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Der Balkan

Was bedeutet uns Nichtbalkanbewohnern der Balkan? Inwiefern ist er auch denen, die beinahe nichts von ihm wissen, eine Wirklichkeit? Wieso wird das Wort »Balkanisierung« beinahe allgemein richtig verstanden oder angewandt? So, nicht anders liegt offenbar, von außen her betrachtet, das Balkanproblem. – Soweit ich sehe, ist dessen sinnbildlicher Sinn von zwei Ansatzpunkten her am besten zu fassen: erstens der allgemein als wahr geltenden Behauptung, daß der Balkan das Pulverfaß Europas sei. Zweitens von der Tatsache besonders elementarer und unausgleichbarer Völkerfeindschaft.

Daß der Balkan das Pulverfaß Europas ist, liegt offenbar an letzterem, nicht am ersteren. Zwischen England und Frankreich, wie früher zwischen Österreich und Rußland, herrschen Gegensätze: solche trägt man gern, solange es irgend geht, an fernen Grenzen aus, so daß man in unmittelbarem Verkehr weiter tun kann, als stände alles gut. Überdies läßt man natürlich, wo und wann immer es geht, andere für einen schießen und sterben. Daß sich im Balkan tatsächlich Interessensphären überschneiden, ist demgegenüber beinahe irrelevant. Hier könnte man füglich sagen: Si les Balcans n'existaient pas, il faudrait les inventer. Daß ein Balkanbrand faktisch leichter als irgendein anderer zu einem Weltbrand ausartet, hat hier seinen Grund. Er allein jedoch täte es freilich nicht. Der Balkan wäre kein so einzig geeigneter Ort zur Zentrierung und Zuspitzung von Konflikten, wenn drüben nicht – damit gelangen wir zum zweiten der eingangs genannten Motive – eine so einzigartige elementare Feindschaft zwischen den Völkern herrschte, daß diese dort immer bereit erscheinen, loszuschlagen; ja daß dort der Kriegszustand als einzig normaler gelten muß.

Woher kommt das? Die nächstliegenden Ursachen sind klar. Der besondere Regierungsmodus der Türken ließ jede Eigenart als status quo bestehen. Weder unterdrückte sie Nationen als solche, noch hatte sie je eigene Nationbildung zum Ziel. So lebten die verschiedenen Rajavölker unvermischt und unvereinbar durch Jahrhunderte in ihrem ursprünglichen, heute sonst nur unter wilden Stämmen vorkommenden Partikularismus-Zustand unter- und nebeneinander fort, dank dem der Geist des Nationalismus, als er erwachte, ein Verkörperungsmittel von einem elektrischen Potential fand wie nirgends sonst. Zweitens sind einige Balkanvölker bis auf weiteres nicht nur ausgesprochen, sondern wesentlich wild. Leben die Serben noch heute zum Teil im heroischen Zeitalter (nur um sie handelt es sich in diesem Zusammenhang unter den Jugoslawen, die Kroaten sind slawische Österreicher), ist der Albaner als Typus der unsterbliche edle Räuber – denn vertrete er das älteste Volkstum Europas: sein traditionelles Ethos, das zur Zeit des Pyrrhus von Epiros vielleicht dem entsprach, was heute der Völkerbund vertritt, ist vom modernen Standpunkt ein richtiges Brigantenethos –, so sind die Bulgaren, unbeschadet ihres tüchtigen Bauerntums und ihres Fleißes, letztendlich eine Nation von Komitadschis; gleich den Afridis Afghanistans, gleich manchen Berberstämmen nur dazu von Herzen geneigt, persönlichen Haß und persönliche Blutlust auszuleben: Dort wird ein Advokat, ein Arzt von einem Tag zum anderen Wegelagerer, so wie in England erzogene nordindische Prinzen nach ihrer Heimkehr unvermittelt in Wildheit zurückfallen. Persönlich hatte ich nur mit Literaten Bulgariens zu tun: die Art, wie sie Abmachungen nicht einhielten und beleidigende Briefe schrieben; war ein urechter Ausdruck von Komitadschigeist; es war ein Schießen oder Dolchstoßen mit der Feder. Man betrachte nur die wüsten Gesichter; die ungefügen Nasen der Bulgaren: da ist noch alles primitivster Trieb. Sie sind wirklich so, wie Freudianer alle Menschen beurteilen. – Die Spannung dieser wilden Völker mit den intellektuellen Griechen, den überlegenen Türken und den lyrischen Rumänen genügt vollauf, um ein äußerst explosives Gesamtbild zu schaffen.

Doch dieses muß überdies tiefere Ursachen haben. Warum erscheint solcher Zustand am Balkan unausrottbar? Man gedenke an Bernard Shaws Prognose in Back to Methusalah betreffs der Iren: in einigen Jahrhunderten würden die letzten unter diesen auf dem Balkan, leben, denn dort allein würden sich nationale Fragen dann noch stellen. Es ist für die Balkanvölker wirklich wesentlich, daß sie einen Willen zur gegenseitigen Bedrückung und Ausrottung aufbringen wie keine anderen auf Erden. Und dieser elementare Wille ist aus dem faktisch vorhandenen Blute nicht zu erklären. Überall haben von jeher schrankenlose Mischungen stattgehabt. Die Neugriechen sind zweifellos überwiegend slawischer Rasse und dennoch wesentlich Griechen. Was jedoch Mazedonien betrifft, so ist dort dermaßen viel hin- und hererobert, hin- und hervergewaltigt, ent- und zurücknationalisiert worden, daß selbst das Jüngste Gericht hier billigerweise betreffs der Rassenzugehörigkeit keine inappellable Entscheidung treffen dürfte. Andererseits hat wiederum Mazedonien wieder und wieder besonders bedeutende Gewalt- und Tatmenschen, welches Blutes immer, hervorgebracht: so Alexander den Großen, so den Ghazi Mustapha Kemal. Da muß denn doch wohl im Balkan selbst, als psycho-physischer Einheit, die wichtigste Ursache des Zustands der Balkanvölker liegen. Und gedenkt man nun der Balkanfehden altgriechischer Zeit, jener Fehden, die immer gegenseitige Ausrottung zum Ziel hatten und erst ein Ende nahmen, als der damalige Türke – der Römer – sie von oben herab verhinderte; gedenkt man weiter der einzigartigen Erbitterung, mit der in Konstantinopel Glaubensstreitigkeiten ausgefochten wurden, wie dort die winzigsten Abweichungen in der Auslegung der Schrift gleich Mord und Totschlag zur Folge hatten, so erkennt man, daß der heutige Balkan in der Tat nichts anderes ist als die Karikatur des antiken. Der Geist des Balkans als solcher ist der Geist ewigen Streits. Bewohnen ihn primitive Rassen, so bietet er das Urbild des Urkampfes aller gegen alles. Bei Höchstbegabten und -gebildeten tritt es als Geist des Agon in die Erscheinung. Aber der Erdgeist des Balkan an sich ist die primäre bildende Kraft. Hier ist in höchstem Grade wahr, was schon für das Baltikum gilt.

Wird jetzt nicht verständlich, warum man Europas größte Gefahr unwillkürlich »Balkanisierung« heißt? Auch Europa ist seinem Wesen nach ein Balkan. Man stelle sich Europa so einheitlich und ausgeglichen vor wie Amerika oder Rußland: sein Sinn wäre dahin. Europa ist wesentlich klein und zerklüftet, physisch sowohl als psychisch. Sein frühester Geist ward auf dem Balkan geboren. Nicht die geistige Abstammung der Griechen kommt hier in Betracht, sondern die Tatsache, daß erst auf dem Balkan, im Spannungsfeld der sich ständig befehdenden Stadtstaaten, die spezifische Differenzierung einsetzte, die seither Volk auf Volk in einsinniger Reihe fortgesetzt hat. Europa ist genau so eine Einheit wie der alte Balkan. Es ist das Interferenzgebiet der stärksten und unausgleichbarsten Spannungen, die es heute gibt: der romano-germanischen an erster Stelle; sodann der west-östlichen, der antik-modernen, bis hinauf zu den rein empirischen der verschiedenen Völkerindividualitäten.

