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Dieser Urwaldsee hätte mir in meinen Kindheits- und Jünglingstagen, da ich, aller Bücherweisheit abgeneigt, mein ganzes Glück im Beobachten, Jagen und Zähmen der Tiere fand, das Paradies auf Erden bedeutet. Stunden hindurch habe ich an seinen Ufern entlang gepürscht und immer wieder neue Geschöpfe zu sehen bekommen. Auf den Sandbänken lagen, faulen Baumstämmen gleich, Krokodile, von Stelzvögeln bewacht; Kuhreiher und Rohrdommeln weideten unter den Büffeln; Fisch- und Silberreiher standen auf Halbinselvorsprüngen und Baumwipfeln; auf dem Wasser schwammen Scharen von Pelikanen, in den Lüften wiegten sich Weihen und Adler, von denen eine mir ganz unbekannte Art – silberweiß mit dunklen Deckfedern – zu den schönsten aller Raubvögel gehört. Der Grundton des Bildes aber ruhte auf den Schlangenhalsvögeln, deren stilisierte Gestalten und heraldische Stellungen dem Ganzen ein mythisches Gepräge gaben.
Wie wohl es tut, in einer Welt zu weilen, die am fünften Tage fertig erschaffen war! Hier scheint alle Kraft noch ungebrochen, hier ist alles ursprünglich, alles echt. Das sind unter Menschen nur noch Kinder und dann die ganz Großen, Seltenen; der meisten Erscheinung sagt über das Wesen gar nichts aus. Tiere sind immer vollkommen, immer ganz das, was sie sein könnten; sie sind ein erschöpfender Ausdruck ihrer Möglichkeit. Man wendet daraufhin ein, sie seien so gebunden. Gewiß sind sie gebunden, aber das entwertet sie nicht. Nicht insofern bedeutet unsere größere Ungebundenheit einen Vorzug, daß diese als solche das Ideal wäre, sondern daß uns mehr als eine Vollendungsmöglichkeit offen liegt; auch beim Menschen bedeutet Vollendung das Höchste, Vollendung aber bedingt Gebundenheit. Wir stellen den Menschen, welcher notwendig handelt, aus innerem Gesetz heraus, über den, welcher der Willkür gehorcht; wir schätzen den Gedanken am höchsten, dessen Fassung abschließt. Und gleiches gilt von der Kunst, von jeder Lebensäußerung überhaupt. Auch unter menschlichen Voraussetzungen ist das Ideal im Gebundenen, nicht in der Ungebundenheit belegen. Was unsere Voraussetzungen von denen des Tiers unterscheidet, ist also nicht das Ideal; es sind die Elemente, vermittelst derer es verwirklicht werden soll. Ist dem aber also, dann weiß ich nicht, wie die Gebundenheit des Tiers, das in seiner Eindeutigkeit immer vollendet ist, zum Beweise seiner Uninteressantheit angeführt werden kann: gerade deshalb ist es interessant, interessanter als alle unvollkommenen Menschen. Den Mann, der als Persönlichkeit auf der Stufe stände, wie als Naturprodukt jeder Schlangenhalsvogel des Minnerisees, den würde ich als Halbgott verehren ... Sicher verdanke ich den Tieren mehr Belehrung und Anregung, als den meisten Menschen, mit denen ich länger verkehrt habe. Menschen sind allzuleicht zu übersehen; gar zu undicht gesät sind die Exemplare, zu deren Verständnis es einer Erweiterung der vorhandenen Begriffsmittel bedarf, während das geringste Tier solche Erweiterung unbedingt erheischt, wenn sein Wesen begriffen werden soll. Wer ein niederes Seetier verstehen will, muß sich in eine Bewußtseinsart einfühlen, die sich allenfalls der eines gesteigerten Magens vergleichen läßt: bei sehr bestimmtem Reagieren auf spezifische Reize, bei außerordentlicher physiko-chemischer Einbildungskraft doch als oberste Synthese nur ein unbestimmtes Allgemeingefühl; der Krebs ist keine Einheit, sondern eine Zwei- oder Dreiheit; sein Bewußtsein ist nicht in unserem Sinne zentralisiert. Wer in die Seele eines Fuchses eindringen will, dem muß es gelingen, das Geruchsvermögen als Zentralsinn zu erleben und alle Eindrücke in eben dem Verstand auf dieses zu beziehen, wie dies beim Menschen mit dem Lichtsinne geschieht; beim Vogel stellt sich die Aufgabe wiederum anders usw. Hierher rührt es, daß wohl alle wesentlichen Geister die »Natur« menschlicher Gesellschaft vorgezogen haben: wenn diese einschränkt, so macht jene frei; sie hilft hinaus aus den Schranken des Menschentums. Damit aber steigert sie das Wurzelbewußtsein. An der Wurzel ist nämlich alle Schöpfung eins. Und aus der Wurzel stammt alle Kraft der höchsten Triebe.
