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Kein Nicht-Spanier, der über Spanien schreibt, macht es dessen Eingeborenen recht. Das ist, weil das anderenorts näher behandelte Verhältnis, daß die Frage, was ein Volk für sich, für andere Völker und für Gott bedeutet, grundsätzlich drei verschiedene Antworten erheischt, die auf einen Nenner zu bringen nie gelingen kann, im Falle Spaniens am krassesten in die Erscheinung tritt. Jeder Fremde sieht Spanien notwendig anders, als es der Spanier tut, während gleiches anderwärts in geringerem Grade gilt. So werden die Spanier auch das, was ich zu sagen habe, kaum als gültig anerkennen. Aber ich kann nur herausstellen, was ich sah und was als Frucht des Gesehenen in mir weiterlebt.
Zunächst der Gesamteindruck, wie er in mir, unmittelbar nach meiner Spanien-Fahrt, Gestalt gewann. »Für sich« gehört Spanien nicht zu Europa, sondern zu Afrika. Wer von Frankreich aus die Pyrenäen überschreitet, gelangt aus Gartenland recht eigentlich in die Wüste. Was drüben nicht Wüste ist, ist Steppe oder Oase. In Madrid mußte ich immer wieder an Karakorum denken, das Tusculum von Dschengis-Khan: die königliche Stadt umgibt eine Landschaft von zentralasiatischer Herbheit, Großartigkeit und Weite. Jener strenge Himmel mit seinen pyramidenartigen Wolken, jene bräunliche Steppe mit ihren wie zersprengten spärlichen Bäumen, jene rauhen schneeigen Sierras, die das Ganze einrahmen, ergeben ein Gesamtbild erhabener Oede, wie es nur die Wüstenlandschaft bietet. Absichtlich schreibe ich das extreme Wort Wüste zur ersten Charakteristik von ganz Spanien nieder, um die Gedanken von Hause aus aufs Wesentliche zu lenken; buchstäblich paßt es allenfalls auf Castilien. Aber Castilien ist Spanien. Castiliens Geist bestimmt. Was nun die castilianische Landschaft kennzeichnet, ist das Kosmische, Gestirnhafte im Unterschied vom Irdischen; das Übergewicht des Planetarischen gegenüber dem Lebendigen, dessen Dasein ja, aus astronomischem Blickpunkt betrachtet, nur eine Anekdote bedeutet.
Das gleiche Übergewicht ist es, was alles Afrikanische auszeichnet. Es kennzeichnet alle afrikanische Landschaft, alle afrikanische Kultur. Und seit Urzeiten gehört Spanien dem afrikanischen Kulturkreis an. Seine Kultur ist ein Sonderausdruck des gleichen uralten und urstarken Geists, der schon die vorägyptischen Kulturvölker beseelte und sich auf arabisch oder berberisch nicht minder echt ausdrückte, wie auf spanisch. Er ist wirklich uralt: wer die Kochkunst der Steinzeit kennenlernen will, begebe sich heute unter die Hirten der spanischen Sierras. Weil er uralt ist, deshalb allein kann das uralte Baskenvolk für Spanien immer erneut repräsentativ werden; galt dies einstmals von Ignatius von Loyola, so gilt es heute von Miguel de Unamuno. Er ist andererseits aber auch urkultiviert: unter wurzelechten Spaniern gibt es keine Proleten. Aber dieser Geist ist eben wesentlich nicht europäisch, sondern afrikanisch und deshalb vom Beduinen her, für uns, am leichtesten zu verstehen. Der hat sich, indem er sich Jahrtausende entlang in der Wüste aufhielt und sie bezwang, andererseits ihrem Bild entsprechend selbst erschaffen. Er ist herb und ernst und willensmächtig und elementar. Im Extremfall ist er fanatisch wie der Wüstensturm. Wann trat der Spanier, als historische Größe, je anders auf? Denn der historisch bedeutsame Spanier war immer allein der Castilianer oder doch der, der beliebigen Bluts, ob Baske (Ignatius, Unamuno), Andalusier (Primo de Rivera), Catalaunier (Columbus) oder Deutscher (Philipp II.) wiedergeboren ward in dessen lebendigem Geist. In der besonderen Düsternis des letztgenannten Mannes, der mit dem Escorial das nächst den Schädelpyramiden Tamerlans überzeugendste Denkmal des kosmisch verstandenen Todes schuf, sehe ich den stärksten Beweis der elementaren Kraft der castilianischen Landschaft: sie ließ eine von Hause aus wahrscheinlich zu zarte Seele zur Wüste eindorren.
