Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Bis zum Weltkrieg gab es kein Land, in welchem Menschen weiten Geistes- und Herzenshorizonts nicht gelegentlich den alten Satz zitierten: jeder Mensch hat zwei Heimaten, seine eigene und – Frankreich. Und wirklich: sich in Frankreich nicht wohl zu fühlen, ist für den, der aus sich herauszutreten, welcher Ferien vom Ich zu nehmen fähig ist, ein Ding der Unmöglichkeit, so er Frankreich kennt und versteht und zeitbedingte Empfindungen die unmittelbare nicht überschichten. Zumal dies vom persönlichen Verhältnis zu den Franzosen, die sehr wenige kennen und, seitdem die Welt sich entfranzösiert hat, weshalb ihr Typus nicht mehr universell, sondern spezifisch, ja provinziell wirkt, nicht viele mögen, kaum abhängt. Den Franzosen wirklich kennenzulernen, ist schon deshalb schwer, weil er sich der Höflichkeit zur Wahrung seiner großen Abgeschlossenheit bedient. Die erste Ursache des Heimatgefühls, das jeder innerlich Offene in Frankreich erlebt, sei er im übrigen Einsamer oder Gemeinschaftsmensch, ist nun die folgende: dieses Land verkörpert die eine allgemeinverständliche, von jedem unmittelbar erlebbare Harmonie, die es in Europa gibt, von Mensch und Umwelt. Auch der Engländer ist seiner Welt vollkommen eingepaßt; ja er übertrifft darin, abstrakt beurteilt, den Franzosen, denn erscheint dieser nur in Frankreich zu Hause, ist er es in der ganzen Welt. Doch seine Lebensform ist wesentlich unverständlich, so werbend sie wirkt. Die französische ist die eine universell verständliche. Sie ist es, weil ihr den Ausdruck bestimmendes Zentrum nicht im Unbewußten, sondern im Bewußtsein liegt, innerhalb dieses wiederum im Geist und dieser Geist sich eine vollkommene Sprache erschaffen hat. Was wesentlich bewußt geworden, ist es grundsätzlich für alle, so wie die Sonne, die überhaupt aufging, für jeden scheint. Der Geist ist ferner wesentlich übertragbar; drückt er sich vollkommen aus, so muß ihn jeder verstehen. Denn drückt er sich vollkommen aus, so ist er objektiv klar; eine objektiv klare Fassung stellt eine notwendige Beziehung her zwischen dem abstrakt gefaßten Problem und den Bedingungen menschlichen Erkennens überhaupt. Das Übertragbare des Geists erschöpft sich nun keineswegs in der Verstandesklarheit: sie gilt von aller Korrespondenz überhaupt zwischen erfaßtem Sinn und Ausdruck, und der französische Ausdruck ist auf allen Gebieten einleuchtend klar. Er hat die gleichen Vorzüge, die es bewirkten, daß die altgriechische Form ganz selbstverständlich, als Folge von Alexanders Zügen, den ganzen Osten eroberte. Er ist fleischgewordene Logik im weitesten Sinn des Worts. Die Sprache an sich ist so geistreich, daß selbst ein dummer Franzose, ja sogar ein mittelbegabter Ausländer, den nur ihr Geist ergriff, über seine Verhältnisse klug scheint; der französische Geschmack an sich ist so gut, daß das on, das »man« von Paris im allgemeinen sicherer urteilt, als der nicht außerordentliche Einzelne. So findet aller abendländische Sinn, wo er auf französisch ausdrückbar erscheint, in diesem Körper seinen verständlichsten Ausdruck; die Luzidität dieser Sprache im weitesten Verstand, die Durchbildung des sie beseelenden Geists bis zu objektivierter, unvermeidlicher Anmut, setzt das spezifisch Abendländische, wie keine andere Formenwelt Europas, in unmittelbare Beziehung zur allgemeinen Menschennatur. Deshalb überzeugt europäische Kultur nur in französischer Fassung auf dem ganzen Planeten unmittelbar. Deswegen galt das Französische bis vor kurzem mit tiefstem Recht als bestes allgemeines Verständigungsmittel. Deswegen sind die meisten schönen Formen Europas, die Allgemeingut wurden, französischen Ursprungs. Dies gilt auch von den Formen des Gemeinschaftslebens. England besetzt, wie wir sahen, für sich vollkommen die Pole von Ich und Du, von Gemeinschafts- und Einzigkeitsnorm: Frankreichs Lebensform tut es für alle. So absolut wie in England wird die Einsamkeit des Einzigen nicht respektiert, und so rein auf das Kollektive hin, wie dort, ist das Gemeinschaftsleben nicht gestaltet. Dafür ist ein Vergleich auf der Ebene rationeller Schönheit Norm, der sowohl alles Gesellschaftliche gefällig macht, als dem Einzigen ermöglicht sich in der Gesellschaft persönlich auszuprägen.
Das gleiche Verhältnis bestimmt nun, mutatis mutandis, das französische Verhältnis von Mensch und Umwelt überhaupt. Als Natur ist ganz Frankreich recht eigentlich Gartenland. Sie ist die Mutter des französischen Menschen; deswegen allein schon fühlt dieser, wo immer Außenwelt in Frage steht, in erster Linie als Gärtner. Vor allem aber tut er's, insofern es in ihm liegt, allem Sinn allgemein-verständlichen und -erfreulichen Ausdruck zu schaffen. Wie jedes Tier sich seine eigene Umwelt bildet, so drängt es auch den Menschen, für den die Außenwelt überhaupt existiert, dahin, sie zu humanisieren; daher das ursprüngliche Gärtnertum der Frau. Der Franzose nun ist Gärtner durchaus und im höchsten Grad. Meisterschaft im Kochen, Verschönerung der Frauennatur durch Kleidung, Geselligkeitskunst, gepflegte Sprache, Kultur des Liebeslebens, Esprit, die Imperative des Maßes in allem und der angemessenen Rücksicht auf fremde Eitelkeit sind allesamt nichts anderes als verschiedene Sonderarten von Gärtnertum. Eben dazu gehört die hohe Moralität im Sinn des französischen le moral, das heißt das hohe charakterliche ethosbestimmte Gleichgewicht, innerhalb des Einzelnen wie der Gemeinschaft, des Franzosentums. Nach chinesischer Lehre ist Moralität gebildete Natur. In der Tat bedeutet sie an sich nie mehr wie die hergestellte Harmonie zwischen Geist, Seele, Körper und Welt; sie ist ohne metaphysische Bedeutung. Aber sie ist andererseits die Voraussetzung aller empirischen Harmonie. Und zur Erschaffung dieser ist der Franzose von allen Europäern der begabteste.