Interferieren diese Spannungen auf hoher Ebene, so, sind sie nur segensreich. Aber wie, wenn der Agon zum Ausrottungskampfe aller gegen alle würde? Nun, dann würde Europa zum Riesenspiegelbild des modernen Balkans. So müssen wir Europäer denn wohl dankbar sein, daß es einen leibhaftigen modernen Balkan gibt als Grabstätte der antiken Kultur, und an ihm lernen, wem wir vorzubeugen haben. Denn der Geist, der mit dem Weltkrieg zur Vorherrschaft gelangte, droht in der Tat das Äquivalent des antiken in das des modernen Balkans umzuwandeln. Ja, mich dünkt der Giftgaskrieg unter Europäern, ob auf physischer oder geistiger Ebene geführt, ein weit Übleres noch als alles balkanische Meucheln. Und noch ist die Gefahr alles eher als vorüber. Majoritäten und Minoritäten, getreue Nachbarn und desgleichen hassen einander kaum schlechter wie Serben und Bulgaren. Es gibt auch keinen natürlichen Grund, warum dies nicht fortschreitend schlimmer werden sollte. Es gibt auch keinen Grund, warum es nicht immer neue Kriege geben sollte. Die wilderen Balkanvölker führen seit Jahrzehnten offen oder heimlich Krieg; keine Schwächung scheint das zu hindern, kein Menschenmangel, keine Hungersnot. Primitives Leben ist eben an erster Stelle naturgemäß. Ans Kultur-, nicht ans Schützengrabendasein muß sich der Mensch gewöhnen. Lebensgefahr ist normal sowohl als gesund. Kein Tier kannte je die Sekurität, die wir während der verflossenen vierzig Vorkriegsjahre genossen. Ebendeshalb gibt es keine entarteten wilden Tiere. Hier komme man ja nicht mit wirtschaftlichen Bedenken. Nur dort können solche den Ausschlag geben, wo leidenschaftsloser Verstand dominiert. Deshalb gab es in Deutschland keine wahre Revolution, wird es dort nie eine geben. Wo ein Volk Umsturzpläne aufgibt, weil sie sich nicht rentierten (sie »rentieren« sich natürlich nie), dort ist echte Revolution physiologisch ausgeschlossen. Aber ebenso physiologisch unbegründet ist die Erwartung, daß Vernunfterwägungen sinnlose Selbstzerstörung aufhalten können. Gefühle und Leidenschaften sind, wo sie vorherrschen, letztentscheidend. Bei allen Völkern Europas, außer dem deutschen, herrschen sie mehr oder weniger vor. So würden Balkanzustände auch in Europa das Gesetz dauernder Steigerung in sich tragen.

 

Doch jetzt zu besonderen Balkanfragen. Von den Serben, Bulgaren und Albanern sehe ich dabei ab: bis auf weiteres sind sie primitive Krieger- und Räubervölker; sie stehen noch keinen persönlichen Faktor im Gesamtbild Europas dar. Und die panslawische Idee ist gegenstandslos geworden, seitdem alle Slawenvölker selbständig wurden; ein neuer russischer Panslawismus würde sicherlich dem geschlossenen Widerstande aller »Blutsbrüder« begegnen. – Zunächst die Rumänen. Daß dieses Volk und Land zum lateinischen Kulturkreis gehörte, ist reiner Schwindel. Die romanische Sprache allein tut's freilich nicht. Auf den Geist kommt es an, und der ist in nicht einer einzigen Hinsicht lateinisch. Er erscheint unter den Gebildeten byzantinisch-griechisch: kein Wunder, da die bis vor kurzem herrschende Aristokratie beinahe rein griechischen Ursprungs war. Daß die Rumänen heute von allen Nicht-Franzosen am meisten Esprit im französischen Sinne haben, rührt daher, daß vor Paris am meisten Esprit nicht in Rom, sondern Athen und dann Konstantinopel zu finden war. Daß sie durchaus französischen Geistes sein wollen – im Falle der oberen Zehntausend, weit lieber fremden, als eigenen! – rührt von der gleichen Macht des Prestiges, welche den Türkenführern noch kurz vor dem Fall Konstantinopels, nachdem das griechische Reich schon längst zu einer Miniaturgröße zusammengeschrumpft war, als selbstverständlich erscheinen ließ, vor der heiligen Macht des Basileus auf die Knie zu fallen. Der beste rumänische. Witz ist tatsächlich byzantinisch; noch heute lebt in Rumänien eine Kunst des Epigramms, die seit der Antike sonst nirgends auf der Welt mehr blüht. Die lyrische Dichtung, für dieses Land bedeutsam wie für kein zweites modernes – von jedem dritten markanten Rumänen hört man, er sei ein bedeutender Dichter – würde man als Ausdruck slawischer Seelenart bestimmen wollen, wie die neugriechische, wenn nicht ein gewisser Frohsinn und ein gewisser Statismus wiederum den Vergleich mit der deutschen, ja gar der hawaianischen, nahelegte. Hier hegt also wohl ein spezifisch Rumänisches, das weiter zurückzuführen, wie bei jeder Stileinheit, mißverständlich wäre. Aller Wahrscheinlichkeit nach setzt sich hier thrakisch-skythische lebendige Überlieferung fort, wie denn die moderne Teppichwirkerei mehr als alles an skythische Vorbilder erinnert. Das rumänische Volk als Masse nun aber wirkt als mit dem südrussischen völlig eines Geists. Da habe ich nichts gesehen, an Menschen wie an Zuständen, was nicht am Dnjepr ebenso echt erschienen wäre. Es sind dieselben weichen, guten, unpraktischen Menschen, von gleicher Seelenart. Einmal schneite ich mit einem Zug auf vierundzwanzig Stunden ein: sowohl die Art des Ereignisses wie das Erleben derer, die es betraf, wäre in der russischen Steppe ebenso gewesen. Bei der Betrachtung rumänischer Nationaltänze mußte ich immer wieder an die Überschwemmungsgebiete des Dnjepr ( Plawni), im Zusammenhang mit der russischen Bezeichnung plawnya dwischenia, denken – das sind gleitende Bewegungen, wie sie der Schwan, aber auch die sanfte Welle im Schilf vollführt. Und wenn ich den bewegten Klagen sämtlicher Rumänen, mit denen ich je zusammenkam, über die bösen Juden lauschen mußte, die in immer größeren Scharen kämen und nicht loszuwerden seien, entweder weil sie zu mächtig seien oder die Rumänen zu gutmütig, da fiel mir jedesmal das bekannte ukrainische Märchen von Gogol ein, dessen Fabel die folgende ist: In einer denkwürdigen Winternacht stahl der Teufel den Juden; erst herrschte helle Begeisterung; nach kurzer Zeit indes geriet alles Leben aus dem Geleise, und bald erscholl im ganzen Land der Ruf: Wie soll man ohne Juden sein? Schließlich gab der Teufel den Entführten zur allgemeinen Erleichterung zurück.