Und nun weiter: der herbe und ernste Wüstenbewohner muß andererseits irgendwie phantastisch sein. Jeder Wüstenbewohner ist von Hause aus donquichotesk. Das heißt, sein Leben bedeutet ein Sichdurchsetzen des Winzigen und in seiner Winzigkeit Eigenwilligen und insofern Lächerlichen gegenüber der kosmisch gefügten Unermeßlichkeit. Aber lächerlich erscheint dies Sichdurchsetzen nur dem Außenstehenden; für spanische Augen fehlt der Gestalt des Don Quixote jede Komik. Ihnen erscheint er, im Gegenteil, als höchstes Menschen-Sinnbild, und dies in weit höherem Grade als den Deutschen Goethe. Was waren denn alle repräsentativen Taten der Spanier anderes als Donquichotiaden, vom Cid über die Conquistadores – Cortez verbrannte seine Schiffe, Pizarro zog mit einem winzigen Fähnlein nach Peru – über das geistige Conquistadorentum des Heiligen Ignatius bis zum Einzelkampf Miguel de Unamunos, den nur ganz wenige dort als repräsentativ anerkennen, gegen Spaniens heutigen Zustand? So ist auch jeder Spanier einzeln und einsam, wie Don Quixote; so muß sich jeder fühlen in der Wüste. Er ist vereinzelt, obgleich er sich, wie jeder Mittelmeerländer, in erster Instanz vom Standpunkt des anderen sieht und deshalb den Gemeinschaftsforderungen, im Gegensatz zum introvertierten Deutschen, immer gewachsen bleibt. Der Spanier weiß, daß er allein sein Leben lebt, daß ihm im letzten niemand helfen kann. Daher seine Kultur des Mannestums, der Manneswürde, im Extremfall die Sucht, über Männer (nicht Frauen, nicht Sachen!) zu herrschen. Daher sein besonderer Ehrbegriff: der spanische honor beruht auf rein subjektiver Leidenschaft, dem Pathos des Einzigen. Als auf sich selbst gestellter Mann hat und verlangt der Spanier auch kein Mitleid. Er will ganz er selbst sein, auf eigenen Füßen stehen. So versteht er den Begriff der Gerechtigkeit im westlichen Sinne schwer, erscheint ihm die Selbsthilfe als einzig sinngemäß und menschenwürdig. Der unparteiische Richter, welcher kalten Bluts einen ihn nichts angehenden Menschen verurteilt, muß ihm dem Mörder gegenüber minderwertig dünken. Immer wieder ersteht vor meinem inneren Auge jener Carton von Goya, auf dem zwei Duellanten bis über die Knie eingegraben dicht voreinander stehen, so daß keiner dem anderen entrinnen kann, und die Erzählung, daß heute noch in Aragon Duelle stattfinden, wo sich die Gegner mit der Linken unlöslich verschlungen halten, mit der Rechten das Messer führend … Persönlicher Mut ist dem Wüstenbewohner alles. Abstrakte Gerechtigkeit kann solcher Mentalität nur dort verständlich werden, wo sie als Ausdruck des Inquisitionsgedankens in die Erscheinung tritt. Hier setzt sich eben persönlich-leidenschaftlicher Lebens- und Herrschaftswille durch. Nichts war je in Spanien populärer als die Inquisition; jede Gerechtigkeitsbewegung endet dort zwangsläufig inquisitorisch.
Der Wüstenbewohner ist herb und zugleich phantastisch. Vor allem aber ist er lebenshungrig, denn die tote Wüste schreit recht eigentlich nach Leben. Aber dieses Lebensgefühl ist durch und durch realistisch. Von keiner ätherischen Seele träumt er, er weiß sich von Fleisch und Blut. Nie werde ich's vergessen, wie Unamuno mir, um das Fortleben des Vaters in den Kindern zu beweisen, schilderte, wie sein Sohn einmal stundenlang auf dem Marmortisch eines Cafés hinkritzelte: soy de carne, soy de carne (ich bin aus Fleisch) – genau wie er selbst. Das Fleischsein, nicht das Geistsein ist dem Spanier Urgefühl. Daher das eigentümlich Praktische, ja terre-à-terre-hafte sogar der spanischen Phantastik. Das Urbild von Schillers Ritter Delorge warf der Dame den aus dem Löwenzwinger geholten Handschuh ins Gesicht, weil sie wohlgeborene Menschen unnötiger Lebensgefahr aussetzte. Und weiter: Der Wüstenbewohner ist sich der Tragik des Lebens an erster Stelle bewußt. So stellen die besten spanischen Christusbilder den Heiland agonisierend dar. Mit dem Leben bejaht der Spanier auch den Tod, mit dem Leben liebt er zugleich das Blut, sein unmittelbarstes Sinnbild. Daher die Unausrottbarkeit des Stierkampfs. Mannesmut und Blutlust leben sich in ihm aus – nicht aber Grausamkeit. Grausam ist der Spanier gar nicht; das sind nur kleinliche Leute. Blutfreude, ja Blutdurst grausam zu heißen, beweist nie Besseres als moralische und physische Feigheit, denn wer das Leben wirklich bejaht, muß auch den Tod bejahen und mit dem Tod, in einer Welt der Freiheit, auch das Töten. Sobald keine Leidenschaft im Spiele ist, erscheint der Spanier sogar extrem human. Es gibt keine menschlicheren Gefängnisse als die von Spanien. Eben weil das Volk seine Blutlust in der Corrida abreagiert, ist es andererseits menschlicher als die Völker, die sich ihre Freude am Blut nicht eingestehen – genau wie Chirurgen und Krankenschwestern typischerweise besonders freudig und freundlich sind. Im gleichen Sinn ist Spanien ganz und gar nicht militaristisch: wo Mut und Blutfreude auf das Individuum hin allein als wertvoll gelten, so aber unbedingt, da bedarf es keiner Rückversicherung in mechanischer Organisation. So wären die Spanier, falls sich die Frage sinnvoll stellte, vermutlich leichter für staatliche Abrüstung zu haben als die Deutschen. Wo nun der Wille zum Leben also suprem ist, da übersteigert er sich. Im leeren Raum der Unermeßlichkeit der Wüste erwächst ein frenetisches Streben nach persönlicher Unsterblichkeit, nach Unsterblichkeit mit Haut und Haaren. Hier liegt die Wurzel der islamischen Unsterblichkeitsgewißheit, in einem oasenhaft schönen Paradies; hier die von Unamunos besonderer Lehre, deren Urquell die Revolte gegen das Sterben ist; hier die der Idee der Gruft des Escorial, wo Sarg auf Sarg noch ungeborener Könige harrt. Und nebenbei bemerkt: nur insofern er den Geist in fleischlicher Verkörperung allein als wirklich anerkennt, nur insofern ist der Spanier wesentlich katholisch. Heute ist er's in dogmatischem Verstand, denn das katholische Dogma hat ihn zu dem gebildet, was er heute ist. Doch verleugnete er einmal sein Christentum – katholisch im Gegensatz zum Nicht-Katholiken würde er bleiben.