So ist Frankreich in allen Hinsichten wesentlich gebildete Natur, und das heißt eben Garten. Sein Zustand ist auf allen Ebenen, von der kulinarischen bis zur moralischen, wesentlich Maß und Einklang. In Paris, Frankreichs Höchstausdruck, kann sich der Einsame wie der Gesellige, der Heitere wie der Ernste gleich heimisch fühlen. Sämtliche Zustände erscheinen da von Hause aus auf optimale Weise aufeinander abgestimmt, so daß die Heiterkeit als Oberton entsprechenden Ernstes wirkt, die Ironie als Kompensation tiefen Gefühls, die Leichtigkeit den Diskant spielt zum Basse erdnaher Urkraft, ja der Schatten des Lasters das Licht der Tugend nur plastisch modelliert. Solch ursprünglicher Einklang kann nicht umhin – ebensowenig wie eine Saite umhin kann, ihrerseits anzuklingen, wenn eine gleichgespannte neben ihr gestrichen wird – befreiend auf jeden zu wirken, der für ihn überhaupt empfänglich ist. Auf dem Gebiet der Seele ist Paris der größte Lehrer Europas der rhythmischen Gymnastik. Hier liegt die Wurzel seiner Anregungskraft: alle Verkrampfungen löst es, die Gesamtkraft der Muskeln wächst im harmonischen Zusammenspiel; so hat dort auch der sonst Unproduktive Einfälle, denn ist nur eine Bewegung vorgegeben, so folgen Gegenbewegung oder Abwandlung wie von selbst. Daß aber Frankreich so vielen Nicht-Franzosen nicht nur steigernde Geliebte, sondern auch treue Gattin ist, hat neben den früher bestimmten Ursachen noch die folgende: der französische Zustand bedeutet bei aller vibrierenden Bewegtheit letztlich ein statisches Gleichgewicht; die französische Wechselfreude hat letztlich Bewahrung der Tradition zum Ziel. Der Mensch ist ein Abwechselungswesen; nur wer dem Rechnung trägt, versteht den Eigenrhythmus seiner Natur. Seine Lebensmelodie ist aber andererseits ein Ritornell. Deswegen gilt der Satz: je mehr Abwechslung im kleinen ein Volk (wie ein Einzelner) sich gestattet, desto mehr ist auf wesentliche Treue bei ihm Verlaß. Diese Wahrheit beweisen am meisten gerade die, die aus Phantasiemangel oder Schwerfälligkeit jeder Abwechslung entraten zu können meinen: nur deren Leben weist ganz große Unstetigkeitsmomente auf; sie machen die wirklich einschneidenden Revolutionen. Während die gleiche Wahrheit erklärt, warum die Franzosen sich im Lauf der Jahrhunderte, durch alle Revolutionen hindurch, so viel weniger verändert haben, als die Deutschen und Briten; sie sind, gerade weil ihr Sinn für die Nuance sie schillernder als alle anderen Menschen erscheinen läßt, unseres Kontinentes konservativstes Volk. Nun beruht alles Leben ursprünglich auf Einfügung in die Umwelt, alles dauernde Glück auf weiser Abstimmung von Wünschen und Erfüllungen aufeinander; initiative-bedingte Neuerung bedeutet insofern nie viel mehr, wie ein Witterungswechsel in bezug auf die Erdrotation: so muß die spezifisch französische Lebensmodalität als Umwelt schlechthin jeden, und am meisten den Träger der ihr am meisten entgegengesetzten, der dynamisch-faustischen, beglücken. Diese ist ja die des Unerlösten, dessen primitive Natur, was immer der Geist diktiere, Tag und Nacht nach Erlösung im Sinn des irdischen Glückes schreit. So kommt die französische Atmosphäre gerade hier allen natürlichen Neigungen entgegen. Sie bringt Abwechslungs- und Treuebedürfnis in den objektiv richtigen Einklang; sie erledigt damit den Hang zum Protest, zur Revolution. Im übrigen ist es ein Irrtum, den Franzosen für durchaus beweglich und schnell zu halten. Das ist er nur als Geist; und gerade die Synthese von beweglichem Geist und treuer Natur schafft seinen tiefsten Charme. Weit eher ist er, alles in allem, zu routiniert. Die Langsamkeit des heutigen Frankreich im Verstehen der veränderten Welt, sein starker Formalismus, die Schwerfälligkeit seines Verwaltungsapparats rühren daher. Aber das Wohltuende der Grundatmosphäre stören sogar diese Mißstände nicht. Schließlich ist der weitaus größte Teil alles dessen, was Menschenleben füllt, seit Adams Tagen das gleiche; und wo dieses Sichgleichbleiben bejaht wird, und dabei in Schönheit und ohne Insistieren, dort fühlt der Mensch sich instinktiv geborgen. Hiermit gelangen wir denn zu dem Moment, auf dem Frankreichs größte Werbekraft beruht. Der französische Statismus, das französische Gärtnertum implizieren entschiedene Lebensbejahung. Die Franzosen stehen völlig unbefangen zum Positiven dieses Lebens. Sie bejahen es mit allen fünf Sinnen. Ihre Sinnlichkeit im Verstand der Liebesfreudigkeit ist nur ein Ausdruck unter anderen der allgemeinen Lebensbejahung und nur von ihr her richtig zu verstehen. Im üblichen Sinne »sinnlich« ist der Norweger, der Engländer wohl mehr als der Franzose, denn das Nicht-Selbstverständliche, das in der Befriedigung des Triebes für ihn liegt, läßt dieses im Bewußtsein überbetont erscheinen, genau wie das Sexuelle bei einer liaison unwillkürlich eine größere Rolle spielt, als in der Ehe. Der Franzose bejaht völlig unbefangen, was in ihm lebt. Hier liegt der elementare Urgrund dessen, warum tatsächlich jeder, der nicht Pedant oder Philister oder sonst verbildet ist, sich in Frankreich heimisch fühlt: die eigenen Triebe erkennen keine Lebensverneinung an. Sie aber entscheiden über die unmittelbare Lebensstimmung.
Dieses Frankreich nun lebt durch allen Wechsel hindurch bestimmend fort. Dies ist das ewige Frankreich. Wie ich 1926, nach 13 Jahren, wieder hingelangte, da beeindruckte mich bei weitem am meisten; wie absolut nicht die besonderen Zeitveränderungen dieses Ewige beeinflußt, ja auch nur berührt haben. Aus diesem Grunde wüßte ich nichts Törichteres als das Gerede, mit Frankreich sei es »aus«. Mit einem Land von solcher Wurzelechtheit, von so einzigartig werbender Kraft ist es nie aus. Sollten seine Bewohner je aussterben oder entarten, so wird es baldigst neubesiedelt werden; und aus den Einwanderern werden sehr, sehr bald die wesentlich gleichen Menschen werden, die sich heute Franzosen nennen. Soweit es sich um Einzelne handelt, aus dem Grund, weil hauptsächlich Wahlverwandte sich dort naturalisieren. Im großen jedoch, weil dieses Gartenland den noch so andersartigen Menschen unaufhaltsam zum französischen Gärtner umbildet.
Doch wenn sich fast jeder vorurteilsfrei Verstehende, mag er noch so viel Gründe zum Franzosenhasse haben, auch heute in Frankreich unwillkürlich heimisch fühlt, so fühlt sich Frankreich selbst in der Nachkriegswelt alles eher als heimisch. Und auch das kann nicht gut anders sein. Noch nie, seit der Völkerwanderung, war Europa gleichermaßen im Fluß. Tradition ist historisch bedeutungslos geworden, Präzedenzfälle gelten nicht, die prästabilierte Harmonie ist hin, alles Gleichgewicht aufgehoben. Unter diesen Umständen muß die französische Mentalität, in stabilisierten Zeiten die weltangepaßteste, als unangepaßteste erscheinen. Daß der Franzose selbst die Dinge nicht so sehen kann, ist klar. Und dies nicht nur wegen seiner so lange bestehenden Vormachtsstellung. So verstandesklar er sei: sein Selbstbewußtsein ist mehr emotionell wie intellektuell, als solches leicht und stark erregbar, und Gefühle sind sich selber letzte Instanzen. Mit einem Franzosen fruchtbar zu diskutieren ist nur möglich, wenn man seine Grundüberzeugung teilt. Diese je in Frage zu stellen, ist er physiologisch unfähig. Er ist unfähig zur Neutralität nicht nur in Fragen der Politik: auch Sachlichkeit im deutschen Sinne kennt er nicht, wo sie nicht von anerkannten subjektiven Voraussetzungen her besteht. Daher das Festhalten, allem gesunden Menschenverstand zum Trotz, an erwiesenermaßen falschen Vorurteilen: les sentiments ne se raisonnent pas, und Gefühle sind seine letzte Urteilsinstanz. Ihm Fremdes versteht er schwerer als irgendwer; er ist insofern der innerlich abgeschlossenste Europäer. Daher denn die merkwürdig engen Grenzen des Gebiets, auf dem er klug erscheint. Er hat das differenzierteste Bewußtsein unseres Continents; er ist logisch außerordentlich begabt. Aber die unbewußten Untergründe seines Geistes befinden sich in einem Zustand ebenso außerordentlicher Gebundenheit. Noch des heutigen Franzosen Gedanken über Goethe oder Shakespeare sind bis auf seltene Ausnahmefälle kindisch-töricht; was er über Nicht-Französisches denkt, ist in der Regel dort allein ernstzunehmen, wo das Verhältnis des Fremden zu Frankreich von Frankreichs Standpunkt in Frage steht. Keine serbische, keine litauische, keine estnische Zeitung würde je wagen, ihren Lesern so kindisch-dumme Urteile über den Geist des Auslands zu servieren, wie dies größte französische tagtäglich tun. Der Franzose ist eben in seiner Natur vollkommen gefangen. So beruht denn sein Widerwillen gegen Reisen auf richtigem Instinkt: außerhalb seiner Landesgrenzen wirkt er sofort im provinziellen Sinn beschränkt. Daheim hingegen hat die gleiche Beschränktheit etwas Rührendes. Mit derselben naiven Selbstverständlichkeit, mit der der Engländer die Welt materiell beherrscht, setzt der Franzose voraus, daß die ganze Welt von Herzen so sein will, wie er sie darstellt. Und um dieser Naivität willen verübelt niemand ihm seine Auffassung, solang er persönlich daheimbleibt und nur seinen Geist ausstrahlt. Er nun versteht überhaupt nicht, wie man anders sein will als er: kann man es nicht, so sieht er darin ein Vorläufiges und hilft gern aufrichtig desinteressiert und großmütig nach. Unter keinen Umständen versteht er, daß man ihm sein Sosein und seine Stellung nicht für die Ewigkeit gönnt. Als Vertreter statischen Gleichgewichts, in seiner Auffassung der Erde als eines französischen Gartens kann er im Dynamiker, falls dieser ihm sein Gesetz aufdrängen will, aus seiner Subjektivität heraus nichts Besseres als einen Verbrecher sehen. Für ihn gilt bestehendes Gleichgewicht, bestehende Sitte, bestehendes Recht, bestehende Grenze in jedem Sinn. Jede Verschiebung greift gefährdend an seine Substanz. Welche Gefährdung desto größer erscheint, als sehr alte Kulturordnung Veränderung kaum überhaupt verträgt: so tut nur der antike Holzpflug dem Erdboden Toskanas nichts zuleid. Aus den angeführten psychologischen Gründen hat der Franzose sich denn, seitdem er seinen heutigen Charakter trägt, im Krieg stets als Angegriffener gefühlt, in jedem Gegner den Feind der Zivilisation gesehen, jedesmal auf sein absolutes Recht gepocht. In dieser Weltwende mußte sich der gleiche psychologische Tatbestand nur auf unerhörte Weise potenzieren. Die sogenannte »hysterische Angst« der Franzosen erscheint aus dem Vorhergesagten heraus allein schon verständlich genug: Frankreich war wirklich nie ähnlich gefährdet. Denn seine Anlage verlangt – wie jeder Garten – äußere Sicherung an erster Statt; und die ist hin. Sie verlangt Stetigkeit im Zustand; und die ist aufgehoben. Man verkennt den Franzosen ganz, wenn man beim Rentnertum, bei der Selbstverständlichkeit der Geldheirat u. ä. nur die vielfach allerdings recht unerfreulichen Tatsachen als solche sieht: sie sind nur Ausdrucksformen unter anderen einer Grundhaltung, die Gleichgewicht und Dauer verlangt.
