie haben es schließlich geglaubt, daß sie die Einzig-wertvollen sind, und ziehen nun die praktischen Folgen aus ihrem Glauben. – Die religiösen Führer Indiens haben gewußt, was ihre Erleuchtungen bedeuteten; sie haben sich alle Mühe gegeben, Mißdeutungen der Zukunft vorzubeugen, wohl wissend, wie verderblich solche wirken müssen in Anbetracht der wesentlichen Paradoxie (vom Standpunkte der Welt) aller geistlichen Wahrheiten. So kommt es, daß der durchschnittliche Buddhist, was immer seine Nachteile sonst seien, eines edleren Geistes Kind erscheint als sein Bruder im Westen.

 

Es ist Zeit, daß ich mich wieder einmal meinem Körper zuwende und untersuche, was aus ihm in den Tropen geworden ist. Ich finde ihn nicht unwesentlich verändert. Mit ihm ist Gleichartiges vorgegangen wie mit meiner Seele: auch er hat sich buddhaisiert. Auf die äußeren Einflüsse reagiere ich anders als sonst, genieße und leide in anderer Form, habe andere Bedürfnisse, und die fortschreitende Metamorphose bringt mich dem Singhalesen näher von Tag zu Tag. Sicher würde ich schon heute im Fall einer Erkrankung andere Heiltränke einzunehmen haben als daheim; aller Wahrscheinlichkeit würden sich mir ceylonesische Hausmittel bald wohltätiger erweisen als die Gemächte unserer Tropeninstitute. Aber von einer Verrückung des Gleichgewichts ist nicht die Rede. Also besteht für mich kein Zweifel mehr, daß die Akklimatisationsfähigkeit ganz vom Grade des Einbildungsvermögens abhängt. Daß Bewohner heißer Landstriche im Norden besser fortkommen, als das Umgekehrte geschieht, daß die meisten Tropentiere ein nordisches Klima gut vertragen, während es die nordischen in den Tropen selten lange aushalten, liegt – wenn ich von spezifischen Verhältnissen absehe – daran, daß kargere Lebensbedingungen die Vitalität unter allen Umständen anregen, während allzu üppige nur von dem vertragen werden, der von Geburt an auf sie eingestellt ist. Aber das Tier hat auch wenig freie Phantasie. Der Mensch, der solche in genügendem Maße besitzt, sollte in jedem Klima existieren können, und er kann es auch. Er muß bloß seine Lebensweise dessen jeweiligen Besonderheiten anpassen, damit das biologische Gleichgewicht nicht aufgehoben wird, und dieses lehrt jeden Einbildungskräftigen der Instinkt. Freilich kommt der Phantasielose bei solchem Experimente um. Gleichwie das Tier, dessen Sosein sein einzig möglicher Ausdruck ist, in ungewohnten Verhältnissen schnell verkümmert, vermag sich kein wandlungsunfähiger Nordländer in den Tropen zu behaupten. Interessant ist nun, in diesem Zusammenhange zu beobachten, wie hier der Engländer trotz beibehaltener britischer Lebensweise – an sich der ungesundesten, die für die Tropen denkbar ist – doch leidlich gedeiht. Das liegt an nichts anderem und ist zugleich ein neuer Beweis dafür, daß der Brite von allen Europäern die konzentrierteste Einbildungskraft besitzt. Es gibt nämlich zwei Arten von Starrheit: eine, die dem Unvermögen entspringt, und eine andere, die äußerste Gespanntheit bedeutet. Die letztere Art ist von den Stoikern her bekannt genug: den Weisen bringt nichts außer Gleichgewicht, weil er ganz in sich selbst geschlossen ist. Bei dem nun, dessen Körper es in allen Breiten ohne Umwandlung unbeschadet aushält, handelt es sich augenscheinlich um ein gleiches. Dank jahrhundertelanger physischer Kultur ist der britische Organismus so sehr zu einer Welt für sich geworden, daß er durch äußere Umstände nur langsam, wenn überhaupt, beeinflußt wird. Deswegen ist es für ihn wirklich wichtiger, auf seine persönlichen Neigungen als auf das Klima Rücksicht zu nehmen. – Diese Anlage des Engländers ist zum praktischen Leben von allen die günstigste; schon wegen der außerordentlichen Vereinfachung des Lebensproblems, das sie bedingt. Aber wer der Erkenntnis lebt, mag seinem Schöpfer danken, daß seine Phantasie noch nicht zur Kohäsionskraft ward, sondern sich in der Wandelbarkeit äußert. Auch er befindet sich ja, dank seiner Plastizität, mit der Welt in dauerndem Gleichgewicht, und das seinige ist das zuverlässigere insofern, als keine erlittene Störung etwas Ernstes zu bedeuten braucht, was beim Starren fast immer der Fall ist. Aber vor allem ist der Bewegliche allein imstande, den Eigen-Sinn seiner Umgebung zu erfassen, weil er allein von ihm unmittelbar berührt und in Mitleidenschaft gezogen wird.