Ja, der Spanier weiß nur vom fleischgewordenen Wort. Ebendaher seine asketischen Züge. Wo der Geist primär als fleischgeworden erlebt wird, dort kann auch das Fleisch nie geistfrei empfunden werden noch wirken. So erwachen nicht allein die Sinne der Spanierin in der Regel nur, wo sie seelisch liebt, auch spanische Männer, so ungeheuerlich sie zoten, leben praktisch öfter als irgendwo sonst gemäß weiblichem Keuschheitsideal. Daher die wunderbare Durchseeltheit jedes spanischen Körpers, bei noch so großer Ungeistigkeit und Armut an Erleben. Ebendaher denn, im Extremfall, jener Entwirklichungstrieb, der den Spanier von neuer, sehr realistischer Wurzel her, auf andere als die bisher betrachtete Weise dem Araber nahebringt. Die in der Wirklichkeit selten vollkommene Einheit von Fleisch und Geist muß, bei vorhandenem tragischen Lebensgefühl, im Bewußtsein immer erneut zu extremer Spaltung führen. So ist jeder Spanier zugleich Don Quixote und Sancho Pansa. Extreme Realisierung und extreme Irrealisierung sind die zwei Pole, zwischen denen sich sein Leben und Erleben immer erneut bewegt. Wobei jeder Traum sofort zu fleischhafter Wirklichkeit gerinnt und jede Wirklichkeit doch wiederum erdüberlegenen Geist verkörpert. Sancho Pansa ist, vom Deutschen her beurteilt, weniger Bauer als Ironiker.
Was ich bisher schrieb, ist unmittelbarer Ausdruck dessen, was der unmittelbare Eindruck in mir, als Vision, entstehen ließ. Für das spanische Wesen dürfte er gültig sein. Moderne Spanier werden mir daraufhin vorhalten, ich hätte vom alten Spanien gehandelt, nicht vom modernen. Aber das ist es eben, was jeden Nicht-Spanier an Spanien am meisten beeindruckt, daß das Alte in einzigartiger Kraft im jeweils Neuen fortlebt. Denn Substanz, als zeitlos wirksame Macht, läßt den, der sie schaut, im Augenblicke immerdar die ganze Kontinuität der Zeit mit schauen, und Vergangenheit ist immer länger als Gegenwart. Hier komme man mir ja nicht mit Detailbegründungen wie denen, daß Spanien noch mittelalterlich sei, Renaissance und Reformation nicht erlebt habe: insofern ist es auch noch antik, auch noch prähistorisch – ja könnte es sogar noch futuristisch sein … Die Wahrheit ist, daß die psychische Atmosphäre Spaniens wie die keines anderen Landes unseres Kontinents von der Ursubstanz her ihren Charakter erhält. Diese wirkt sich in jedem Empfänglichen als erste aus.
Aber freilich ist auch bedeutsam, inwiefern Spanien heute anders erscheint, als es einmal war. Eine kurze Umstimmung des Grundthemas vom Tragischen auf das Komische, sein Korrelat, hin dürfte am schnellsten zeigen, wie hier die Dinge liegen. Einen spanischen Diktator stellt sich der voreingenommene Fremde selbstverständlich wie Philipp II., dessen Feldherrn Alba oder Torquemada vor. Daß Primo de Rivera nicht diesem Typus angehört, wußte ich freilich, bevor ich Spanien besuchte; und bat deshalb darum, als wir uns treffen sollten, daß dies bei Sekt und schönen Frauen geschähe. Als dann aber Primo erschien, war ich doch überrascht: nicht allein ein Señorito Andaluz stand vor mir an Stelle eines herben Kastilianers – er glich recht eigentlich dem dicken, frauenfreundlichen Gendarm im französischen Vaudeville, der etwa beim Anblick draller Bonnen singt:
Sapristi, quelle belle personne …
Da begriff ich zunächst, warum Primo grundsätzlich nicht zu stürzen ist: Könige, Staatspräsidenten werden gestürzt, Schutzleute wurden es noch nie. Und wie ich dann weiter sah, nicht allein welch prächtiger Mutterwitz, sondern auch welch nüchterner Verstand und warmes Herz ihn beseelen, da begriff ich auch weiter, wieso wohl dieser Mann, den alle Geistigen Spaniens verdammen, der sich persönlich allen und allem Geistigen gegenüber phantastisch töricht benommen hat, wieso dieser ganz primitive, im Letzten unbedeutende Mann, welcher fähig wäre, mit jenem russischen General, der zum Kurator einer Universität ernannt und im Museum nur neun Musen fand, zu befehlen, »man stelle sofort die zehnte auf«, für Spanien vielleicht mehr getan hat als die meisten seiner Regenten seit guten hundert Jahren – dieses Urteil wird bestehen bleiben müssen, auch nachdem die Diktatur erledigt sein wird; auf deren Basis erst wird ein besseres Neues, gegenüber dem früheren spanischen Parlamentarismus möglich werden –: er verkörpert das Gegenbild des ewigen Don Quixote. Wer ist dies nun? Der nicht minder ewige Sancho Pansa. In einem Chauffeurzeitalter ist dieser tatsächlich als echter Regent am Platz. So gehört auch Primo de Rivera dem ewigen Spanien an. Und ebenso tut es sein König, aller Könige modernster. Auch die