Nachdem nun das Kriegsende Bessarabien zu Rumänien schlug und die Bojaren enterbte, darf man wohl annehmen, daß das Rumänenvolk mit den Jahren immer mehr südrussischen Charakter annehmen wird. Wohl dürfte ihm für immer eines fehlen, um russisch zu wirken: die innere Kraft. Aber die hatten in Südrußland auch nur die Kosaken mit tatarischem Bluteinschlag. Die ersten Helden des Mythos waren wiederum Waräger, d. h. Skandinaven. Den Rumänen fehlt ganz jenes Temperament, welches der Russe Duch heißt. Auch in Bukarest ließ ich mir natürlich so oft als möglich von Zigeunern vorspielen: dermaßen fehlte es den dortigen an Schwung, daß ich nicht umhin konnte, in einer frohen Nacht den Dirigentenstab an mich zu reißen und zu versuchen, der Kapelle neuen Geist einzuflößen. Doch es gelang nur halb; auch die rumänischen Zigeuner sind pathisch und apathisch. Der ungeheure Reichtum des Landes wirkt lähmend auf Willensbildung und Temperament. Blagodatj – Begnadetheit. – ist das Wort, das der Russe angesichts des ukrainischen Landes immer wieder verwendet. Es stimmt genau so für Rumänien als Wirklichkeit wie als nationales Erlebnis. Man vergleiche das Wildeste, was an rumänischem Leben in der Schrift lebt, die Novellen des Panait Istrati mit Tarass Bulba: trotz allen Mordens, Vergewaltigens usw. wirkt das Rumänische gegenüber dem Kosakischen mild.

Rumänien ist also balkanisches Grenzland. Es hätte russisch werden können. Nun aber ist, statt dessen, ein Teil des einstigen Rußland rumänisch geworden, und das neue setzt die alte russische Kulturtradition nicht fort. Liegt da nicht die wahre Aufgabe Rumäniens darin, das zu leisten, was Rußland nicht geleistet hat? Dessen Geschichte begann ja als Wiedergeburt des byzantinischen Geists auf slawischem Boden. Diese brach ab mit der Verlegung des Zentrums von Kiew nach Moskau, wo nun der Geist Dschenghis-Khans zur Dominante ward. Dessen Tradition setzt auch der Bolschewismus fort, soweit er machtvoll organisiert. Ist nun aber die byzantinische nicht ihrerseits wiedergeburtswürdig? Würde es nicht eine ungeheure Bereicherung Europas bedeuten, wenn dieser Ton, der das ganze Mittelalter über mitklang, dessen Echo recht eigentlich die Renaissance Italiens auslöste, neu anklänge? In Rußland wird er es nicht tun. Das Byzantinische war dort schon lange wesentlich tot, oder aber irreal. Tot war die Bürokratie, unwirklich einerseits die Bildung, andererseits die Kirche, soweit sie Byzanz lebendig fortsetzen sollte. Nur in der Herausstellung der Liturgie lebte echt Byzantinisches lebendig fort, aber dies nicht aus religiöser Entsprechung, sondern dank dem primären Sinn der Russen für das Theater. Sonst ist die russische Religiosität rein russisch; sie ist urchristlich, insofern das Urchristentum primitiv war, nicht byzantinisch. Nun weiß ich nicht, wie es mit der rumänischen Religiosität bestellt ist; einen tiefen Eindruck hat sie mir nicht gemacht. Höchste Kirchenfürsten wirkten auf mich dort als lebendige Paradoxe, insofern sie ein Äußeres zur Schau trugen, das in mir, dem Rußland-Gewohnten, mit dem Geist der Schwere und Strenge unlöslich assoziiert erscheint, und in Wahrheit eher Abbés des 18. Jahrhunderts waren; von manchen unter ihnen werden galanteste Abenteuer kolportiert; ihrem Rufe schadeten sie kaum. Aber zweifelsohne ist die rumänische Kirche lebendig. Dort allein ist die griechisch-orthodoxe nicht erstarrt. Und so könnte in Rumänien allein, sofern die erforderliche Religiosität vorhanden, das Byzantinische eine Wiedergeburt in der religiösen Sphäre erleben. In anderen Sphären kann es das ganz gewiß nur dort. Gemäß dem Gesetz der Einmaligkeit erfolgen Wiedergeburten immer nur in neuen Körpern. So kehrte das alte Hellas als Kunst in der Renaissance, als Geist im französischen Klassizismus wieder und als Philosophie endlich im Körper des deutschen Idealismus. In Griechenland wird Hellas gewiß nie wiedererstehen. Aber auch nicht Byzanz, diese gegenüber Alt-Hellas neue Kulturmonade. Diese halte ich zu einer Neuverkörperung im Slawentum für prädestiniert. Wo immer es dies bis heute tat, im mittelalterlichen Bulgaren-, Serben- und Russentum, erschien die Erscheinung echt. Aber doch nur auf geringerer Kulturhöhe, denn der Kulturabstand zwischen diesen Völkern und Byzanz war allzu groß. In Rumänien hingegen könnte das Byzantinertum in seinem Höchstausdruck wiedergeboren werden. Nicht umsonst waren die wahren Beherrscher Rumäniens bis vor kurzem griechischer Adel. Durch die Türkenherrschaft hindurch haben die Moldaufürstentümer allein die byzantinische Tradition ununterbrochen fortgesetzt. Kultureinfluß hat nun dasselbe natürliche Gefälle wie das Wasser. Wie die Esten und Letten den Geist der baltischen Barone und nicht etwa den des Bürgerzeitalters fortsetzen werden, so tragen alle rumänischen Kulturerscheinungen, von denen ich wüßte, byzantinischen Charakter. Von der Küche – sie ist nahezu identisch mit der russischen, woraus wohl folgt, daß beide ihren Ursprung in Byzanz haben – über den Esprit bis zur Poesie.

Dieses Byzantinische ist es, was die Rumänen selbst als »Latinität« mißverstehen. So dürfte es denn wohl ihre europäische Aufgabe sein, haben sie überhaupt eine, das Byzantinertum zu neuem Leben zu erwecken. Und natürlich kann dieses Volk und Land eine große Zukunft haben. Die Menschen sind arg phantasielos, welche nicht an die Möglichkeit neuer Völker, neuer Kulturen glauben; sie sind kaum besser wie die Franzosen, die noch immer nicht wahr haben mögen, daß das Deutschland von 1870 eine endgültige Wirklichkeit ist. Freilich ist die alte rumänische Oberschicht als Klasse erledigt. Bukarest erinnert phantastisch an das zaristische Rußland, es ist ein St. Petersburg en miniature. Genau so, wie dieses zugrunde gehen mußte, weil ihm die innere Kraft fehlte, genauso stirbt das Rumänentum aus, das allein das Ausland bisher kennt. Aber das Bauerntum ist kerngesund; es ist kern-konservativ, wie alle sehr alten Rassen. Und wer hier die mangelnde Ordnung und Ehrlichkeit einwendet, bedenke: auf dem Hintergrund der Weite Asiens wirkt Akkuratesse in deutschem Verstand tatsächlich so lächerlich, wie sie dem Russen erscheint. Es geht auch anders, und zwar besser. Insgleichen ist Korruption der normale oder wenigstens primitive Ausdruck des Umstandes, daß Gefälligkeit, also etwas Menschliches, Persönliches, mehr bedeutet als sachliche Erwägungen. Dies ist einer der Gründe, warum eigentlich alle großen Zeiten, vom deutschen Beamten aus beurteilt, korrumpiert waren; Persönlichkeiten, Menschen zählten da, und Menschen sind immer auch allzu menschlich. Wie sehr hier der wahre Grund dessen liegt, warum dem nichts-als-Ehrlichen so jede Werbekraft fehlt, ward mir in Bukarest ganz klar. Ein Dichter erzählte mir von den dort häufigen Eunuchen-Kutschern; sie gehören einer besonders religiösen Sekte an. Es seien vortreffliche Leute; ehrlicher, ordentlicher als alle anderen; möglicherweise hänge das mit der Kastration zusammen … Etwas war an der Bemerkung dran. Neuerdings »bessert« man ja auch Verbrecher durch Sterilisierung, ja bloße Hormon-Einspritzung; und angeblich mit Erfolg. Man flöße einem Mörder genügend Ovariensubstanz ein und es erwachen Ammeninstinkte … – Gegen Rumäniens Zukunft mag ferner sprechen, daß das Volk für Industrie und Handel wenig begabt ist. Aber dazu sind dort die Juden da, die es niemals loswerden wird. Und der aus diesem Schicksal zwangsläufig folgende Antisemitismus der Rumänen wird das Volk im selben Sinn vital und wach erhalten, vitaler und wacher machen, als es heute ist, wie die drohende Nachbarschaft des energischen Rußlands energisierend wirken wird. Überdies beherbergt Groß-Rumänien viele Ungarn und Deutsche. So fehlt es an willensmächtigem Blute nicht. Auf die Dauer wird sich das sicher geltend machen, sei es im Sinn der Heranbildung einer neuen Aristokratie, sei es in dem der Bildung eines neuen nationalen Typus, auf Grund günstigerer Blutmischung.