 

Gestern, um Sonnenuntergang, sah ich Vögeln von Schreiadlergröße zu, welche scharenweise, in reiherartigem Flug, taleinwärts zogen; und erkannte dann plötzlich, daß es nicht Vögel, sondern – Fledermäuse waren; fliegende Hunde. – Wie wenig einen inmitten der tropischen Natur das Unerwartete doch überrascht! Augenscheinlich ist die Psyche hier in gleichem Maße auf die stärksten Gegensätze eingestellt, wie dies der Körper auf die zwischen Licht und Schatten ist, so daß das Seltsamste normal erscheint. Würde es mich überraschen, wenn mir im Dschungel ein Gott entgegenträte? Kaum. Denn unglaubwürdiger könnte er kaum wirken, als es so viele Geschöpfe tun, die täglich vor mir ihr Wesen treiben. Die Spannweite des Möglichen ist in den Tropen so groß, daß der Mensch das Überrascht- und Entsetztsein bald verlernt. Der objektiv schroffste Gegensatz, den ich bisher gewahrt, ist der zwischen dem lieblich blauenden Meer, das gegen die Palmenbestände von Mount Lavinia anplätschert, und den furchtbar gepanzerten, boshaften schwarzen Krabben, die zu Hunderten am Gestade seitwärts einherchassieren. Kein Tier figurierte besser in der Hölle; sicher riefe es am nordischen Strand in meiner Seele die schrecklichsten Bilder wach. An dem von Ceylon konnte ich mich seiner nur freuen. Ich mochte mir die Krabben vielhundertmal vergrößert vorstellen – im allgemeinen das sicherste Mittel, um das Gruseln zu erlernen –, sie wurden dadurch nicht furchterweckender. So werden die Riesenechsen der Vorwelt, die, in unsere Natur hereinversetzt, Angst und Schrecken um sich verbreiten würden, in ihrem natürlichen Milieu, das noch viel stärkere Kontraste in sich beschlossen haben muß, als heute die Tropenwelt, vielleicht als liebliche Erscheinungen gewirkt haben.

 

Morgen trete ich eine Wagenfahrt durch das Innere Ceylons an. Die letzten Tage über habe ich ausschließlich der Naturbeobachtung gelebt, um nicht gar zu unerfahren und ungewitzigt in den Dschungel einzuziehen. Ich finde es über Erwarten schwierig, im Lichte der Tropensonne zu sehen: die übergroße Belichtung gleicht alle Nuancen dermaßen aus, daß noch so bunte Geschöpfe sich vom farbigen Hintergrunde kaum abheben. So scheinen die Wälder um Kandy mir unbelebter zu sein als alle, die ich bisher sah.