Wie wunderbar schön ist der Abend! Der See spiegelt das letzte Licht des westlichen Himmels wieder. Seeschwalbengekreisch, vielstimmiges Froschgequake tönt zu meiner Herberge herauf, und majestätisch fliegen die letzten Pelikane dem Walde zu. In nächster Nähe steht ein Rudel wilder Elefanten; schon habe ich sie brechen gehört. Der braune Wirt hat versprochen, mich zu wecken, falls sie in der Nacht auf die Fläche heraustreten sollten.
Noch einmal bin ich auf den Spielplatz der Tiere hinausgewandert. So manchen prächtigen Adler habe ich beschlichen, Legionen von Wasservögeln aufgescheucht. Jedesmal aber, wo ich aus dem Sumpf in den Dschungel einbog, ward es lebendig in den Baumkronen von langgeschwänzten Affen, die in flugartigen Sätzen vor mir die Flucht ergriffen.
Wunderbar, wieviel man durch solche Stunden ausschließlichen Schauens gewinnt! Vom Geiste her betrachtet, liegen eben die Bilder der Wirklichkeit auf einer Ebene mit den Schöpfungen der Phantasie, so daß zwischen Erfahrungen und Einfällen kein wesentlicher Unterschied besteht. Wer offenen Sinnes beobachtet, ist ebensolange produktiv; wer alles bemerkt hätte, der hätte aus eigener Kraft die Welt noch einmal erschaffen. Nun braucht aber die Seele eine reiche und mannigfaltige Nahrung, wenn sie gedeihen und sich aufsteigend entwickeln soll, und kein Gehirn ist so schöpferisch, daß es solche aus sich heraus in genügender Menge beschaffen könnte: deshalb kann keiner es sich unbeschadet leisten, von seinen Einfällen allein zu existieren. Auch noch deshalb ist äußere Erfahrung unbedingt vonnöten, weil der Geist nie frei wird, wo er sich ständig von eigenen Produkten umgeben sieht. Alle die, welche sich ganz in ihre eigenen Welten einspinnen, verkümmern, und seien diese Welten noch so weit; ihr Innenleben wird nicht reicher, sondern ärmer; sie verknöchern mehr und mehr in ihrer Eigenart. Das habe ich an mir selber erfahren. Während der Jahre, die ich in Großstädten zubrachte, hatte ich mich des Schauens beinahe entwöhnt, da deren Getriebe mein Interesse nicht fesselt. Die Folge davon war, daß meine Ideen auszukristallisieren begannen, so daß ich Gefahr lief, von ihnen eingekerkert zu werden. Beinahe wäre ich, mit siebenundzwanzig Jahren, in einem selbstverfertigten System erstickt ... Glücklicherweise ward ich der Gefahr noch, ehe es zu spät war, gewahr. Jetzt zwinge ich mich zur Beobachtung, auch wo ich wenig Neigung dazu verspüre; jetzt pflege ich das bißchen Neugierde, das mir noch übrig geblieben ist, und weiß jedem Eindruck Dank, der meine Hirngespinste zerreißt.
