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Unter Völkern bietet meines Wissens, kein zweites solch Beispiel intimer Tragik, wie das Schweizer Volk. Intime Tragödien sind drückender als alle, die sich vor der Öffentlichkeit abspielen, weil hier kein Erleben in der Vorstellung, bei sich und anderen, kein Bemitleidet-, kein Bewundert-Werden die Wirklichkeit positiv kompensiert. Und am schlimmsten wirken sich solche Tragödien aus, die den sie Erleidenden selbst nicht bewußt werden, die sich womöglich befriedigt fühlen dabei. Denn dann führt der Widerstreit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zwangsläufig, auf Grund psychologischen Gesetzes, zu desto unerfreulicheren objektiven Erscheinungen. Hier liegt die Ursache der meisten seelischen und wohl auch körperlichen Verbildungen, welche Bedrückte aufweisen; die Zufriedenen unter diesen sind nicht die besten, sondern vielmehr die schlechtesten, denn aus positivem Haß kann positive Liebe werden, während Bescheidung beim Niedrigen keinen Keim möglicher Befreiung in sich trägt. Die Schweizer sind nun freilich kein bedrücktes Volk. Sie gehören vielmehr zu denen in Europa, die zuerst ihre Selbstbestimmung errangen. Aber das Eigentümliche und Tragische zugleich ist eben, daß was »an sich« gut ist, dank einer Besonderheit von Umständen auf einen großen und jedenfalls den augenfälligsten Teil der Bevölkerung wie Bedrückung gewirkt hat. Deshalb ist richtiges Verstehen des Schweizer Zustandes für alle von Bedeutung: alle Völker können, wenn die Befriedung Europas fortschreitet, in die Lage des Schweizerischen kommen.
Zunächst zur Natur: Diese herrliche Bergwelt ist dem Menschen für die Dauer offenbar nicht hold. Wie ich in der Zeit nach 1918, da alle Welt in der Schweiz das Vorbild des künftigen Europas sah, meinerseits den Historiker Johannes Müller studierte und einen berühmten Gelehrten des Landes dazu beglückwünschte, daß die Schweizer so viel früher als andere Vernunft bewiesen hätten, erwiderte er, schweizerisch-grimmig lachend: Sie vergessen unseren endemischen Kretinismus. Zweifelsohne ist die Natur an vielem schuld. Nicht nur der Kropf, der ganze außerordentliche Schönheitsmangel des Volks geht gewiß zu einem nicht geringen Teil auf ihren Einfluß zurück. Mit ihr zusammen hängt sicher auch das Schwyzer Dütsch. Es mögen im Lauf der Jahrtausende andere als germanische Dialekte auf Schweizer Boden geredet worden sein – Aussprache und Tonfall waren gewiß schon bei den Pfahlbauern die gleichen. Und sie sind fürchterlich. Warum für dieses Bergvolk gerade Häßlichkeit charakteristisch ist, und nicht, wie bei den Kaukasiern, Schönheit, läßt sich zunächst nicht erklären. Wahrscheinlich liegen die Urverhältnisse hier ähnlich wie bei den Tibetanern und den anderen Bergvölkern am Fuße des Himalayas. Nach der Ebene zu verwischen sich die Eigentümlichkeiten der Schweizer Bergstämme, doch der unwahrscheinlich breite Rücken, in der Uniform des eidgenössischen Gendarmen karikiert, das bald Steinerne, bald Knorrige der Gesichter, der spannerraupenartige Gang und die allgemeine Anmutlosigkeit bekunden auch hier unverkennbar den physiologischen Zusammenhang mit der Landschaft. Die eigentlichen Bergschweizer nun, und die sind der Kern der Rasse, haben etwas Gnomen- und Troglodytenhaftes. In ihren Adern fließt sicher allerältestes Blut, so wie denn Mime rassisch älter als Siegfried war.