 

Nun die Griechen. Zweierlei scheint mir an erster Stelle zu bedenken, um diesem Volk gerecht zu werden. Das erste dieser Momente gilt für die Alten genau so wie für die Modernen. Die Griechen sind ein kälte-, kein wärmegeborenes Volk. Dies gilt natürlich von allen Balkanvölkern. Was die Balkanwelt von der italienischen radikal unterscheidet, ist ihre Rauheit. Ich kenne kein Meer, das kälter sein, kälter wirken kann als das Schwarze. Immer wieder fegen widerstandslos über das russische Flachland die Winde des hohen Nordens darüber hinweg. Wie ich an einem kalten Wintertag an seinem Gestade weilte und zusah, wie der Gischt der haushohen Wellen schier augenblicklich zu phantastischer Eisformation gerann; wie ich dann gleichzeitig der Iphigenie auf Tauris, die mir in griechischem Gewand entsetzlich frierend erschien, gedachte und dann der urrussischen Mythe von der neunten Woge, aus der sieben Recken gepanzert ans Land sprangen und dergestalt die russische Erde in Besitz nahmen, da begriff ich, wie gerade Rußland griechisch werden konnte und ohne Zweifel organisch zur Griechensphäre gehört. Die Balkanwelt ist eine ebenso rauhe und kalte Welt wie die nordgermanische. Wie Bukarest im Winter nicht anders wirkt wie Moskau, so ist Konstantinopel ein Kaltes im Vergleich zu Neapel, so ist auch die südlichste griechische Landschaft kalt im Verhältnis zu anderen gleicher Breite. Dem entspricht die »Lichtheit« des griechischen Meers mit seinen Inseln und Küsten. Und wenn die lichten Götter und Menschen der Mythenzeit sie belebten, fein nordische Typen nach heutiger Nomenklatur, da handelte es sich um ein anderes als die Eroberung Siziliens durch die Normannen: diese Nordländer gehörten hierher; diese lichten Gestalten gehörten in diese lichte Landschaft. Wie es einstmals sein mochte, erstand in meinem Geist für einen Augenblick wieder, als ich die schöne blonde Königin der Rumänen auf dem Hintergrund der sonstigen Bevölkerung sah: sie wirkte nicht fremd, sondern einfach adeliger. So ist auch das Griechentum, das nach Aufsaugung der Herrenrasse nachblieb, ein Volk rauhen Klimas geblieben. Selbst im süßen, zauberhaften Korfu, wo die Phäakenwelt noch heute als Stimmung fortlebt, wirkt der Grieche als dem Russen verwandter als dem Italiener.

So ist das Griechentum überall, wo es gut ist, herb. Herb und klar war die altgriechische Schönheit, herb und klar der altgriechische Gedanke. Herb wurde die Kirche auf hellenischem Boden, herb und keusch ist die unverdorbene Landbevölkerung noch heut. Dementsprechend ist der Gegentyp des guten Griechen, der Levantiner – und auch ihn gab es von je – klarer und reiner Schwindler. Er hat rein nichts, was ihn sympathisch machte. Nicht einmal das Pathos des ewig massakrierten und doch nie sterbenden Armeniers, dieses unseligsten unter den unseligen alten Völkern. Er ist sehr klug, jedoch vollkommen platt. Er ist gerissen und doch vollkommen geistlos. Er ist »vielgewandt« wie nur je ein Odysseus, doch ohne Hintergrund. Er ist geschmeidig, aber dabei grenzenlos taktlos. Er ist nur Schieber, sonst nichts. Und wieder springt einem hier die Einheit mit der nordisch-orthodoxen Welt im Gegensatz zur nahen italienischen in die Augen: der Levantiner verhält sich zum besten Griechen nicht anders wie der französisch parlierende, doch ewig geistlose, vollkommen oberflächliche Salonrusse zum wurzelechten.

Ich bin überzeugt, aus diesen beiden Typen bestand das Griechentum von je. Nur eben einmal auf ganz hohem Niveau. Sicher war Odysseus kein gewöhnlicher Schieber. Und der Achilleus-Typ ist heute völlig ausgestorben, so prachtvoll manche Gestalten der Ewzonen – der Leibwache der letzten Könige – erscheinen; höchstens ein Nikias kommt heute gelegentlich vor. Doch positivistisch-nüchtern war diese Welt im großen von jeher, worin sie sich wieder mit Rußland berührt. Hier komme man mir ja nicht mit dem Dionysischen: Dionysos, der von Thrazien kommende hatte russischen Duch; es war die Orgie, die die Verstandesklarheit kompensierte. Vielleicht waren die Thraker überhaupt die Vorfahren der heutigen Russen, wie sie es sicher die der heutigen Rumänen sind; Sokrates trug ein rein russisches Gesicht, und er debattierte gleich unausstehlich wie russische Studenten. Sucht man Gemüt, Lyrik, Süßigkeit auf hellenischem Boden, es sei denn als Ausnahmeerscheinung, so trifft man sie heute eher an als im alten Hellas: so wie das Neu-Griechische lyrischer klingt als das des Plato, so sind die Volkslieder mancher abgelegenen Hirtenbevölkerung – deren erste Sammlerin Melpo Logotheti sang sie mir in Darmstadt einmal vor – gefühlsreicher als alles, was Alt-Hellas jemals schuf. Das ist das gute Ergebnis slawischer Blutzufuhr.