Spanier sind heute kaum mehr monarchistisch im traditionellen Sinn; innerhalb der jüngeren Generation gilt dies wohl überhaupt von keinem Europäer mehr, der zählt. Gewiß gibt es sehr viele, welche Monarchie, gegenüber der Republik, für die an sich bessere Staatsform halten; zu diesen gehöre für Deutschland ich selbst. Gewiß gibt es sogar Legitimisten unter ihnen. Aber dies dann allein um der historischen Kontinuität willen, nicht darum, weil Sprossen bestimmter Familien von Hause aus höhere Wesen wären. Geborene Könige sind gerade die Mitglieder noch oder noch kürzlich regierender Familien am allerseltensten. Erstens haben die Jahrhunderte der Konstitution aus geborenen Führern geborene Medien geschaffen; daher die besondere Neigung der Fürsten zum Okkultismus. Dann hat das generationenlange Leben im Schaufenster ihren Typus zu einem nur repräsentativen gemacht – und Repräsentation bedeutet Wesentliches nur in einer alten, keiner neuwerdenden Welt. Vor allem aber hat das traditionelle Hofleben jeden Zusammenhang mit der modernen Wirklichkeit verloren, so daß eben das, was den Hof Ludwigs XIV. weltbedeutsam machte, heute sinnlos wirkt. Gewiß gibt es auch heute vortreffliche, ja bedeutende Menschen unter den Fürsten. Aber der Typus wirkt heute genau im selben Sinn als künstliche Züchtung, wie es jene japanischen Hähne sind, welche die meterlangen Federn hervorbringen, die man gelegentlich in Theaterrevuen sieht: diese Hähne werden bekanntlich so gezüchtet, daß in einem ganz hohen, aber ganz engen, keine Horizontalbewegung ermöglichenden Käfig, in dem sie leben müssen, die Schwanzwurzeln besonderer Massage unterworfen werden, während die Federenden ein wachsendes Gewicht zu tragen bekommen. Ebendeshalb sind Fürsten heute die innerlich unsichersten aller Menschen. Außer in neuen, wie den Balkan-Ländern, wo der Anschluß an europäische Tradition überhaupt die Hauptsache ist, kann sich der jüngste traditionelle Fürstentyp im Guten dort allein erhalten, wo seine Rolle, wie in England, eine rein symbolische ist. Wie gefährlich sie wird, wegen des absoluten Mangels an Realitätsgefühl dieser Menschenart, wo der Fürst mehr als Symbol sein kann, beweist das Beispiel Wilhelms II. – Alphons XIII. nun ist König im, ich möchte sagen, vortraditionellen Sinn, wie es die Gründer der Dynastien waren. Das heißt er bewährt sich als König von Fall zu Fall, und deshalb läßt man ihn gelten. Als einziger unter den lebenden Monarchen war er nie anderes als König; so fehlt ihm die typisch-fürstliche Unsicherheit. Das dadurch bedingte naive Selbstbewußtsein, weiter begünstigt durch die in manchen Hinsichten mittelalterlich verbliebene Struktur der spanischen Seele einerseits, und andererseits durch den absoluten Mangel an Kriechertum im ganzen Volk – als König kann er sich doch immer nur als Freier unter Freien fühlen – ermöglicht Alphons XIII. denn, gerade als König Pionier zu sein. Wohl meistert er alle historische Tradition: was er sagt und tut, geschieht doch in erster Linie im Geist eines ersten Königs. So arbeitet die Weltwende für, nicht gegen sein Königtum. Im Großen lebt er a conto der auf ihn verübten Attentate. Persönlicher Mut ist alles, was das ganze Volk verlangt sowohl als ehrt. Im besonderen aber lebt er recht eigentlich a conto der Zukunft: schon lange vor dem Krieg war er der erste spanische Chauffeur. Und nun kommt die Hauptsache vom Standpunkte Spaniens: im allerhöchsten Grad verfügt er über jene Selbstironie, die von jeher den Kontrapunkt zur spanischen Grandezza abgab. Vor einem Jahrhundert etwa zerbrach das spanische Weltreich. Während der letzten Jahre bestellte ein südamerikanischer Staat nach dem andern beim Madrider Mode-Bildhauer Independencia-Denkmäler. Die wurde der König immer wieder einzuweihen gebeten. De la meilleure grâce du monde unterzog er sich dem Amt: c'est une manière comme une autre de reconstituer l'empire, où le soleil ne se couche pas. Tatsächlich schließt die spanisch sprechende Welt sich auf neue Art zu mächtiger Einheit zusammen.
Zur Zeit da ich dies schreibe, 1926, administriert Spanien, dem Geist der Chauffeur-Welt entsprechend, Sancho Pansa; der erste Grande und zugleich erste Chauffeur des Landes macht halbironisch mit. Don Quixote aber sitzt in Gestalt Unamunos genau auf der spanisch-französischen Grenze, den Blick nach der Heimat gewandt, die ihm Mutter und Tochter zugleich sei und wartet vergeblich darauf, nun selbst einmal zur Herrschaft zu gelangen. Er wartet tatsächlich darauf. Was ist in dieser modernen Welt wesentlich anders als in der alten? Cervantes behält ewig recht.