Im übrigen rührt die französische Angst daher, daß der Franzose den psychologischen Typ des emotionellen Introvertierten verkörpert. Als solcher lebt er in zwei voneinander hermetisch abgeschlossenen Welten auf einmal, von denen die eine dem Freudschen Lustprinzip, die andere desselben Realitätsprinzip entspricht. Beatrice Hinkle schreibt darüber in ihrem Buch The recreating of the individual (Harcourt, Brace & Co., New York), das einige der besten Bemerkungen über die Psychologie der Völker Europas enthält, die ich je las: »Am französischen Realismus, der so erbarmungslos hart und intransigent und rücksichtslos die Tatsachen des Lebens als Tatsachen nimmt, haben wir ein Beispiel dessen, was die aufgezwungene Akzeptierung des Realitätsprinzips dem emotionellen Introvertierten bedeutet. Hier fehlt jede kindliche Selbsttäuschung; hier übertüncht nichts die nackte Wand der Tatsache, daß der Mensch ein egozentrisches, grausames Wesen ist, der Vernichter seiner Mitmenschen zum Besten persönlicher Macht, dem nichts heilig ist über sich selbst hinaus; denn hier ist das unerlöste Ich in seinem primitivsten Zustand am Werk. Das absolute Festhalten an System, Gesetz und Tradition, das Messen von allem und jedem am Maßstab der Nützlichkeit, die intellektuelle probité, das Fehlen jeder Sentimentalität, ja jedes Gefühls im Behandeln realer Interessen; die enge, beschränkte und starre Haltung der Wirklichkeit gegenüber, wo keine Vision, kein Traum, keine Phantasie im Dienst des Schönen und Guten je die harten Umrisse der Tatsachen zu umschleiern trachtet, die Tatsachen, wie sie wirklich sind oder wie man fürchtet, daß sie werden könnten, zeigen, was »Wirklichkeit« dem emotionellen Introvertierten bedeutet. Frankreichs Geschichte zeigt durchaus, und heute besonders deutlich, welche schmerzliche Anstrengungen ihre Meisterung erfordert und welch ungeheure Rolle die Angst im Leben spielt,« (S. 259.) Freilich hat der französische Charakter auch seine harte Seite. Sie kompensiert überall die douce France, das Land der Schönheit, der Klarheit und des Lebensgenusses. In ihrer abstoßenden Qualifizierung verkörpert sie in urbildhafter Klarheit Poincaré. Die französische Eigenart, in zwei hermetisch voneinander abgeschlossenen Welten zugleich zu leben, kann nicht umhin, sich in Form polarer Gegensätzlichkeit zu manifestieren. So ist der französische bourgeois extremer Artung in weit unangenehmerem Sinne Bürger, als der deutsche; er ist kein gutmütiger Philister, er ist der Privatier als kleinlicher und peinlicher Bürokrat. So ist der französische Bauer in seiner Nährigkeit hart wie eine alte Wurzel. So ist der leichtherzigste Franzose andererseits noch immer ein geizigerer Sparer als der besonnenste Deutsche. So kompensiert der Hang zur Schikane die Generosität, und Grausamkeit die ebenso echte Herzenshöflichkeit. Diese harte und oft häßliche Seite bildet gleichsam das Skelett des französischen Statismus. Dank ihr allein konnte sich Frankreich seit antiken Tagen so zäh in seiner traditionellen Eigenart behaupten. Eben dank ihr hält Frankreich unter allen Umständen »durch«, wie es dies im Weltkrieg wieder tat. Frankreich ist eben, als Garten, ein wesentlich abgeschlossenes Land. Kommt der Fremde als friedlicher, womöglich lernen wollender Besucher, so wird er freundlich, eingeführt. In jeder anderen Eigenschaft wird er ohne weiteres als Einbrecher behandelt.
Heute nun ist die Stellung Frankreichs als eines anerkannten Gartens um. Die Menschen haben anderes zu tun, als ihn zu schützen. Die Psychologie, des Gärtners begegnet immer geringerem Verständnis. Nichts ist in diesem Zusammenhang lehrreicher als die Stellung der übrigen Völker zum französischen Rechtsbegriff; Solange sie sich vom siegenden Deutschland mitgefährdet fühlten, verstanden alle die französische Auffassung vom droit, denn Frankreichs Sicherung war ihrer Auffassung nach ihrer aller Heil. Je weiter nun die Kriegsgefahr zurückliegt, desto weniger läßt irgendein anderes Volk französische Rechtsansprüche gelten. Denn diese beziehen sich durchaus auf Vergangenes; wo sich die ganze Welt, und damit auch der Sinn des Geschehenen, wandelt.
Die obigen Betrachtungen enthalten, soweit ich sehe, den Schlüssel zu allen Problemen, die das Nachkriegs-Frankreich sich selbst und anderen stellt. Auf das Aktuelle werden wir später ausführlicher zurückkommen. Aber einiges zu sagen ist schon jetzt der Ort. Kein Zweifel: solange die neu entstehende Welt im Werden ist, stellt sich die bloße Frage französischer Führerschaft nicht. Ebenso selbstverständlich, wie gemäß den Gesetzen der Symbolik der Geschichte in europäischen Vollendungszeiten Frankreich führen mußte, hat es keinen Führerberuf in Zeiten des Neubeginns. Wohl hat es oft scheinbar das Prinzip der Veränderung vertreten, doch war das eben immer nur Schein. Neue Ideen nimmt Frankreich, seiner Natur nach, genau nur insoweit auf – was immer seine einzelnen Söhne hervorbringen mögen, denn auch hier bewährt sich das Gesetz, dessen Schulbeispiel Jesus bietet, daß ein Volk typischerweise auch das seiner Art diametral Entgegengesetzte gebiert –, als sie sein bestehendes Gleichgewicht nicht zu sprengen, sondern zu erhalten dienen. Dies und nicht jenes war der Fall bei denen der Französischen Revolution. Bevor sie das Leben neuzugestalten unternahmen, war Frankreichs sozialer Zustand außer Gleichgewicht. Dank ihrer Rezeption und Realisierung hat sich gerade das alte Frankreich, das der Königszeit, in einer veränderten sozialen Umwelt weiterbehauptet. Nun könnte man meinen – zumal viele Franzosen meinen es –, heute lägen die Dinge nicht anders; Frankreich, könne, wie es dies ja offen, zumal mittels des Völkerbundes, betreibt, Europa noch einmal »restaurieren«. Doch diese Frage stellt sich vernünftigerweise nicht. Die Französische Revolution bedeutete ein Kapitel im Geschichtsbuch der alten Zeit. Mit dem Weltkrieg hat eine neue Ära begonnen. Nunmehr liegt alle Bedeutung bis auf weiteres bei den Völkern, denen nicht Statik, sondern Dynamik Element ist. Hat nicht schon die kurze Erfahrung der »Friedensjahre« bewiesen, daß dieser Umstand Frankreich notwendig ins Hintertreffen bringt? Sein Siegertum hat ihm genau nur so viel genützt, daß es sich halten kann. Katastrophen als solche bedingen eben nie entscheidende Richtungsänderungen im Völkerleben. Auf die Dauer gewinnt trotz allen Zufällen immer der den Vorsprung, dessen Anlage dem Zeitgeist entspricht. Deshalb hat sich kein Deutscher, welcher zählt, durch die Niederlage niedergeschlagen gefühlt (nur weil dem also ist, insistiert man jenseits des Rheins so sehr darauf, daß Deutschland den Krieg verlor). Deshalb arbeitet die Zeit unaufhaltsam, trotz aller Torheiten und Fehler der Deutschen selbst, für Deutschland, während sie ebenso unaufhaltsam, trotz alles Geschicks der Franzosen, gegen Frankreich arbeitet. Wohl mag dieses, dank seiner äußeren Machtstellung und glänzenden politisch-diplomatischen Ausrüstung, im Reich des Sichtbaren noch lange obenauf bleiben. Doch wie wenig das Äußere jetzt schon dem Inneren, das heißt dem letztlich Wirklichen, entspricht, lehrt jeder tiefere Blick in die tiefe französische Seele. Dort herrscht Enttäuschung, Verbitterung, verständnisloses Staunen. Wir haben doch gesiegt … Wir haben uns glänzend bewährt … Wir haben das Recht für uns … Wir vertreten die alte Kultur … Dies alles ist nicht etwa falsch, sondern wahr; nämlich vom französischen Standpunkt. Und wo Völker um ihr Leben, ringen, da gilt kein unparteiliches Recht. Aber der französische Standpunkt entscheidet historisch nicht mehr. Und darauf kommt alles an.