Der Grieche gehört also nicht dem Süden an, sondern dem Nordosten. Nur von dorther ist er zu verstehen. Und nun komme ich zum zweiten, was man bedenken muß und was so selten bedacht wird: die Griechen sind ein nur wenig jüngeres Volk und leben nur wenig kürzere Zeit in ihrem heutigen Zustand als die Juden. Schon der Graeculus unterschied sich kaum vom heutigen Hellenen. Schon als sich Kiew zum Christentum bekehrte, war die Sprache dem heutigen Griechischen (phonetisch wenigstens) ähnlicher als dem klassischen. Und von je lebte die Mehrheit, genau wie heute, parasitenmäßig oder doch als kolonialer Fremdkörper unter Fremden. Ja im nahen Osten wird heute kaum weniger griechisch gesprochen als vor zweitausend Jahren. Und nun versetze man sich auf den Standpunkt der Griechen selbst: ist es nicht ungeheuerlich, daß diese Welt, diese so viel ältere Welt als irgendeine der heute anerkannten, daß diese Welt, die sich im Gegensatz zu Italien seit klassischen Zeiten wesentlich gleichblieb, deren Kinder beinahe ausnahmslos besser begabt sind als die meisten andern, nichts mehr bedeutet! Wie mir diese Seite der Frage zum erstenmal klar wurde, da erschauerte ich. Es ist wahrhaft tragisch, moderner Grieche zu sein. Und es ist nicht verwunderlich, daß das Gefühl der Diskrepanz zwischen dem, was sein könnte oder sollte, und dem was ist, zu absonderlichen Kompensationen führt. Jeder Grieche tut so, als wären die Nicht-Griechen Barbaren. Als ich vor zwanzig Jahren zuerst in Hellas weilte, servierte ein Kellner einem nur ungern, wenn man ihm nicht vorher die Hand reichte. Auf einer der Hawai-Inseln, hauptsächlich von Griechen bewohnt, begrüßte der Hotelwirt mich selbstgefällig: »Ich heiße Lykurgos, aus Sparta, den Namen kennen Sie wohl? Was?« Und fuhr dann fort: »Wir sind immer noch das erste Volk der Welt; denn wir haben den Geist und das Geld.« Was solchen Grotesken zugrunde liegt, ist weniger lächerlich als tragisch; nie standen Tatsächlichkeit und Bedeutsamkeit in schrofferem Widerstreit. Von den Griechen her wurde mir denn auch erst das wirklich Tragische des Judenschicksals zum erstenmal ganz klar. Die Juden sind heute noch psychologisch ein durchaus antikes Volk. Was schon den Franzosen vom Deutschen radikal unterscheidet, reißt einen Abgrund auf zwischen dem Juden und dem nordischen Menschen. Was wir heute Christ heißen, ist eben nichts anderes als der nordische oder vom nordischen Geist her bestimmte Mensch. Die gesamte Antike war vom Nomos, dem Gesetz bestimmt. Und das Gesetz an sich hat nicht etwa Jesus aufgehoben – die jungen Barbarenvölker haben nie Gesetz in diesem Sinn gekannt und deshalb Jesu Gesetzesfeindschaft sich selbst gemäß gedeutet. Der ganzen Antike war der Gerechte Ideal. Heute gibt es Gerechte solcher Art nur mehr unter Juden. Die Antike ging von der Polis aus und klang, von der Stimmung her bestimmt, unmittelbar in der Oekumene aus. So sind die Juden heute noch einerseits ein Stamm sonderlichen Gesetzes, andererseits Menschheits-Menschen. Die antike Artung der Juden ist ja psychoanalytisch unmittelbar zu beweisen: C. G. Jung hat am Vergleich zwischen jüdischen und christlichen Träumen gezeigt, daß beim Juden in derselben Seelenschicht, wo beim Germanen der Pfahlbauer sitzt, der Alexandriner haust. Und nun zu ihrer besonderen Geschichte. Seit Jahrtausenden in ihrer Mehrzahl ohne eigenes Reich, ohne Möglichkeit, eigene Geschichte zu leben, muß ihr ursprüngliches historisches Taktgefühl ein anderes sein als das ihrer Wirtsvölker. Sie kamen immer nur hoch, wenn eine Zeit oder ein Staat liquidierte. Vom Koloß von Rhodos ging bereits die Sage, daß ihn die Juden verschoben hätten. Sie profitierten von jeher gerade von den jeweiligen nationalen Schwächen. Ferner konnten sie seit Jahrtausenden in der Mehrzahl nur als Vermittler leben, was sie zur Zentrierung ihres Lebens auf das ursprüngliche Bindemittel, das Geld, zwang. Dementsprechend konnten sie in dem, worin für andere das Wesentliche lag, nie Wesentliches sehen; hieraus erklärt sich der jüdische Ursprung der modernen Agrarrevolution. Die Juden mußten zu aller Zeit, weil sie sich so allein halten konnten, den Akzent auf das jederzeit Übertragbare legen, Verstand und Geld. Und wie sollten Juden und Christen endlich die Religionsgeschichte und damit die ganze christliche Aera nicht in verschiedener Perspektive sehen? Orthodoxen Juden kann Jesus und vor allem Paulus, der ja als der eigentliche Begründer des Christentums gelten muß, und von ihrem Standpunkt mit Recht, nicht anders denn als typischer Vertreter der traditionell jüdischen Romantik erscheinen. Den Christen hingegen geht die jüdische Geschichte genau nur insoweit an, als sie das Christentum vorbereitete; ihm erscheint der orthodox verbliebene Jude als von der Gnade unerlöst, als im Gesetz erstarrt. Aber der Erlösungsgedanke entbehrt aus jüdischer Perspektive direkt des Sinns. So fehlt hier jedwede Verständigungsmöglichkeit. Allenfalls kann noch der Christ den Juden hier verstehen: das Umgekehrte gilt nie. Immer wieder hält der Jude dem Christen vor, er spüre von seiner besonderen Begnadung nichts, deshalb sei der Wesensunterschied zwischen Jude und Christ illusorisch. Er ist tatsächlich höchste Wirklichkeit, weil eben die heute christlich genannte Welt nie jüdisch war; das jüdische Grunderlebnis des Gebots hat sie nie gekannt. Ob sie sich naturgeborgen fühlt, wie in ihren besten heidnischen Phasen, oder gottgeborgen, wie in ihrer besten christlichen, immer war sie dem Wesen des Judentums gleich fremd. Weshalb die Juden Recht haben, den Goj heute noch genau so zu beurteilen wie zu antiken Zeiten …

Doch zurück zu den Griechen: können sie sich überhaupt erneuern? Sind sie nicht für alle Zeit mit dem tote Erinnerung verbliebenen, nicht in neue Gestaltung umgesetzten antiken Erbe belastet? Das historische Gesetz der Einmaligkeit wirkt sich im allgemeinen, wo es kein Ende setzt, am grausamsten aus. Im Fall der Juden versinnbildlicht dies der Mythos vom ewigen Juden: die jüdische Bewegtheit wurde zuletzt zur Bewegung im Vakuum, zu sinnlosem Kreislauf. Was soll von den Griechen Neues, Lebendiges kommen? Hier hat eine »Kulturseele« sich unter allen Umständen endgültig ausgelebt; endgültig, weil es sich nicht allein um den altgriechischen Körper, sondern auch den des Hellenismus und Byzantinertums handelt. Dieses wird, wenn irgendwo, in Rumänien neuerstehen. Die anderen sind schon soweit als noch möglich wiedergeboren worden in den klassizistischen Renaissancen Europas. Und was am Griechentum noch entwicklungsfähig war, ist im Körper der übernationalen christlichen Kirchen fortgewachsen. Daß gerade die griechische erstarrte, lag am Erstarren des Griechen-, nicht des Christentums. So sind denn die Hellenen heute in weit tragischerer Lage noch als die Juden. Daß beide Völker sich in vielen Hinsichten gleichen, hängt, abgesehen davon, daß beide die letzten rein-antiken Völker darstellen, an den ähnlichen Lebensumständen durch Jahrtausende hindurch und ähnlich starker Verstandesbegabung. Aber die Juden waren Träger eines Glaubens, der ihrer historischen Niedrigkeit und Unbedeutsamkeit, zugleich ihrem Stehenbleiben Sinn gab. Die Griechen besitzen nichts dergleichen. Sie sind nichts als ein altes Volk an sich, ohne andere als romantische, d. h. in der Unwirklichkeit verwurzelte Ideale, die übrigens keine wirklich nationale Rolle spielen. Sie sind hochbegabt, aber ohne Ziel. Hier faßt man greifbarer als irgendwo auf Erden die Wirklichkeit dessen, was Spengler Kulturseele, Frobenius Paideuma heißt. Eine Weile begnadete ein »Geist« eine Anlage, die im großen und ganzen noch heute fortbesteht, trotz aller Blutzumischung – alle Schilderungen des Thukydides passen genau so auf die Masse der modernen Griechen –; dann zog er sich zurück. Was fortlebt, ist ohne eigenen Sinn.