So sehe ich keinerlei Grund, die Vision des ewigen Spaniens, die ich zu Anfang herausstellte, irgendwie auch nur zu retouchieren. Was ich an' wenigen Beispielen dartat, ließe sich an schlechthin allen leisten. Selbstverständlich unterhegt das spanische Menschentum, wie jedes, dem Kairos. Aber das Wesentliche ist eben, daß das Ewige der Substanz gegenüber aller Zeitveränderung entscheidend bedeutsam bleibt. Dafür sorgen schon die Frauen, jene mächtigsten, unbeirrbarsten Weibsbilder, die ich je sah, die von jeher den Mann nur als abenteuerndes, verantwortungsscheues Kind beurteilten und ihn gewähren lassen, bis daß er es gar zu arg treibt; so stürzte, erzählt man, den Grafen Ramanones einmal, als Minister, seine eigene Frau, als er zu radikal tat und eine drastische Strafe dem Mutterinstinkt erforderlich erschien. Keine mir bekannte Frau der Erde verkörpert in der Tat so sehr den Macht-Aspekt des Ewig-Weiblichen, wie gerade die spanische. Doch auch im Mannesleben dominiert die ewige Substanz. Das ist der Grund, warum jeder, schlechthin jeder empfängliche Nicht-Spanier in Spanien auch heute das alte Spanien erlebt.
Was kann nun dieses ewige Spanien dem neuen Europa bedeuten? Greifen wir zunächst wieder einmal auf die Erkenntnis zurück, daß es dreierlei ist, was ein Volk vor Gott, für sich und andere bedeutet. Deshalb hat es im Rahmen unserer Betrachtungen nichts zu sagen, daß ein sehr großer Teil der Oberschicht Spaniens sich von anderen Europäern nur wenig unterscheidet und daß ein in Spanien führender Geist wie Jose Ortega y Gasset nicht allein ein guter, sondern ein bester Europäer ist; In der Synthesis »Europa« kommt gerade das Eigenartige einzigartig zur Geltung. In ihm wird Spanien als solches genau nur soviel bedeuten können, als es anders als andere Länder ist und einen Sonderton des Lebens, der doch in allem Leben Hingt, besonders rein und überzeugend anschlägt. – Nun, gerade insofern kann Spanien in der neuentstehenden Welt außerordentlich viel bedeuten.
Wenden wir unseren Blick dem anderen »Polarland« Europas, Rußland zu: worauf beruht die europäische Bedeutung von dessen großer Literatur, die als Schilderung reinrussischer Zustände doch keinen Nicht-Russen angeht? Sie beruht darauf, daß dem Russen die inneren Fixierungen fehlen, welche Denken und Wollen seit dem Mittelalter – Rußland hat weder Mittelälter noch Renaissance erlebt – in der Europäerseele schufen: So ist er nicht starr, sondern flüssig und insofern sowohl natur- als potentiell gottnah (an anderer Stelle bestimmte ich die Lebensmodalität des Russen als unmittelbares Streben des Tieres zu Gott, unter Überspringung des Menschen). Da nun Fixiertes nicht schaffen kann – nur Undifferenziertes, Protoplasmatisches, auf welcher Ebene immer, bringt Neues aus sich hervor –, so konnte Europas Seele, um sich im Sinn des Schöpferischen zu erneuern, einen besseren Polarisator, als das Sinnbild Rußlands kaum finden. Überdies aber verkörpert jeder Russe in sich eine höhere Spannung als irgendein bisher repräsentativer Europäer. Da nun der westliche Zukunftstyp – der ökumenische – nur auf Grund einer Höherspannung des Menschenwesens realisierbar ist, so ist kein Wunder, daß dem allzu fixierten und beschränkten Europäer, zumal dein Deutschen, sogar der chaotische Russe zeitweilig zum Ideale ward. – Aber Rußlands symbolische Aufgabe für Europa ist im angeführten Sinne erschöpft, weil erfüllt. Die alten Fixierungen sind, historisch betrachtet, eingeschmolzen, denn nur noch die Schichten, die für die Zukunft nicht mitzählen, sind mit ihnen behaftet. Jetzt tut ein anderer Polarisator not. Eben einen solchen bietet, zum Teil wenigstens, Spanien. Spanien hat in anderem Sinne als Rußland das Schicksal Europas nicht geteilt. Vom Mittelalter bis Napoleon erlebte es eigentlich kein einziges Unstetigkeitsmoment. Der Reformationsgeist wehte an ihm vorüber. Seit Philipp II. hat es in immer höherem Grad ein in sich zurückgezogenes, zusammengezogenes Eigenleben geführt. Die französische Revolution hat es als Revolution überhaupt nicht, es hat auch den Weltkrieg nicht mitgemacht. Vor allem aber nicht den Prozeß der Intellektualisierung, der von Reformation und Renaissance an aller Nicht-Spanier wesentliches historisches Erlebnis bedeutet. Das war bisher Spaniens Nachteil. Nun setzt aber eben jetzt die kontrapunktische Gegenbewegung gegen das 18. Jahrhundert und dessen Früchte ein. Und damit wird Spanien – gemäß den Gesetzen der »Symbolik der Geschichte« Vgl. das Kapitel dieses Namens meiner Schöpferischen Erkenntnis. – auf einmal sinnbildlich-zeitgemäß. Es wird dies vielleicht nicht von seinem eigenen Standpunkt aus gesehen, wohl-aber von dem der anderen. Denn für die zählt immer nur der aktuelle Zustand, nicht das, was er im Zusammenhang eines Sonderdaseins bedeutet; so fördert Asiaten heute eben der Intellektualismus, über den wir als erstes hinauszugelangen trachten.