Doch Frankreichs Größe beruhte in Wahrheit zu keiner Zeit auf seiner äußeren Machtstellung, schon gar nicht auf materieller Expansion. Drang es über seine Grenzen hinaus, so war es immer nur ein kurzfristiges Aufkochen; sei es, daß der Connétable de Bourbon den Sacco di Roma vollführte oder Ludwig XIV. Pfalz und Heidelberg verwüstete oder Napoleon Europa besetzte oder Poincaré die Ruhr. Es war auch nie ein Kolonialvolk. Verlor es zufällig eroberte Gebiete nicht, so assimilierte es sie auch nie. Viel eher, als daß Afrika französisch würde, besteht die Möglichkeit, daß aus Frankreich und Afrika eine neue hybride Einheit würde, wie sie schon mindestens einmal, in der neolithischen Zeit, bestand. Paideumatisch gesprochen sind die Franzosen, in Frobenius' Sprache, kein Weiten- sondern ein Höhlenvolk. Frankreichs König war meist faktisch mächtiger als der deutsche Kaiser, doch dem Mittelalter war selbstverständlich, daß dieser jenem gegenüber das Prinzip der Weite vertrat. Gärtner sind eben der Natur der Dinge nach nur im heimischen Garten zu Hause. Wer die Franzosen nur einigermaßen kennt, weiß, daß sie außerhalb Frankreichs eigentlich lebensunfähig sind. Und die natürliche Anlage verstärkt die uralte Tradition. Seit altrömischen Tagen durchlebte Frankreich kein Unstetigkeitsmoment. Dort zerstörte die Völkerwanderung nichts Wesentliches. Die Franken begaben sich zu den Gallo-Romanen nur gleichsam in Pension. Und die feudale Ordnung erwuchs, dort recht eigentlich aus dem römischen Privatrecht: nachdem der römische Staatsapparat zerfiel, wurde das erhaltene ökonomische System zur Grundlage des neuen politischen (Fustel de Coulanges). Dementsprechend lebt außerordentlich viel von der Antike in den Seelen der Franzosen fort. Ihr ursprünglicher Moralbegriff – le moral – ist vorchristlich. Letzteres geht daraus besonders deutlich hervor, daß der Franzose dem als ihm zugehörig Anerkannten, sei er Landsmann, naturalisierter Fremder, Verbündeter oder Gastfreund (ξέωος), der treueste Freund und Gönner ist, doch sich dem Fremden (Barbaren) gegenüber mit bestem Gewissen in einem Grad unmenschlich erweisen kann, wie sonst kein Europäer. Und dies gilt nicht nur in politischem Zusammenhang: ich lag in meiner Pariser Periode einmal monatelang schwer krank im Hospital. Bevor sich französische Freunde meiner annahmen und damit eine moralische Naturalisierung schufen, erlebte ich einen Mangel an Humanität, den ich in Europa nicht für möglich gehalten hätte. Le moral bedeutet dem Franzosen ursprünglich eben nichts anderes wie Maß und Einklang, im Einzelnen wie in der Gemeinschaft, also richtig Haltung im Sinn des römischen Edlen. Eben, damit hängt andererseits zusammen, daß allein der Franzose heute, noch instinktiv den Einklang von Idee und Leben postuliert, daß er allein noch unter Modernen das Ethos der Freundschaft kennt. Und weiter: die lebendige Tradition der Provinz ist mittelalterlich. Ganz richtig bestimmte ein junger Dichter jüngst sein Land dem Geiste nach als un pays de petite noblesse. Alles Moderne in Frankreich bedeutet sonach nicht allein einen Bau auf uralten Mauern, sondern den Überbau eines sehr alten Gebäudes. Ja, das eigentliche Frankreich ist ein Mixtum compositum aus antiker Provinz und Mittelalterlichkeit. Sein verstehendster Beherrscher war insofern ohne Zweifel Heinrich IV., der dieser besonderen Verschränktheit von Frankreichs Struktur am besten Rechnung trug und nie irgendwie Weltherrschaft anstrebte. Zu solcher ist Frankreich ebensowenig berufen wie Deutschland. Alle seine imperialen Vorstöße endeten schlecht, weil sie Frankreichs tiefstem Willen nie entsprachen. Und seine imperiale Geste von heute wirkt unmittelbar komisch, weil die heute Regierenden und Bestimmenden allesamt ausgesprochene Provinzielle sind; die französische Revolution und erst recht die auf sie folgende bürgerliche Ära hat bewirkt, daß der Geist der antiken Provinz über den der mittelalterlichen Weitentradition das Übergewicht gewann. Ein biederer rheinischer Bauer rief einmal einem Marokkaner, den er nach etwas fragen wollte, mit hé, victorieux! an: nachdem er dieses Wort so viel vernommen, meinte er, es sei eine Rassenbezeichnung für schwarze Franzosen. Diese Komik greift sogar auf das geistige Gebiet hinüber, wo die Verhältnisse sonst ganz anders liegen. Verstehen Franzosen ihre magistrature, wo sie noch fortbesteht, so, daß sich die anderen Völker danach richteten, was sie als Menschen meinten und täten, so tritt auch darin ihr provinzieller Charakter zutage. Denn dieser Menschentypus ist ursprünglich einem kleinen Kreise angepaßt. Nicht anders ist auch ihre nationale Eitelkeit Provinzialismus. Mehr als irgendein anderer erinnert der französische Stolz auf Paris, in welcher Stadt allein zu leben möglich sei, und zwar für jedermann, psychologisch beurteilt, an den Stolz des wackeren Babbit (aus Sinclair Lewis' gleichnamigem Meisterroman) auf Zenith. Bei der Frau ist Eitelkeit gewiß ein reiner Vorzug, denn dank ihr ist sie allen gefällig. Schön-Sein heißt ja nichts anderes als für andere sein. So ist Eitelkeit überhaupt die Grundlage jedes angenehmen Privatverkehrs. Insofern ist die französische Eitelkeit an sich eine Nationaltugend. Doch diese hohe Tugend wird zum Laster, sobald sie über den intimen Kreis hinauswirkt. Deshalb sind echte Weltvölker nie eitel: sie spiegeln sich nicht, sie strahlen aus.
Nein, Frankreichs Größe beruhte nie auf seiner äußeren Machtstellung. Insofern ist es vom französischen Standpunkt unmittelbar tragisch, daß es seit 1918 eine Rolle spielen muß, die ihm so gar nicht liegt. Frankreichs Größe äußert sich dort allein, wo die intime Natur- und die ausstrahlende Geistesanlage eine harmonische Synthese eingehen können. Die nun ist nichts anderes, als was man Kultur heißt. Die französische Kultur allein, von allem Franzosentum, hat die Welt im Guten beherrscht. Sie nun beherrscht sie zum Teil noch heute. Damit wären wir denn bei der eigentlichen Bestimmung Frankreichs angelangt: die Franzosen sind das europäische Kulturvolk par excellence. Sie sind es, weil ihre matriarchalische Anlage, die Grundlage jeder wurzelhaften auf das Reale gerichteten Kultur, den Rahmen abgibt für einen einzigartigen Willen zur Form, durch eine einzigartige Sensibilität gespeist.