Was soll aus den Griechen nun in Zukunft werden? Setzen wir zunächst den wahrscheinlicheren Fall, daß sie keine Mutation erleben, wie solche in Italien mehrfach erfolgt ist. Dann werden sie als eins der »unhistorischen« Völker fortleben, wie dies ja von den allermeisten gilt. Doch steht zu hoffen, daß sie dann in Zukunft wenigstens Einzelne von Menschheitsbedeutung hervorbringen werden. Sie können insofern in der Zukunft wieder Ähnliches bedeuten, wie heute die Juden, die ja auf den meisten geistigen Gebieten in allen Ländern wenn nicht führen, so doch das meiste Zweitbeste leisten; es ist ja undenkbar, daß so reiche Anlage dauernd nichts Bedeutendes hervorbrächte. Und gerade in der neuentstehenden Welt müßte dies besonders gut gelingen. In einer Welt herrschender Übertragbarkeit gibt ihr hoher Verstand den Griechen unzweifelhaft einen Vorsprung vor vielen. Hier ist ihre Lage wiederum ähnlich wie die der Juden. Wittern Urgermanen in allem Geiste heute »jüdischen« Geist, so haben sie ideell nicht so unrecht: was einmal spezifisch jüdisch war, ist heute universeller Zeitgeist. Ferner konvergiert das Allgemein-Menschliche mit dem spezifisch jüdischen darin, daß der emanzipierte Intellekt dieser Zeit zunächst typischerweise entwurzelt oder wurzellos erscheint, nicht anders wie der auch an sich wurzelechte jüdische, sofern er sich in Zusammenhängen betätigt, zu denen er keine lebendige Beziehung hat. Endlich liegt in unserer Zeit der Nachdruck allgemein auf dem Verstand. Und das war nur bei Juden bisher der Fall. Bei diesen galt sogar ja seit Jahrtausenden das ungeheuerliche Dogma, daß der Nichtwissende nicht fromm sein könne. Aber bei der betrachteten Konvergenz handelt es sich mitnichten um Verjudung; sonst wäre die Fortschritts- und Verstandesära, in der wir leben, nicht zugleich die des ausgesprochensten Antisemitismus. Was nun um ihres Intellektes willen überall von den Juden gilt, gilt im Nahen Osten sicher von den Griechen. Nur daß diese überdies den Vorzug einer wurzelechten Nation ihr eigen nennen. Unter den Balkanvölkern und denen des sonstigen nahen Ostens können sie sich deshalb gar bald wieder im selben Sinn als erste erweisen, wie zur Römerzeit.

Doch wer weiß? Vielleicht gibt es trotz allem eine echte hellenische Renaissance? Die hellenischen Volkslieder lassen mich nicht los. Desgleichen scheint mir so manches neugriechische Gedicht, von dem ich Kenntnis gewann, national versprechensreich. Dieser Lyrismus ist doch gegenüber dem altgriechischen ein ebenso absolut Neues wie das Florentinertum gegenüber dem republikanischen Rom … Doch, wie dem auch werde: Zunächst muß Griechenland seinen aus der antiken Erinnerung gespeisten Größenkomplex überwinden. Es muß einsehen, daß niemand mehr auf Erden sich für das Land als solches interessiert, daß die antike Größenordnung unwiederbringlich hin ist. Und zur Erreichung dieses Ziels dürfte eine gewisse molekulare Umlagerung im Volksganzen unbedingt von nöten sein. Aber gerade diese scheint mir bereits vorbereitet. Wodurch? Durch die Repatriierung der kleinasiatischen Hellenen! Diese haben keine Größenwahnsinnstradition; ihnen fehlt auch das Hauptlaster der Athener: das Politikastertum. Heute machen sie schon einen wichtigsten Teil der Bevölkerung gerade Athens aus; sie arbeiten, wo die Eingeborenen dazu noch oft zu stolz sind; sie sind auch keine echten Levantiner. Vielleicht erwächst vor allem dank ihnen dermaleinst eine neue Basis für griechische Bedeutsamkeit. Stammte Kapodistrias aus Dalmatien und Venizelos aus Kreta, so mögen die bedeutenden Griechen der Zukunft leicht allesamt die Nachkommen der ausgewiesenen Kleinasiaten sein.

 

Nun endlich die Türken. Von diesem Volk ist es jetzt, wo Fez und andere Unterscheidungsmerkmale gefallen sind, leichter, ein richtiges Bild zu gewinnen als ehedem. Jetzt erst sieht man, wie blutsverwandt es mit den übrigen Völkerschaften des nahen Ostens ist: nur in Ausnahmefällen kann man von einem Türken, es sei denn, er sei anatolischer Bauer oder dessen direkter Sproß, mit Gewißheit sagen, daß er nichts anderes sein könnte als eben Türke. Desgleichen leuchtet einem jetzt beim ersten Anblick ein, daß die Modernisierung hier ein nicht nur schicksalsmäßig fähiger, sondern normaler Vorgang war: unnormal war einzig die späte Stunde ihres Eintritts. Wer weiß, was psychische Atmosphäre bedeutet, dem ist a priori klar, daß der Kontakt mit dem Griechengeist und -leben seit siebenhundert, die nahe Beziehung zum übrigen Europa seit bald fünfhundert Jahren eine psychologische Vereinheitlichung bedingen mußte, die als Voraussetzung Japan vollständig fehlte, als es sich uns anzugleichen begann. Deshalb bietet die mögliche Modernisierung der Türken gar kein Problem. Desto mehr fällt einem auf, auf dem Hintergrunde gerade der übrigen Balkanvölker, wer diese Türken sind. Es ist wirklich etwas Einzigartiges um das turanische Blut, wenn es die geistige Formkraft des Islam (über die ich im Reisetagebuch gesagt habe, was ich zu sagen habe) zum Adjutanten hat. Diese Menschen sind grundsätzlich genau die gleichen, trotz aller Blutmischung, als die, welche die ersten großen Eroberungszüge vollführten. So ist auch alles, was seit dem Friedensschluß von 1919 geschah, aus ihrem Geist allein zu verstehen. Erstens sind die Türken noch immer wesentlich Nomaden. Heute verlassen sie Konstantinopel, innerlich, wenn auch nicht äußerlich: es ist schon – und zugleich noch – so, als wären sie nie dagewesen; die eigenste Atmosphäre der Stadt ist wieder oder noch immer byzantinisch; im übrigen erinnert sie an Rom. An Dauerhaftem haben die Türken einzig die Moscheen, die herrlichen, hineingebildet; aber dies wiederum nicht anders, als wie Timur-Lenkh in der Wüste Schädelpyramiden aufrichtete. Alles andere war oder ist Zelt oder Karawanserai, von Hause aus abbruchreif. Diese Zelte haben sie nun am Ende des Weltkriegs abgebrochen und sich gemäß der Taktik ihrer Väter bis auf weiteres in die heimische Steppe – heute Angora – zurückgezogen; nicht anders kehrte Dschengis-Khan immer erneut nach Karakorum zurück. So ist auch die beschleunigte Modernisierung eine Art von Feldzug. Wenn ausgerechnet das türkische Budget im Gleichgewichte ist, wenn keine Inflation herrscht, wenn alles in einem Tempo geht, welches das des fascistischen Italiens übertrifft, so ist das Kriegszustand. Eben deshalb geht es trotz schwerster materieller Lage für die meisten Einzelnen weiter. Ist die Zahl der Selbstmorde unter der Jugend, besonders der weiblichen, erschreckend groß, so bedeutet das nicht Dekadenz, sondern Schlachtverluste: wo in der alten patriarchalischen Familie Frau und Kinder nichts kosteten, ist es heute materiell kaum möglich, weiterzuleben. Es geschieht dennoch, nur eben unter Blutopfern. Von hier aus allein ist überhaupt die ganze grandiose Leistung des Ghazi Mustapha Kemal und seiner Helfer zu verstehen, gewiß weitaus die größte seit Bismarcks Reichsgründung. Eine vollkommene Katastrophe bog er in vollkommenen Sieg um. Die Mittel dazu boten der anzestrale türkische Heroismus und die ebenso anzestrale Genialität in der Diplomatie und der dem englischen ebenbürtige, wenn nicht überlegene Sinn für das Mögliche. Aber der Geist, der diese Mittel nutzte, war der der großen Nomadenvölkerfürsten. Von einem Tag zum anderen wurde das Imperium des Osmanen preisgegeben, zugunsten eines neuen national-türkischen Staats. Der war nicht besiegt worden; der hatte am Weltkrieg überhaupt nicht teilgenommen. So konnte er als ein Novum eingreifen, die anderen Mächte schlagen. Und Siegergefühl allein schwellt heute des Türken Brust. Aber dies ist wiederum nur möglich, weil er wesentlich Nomade ist. Das vollkommene Losgelöstsein von naher Vergangenheit fällt heute Deutschen besonders auf; sie begründen es durch das islamische Schicksalsgefühl (Kismet). Darin irren sie; diese Losgelöstheit hat der Islam nur unter Türken bewirkt, weil er Vorhandenes bestärkte. So durften unter Türken allein, daß ich wüßte, Brände unter Berufung auf Gottes Willen nicht gelöscht werden. Wie der Araber nicht in zum Verbrennen prädestinierten Holzhäusern wohnt, so ist er auch nicht annähernd so detachiert. Der Türke ist eben Nomade, Nomade in der Zeit wie im Raum. Er ist heute, unter Verbrennung seiner Zelte, aus dem osmanischen ins national-türkische Reich, aus Stambul nach Angora, aus dem Mittelalter in die Moderne nach dem Weltkrieg hinübergewechselt, wie zu Urväterzeiten von der Winter- zur Sommerweide.