Worum handelt es sich nun, vom Standpunkt Europas, beim Spaniertum? Um nicht mehr und nicht weniger als um inkarnierte Grundtöne. Die urtümlichen Grundtöne des irdischen Lebens klingen in Spanien fort in vollendeter Naivität, bestimmen das Leben in einem Grad, wie nirgends sonst mehr auf Erden. Miguel de Unamuno, der europäisch bedeutendste Spanier, welcher lebt und wohl der bedeutendste Spanier überhaupt seit Goya, kündet unentwegt, aus der Ungebrochenheit des Urmenschen heraus, von den ganz wenigen aber ganz tiefen Dingen, die er erfaßt und weiß: der Bedeutung des Glaubens, des Blutes, der Tragik, der Haltung, von Don Quixote als höchstem Sinnbild des Menschen: gerade diese ganz einfachen, ganz tiefen Töne überzeugend zu vernehmen, tut uns heute not, denn in der Relativiertheit unserer Vorstellungswelt sind gerade sie uns am schwersten vernehmlich. Das unmittelbare Bewußtsein des Modernen hat den Kontakt mit ihnen nahezu verloren. Ein unmittelbares Verhältnis zu diesen Urproblemen des Lebens wieder zu gewinnen, tut nun dein Europäer allerdings in dieser Stunde besonders not, denn sie sind nun einmal die Eingeweideprobleme des erdverhafteten und gleichzeitig himmelstürmenden Menschen. Der Mensch ist ja nicht allein als Seele, im Unterschied von Geist, dieser Erde unentrinnbar verhaftet, er ist es auch als Leib. Ist es Verdienst der deutschen Chthoniker, die erdbedingte Psyche wieder als solche bewußt und damit eine Seite des »Mütter« Problems neu erlebbar gemacht zu haben, so ist es Spaniens Sendung, das Erlebnis des Leibes und jenes lebensnächsten Seelischen, das unmittelbar mit ihm zusammenhängt, in Lebenswunsch und Todesangst, in elementarer Leidenschaft mit ihrem unbedingten Ja und Nein, wieder zu erwecken. Denn diese Eingeweideprobleme, wie ich sie nannte, werden immerdar die Eingeweideprobleme des Menschen bleiben, wie hoch sein Kopf immer hinaufrage; für den Menschen, der sich von den Müttern abschnürte, gibt es kein Heil. So tritt denn Spanien in die Synthese des neuen Europa als Vertreter des Urkosmischen ein; als Vertreter dessen, was vor aller Geschichte war und sein wird. Auf der Vertretung dieses im irdischen Verstande Vor- und Überhistorischen nun beruht alles, schlechthin alles, was Spanien dem Nicht-Spanier bedeutet; auf ihm beruht alles, schlechthin alles, was es im Zusammenhang des enger zusammengeschlossenen Europa als Monade überhaupt bedeuten kann. Nun aber können wir spezifizieren. Spanien, wir sagten es schon, vertritt das Urkosmische in einem grundsätzlich anderen Verstand als Rußland. Inwiefern? Die russische Ursprünglichkeit hat ganz ausgesprochen nicht menschlichen Charakter; sie ist unter- und übermenschlich zugleich. Wo immer das geistige Rußland sich in Gegensatzstellung zu Europa fühlte, tat es dies in Rücksicht auf dessen spezifisch menschliche Eigenschaften, seinen Logos und sein Ethos. Was ist nun aber der Mensch als Mensch, zoologisch betrachtet, anderes als das logische und ethische Tier? Die Logos-Seite ist beim Spanier verhältnismäßig gering entwickelt; wo sie noch so ausgebildet vorliegt, bedeutet sie doch national nie viel. Aber es gibt kein Volk von ursprünglicherem und tieferverwurzeltem Ethos. Das ganze Spaniertum ist Haltung. Gewiß kann man auch sagen: das ganze Spaniertum ist Leidenschaft, denn es gibt keinen leidenschaftlicheren Menschen. Man kann sogar sagen, das ganze Spaniertum ist Lösung, wie der Spanier selbst seine Haltung auch Dejado, Lässigkeit heißt; aber diese bedeutet eben die Freiheit der selbstverständlich Gehaltenen. Das Vorbildliche ist, daß das spanische Pathos, das Pathos der Erdverhaftung einerseits, des donquixotesken Himmelsdranges andererseits, auf der Ebene des Menschendaseins als vollendetes Ethos in Erscheinung tritt; als in-Form-sein und Form-Gebung. Der Spanier verfließt nie, weder himmel- noch erdwärts; er gibt sein Menschentum als Aufgabe und Würde nie Preis. Inwiefern das Menschsein mit der Haltung beginnt, zeigt das Kapitel »Das ethische Problem« meiner Wiedergeburt. Und dies ergibt ganz selbstverständlich, daß jeder nicht aus der Art geschlagene Spanier Herr ist, insofern Herrsein selbstverständliches Würdegefühl und die Anerkennung der Devise »noblesse oblige« bedeutet. Denn der Mensch als Mensch ist ja der Herr der Schöpfung. Nur Herrsein ziemt ihm. In dem modernen Gerede vom Dienen als höchster Betätigungsart, vom Sich-Hingeben den Erdgewalten oder dem Erleben oder gar dem »Mitmenschen« als Ideal, von der erforderlichen Verleugnung des erdbeherrschenden Geistes äußert sich bloß die Unwürde von Untermenschen. In Spanien weiß jedermann, daß der Mensch erst mit der Haltung anfängt. Dort käme kein Volksführer darauf, ein »proletarisches Ehrgefühl« zu kultivieren, weil auch der Bettler das Selbstgefühl des Steinzeit-Häuptlings hat. Das nun ist es, was beim Rohen und Ungebildeten dem Selbstgefühl des Grandseigneurs äquivalent ist; das macht ihn, wo vorhanden, diesem gleich. Wogegen der als Proletarier oder auch jedem Höherstehenden auf die Schulter klopfende Bewohner der Neuen Welt Selbstbewußte in Wahrheit Mangel an Selbstachtung beweist.