Kultur ist Lebensform als unmittelbarer Geistesausdruck. Berufen zu ihr ist als Schöpfer folglich nur ein Volk, das zugleich Geist und Formbegabung hat; ein gestaltungsfreudiges, insofern nach außen zugekehrtes, ein Volk des Wirklichkeitssinns. Tiefste Innerlichkeit an sich ist kulturell bedeutungslos: hier kommt alles auf das Formwerden an, denn die Ebene der Kultur ist ganz und gar die des Ausdrucks, gerade vom Geistesstandpunkt; ihr einziger Sinn liegt ja in dem, daß sie Geist im Erdenleben festhält, daß sie ihn der Zufälligkeit des Neueinfallens enthebt. Daß nun Frankreich im 18. Jahrhundert den Höchstausdruck der alten europäischen Kultur verkörperte, bestreitet niemand. Aber auch heute noch tut es dies. Und heute, wo die alte Kultur im Untergehen begriffen ist, bedeutet dieser Umstand mehr noch als vorher. Gewiß ist diese Kultur im großen nicht mehr neuschöpferisch. Das liegt in der Natur der Dinge. Mit der unseren steht es nicht anders wie mit der griechischen; diese brachte gerade wegen ihrer Vollendung im 5. und 4. Jahrhundert seither nichts wesentlich Neues mehr hervor. Aber in ihrer stationären Spätzeit schuf sie nicht allein viel köstliches Einzelnes: gerade diese Spätzeit, bis in die späte Hellenistik hinein, ist für die neue Ära bedeutsam geworden. Denn die feste, unabänderliche Norm, die sie verkörperte, allein ermöglichte es, daß das wuchernde Fleisch des Neuwerdenden sich zuletzt um das Skelett des Traditionellen schloß.
Diese Norm wurde von jeher von Eliten, nicht von Einzelnen gepflegt, denn Tradition ist niemals Sache des Einzelnen, sondern der Kollektivität. Damit fällt denn vom Standpunkt, den wir hier einnehmen, der Einwand, der gegen das heutige Frankreich oft erhoben wird, es produziere keine großen Persönlichkeiten mehr. Solche im deutschen und russischen Verstande bringen erstens überhaupt nur junge Völker hervor. Wo die allgemeine Kulturbasis sehr hoch ist, entwickelt sich selbst der höchstbegabte Einzelne sehr schwer zu einzigartiger Größe, weil auch das Außerordentliche sich einordnen kann und so zu hypertrophischer Entwicklung die Bedingungen fehlen; dort wirkt in deutschem Sinne groß nur der individuelle Barbar oder Exzentrik; so im modernen Frankreich als letzter wohl Balzac. Dann aber war Frankreich nie das Land überragender Einzelner. Erstens ist der französische Geist, wie wir sahen, wesentlich beschränkt. Dann aber war es, zur Betonung des großen Einzelnen in irgendeinem Sinn, von jeher zu sozial; es hatte von je zu große Angst vor Lächerlichkeit dafür. Alles Übernormale ist ja, äußerlich betrachtet, lächerlich, denn es verstößt gegen das Gesetz des Maßes. So lag denn Frankreichs Bedeutung von jeher im Niveau seiner Eliten als Gemeinschaften, nicht deren einzelner Vertreter, auch wo diese außerordentlich erschienen. Dies Niveau nun ist heute nicht niedriger als irgendwann. Und das eigentlich ist es, was Frankreich heute mehr als je vorher als das Kulturvolk Europas erscheinen läßt: repräsentative und autoritative Eliten gibt es sonst nirgends mehr.
Inwiefern dies der Fall ist, erhellt am besten aus einer Betrachtung der Bedeutung von Paris. Diese Stadt ist ein Phänomen. Vielleicht gab es zu Griechentagen Ähnliches, seither sicher nicht wieder; nein, auch zu Griechentagen gab es Gleiches nicht, weil ja Paris' Bedeutung gerade darauf beruht, daß es Weltstadt ist. Zunächst zu seiner Stellung innerhalb Frankreichs. Dieses Land ist im Laufe der Zeit zu einem insofern einzigartigen sozialen Organismus erwachsen, als es wirklich einen, und nur einen Kopf hat und die übrige Landschaft ausschließlich da zu sein scheint, ihn zu ernähren. Gewiß, die französische Provinz – nur in Frankreich, et pour cause, hat dieser antike Ausdruck noch Sinn – führt sehr ihr eigenes Leben, so sehr, daß heute der regionalistische Gedanke neu hochkommt. Aber sie hat die Vitalität des Magens, der Leber, des Beins. Fühlt sie sich eigenlebig, und sei dies auch so sehr wie die Bretagne, in der nicht einmal das Französische allgemein verstanden wird, so stellt sie doch nie die Frage, Paris zu stürzen; gerade die Wurzelechtheit und Kraft des Provinzlertums ist vielmehr die Gewähr für den Bestand von Paris. Paris nun ist Gehirn und Sonnengeflecht zugleich. Was irgend begabt ist, strebt und gelangt selbstverständlich hin. Und doch verlangt der »Sinn« wiederum, daß sich seine bestimmende Schicht in stetem Stoffwechsel immer wieder erneut hierarchisch gliedert. Denn Paris steht und fällt mit seiner rein qualitativen Einstellung; von dem Augenblicke an, wo es nicht aristokratisch empfände, wäre es erledigt. Insofern es dies nun aber tut, unterstellt es sich selbstverständlich zeitlosen Normen. Wenn man spricht, so muß man die Gesetze der Konversation, der öffentlichen Rede »überhaupt« beherrschen, und solche gibt es; der Maler muß Bestimmtes können; gewisse Exzentrizitäten sind ein für alle Male unerlaubt. Aber diese zeitlosen Normen präjudizieren doch jeweils nichts über das Konkrete, auf das sie Anwendung finden sollen: Beweis dessen ist, daß gerade Paris das Weltzentrum der Mode ist. Auch deren Wechsel folgt ja strengen Gesetzen; eben die werden in Paris am schnellsten und sichersten erfaßt. Vor allem aber muß jede Mode ihrerseits schön sein. Insofern nun gilt der Satz, daß über Geschmäcker nicht zu streiten sei, nicht: unter Voraussetzung bestimmter Gegebenheit gibt es absolut Gutes und absolut Schlechtes. Das Prinzip des Richters über zeitlosen Wert hat Paris, weiter, nun deshalb so einzigartig herausarbeiten können, weil der Franzose im übrigen so wechselfreudig ist, weshalb die Gefahr immer wieder vermieden werden konnte, die absolute Norm mit irgendeinem Inhalt ein für alle Male zu verknüpfen. Im übrigen kam sein Sinn für Klarheit dem gleichen zugute: ein Gedanke ist erst vollkommen ausgedrückt, sofern er klar ist, und nur vollkommen richtig, wofern er klare Fassung verträgt. Nicht anders steht es mit der Anmut und dem Takt. Insofern nun der Sinn für Qualität an sich in Paris so extrem herausgebildet ist, insofern Paris sich als Gerichtshof vollkommen sicher fühlt, kann es alles gelten lassen. Mir gestand es in meinen zwanziger Jahren nahezu die gleiche Stellung zu, die ich heute auf Grund von Leistungen einnehme, nur eben für die spezifische Form des Versprechens. Die Normen für die Erfüllung sind desto strenger. So nimmt Paris jedes Neue unbefangen auf und verfällt ihm dennoch nie. Man wittere hier keinen Widerspruch mit dem über die Beschränktheit des Franzosen und seine Unfähigkeit, Fremdes zu verstehen, Gesagte. Die Normen von Gut und Schlecht gelten für jedes Niveau. Wer Qualitätsbewußtsein überhaupt hat, bewährt es auch gegenüber Gegenständen, die er kaum versteht. Im übrigen bedarf es zum Richter- wie zum Königtum kaum der Originalität oder des persönlichen Verständnisses für solche. Im großen betrachtet, folgt das Menschenleben seit Adams Tagen den gleichen Normen. Das Menschengeschlecht ist überaus erfindungsarm. Die bloße Tatsache, daß Statistik die Erkenntnis und die Praxis fördert, beweist, daß auch beschränkter Verstand, wenn er das Leben nur aus normaler Perspektive sieht und genügende Erfahrung hat, dasselbe meistern kann. Dieselben Engländer, die gewaltige imperiale Leistungen vollbringen, denken persönlich fast immer nur ans Nächstliegende; von den Völkern, die sie so weise behandeln, haben sie meist keine Ahnung. Und daß ihre scheinbar so paradoxale Gepflogenheit, die Fähigkeit des Nachwuchses zu führender Betätigung jeder Art danach zu bemessen, wie er sich auf athletischem Gebiet bewährte, sich in der Praxis nicht ad absurdum führt, muß vollends als Beweis dessen gelten, wie wenig es, im ganzen, auf geistige Originalität ankommt, ja wie geringen Verstandes es zur Menschenführung bedarf. So hindert die physiologische Unfähigkeit, Fremdes zu verstehen, die Franzosen durchaus nicht, es im Zusammenhang des Lebens, gewiß nicht immer, aber doch sehr häufig, richtig zu beurteilen. Gesunder Menschenverstand und logische Schärfe bewähren sich eben überall. Klar Gedachtes ist überall klar, präzise Formel der ungenauen immer überlegen. Der bloße Ausdruck magistrature, den Frankreich für seinen kulturellen Vorherrschaftsanspruch verwendet, öffnet die Tür zum richtigen Verständnis: der Lehrer ist oft viel törichter als seine Schüler, und doch hat er recht und fördert er mit seiner Zensur. Paris nun handhabt sein Amt des Zensors dank seiner ästhetischen Einstellung, seiner ungeheuer reichen Erfahrung, seinem sicheren Geschmack, seiner logischen Sicherheit, der großen Distanz, aus der es alles Fremde betrachtet, und last not least aus dem Geist seiner traditionellen Courtoisie heraus mit einer bonne grâce, die auf Erden nicht ihresgleichen hat. Ist da ein Wunder, daß die meisten auf Qualität beruhenden Weltreputationen in Paris gemacht werden? Mag Paris noch so vieles nicht verstehen: wer sich in Paris bewährt, hat sich vor der Menschheit bewährt.