Ja, man muß schauen können ... kann ich's wirklich? In dem Sinn und Maße, wie ich wollte, kann ich's nicht. Mehrfach habe ich die Absicht gehabt, irgendeines der erschauten Wunder zu beschreiben, und dann jedesmal erkennen müssen, daß ich dazu außerstande bin. Also habe ich sie nicht wirklich erschaut. Gewiß ist es nicht wahr, daß Empfinden Ausdrucksfähigkeit bedingt – Erlebens- und Schöpferkraft gehören verschiedenen Dimensionen an –, wohl aber liegen, wie ich's schon niederschrieb, Anschauungen und Einfälle, vom Geist her betrachtet, auf einer Ebene, so daß einer nur das wirklich auffaßt, was ihm auch hätte einfallen können. Mir nun fielen Einzeldinge niemals ein, also kann ich sie als solche auch außer mir nicht sehen. Meine Einbildungskraft führt das Einzelne reflektorisch auf seinen inneren Grund zurück, von welchem aus nicht das Ding als das Eigentliche erscheint, sondern dessen Möglichkeit. Daß diese Deutung meiner Auffassungsart richtig ist, erweist die Gegenprobe, die am Erinnerungsvermögen angestellt werden kann. Schon vor Jahren meinte ein geistreicher Freund, ich würde auf dem jüngsten Gericht mit einem Sekretär zu erscheinen haben: so schlecht wäre mein Gedächtnis für die Episode. Ich kann wirklich nichts Einzelnes behalten, keine Fabel, keinen fait divers; umgekehrt aber scheine ich außerstande, einen allgemeinen Zusammenhang zu vergessen. Nur im Augenblick der produktiven Spannung stellt sich Gedächtnis für Einzelheiten ein. – Was habe ich nicht gegen diese Beschränkung angekämpft! Wieder und wieder habe ich versucht, zu Besonderem ein inneres Verhältnis zu gewinnen, mich in ein Einzelwesen, ein Bild, eine Zeit vollkommen und dauernd einzubilden; wieder und wieder habe ich mich dem Einflusse von Geistern hingegeben, welche das, was mir abgeht, vermochten – es war umsonst. So habe ich mich bei der Erkenntnis bescheiden müssen, daß es ein Mißverständnis bedeutet, seine empirischen Grenzen als solche sprengen zu wollen; man muß zusehen, wie weit man in ihnen und mit ihnen kommt.
Es herrscht noch viel Unklarheit unter Psychologen und Ästhetikern über die verschiedenen Arten des Auffassungsvermögens. Malern wird häufig Tiefsinn zugesprochen, Philosophen malerische Anschauungskraft. Solche Urteile sind meistens falsch. Wer die Erscheinung vollkommen darstellt, wie dies der große Maler und Dichter tut, bringt eben damit auch ihren geistigen Gehalt zum Ausdruck – doch seine Seele braucht nichts davon zu wissen. Wer umgekehrt den inneren Sinn erfaßt, übersieht implicite die Erscheinung – aber er braucht ihrer nicht faktisch gewahr zu sein. Das interessanteste Beispiel dieser Art bietet Leo Tolstoy. Ich kenne keine tiefergreifende Darstellung des Menschenlebens als dessen Epos vom großen Franzosenkrieg, doch ich weiß, daß Tolstoy als Person jeder philosophische Tiefsinn gefehlt hat. Wie den meisten Russen (und allen noch jungen undifferenzierten Rassen) fehlte Tolstoy die Gabe der intensiven Abstraktion, die Fähigkeit, das Besondere im allgemeinen zusammenzufassen, welche Fähigkeit den Tiefsinn definiert. Dafür besaß er das Falkenauge des Wilden. Stellt nun einer eine Erscheinung, die er nur sieht, nicht versteht, vollkommen als solche dar, so wird der tiefsinnige Leser die Darstellung unweigerlich als tiefsinnig beurteilen – ja größere Tiefen in ihr entdecken, als bei an sich profunderen Poeten, deren Auge aber weniger scharf und unbefangen sah.