Für mich besteht kein Zweifel: Spanien steht ethisch an der Spitze der heutigen europäischen Menschheit. In der übrigen zersetzen sich alle adelbedingenden Bindungen. In Spanien entsteht gerade dank diesen ein moderner Zustand. Dort entsteht die einzig menschenwürdige Demokratie, denn solche kann es allein unter im Sinn nicht des »unten«, sondern des »oben« Gleichberechtigten geben. Nie werde ich den Eindruck vergessen, den ich von einer jungen Bäuerin, die in fünf Jahren sechs Kinder zur Welt gebracht hatte, gewann, als ich nach einem Autounfall mehrere Stunden mit zwei spanischen Herzögen in ihrer ärmlichen Hütte Obdach fand: sie verkehrte mit diesen nicht allein als Gleichberechtigte, sie war es, denn der Würde ihres Standes war sie sich genau so bewußt, wie Herzog Alba der seinen. Nicht anders verkehrt das Volk selbstverständlich mit seinem König. Es achtet sich selbst, indem es die Etikette wahrt; aber der König wiederum weiß genau, daß es ihm übel erginge, wenn er nicht den ärmsten Spanier als menschlich gleichberechtigt behandelte. Der spanische Castizo, diese extreme Akzentlegung auf Blutreinheit, ist heut längst von seinen Auswüchsen dahin befreit, daß er allein den Stolz auf das Bessere oder Hochachtung vor ihm bedingt ohne jedes Minderwertigkeitsgefühl des Geringeren. Was aber die Großen unter sich betrifft, so hatte ich beim Wettspiel recht eigentlich den Eindruck eines Turniers aus einer Zeit, da sich der König von Zweikampf zu Zweikampf behaupten mußte. Da setzten es die Edelleute recht eigentlich darauf an, nicht etwa dem König gefällig zu sein und ihn, hofmännisch-kriecherisch, siegen zu lassen, sondern ihn zu schlagen. Dem echten Spanier fehlt tatsächlich jeder Snobismus, alles bürgerliche, schon gar alles bedientenhafte Minderwertigkeitsgefühl, das in erster Instanz nicht etwa den Kellner, sondern die Schranze auszeichnet. Er ist fleischgewordene ethische Kultur. Haltungslosigkeit erscheint ihm menschenunwürdig – und sie ist es auch.
Nun, ich meine, dies Element des höchsten Ethos, sowohl als wirklicher Bestandteil wie als schöpferisches Sinnbild, tut gerade dem heutigen verflüssigten Europa bitter not. Keine Kultur ist unter Menschen möglich, die nicht auf menschlicher, d. h. ethosbestimmter Basis aufgebaut würde. Nur wenn es dies Element in sich aufnimmt, wird Europa die Krisen dieser Übergangszeit im Guten überwinden. Und dies vor allem noch aus einem Grund, den wiederum Spanien am deutlichsten versinnbildlicht: Haltung bedingt Ungefährdbarkeit durch die Wechselfälle der Zeit. Seit Philipp II. bis vor wenigen Jahren ist es mit Spanien äußerlich abwärtsgegangen. Es ist aber doch in keiner Weise dekadent und war es nie. Im Gegenteil: wo sich in anderen, mehr logisch bestimmten Ländern – der Logos ist das Prinzip der Initiative, der Übertragbarkeit und damit auch des Wandels – der Volkstypus rein physiognomisch von Jahrhundert zu Jahrhundert so sehr verändert hat, daß der jeweils Moderne in Vorfahrentracht als schlechte Maske wirkt, sieht der spanische Grande von heute noch genau so aus, wie der von Velasquez und Greco porträtierte. Er verträgt es eben, auch nichts zu tun, auch still zu halten. Er kann warten. Er ist zeitlos, wie sein Wüstenbruder, der Beduine. Er ist ebenso unerschütterlich wie dieser in seiner Substanz. – Bedeutet diese bloße Möglichkeit nicht den genauen Kontrapunkt zur Verflüssigung der übrigen Welt? Muß der Europäer der Zukunft nicht unter allen Umständen, soll er seine Vollendung erreichen, als ethisches Wesen Spanier werden?