Nun erscheinen diese Menschen, wo sie in dem ihnen ursprünglich gemäßen Zustand verharren, nicht allein, wie unter gleichen Umständen überall der Fall ist, echt, sondern überdies liebenswert. Der alte eidgenössische Geist, den ich so oft in Bergdörfern erlebt habe, jener Geist der Unabhängigkeit, der Unbeugsamkeit, der zähen Arbeit, der Hilfsbereitschaft und der Schlichtheit, ist absolut schön. Aber er erhält sich in seiner Schönheit, wie jede Lebenserscheinung, nur in den ihm gemäßen Verhältnissen. Ich kenne einen Selfmademan, der bei aller rücksichtslosen Geschäftstüchtigkeit nicht nur ein anständiger, sondern ein angenehmer Mensch war, solange er in einer Dreizimmerwohnung lebte, der aber vollkommen demoralisierte, ja satanisch wurde, nachdem er ein ganzes Haus bewohnen konnte. So erscheint Schweizertum nur schön, wo sein traditioneller Geist den ihm entsprechenden Rahmen beibehalten hat. Und der muß eng sein, sehr eng, wie ein steil ausgehöhltes Bergtal.
Diese einzig echte Schweiz ist nun leider lange nicht mehr die, welche Europa, außer auf Hochtouren, zu merken bekommt. Ja, diese echte Schweiz, die, im Herzen aller guten Schweizer weiterlebt und, noch einmal, wo sie richtig eingerahmt erscheint, zum Liebenswertesten gehört, was es auf unserem Kontinente gibt, spielt im Bilde der Schweiz, welche Europa angeht, kaum mehr eine Rolle. Europäisch bedeutsam sind heute einzig Zürich, Genf, die Schweizer Institutionen, die schweizerische Neutralität und das Menschentum, das diesen vom nationalen Standpunkt nicht wesentlich schweizerischen Umständen entspricht. Bedeutsam sind die Schweizer heute nicht wegen ihrer Geschichte und nicht wegen ihrer nationalen Sonderart, sondern insofern, als neue »Schweizer« entstehen könnten. Das könnte nämlich wirklich so kommen: wie die Juden einerseits wohl eine Rasse, vor allem aber ein sozialer Typus sind, der unter ähnlichen Bedingungen immer wieder ähnlich entsteht, so sind die heutigen Schweizer in erster Linie ein psychologischer Typus. Daraus allein erklärt sich, wieso neuerdings sogar solche, die erst persönlich als Kinder einwanderten, ebenso echte Schweizer werden können, so wie Europa die Schweizer sieht, wie nach Amerika Ausgewanderte zu Amerikanern werden. Vor hundert und weniger Jahren war dies nicht der Fall. Heute ist es so. Unter diesem psychologischen Gesichtspunkt und unter ihm allein will ich ein Bild der heutigen Schweiz entwerfen, so wie ich es sehe.
Ich verglich die heutigen Schweizer, wie sie allein aus der Entfernung sichtbar und für die heutige Welt bedeutsam sind, mit den Juden. Beide Völker sind in der Tat dadurch gekennzeichnet, daß ihr Sosein viel weniger von Rasse und physischer Umwelt bedingt ist, als von den psychischen Umständen, unter denen sie leben. Bei den Juden liegen diese Umstände einerseits in ihnen, andererseits außer ihnen. Innerlich wirkte der geistige Anspruch, das auserwählte Volk zu sein. Die Juden haben den grenzenlos ungünstigen Lebensbedingungen, dem furchtbaren Druck, dem sie in ihrer Mehrzahl beinahe ihre ganze Geschichte lang ausgesetzt waren, widerstanden, weil ihre Religion eine Einstellung verlangte und durchsetzte, die das Sich-selbst-Treubleiben und Durchhalten trotz allem zum a priori ihres Volkstums machte. So beharrten sie seit Moses bei ihrem Gesetz und die dazu erforderliche geistige Spannung ist der eigentliche Seinsgrund ihrer ungeheuren Lebenskraft. Hier ist der Geist sogar der eigentliche Seinsgrund