Von hier aus ermessen wir denn die Bedeutung der französischen Geistigkeit überhaupt, in der neu entstehenden Welt. Zugegeben: Frankreich hat heute keine Geister von vorwärtsweisender Bedeutung großen oder auch nur größeren Stils. Zugegeben: seine physiologische Unfähigkeit, Neues und Fremdes zu verstehen, läßt es heute im allgemeinen rückständig erscheinen. Auf Grund der Einsinnigkeit der Zeit und folglich der Tradition, wo diese bewußt gelebt wird, kann es nicht anders sein, als daß Frankreich heute seine Aufgabe in letzter Klärung und Differenzierung sieht. Daher, in seiner schönen Literatur, das hohe Repräsentantentum Prousts, der unzweifelhaft ein absolutes Ende bedeutet. So legt Frankreich, wo der Akzent der übrigen Welt immer mehr auf die irrationalen Mächte des Unbewußten zu ruhen kommt, den Nachdruck mehr als je früher auf Verstandesklarheit. Von hier aus können wir den Sinn der französischen Beschränktheit endgültig bestimmen. Der Franzose glaubt an »Definition«, wie Naturvölker an den Fetisch glauben. Aber man kann nur im französischen Sinne klar bestimmen, was man entweder schon weiß, oder was aus den gültigen Voraussetzungen heraus prinzipiell begreifbar ist. Soll wesentlich Neues verstanden werden, dann muß man sich einfach hingeben, bis daß sich die erforderlichen neuen Erkenntnisorgane bilden. Solcher Hingabe ist der typische Franzose physiologisch unfähig. Damit ist er aber auch unfähig, zuzulernen; er kann sich nicht innerlich wandeln. Daher die einzig dastehende Torheit der heutigen französischen Kritik allem dem gegenüber, was nur aus den Voraussetzungen der neuentstehenden Welt mit ihrer neuen Bewußtseinslage zu verstehen ist. Ebendeshalb wird in Frankreich oft Flachstes tief und Beschränktestes bedeutend gefunden, sofern es nur »Neblichtes«, d. h. in Wahrheit einfach Neues auf die Ebene des Bekannten zu heben scheint. Ebendeshalb kann Frankreich führen nur in Erfüllungszeiten, wo es Gegebenem die letzte Vollendung zu geben gilt. Jedes Bahnbrechertum hegt diesem Volke fern. Hier spricht wieder das Urkonservative des Franzosentums entscheidend mit. Aber Frankreich steht heute doch nicht allein. Es steht sogar weniger allein da als je früher. Es weiß auch genau, daß es nicht mehr die Macht hat, den Ton anzugeben, wo es nicht tatsächlich führt. So wird es bei seiner großen intellektuellen Rechtschaffenheit gewiß bald die Franzosen als seine wahren Führer anerkennen, welche die neue Zeit verstehen. Ist es aber so weit, und in Einzelfällen ist es schon so, dann wird das hohe französische Qualitätsbewußtsein bald wieder in seine Rechte treten. Dann werden die französischen Eliten sich wieder als der europäische Areopag erweisen, der über Qualität letztinstanzlich entscheidet.
Dies führt uns denn zu einer neuen Betrachtung des Punktes zurück, daß Frankreich allein heute noch die alte Kultur ungebrochen und undegeneriert verkörpert. Gewiß muß es viel Un-Französisches in sich bejahen und betonen, um sich in der neuentstehenden Welt zu halten. Seine Weltbedeutung jedoch beruht nach wie vor darauf, was es an Traditionellem erhält. Denn dieses Traditionelle verkörpert, in zeitlichem Gewände, ewige Werte. Damit gelangen wir denn zur Bestimmung dessen, wie Frankreich sich überhaupt in der neuen Welt einstellen muß und wie die anderen es sehen sollen – von solcher freien Sinngebung hängt ja alles Schicksal ab. Entscheidet sich das traditionelle Frankreich für die Poincarésche Einstellung, so ist es als europäischer Bedeutungsträger todgeweiht, weil es so dem Sinn der neuen Ära widerspricht; entscheiden sich die anderen dafür, es dauernd so zu sehen, gleichviel, wie es tatsächlich ist, so wird es gänzlich unfruchtbar für sie. Ganz anders hegen die Dinge, wenn Frankreichs Traditionalismus und seine Statik als integrierende Bestandteile der neuwerdenden Menschheit betrachtet werden; wenn also Frankreich nicht mehr grundsätzlich gegen das Neue ankämpft und die jungen Völker in ihm nicht mehr den Feind sehen, sondern beide den notwendigen Hemmschuh am zur Zeit wild dahinrasenden Gefährt der weißen Menschheit. Mit diesem Augenblick wird sich der todbringende Kampf erledigen. Mit diesem Augenblick wird fruchtbare Polarisierung aus ihm werden, eine Polarisierung, dank der das Junge sich auf die Dauer auf die alten Wurzeln beziehen und das Alte sich umgekehrt verjüngen kann. So können sich die beiden sich gegenseitig fordernden und bedingenden Pole Europas, der statische und dynamische, aneinander neu konstituieren. Allerdings erfordert diese Umstellung für Frankreich viel Selbstbescheidung. Sie setzt die Einsicht voraus, die ihm sein Sieg und dann das Ausbleiben der erwarteten Früchte des Sieges, ersterer psychologisch, letzteres moralisch, furchtbar erschweren, daß es auf absehbare Zeit auf Führung verzichten muß und nur Hemmschuh sein kann. Aber warum soll nicht auch Frankreich, das verwöhnteste aller Länder Europas, einmal resignieren? Es lerne von Spanien, das seit Philipp II. ständig geschlagen ward und doch nie sein stolzes Selbstbewußtsein verlor … Unter allen Umständen kann es so nur neu erblühen. Und es wird neu erblühen. Der wunderbare französische Sinn für Maß und Einklang wird ihm früh oder spät auch seine heutige reaktionäre Phase überwinden helfen.