Soviel vom Nomadentum der Türken. Es bedeutet sicher ein noch wichtigeres Moment als ihre Zugehörigkeit zum Islam, die der Ausbildung vorhandener Anlagen nur zustatten kam. Nur weil dem also ist, ist die von Türken beherrschte Welt nie eigentlich türkisiert worden; wo unter Türken Kultur erblühte, war dies bis auf wenige Sondergebiete, wie dem der Keramik, arabische Kultur, die sie gewähren ließen, wie alles, was ihnen Untertan war. Ebenso förderte die Zugehörigkeit zum Islam nur das spezifisch türkische Herrentum, das Herrentum auf der Basis vollkommener Gleichheit aller Menschen, sie erschuf es nicht. Die Türken sind wohl das reinste Herrenvolk, von der die Geschichte Europas und des nahen Ostens weiß: sie sind es im reineren Sinne noch als die Magyaren, insofern sie von Hause aus nur herrschen können. Jeder Herrenmensch ist für sich arbeitsscheu im Sinn des Arbeitsethos, wie es seit ägyptischen Tagen am stärksten unter modernen Deutschen lebt. Kann er einerseits besseres als arbeiten, so ergänzt dies psychologisch notwendig tatsächliche Faulheit, die ihn aus Selbsterhaltung Mittel erfinden läßt, andere für sich arbeiten zu lassen. Insofern ist sogar der Engländer wesentlich faul. Aber der Türke mag – oder möchte doch bisher – überhaupt keine Arbeit, außer der, die von je als adelig galt: Landbebauung und Krieg. Und er nahm sich auch niemals die Mühe, einen administrativen Apparat zu ersinnen, der ihm sein herrenmäßiges Faulsein erleichtert und gesichert hätte. Bis zum Sturz der Sultane glich die Stellung des Großveziers der des Djafar, des Gehilfen Harun al Raschids.

Formell betrachtet, regierten meistens Favoriten. Nur konnten diese gewöhnlich nicht nur etwas, sondern viel. Diese Auswahl war nun die Folge der ganz wunderbaren türkischen Menschenkenntnis. Ja eigentlich wurde das Türkische Reich von je von Menschenkenntnis allein, »an sich« gleichsam, administriert. Die Distanz zwischen den Menschen, welche solche ermöglicht, setzt wiederum wesentliches Herrentum voraus. Und erst recht gilt dies von der Freiheit, die notgedrungen gewährt werden muß, wo kein kleinlicher Apparat die schmutzigen Geschäfte besorgt. So war denn der Türke, als Beherrscher grundsätzlich noch großzügiger als der Brite. Nur eben von orientalischer Lebensbasis aus – man war wohl als Bettler, als Maultiertreiber, als Derwisch frei, nicht aber als »moderner Mensch« – und soweit die Sicherheit des despotischen Regimes dies zuließ. Dieser Herrencharakter nun ist für den Türken so wesentlich, daß er trotz aller umständebedingten Annäherung an den Bolschewismus, der sich auch in den Formen mancher maßgebender Persönlichkeiten äußert, bestehen bleibt und ohne Zweifel fortbestehen wird. Wohl mag der Glaubensverlust hier entgegenwirken: wenn Menschen beinahe gleichen Bluts als Griechen Levantiner, als Türken Herren sind, so geht dies zum Teil gewiß auf den Islam zurück. Aber die Türken werden eben psychologisch Muslims bleiben, auch wo sie nicht mehr glauben: der Islam hat sie geformt. Deswegen gerade glaube ich fest an eine neue islamische Einheit (vgl. meine Neuentstehende Welt), die sich auf psychologischer Ähnlichkeit und Traditionsgleichheit, nicht religiösem Glauben aufbaut. Vor allem aber wird der Herrencharakter des Türkenvolks dank dem traditionellen Bewußtsein, gegenüber den früher beherrschten Völkern ein Höheres darzustellen, und das Selbstgefühl des geborenen Herren bestehen bleiben. Wer Türke im besten Sinne ist, und die Menschen und Dinge dementsprechend in Distanz sieht; wem Geld nicht alles ist, wessen Selbstgefühl von der äußeren Stellung nicht abhängt, der muß sich dem familiären und feilen Griechen, dem pöbelhaften Bulgaren, dem weichen Rumänen, dem schwachen Ägypter und irreellen Araber unbedingt überlegen fühlen.

 

Wie steht es unter diesen Umständen mit der möglichen Zukunft der Türkei? Und was kann der Türke in der neuentstehenden Welt bedeuten? Die nationale Zukunft scheint mir deutlich vorgezeichnet. Als wesentlich nomadisches Herrenvolk können sie, wo sie keine anderen Völker beherrschen, nur ein kleines Reich haben, wo sie unter sich sind. Dieses erwächst denn jetzt auch auf gesundest denkbarer Grundlage. Man lasse sich nicht beirren durch manche unerfreuliche Zustände in Konstantinopel und Angora selbst, Demoralisation der Frauen, übertriebenen Alkoholgenuß – das sind selbstverständliche Reaktionen auf über ein Jahrtausend der Enthaltsamkeit. Die Zukunft der Türken verkörpern einzig und allein die Enkel heutiger kleinasiatischer Bauern, und für deren Erwachsen unter günstigeren Bedingungen, als sie die Väter kannten, wird gut gesorgt. Ebenso klar ist, daß die Türkei sich, ungeachtet eines vielleicht vorhandenen Begabungsmangels für Technik und Industrie (vielleicht: der türkische Chauffeur ist bei weitem der beste der Welt!), soweit als erforderlich modernisieren wird. An der Spitze der modernen Welt wird sie gewiß nie stehen; das ist nie jedem möglich. Wohl aber paßt sich auf die Dauer jeder den Erfordernissen des Zeitgeists überhaupt an. Und wo dies die herrschende Klasse nicht kann, da müssen eben Fremdstämmige zugelassen werden. Wie die Rumänen ihre Juden haben müssen, so werden auch die Türken ohne Zweifel so viele fremde Ingenieure usw. auf die Dauer zwangsläufig zulassen, als ihr Interesse verlangt. – Gerät einmal die islamische Welt in Bewegung, so ist weiter klar, daß die Türkei wieder führen wird. Es gibt kein islamisches Volk, das den Türken an Führer- und Herrschereigenschaften gleichkäme. Doch diese Möglichkeit geht uns in diesem Zusammenhang nichts an. Was kann die neue Türkei Europa bedeuten?