In großen, übertreibenden, weil einseitig akzentuierenden Linien habe ich gezeigt, was Spanien für Europa bedeutet und bedeuten kann. Und dabei habe ich in diesem Fall beim Positiven allein verweilt, denn Spaniens Fehler und Nachteile sind ohne jede sinnbildliche Bedeutung. Sie sind einfach Tatsachen, bedauerliche oder gleichgültige; sie sind in keinem Falle, auf den ich käme, als abschreckende Beispiele zu zitieren. Selbstverständlich ist die Masse der spanischen Unterschichten weit hinter denen anderer Länder zurück; nicht umsonst sind sie nahezu eines Bluts mit vielen Afrikanern. Als Abd-el-Krim in spanischer Kleidung in Madrid studierte, war er von Spaniern kaum zu unterscheiden. Selbstverständlich handelt es sich sowohl bei der spanischen Indolenz als der besonderen Gleichgültigkeit, die sich als geistiges, politisches und (bei den Männern neuerdings besonders auffallendes) religiöses Desinteressement äußert, nicht um Überlegenheit, sondern um zurückgebliebene Entwicklung. So ist der Spanier noch heute vielfach der Meinung des Cid und der Conquistadores, daß die einzig würdige Art, das so nötige Gold zu gewinnen, darin besteht, es zu rauben oder als Schatz zu finden; Schatzgräbertum zumal ist noch heute spanische National-Idiosynkrasie. Überaus vieles ist gegenüber dem frühen Mittelalter noch kaum verändert; anderes wiederum entspricht noch der Zeit der Gegenreformation; und manches gar vorhistorischen Zuständen. Aber alles dies spielt im Gesamtbilde von Spanien keine Rolle. So hat denn auch kein Fremder von Rang, der sich je über Spanien äußerte, Interessantes über sein Negatives gesagt. Der Grund hierzu liegt wieder im Urtümlichen, Elementaren der spanischen Substanz: Elemente sind einfach da, man kritisiert sie nicht. Für die Spanier selbst stellt das Problem sich selbstverständlich anders. Um dies durch Konkretisierung von Hause aus ganz deutlich zu machen: vielleicht ist dem heutigen Spanien der ewige Spanier Unamuno eine Hemmung, der Europäer Ortega der nächste Weg zum Heil. Freilich muß auch Spanien sich zunächst modernisieren, sich dem werdenden ökumenischen Zustand seinerseits angleichen. Auch dort gewinnt der Chauffeur als Masse die Oberhand – der Weg vom Torero zu ihm ist besonders kurz –; gerade dort, wo der Geist bisher so wenig bedeutete, tut Intellektualisierung und Überwindung weltverjährter Geistesvorurteile besonders not. Und doch glaube ich behaupten zu dürfen: gerade vom spanischen Standpunkt sollte der Akzent auch in Zukunft auf dem zeitlos und ewig Spanischen ruhen bleiben. Ein Madrider Freund sagte mir, Snobismus-Mangel sei deshalb kein Vorteil, sondern ein Nachteil, weil der Snob sich am schnellsten dem angleicht, was ihn übertrifft. Ich erwiderte: dies gilt ausschließlich – so weit es gilt – für mechanistisch und intellektualistisch Veranlagte, denn nur auf deren mögliche Entwicklung paßt das Fortschrittsschema. Der Spanier ist wohl ausgesprochen dynamisch, jedoch antimechanisch; er hat alle Leidenschaften der Überzeugung, nicht jedoch der Kritik. Er kann deshalb einzig verlieren, wenn er sich so einstellt, als wäre er Engländer oder Franzose. Alle Vorzüge des Spaniers liegen im Ethischen, also im Charakter. Er ist wesentlich nicht fortschrittlich. Er ist ewiger Afrikaner im besten Sinn des Worts. Das soll er denn auch bleiben; denn er wird es unter allen Umständen bleiben, solang er seine Substanz bewahrt. Wenn Ortega der Intelligenz für die Zukunft eine geringere Rolle zuerkennt, als sie sie bisher spielte, so ist dies falsch für Europa, jedoch für Spanien richtig. Dort kann die Funktion des Intellekts, dort können Intellektuelle unmöglich je eine entscheidende Rolle spielen. Höchst merkwürdig wirkt auf dem Hintergrunde seiner Heimat gerade José Ortega y Gasset: er ist einer der feinsten und universellsten Europäer; er wird einmal als einer der Führer gelten dieser Zeit. Aber es ist nicht wahr, was europäische Kritiker behaupten, daß er in Spanien führe: das ist dort für Geister seiner Art ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht die Einsicht ist es, die das Spanierleben regiert. Aber ist es nicht beinahe besser, wenn sie dies bewußt nicht tut? Wieviel wahre Einsicht ist denn bei uns am Werk? Sind Instinkt und Blut, wo sie noch bestimmen können, nicht die besseren Führer? … – Die spanische Substanz kann sich gewiß in moderner Zuständlichkeit verkörpern. Das wird sie zweifellos tun. Aber dieser Prozeß wird, wenn es kein Unglück geben soll, in Form der Differenzierung und Ausgestaltung des ewig Gleichen erfolgen, nicht in Form des Gestaltwandels. Es war der gleiche Spanier, der in Urzeiten die herrlichen Felsendenkmäler erschuf, der als römischer Kaiser mehrfach die Welt beherrschte, der die neue Welt eroberte, die großen Menschenbildnisse herausstellte, der für den Glauben kämpfte und heute wiederum, durch den Mund Miguel de Unamunos, in großartiger Einseitigkeit das Evangelium der Tragik kündet und der Agonie. Und wenn man da bedenkt, daß wenige Bevölkerungen so viele Rassenveränderungen durchlebt haben wie die der iberischen Halbinsel, da fragt man sich: Ist nicht Wandel überall ein letztlich Äußerliches? Ist nicht alle Substanz letztendlich ewig gleich? – Als Bild des Substanzhaften vor allem hat Spanien für das so wandelfreudige Europa Bedeutung. Als verwirklichte Substanz allein jedenfalls hat Spanien eine neue europäische Zukunft. Nicht umsonst begann sein Neuaufstieg – denn unstreitig steigt Spanien neu auf – nach Abschluß des Fortschrittszeitalters. So möge es als Wesen ewig bleiben, was es immer war.