Noch ein Wort zur Sonderart des französischen Geists. Die Franzosen sind keine philosophische, keine eigentlich politische, auch keine allgemein künstlerische, dafür aber die literarische Nation. Nirgends in der modernen Welt spielt die Literatur auch annähernd die Rolle. In Frankreich allein ist ja das Schrifttum gegen 700 Jahre alt. Die relativ wenigen anerkannten Schriftsteller leben rein für sich; aber jeder muß sie lesen; letztendlich bestimmen sie. Und hier findet jede Nuance Beachtung. Ich wunderte mich, wieso André Gide, doch ein im ganzen mittelmäßiger Geist, für die heutige Generation eine Bedeutung zu haben scheint, die über das spezifische Bedürfnis französischer Junger, ihren Vaterkomplex en donnant du cher maître abzureagieren, hinausgeht. Es wurde mir erwidert: er hat eine bestimmte Art der Erzählung und Problemstellung eingeführt, die es vorher nicht gab. Gleichsinnig beruht die unverhältnismäßig überragende Stellung eines anderen, den ich von jeher als wenig bedeutsam kannte, darauf, daß er als Causeur bis dahin unbekannte Nuancen gefunden hatte. In diesem Miniatur-Verstande erkennt kein Volk besser Originalität, wie das französische. Von eben hieraus wird aber andererseits verständlich, warum keinem Volk der Sinn für echte Originalität mehr fehlt. Balzac z. B., zu dem sich alle anderen französischen Geister vom 18. Jahrhundert bis heute wenig anders verhalten, wie Marienkäfer zu einem Kontinent, wird in seiner Heimat kaum überhaupt gewürdigt. Er hätte keinen Stil … als ob irgendein ganz Großer, heiße er Cervantes, Dostojewsky oder Goethe je in dem Sinn Form gehabt hätte, wie ein Théophile Gautier. Miniaturisten und Götter unterstehen nicht gleichen Gesetzen. Wahre Originalität beruht nie auf erscheinungsmäßig Neuem, sei es hinsichtlich des Inhalts oder der Form, sondern in der Belebung der Erscheinung, sei diese im übrigen bekannt oder unbekannt, von neuer Sinnestiefe her Vgl. meine Deduktion des wahren Originalitätsbegriffs im Kapitel »Was wir wollen« der Schöpferischen Erkenntnis.. Dementsprechend war kein wesentlich bedeutender Mensch je im französischen Sinne originell. Umgekehrt hat der französische Geist seltener als irgendeiner wesenhaft Neues hervorgebracht. Wohl ist er erfinderisch, doch immer nur von unwandelbaren Voraussetzungen her; sein bester Geist ist der einer finishing school. – Doch zurück zum besonderen Gegenstande dieses Absatzes. In Frankreich ist Literatur Selbstzweck. An sich ist dies für Frankreich kein Glück: Auffassungen, wie sie Ramon Fernandez und José Ortega vertreten, der Geist müsse ohnmächtig und weltverächterisch in eigener Sphäre verweilen, sind verjährt; sie sind der letzte Ausdruck des sterbenden ursprünglich christlichen Lebensgefühls (mein Reich ist nicht von dieser Welt). Die neue Ära verlangt durchaus die Neueinstellung des Tiefsten auf die Wirklichkeit, so wie die Schule der Weisheit dies vertritt. So ist es an sich kein Ehrentitel für Frankreich, daß dort aller Wert auf die Irrealisierungsfläche der Literatur hinausprojiziert erscheint. Sie hindert die Franzosen ebenso sehr, das Gegenständliche am Geist, soweit es neu ist, zu verstehen, wie gleiches die Manie, allen Geist auf die Fläche der Theorie herauszustellen, im Fall der Deutschen tut. Aber daß es irgendwo eine rein literarische Nation gibt, ist für die anderen wiederum ein Glück. Letztendlich entscheidet auf Erden überall die Form. Sie erst macht dessen geistigen Inhalt wirklich, weil dem Erdgesetz gemäß. Jesus wurde nicht zum Heiland, weil er ein himmlischer Geist war – die himmlischen Herrscher an sich sind hienieden besonders machtlos –, sondern weil der Geist in ihm Wort und das Wort Fleisch ward. In der chaotischen Zwischenzeit, die wir durchleben, ist nun das mit Frankreich aus der alten Kultur herübergerettete Sinnbild der Form von unabsehbarer Bedeutung. Und als Verkörperer und Träger dieses Sinnbildes wird auch Frankreich selbst am schnellsten den Weg zur neuen Substanz finden. Zwar mag es lange dauern. Doch ist es einmal so weit, dann wird es für die neuen Probleme der neuen Welt ebenso sicher die glücklichen Endformulierungen finden, wie es dies für die der alten tat.
Doch ich kann nicht schließen, ohne ein ganz anderes Problem behandelt zu haben, auf dessen Dasein vielleicht Frankreichs größte Zukunftsmöglichkeit beruht. Die neue Welt läuft nämlich eine Gefahr, über die sich die wenigsten klar zu sein scheinen – sonst lebten sie nicht so leicht dahin. Diese Gefahr ist, daß die Liebe auf Erde aussterben könnte. In den meisten Ländern werden die Frauen allgemach zu Amazonen. Daß dies so kommen würde, war vorauszusehen. Der »männliche Protest« der Frauenrechtlerinnen leitete nichts Unerhörtes ein: er zielte einfach auf die Restauration jenes matriarchalischen Zustandes hin, der überall wohl der ursprüngliche war und insofern der naturgemäßere ist, als der Mann als Geschlechtswesen von Hause aus viel mehr vom Weibe abhängt, als das Weib von ihm. Deshalb greift männliche Hörigkeit überall dort selbstverständlich Platz, wo der Mann nicht zwingen kann und das Weib nicht will. Ebendeshalb griff dieser von Hause aus, wo keine Sitte dem entgegenstand, zum Mittel äußerer Knechtung der Frau. Daß jeder Selbständigkeitsgewinn dieser den Mann unverhältnismäßig viel unselbständiger machen mußte, bewies zuerst Amerika. Dort erscheint der Ehemann heute genau so unterdrückt, wie im alten Orient die Gattin, und auch entsprechende psychologische Rückbildungen treten immer mehr hervor. Heute nun, wo die Frauenbewegung gesiegt hat, ist der matriarchalische Zustand in den Sitten (wenn auch gewiß noch nicht in den Gesetzen, und Gott schütze uns Männer davor!) der Kreise des ganzen Westens, wo die selbständigen jungen Frauen vom Zeitgeist ergriffen sind, in zeitgemäßer Umdeutung so gut wie wiederhergestellt. Und damit atrophieren unaufhaltsam alle die Eigenschaften, welche die Frau als Liebewesen definieren. Amazone bedeutet wörtlich »brustlos«. Die Gefühls- und Hingabefähigkeit nimmt ab. Wirkt die Amerikanerin typischerweise kalt, hart und seelenlos, so liegt dies daran. Jede Amazone war von jeher zynisch. Sobald das Zentrum aus der Gefühlssphäre fort verlegt wird, wirkt die Frau viel nüchterner und positivistischer als der nüchternste Mann. Daher die von Judge Lindsay ausgeplauderte Auffassung der amerikanischen jungen Mädchen jüngster Fabrikmarke, daß der Geschlechtsakt nichts mehr sei als eine biologische Funktion, ohne jede seelische Bedeutung. So zynisch denkt kein Mann, denn liebt er so, so frönt er dabei bewußt dem Laster, und die polare Entsprechung seelischer Liebe bleibt bestehen. Der Bubikopf, die veränderte Figur, das Brillentragen, die Zerstörung allen Liebreizes durch Wind, Wetter und Sonnenbrand und die Sportgewaltigkeit sind die äußerlichsten Zeichen dieser Veränderung der weiblichen Struktur. Wichtiger vom Standpunkt der Typenbildung ist die veränderte Gesinnung. Das Weib kennt instinktmäßig von Hause aus, außer als Mutter, nicht Sittlichkeit, sondern nur Sitte. In Babylon gaben sich die edelsten Jungfrauen des Landes an bestimmten Festtagen selbstverständlich dem fremden Manne hin. Nur dann freilich; sonst hätten sie's verabscheuungswürdig gefunden. Aber ebenso »unmöglich« wäre es ihnen erschienen, an den heiligen Tagen spröde zu tun. Hier liegt die Ursache dessen, weshalb keine Frau der Vorkriegszeit sich der Decolletage schämte und heute keine der jüngsten Nacktkultur. Scham »an sich« kennt die Frau nicht; ihr entscheidendes Motiv liegt in der Sitte. Heute nun ist die Liebe als solche in Europa offenbar »unmodern« geworden; sie konnte es werden, weil sie in ihrem seelischen Verstand ein Kunstprodukt ist, durch geistige Motive erschaffen, die nicht immer wirksam waren. Als die Distanz aufhörte, die das Mädchen zur Idealisierung des Mannes anregte, als sie sein Kamerad wurde und sich in physischer Übung mit ihm maß, als Sitte sie nicht mehr zwang, auf die Gefühlskultur ihr ganzes Sinnen und Trachten zu konzentrieren, gewann das Motiv des inneren Freiwerdens vom Mann, der sie so lange geknechtet hatte, immer mehr die Oberhand. Das freilich aus ganz anderer Wurzel erwachsene Beispiel Amerika steigerte seine Macht. Und nun gab die Tatsache, daß die Frau als Naturwesen vom Manne unabhängiger ist als umgekehrt, den Ausschlag. Nunmehr soll einfach keine Liebe sein. Die modernste Weltdame verkehrt mit den Männern von gleich zu gleich. Was immer im Einzelfall geschehen mag: nie war eine Zeit unerotischer als die unsere. Die vom Standpunkte der alten Generationen »unanständigsten« Tänze sind in Wahrheit nur eine sehr unschuldige Art, den immerhin vorhandenen Geschlechtstrieb abzureagieren. Wo dieser dazu zu stark ist, dort äußert er sich beinahe normalerweise in der Perversion. Da Liebe zwischen Mann und Frau nicht fashionable ist, so haben erotische Männer Freunde und Frauen Freundinnen.