Heute ist es mir nun endlich geglückt, nachdem ich an die hundert Steine umgewälzt und viele faule Baumstämme durchgestöbert, einen jener großen Tausendfüßler aufzuscheuchen, die in den Tropen heimisch sind. Es ist ein scheußliches Tier. Alles an seiner Gestalt widerstrebt den positiven Tendenzen der Menschennatur; jede seiner Eigenschaften, dem Menschen angedichtet oder ins Menschliche hinüber transponiert, würde ihn zum Ungeheuer machen; und es nimmt mich wunder, daß die Primitiven des Buddhismus, welche die Vogelspinne so weise zur Ausstattung ihrer Hölle zu verwenden wußten, dieses Untier übergangen haben. Ja, scheußlich ist die Skolopender; und doch könnte es mir nicht einfallen, ihre Existenzberechtigung in Frage zu stellen, wie dies verfehlten Exemplaren der Menschheit gegenüber mein erster Gedanke ist: sie ist vollkommen in ihrer Art. Gesteht man die Voraussetzung dieser Schöpfung zu, dann muß man auch einräumen, daß sie vortrefflich ausgeführt ist.

Woher weiß ich, daß der Tausendfuß vollkommen ist? Besondere Gründe kann ich nicht anführen; aber der Sachverhalt ist evident, wird jedem evident erscheinen, der die Fähigkeit hat, sich in andere Wesen hineinzuversetzen. Es ist etwas überaus Merkwürdiges um diese Evidenz, welche aller Vollkommenheit eignet: denn sie drängt sich innerhalb gebührender Grenzen auch dem Uneinsichtigsten auf. Kein Beispiel erweist dies wohl deutlicher, als das des Engländers. So oft ich mit Vertretern dieses Volkes zusammen bin, frappiert mich der Gegensatz zwischen der Dürftigkeit ihrer Anlage, der Begrenztheit ihres Horizontes mit der Anerkennung, die sie mir wie jedem anderen abnötigen. Selbst die bedeutenderen unter ihnen (die hochbedeutenden bleiben hier wie überall natürlich außerhalb des Rahmens genereller Betrachtung) sind als geistige Wesen schwer ernst zu nehmen; sie wirken auf mich wie die Tiere, die, mit einer Anzahl unfehlbarer Instinkte ausgestattet, einen Ausschnitt der Wirklichkeit vollkommen beherrschen, im übrigen aber blind und unfähig sind. In ungeheurem Maße fehlt es ihnen an Originalität, so ursprünglich sie andererseits sind; einer denkt, empfindet, handelt wie der andere, keines Seelenleben birgt Überraschungen. Aber genau im selben Sinne wie die Tiere muß ich auch die Briten unbedingt gelten lassen: sie stellen, so wie sie sind, die vollendete Erfüllung ihrer Möglichkeit dar; sie sind ganz, was sie allenfalls sein könnten. Dies ist denn der Grund ihrer Überzeugungskraft, ihrer Überlegenheit über die übrigen Völker Europas (die sich zurzeit vernünftigerweise nicht bestreiten läßt), des ansteckenden Charakters ihrer Eigenart: sie allein unter allen Europäern sind in ihrer Art wirklich vollkommen, und vor der Vollendung beugt sich jedermann. Des Deutschen so viel reichere Naturanlage hat ihre Form noch nicht gefunden: so wird er ohne zwingenden Grund noch nirgends gelten gelassen. Daß Vollendung aber auch für ihn im Bereich des Möglichen liegt, beweist der eine, einzige Typus des Deutschen, der bisher einen vollkommenen Ausdruck darstellt: der österreichische Aristokrat. Dieser mag nicht allzuviel taugen; bei ihm mag, wie dies bei Kühen so leicht geschieht, die Züchtung auf »Form« die »Leistung« beeinträchtigt haben: immerhin ist er vollkommen in seiner Art. So wird er denn auch allerorts wie selbstverständlich gelten gelassen, er wird umschmeichelt, nachgeahmt, hochgeschätzt, und der hochmütige Brite als erster bewirbt sich um seinen Verkehr.


 << zurück weiter >>