Nun, sie kann freilich sehr viel bedeuten. Zunächst zur Frage, ob sie überhaupt eine europäische Rolle spielen wird: das wird sie ganz selbstverständlich, je mehr die Bevölkerung des einstigen oströmischen Reichs aufs neue als Subjekt, nicht Objekt, am Leben des Mittelmeerbeckens teilnimmt. Diese Neu-Teilnahme ist gewiß. Und da gehören die Türken, seit 1300 ortsansässig, mit hinzu, weit mehr als zu Asien. – Also am Leben des neuen Europa überhaupt wird die Türkei jedenfalls aktiv teilnehmen. Aber was kann ihre Sonderrolle werden? Nun, sie könnte, denn sie sollte eben die sein, die sie immer spielte, nur jetzt auf der Basis der Gleichberechtigung aller Völker, nicht zu deren Bedrückung. Damit gelange ich denn zum repräsentativsten allgemeinen Balkanproblem, dem physiologischen Demokratismus. Die Struktur aller Balkanvölker ist insofern demokratisch, als die Masse nirgends in der Identifikation mit der Blüte der Nation sich selber auslebt. Sie stellt insofern den genauen Kontrapunkt zur ungarischen dar. Jeder fühlt sich dem anderen ursprünglich gleich; gab und gibt es je Adelsherrschaft, so wird sie als Fremdherrschaft empfunden. Der Demokratismus ist nun der verschiedensten Gestaltungen fähig. Es kann der Proletarier den Polarisator abgeben – dann ersteht das häßliche Bild des heutigen Rußland. Oder aber alle, an Bedrückung gewöhnt, ohne Würdegefühl, sind gleich familiär und arrogant: so war bisher der Grieche. Oder aber alle fühlen sich letztlich gleich als Wegelagerer: da ist Kultur ausgeschlossen; soviel gilt bis auf weiteres von den Bulgaren. Die Türken nun sind die extremsten Gleichheitsgläubigen, die es je gab, aber zugleich die extremsten Gentlemen. Sollte es da nicht ihre Aufgabe werden, eben den Geist, den der Bolschewismus auf Proletarierbasis verkörpert, der Fascismus auf der der Jugend in den Flegeljahren – dieser Geist, der nun einmal der bestimmende der nächsten Zukunft ist – auf der Ebene des Gentleman vorzuleben? Mir scheinen die Türken hierzu recht eigentlich prädestiniert. Überall sind die Privilegien der vornehm Geborenen für immer hin: unter den Türken mehr noch als unter den Briten ist Vornehmheit selbstverständliche Forderung für jedermann. So droht dort weniger als irgendwo sonst die Grundgefahr der Demokratie: Neid als entscheidende Macht. Eben deshalb lassen die Türken sich gern von wirklich Besseren führen. Und diese wirklich Besseren zu finden, dazu verhilft ihnen wiederum ihre außerordentliche angeborene Menschenkenntnis: so können sie leichter als andere dahin gelangen, das Problem sinngemäßer Hierarchie zu lösen. Endlich sind sie noch heute wesentlich Krieger und insofern hart; ihnen fehlt jede Sentimentalität. So werden sie unbefangener als manches andere Volk ins neue eherne Zeitalter eintreten … Die neue Türkei kann in der Tat eine große europäische Aufgabe haben. Wer das nicht glaubt, der vergißt zweierlei: erstens daß Südosteuropa, das einmal dominierend war, sehr leicht wieder zu einer wichtigsten Region erwachsen kann. Zweitens und vor allem, daß das Vorkriegsprestige des Europäers und Christen hin ist.

 

Wenden wir uns nun jetzt zum Balkan als Ganzem zurück. Er steht das gespanntest denkbare Gebilde dar. Rumänen, Griechen, Türken haben toto genere verschiedene Substanzen, und wiederum ganz verschieden von ihnen sind die Bulgaren und Serben. Und doch ist der Balkan eine Einheit, und er war es von je. Von je suchte ein Teil seiner den anderen zu erobern. Von den allerverschiedensten Zentren her ist er entsprechend beherrscht worden. Kein Gleichgewicht der selbständigen Teile erwies sich je bisher als dauerhaft, geschweige denn endgültig. Und es ist mehr als unwahrscheinlich, daß die Dynamik in absehbarer Zeit einem statischen Zustand Platz machen wird. Weit eher könnte das um das deutsch-französische Kraftfeld gravitierende Europa zu einer schweizähnlichen Friedenseinheit gelangen, als der Balkankreis. Nun kann es freilich sein, daß ebenso wie der Osmane Jahrhunderte entlang einen künstlichen Friedenszustand herstellte, äußere Machteinflüsse den Balkan auf lange hinaus, so wie er heute ist, erhalten werden. Aber ich glaube nicht, kann nicht glauben, daß irgendeine Kunst den Balkan so befrieden wird, wie es die Kanzleien der Großmächte schon heute für erreicht halten. Wirkliche Dauerfriedenszustände kamen noch nie anders denn als Ausdruck erreichter Reife nach erledigtem Sturm und Drang zustande. Und wer wollte behaupten, daß dieser jetzt schon wirklich erledigt wäre? Alle Balkanvölker sind ja heute jung. Die Rumänen konstituieren sich eben jetzt erst als die Nation, die sie einstmals sein werden. Die Türken besinnen sich gerade erst ganz auf sich selbst. Die Balkan-Slawen stehen noch ganz am Anfang der Zivilisation. Nur die Griechen erscheinen als ein wesentlich altes Volk. Aber auch sie können sich vielleicht verjüngen. Wie immer es komme: es ist mehr als unwahrscheinlich, daß der Balkan für immer das bleibt, was er heute ist. Alles spricht dafür, daß das östliche Mittelmeer früher oder später wieder selbständige historische Bedeutung gewinnt. Zuviel Nationen verjüngen sich an seinen Gestaden. Dies gilt ja sogar von den Syrern und Ägyptern. Demgegenüber werden die letzten traditionellen Suzeräne dieser Gebiete, Frankreich und England, als solche alt. Das ist organisches Schicksal, aus dem sich sichere Schlüsse ziehen lassen, schon deshalb, weil das Erwachen junger Völker zu individueller Selbständigkeit zwangsläufig in Gegensatzstellung zum überkommenen Vormund erfolgt, und sei dieser im übrigen noch so fähig. Neuerdings erstrebt Italien eine Expansion im nahen Osten. Aber die kann ihm auf die Dauer nicht gelingen. Erstens, weil die Zeit des Kolonisierens überhaupt um ist, dann, weil es keinen größeren Gegensatz gibt, als zwischen italienischer und Balkan-Welt: so groß ist der, daß sogar das so wunderbar einheitliche Römische Reich in zwei zerfiel, als es in Konstantinopel Fuß faßte. Gewiß mag Italien dort zeitweilig Eroberungen machen. Dauerhaftes werden sie nicht bedeuten. Diese neue Fremdherrschaft kann für die Dauer ausschließlich der ost-mediterraneischen Selbständigkeit zugute kommen, insofern sich die betreffenden Nationen ihrer Eigenart desto mehr bewußt werden. Ich persönlich glaube jedenfalls an ein Erwachen des östlichen Mittelmeergebiets zu neuer historischer Selbständigkeit. Schon als Nachwirkung der Emanzipierung Asiens muß es erfolgen. Das muß dann dem Balkan eine Bedeutung neuer Art erteilen, die zugleich eine Wiedergeburt seiner antiken Bedeutung ist: des lebendigen kulturellen Vermittlers zwischen Ost und West in der Mittelmeerwelt.


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