Die lebendige Sitte von früher ist also nicht mehr. Was noch so scheint, ist entweder fortwirkende Routine oder von fernher übernommene Konvention, wie denn allein noch südamerikanische Mädchen vielfach an behütete Jungfrauen meiner Jugendzeit erinnern. Die neuentstehende Sitte ist die eines bestimmenden Amazonentums. Zunächst schlägt dieses gelegentlich, wie es nicht anders sein kann, grotesk über die Stränge. In St. Moritz beobachtete ich einmal eine Amerikanerin mit richtigem Tigergesicht, deren Spezialität sein sollte, Männer gefährlich zu beißen; sie tanzte auch, nachdem sie sich nur zwei Tage vorher ein Bein gebrochen hatte. Ihr Prestige war groß. Eine andere Weltdame brüstete sich, in der letzten Saison ganze fünf Glieder gebrochen zu haben. Was aber die traditionelle Kulturschicht Europas betrifft, so erlebte man es, daß Frauen, deren ganze Geschichte verlangen sollte, daß sie, was immer sie taten, sich in Haltung auslebten, nun die alte Sitte tot ist, sich als reine Naturwesen gerierten, als Urmenschen, wie solche jenseits des Wassers nicht ihresgleichen finden. Dies galt sogar von vornehmen Engländerinnen. Aber bei denen hat das marktweibartige Tanzen allerdings einen besonderen Sinn. Schon vor dem Kriege pflegten sie sich in geschlossenem Kreis bacchantenhaft zu benehmen. Das war im selben Sinne eine Reaktion auf die sonst gebotene und geübte Reserve, wie das Kissenwerfen, dem Fürstlichkeiten typischerweise frönen. Heute nun toben sie sich öffentlich scheinbar ganz schamlos aus. Das hindert aber nicht, daß sie außerhalb der Stunden sittegewollten Sichgehenlassens von allen Frauen noch am meisten Haltung haben.
Doch Haltung hin, Haltung her: die Liebe liegt im Sterben. Nicht nur in Sowjet-Rußland ist alle Sentimentalität verpönt: auch in West-Europa sterben die Gefühle. Allenfalls Männer noch sieht man in fashionablen sets diesem Atavismus frönen. Aber wenn die Frauen sich einerseits mimikryartig anpassen, – sicher gingen Bubikopf und Brustlosigkeit zuerst darauf zurück, daß sich die Männer im Kriege der Frauengesellschaft entwöhnt hatten und nun Ephebenhaftigkeit das sicherste Reizmittel war – so erfolgt rückläufig unter Umständen auch das Gegenteil. Die heutigen jungen Leute wären sicher nicht so häufig von Hause aus unerotisch und impotent, wenn nicht in den Hintergründen der Natur, im Jenseits alles Wollens, aller Sitte, eine Umlagerung der Pole stattfände. Diese Verschiebung des Lebensbildes sieht man allenthalben vor sich gehen. Nur in einem Lande nicht, in Frankreich.
Heute ist Frankreich der vielleicht letzte Hort der Liebe. Dort spielt diese noch genau dieselbe Rolle wie von je. So werden wohl die, welche noch zu lieben fähig sind, immer mehr dorthin pilgern. Dort herrscht die Liebe, in der Tat, noch so absolut, daß sogar jedes Verständnis für die oben skizzierten neuen Tatbestände fehlt. Wie ich in Paris die Rede auf sie brachte, lachte ein schöner Seeoffizier laut auf: das ist alles nordische Schwäche! Wie wir nach Kopenhagen und Oslo kamen, da mußte uns Mittelländern verboten werden, an Land zu gehen … Ich erwiderte: Das höre ich gern. Aber gibt es noch genügend Mittelländer, um die Liebe zu retten? – Hier steht es mit dem so gefeierten nordischen Menschen in der Tat nicht gut. Eine Autorität auf diesem Gebiet, L. F. Clauß, der Abgott der Völkischen, schreibt in Rasse und Seele (J. F. Lehmanns Verlag): »Für den nordischen Menschen wird selbst der Geschlechtsakt zu einer Art von Leistung. Er verliert auch da nie völlig seine Sachlichkeit. Hiervon ist der Mittelländer frei: er liebt und begehrt und begattet sich als ein Meister des Spiels« (S. 87). Und weiter (S. 56): »Der nordische Jüngling vermag es, ganze Stunden lang an einer Straßenkreuzung zu warten, dort, wo er den Wechsel eines heimlich geliebten Mädchens aufgespürt hat und schwört sich, sie nun diesmal wirklich anzureden und ihr seine Liebe zu sagen. Aber dann, sobald er die Ahnungslose endlich kommen sieht, verbirgt er sich rasch am Weg: dort ist er ungestört und sieht sie vorübergehen. Er verzagt am Abstand und flüchtet sich in die Welt seiner Träume, dort aber feiert er ungestört sein Fest.« Ist es da nicht verwunderlich, daß die Frauen überhaupt noch mit Nordländern zu tun haben wollen? Ist es nicht reine Selbsterhaltung, wenn sie eine liebelose Welt aufzubauen trachten?
Eins ist jedenfalls gewiß: zu der Liebe bedarf es genau so des Talentes wie zu allen Dingen. Ganze Völker sind unerotisch. Eine ungeheure Anzahl von Einzelnen beider Geschlechter ist es in jedem Volk. Spanier und Italiener kennen im allgemeinen nur Leidenschaft. Die meisten Deutschen verschwimmen, wo sie nicht roh sind, in wertherhafter Sentimentalität. Der Engländer ist mehr als häufig frigid; nirgends in der Welt gibt es so viele mariages blancs wie im Inselreich. Im russischen Leben spielt die Liebe eine minimale Rolle; dort wurde neuerdings wissenschaftlich festgestellt, sie sei eine Erfindung, des Kapitalismus, kein natürlicher Trieb, sondern eine ideologische Konstruktion, die mit dem Kapitalismus von selbst vergehen werde; indessen müsse eine »Liga gegen die Liebe« gegründet werden. Im ganzen Osten gilt die Liebe so wenig, daß eine Zentrierung des Lebens auf sie, wie in modern-europäischen Romanen, vollkommen unverständlich wirkt. Das hindert aber nicht, daß die Frauen überall auf Erden wesentlich Liebewesen sind; nichts liegt ihnen ursprünglich ferner, als jene Pose der allenfalls »freundlich gewährenden«, in welche männlicher »Idealismus« sie hineingezwungen hat. Wie Eva Adam verführte und nicht umgekehrt, so war es von je und so wird es immer sein; es ist allerschlaueste Weiberlist, daß der Augenschein so oft das Gegenteil beweist. Nur sind die meisten Männer zu dumm, um sinngemäß mitzuspielen. Daher die unwillkürliche Monopolstellung der wenigen, die jeweils, so oder anders, dem Don-Juan-Typus zugravitieren. Ich kannte einen deutschen Dichter, der sich in vorgerückten Jahren damit vergnügte, mit Mädchen allerbester Kreise den Pietro Aretino zu spielen: so konkurrenzlos war er, daß er nicht nur in seiner Residenz förmlich belagert war, sondern daß ihm die Fama in alle Weltstädte voranlief, so daß er jedesmal nur zuzugreifen brauchte. So weiß ich wieder von einem Russen, dessen erotische Ansteckungskraft so groß war, daß er in Venedig einmal eine phantastisch klingende Wette gewann: er hatte gewettet, daß, wenn er in beliebige ihm unbekannte Häuser ginge, er in einem mir nicht mehr erinnerlichen, jedoch sehr hohen Prozentsatz von Fällen nicht mehr als eine halbe Stunde benötigen würde, um die Frau zu gewinnen. Bei der Kunst der Liebe handelt es sich allerdings, wie bei jeder Kunst, um ein besonderes Können: um ein selbstverständliches Zusammenschwingen von Körper, Seele und Geist. Dieses Zusammenschwingen macht die Liebe, wie sie die Frauen meinen und jeder Mann sie für seine Person ersehnt. So ist Frankreichs Liebeskult denn mehr als eine Weltanschauungsfrage: er beruht auf Begabung, Begnadung. Er ist der Ausdruck vorbildlichen Könnens. Sinnenfeindschaft beweist, wo nicht moralische Häßlichkeit, nie Besseres als Impotenz. Denn der Heilige transponiert und sublimiert nur eine von Hause aus starke Liebesanlage. Nie noch ward ein Unsinnlicher heilig. Möchte denn Frankreich zum mindesten in dieser einen Hinsicht für ewig das alte bleiben.