der rassischen Eigenart: die Ostjuden sind nur zum Teil Semiten und Exogamie war von jeher häufig genug, vom Einfluß der Umwelt zu schweigen, um die völkische Sonderlichkeit, falls Geist dies nicht verhinderte, zu zerstören. Von außen wiederum wirkte das psychologische Moment der parasitären Stellung der Juden unter den anderen Völkern im gleichen Sinne typisierend. So darf man wirklich sagen, daß die Juden vor allem ein psychisch bedingtes Volk sind. Ebendeshalb entarten sie so leicht, nicht nur moralisch sondern auch physisch, sobald sie ihrem Gesetze untreu werden oder in eine Stellung geraten, der sie nicht angepaßt sind. Als konservativstes und gesetzestreuestes aller Völker müssen sie verderben, wenn sie aufhören, im strengen Sinne Juden zu sein. Durch jahrtausendelange Verfolgung typisiert, gleichen sie chemischen Körpern, die nur unter hohem Atmosphärendruck zustande kommen; hört der Druck auf, so verlieren sie ihre Sonderfähigkeiten und vergehen. Bei den Schweizern nun liegen die typenbildenden Umstände ganz an den anderen, denn sie haben keine große Idee, die sie vertreten. Denn die schweizerische Freiheit und Verfassung kann mit der Bedeutung des alten Testaments kaum verglichen werden, dieser magna charta des Ethos auf Erden. Hier setzt denn das Intim-Tragische ein, von dem ich zu Anfang sprach. Die übrige Welt sieht in den Juden kein auserwähltes Volk, aber diesem Umstand sind diese innerlich angepaßt. Nur seltene Romantiker unter ihnen versuchen je anderen Völkern gegenüber als Volkheit großzutun. Für die anderen sind die Juden mehr oder weniger heilsame Parasiten; sie befördern als Händler den Stoffwechsel oder sie zersetzen. Die Schweizer sind ihrer wahren Stellung gar nicht angepaßt. Sie fühlen sich nicht allein nach wie vor als Land und Volk bedeutsam, im gleichen Sinn wie Deutsche, Engländer, Franzosen; sie halten nicht nur nach wie vor auf geradezu rührende Weise aufrichtig daran fest, daß das Althergebracht-Eidgenössische vor allem zählt: sie halten sich als Nation und Idee für vorbildlich. In den Augen der gesamten übrigen Welt existieren sie aber ausschließlich als Wirtsvolk und Wirtsland im weitesten Verstand, so wie die Juden als Händler. Ihres Landes wahre europäische Bedeutung liegt darin, der ideale »dritte Ort« zu sein. Und dies kann gar nicht anders sein. Daß die Schweizer überhaupt für andere und Größere sichtbar leben, verrückt nicht nur für diese den Bedeutungsakzent, es schafft eine schiefe, für die Dauer verbildend wirkende Situation, genau wie die Diskrepanz zwischen dem Selbstgefühl der Juden und dem ihrer Wirtsvölker in jenen häßliche Eigenschaften entwickelt hat. Das, Schweizerisch-Völkische erfordert einen so engen Rahmen, daß jede Erweiterung desselben, schon gar jedes Heraustreten aus ihm, das Positive des Urbilds zerstört. Das gute Schweizertum ist unentrinnbar schollegebunden. So wirkt der von der Scholle so oder anders Losgelöste zwangsläufig unerfreulich; was für den Bergführer gut ist, ist es nicht mehr für einen Gesandten in Paris. Gelangen Schweizer oft nicht nur als Gastwirte, Pastoren und Ärzte, sondern auch als Präsidenten, Weltsekretäre, Kontrolleure und Schiedsrichter zu europäischer Bedeutung und zu Ansehen, so liegt dies daran, daß es sich bei den genannten Ämtern um bestimmte Funktionen handelt, für welche »zufällig« ein Volksstamm besonders geeignet erscheint. So stellt die Schweiz wohl auch den größten Prozentsatz geborener »Kongreßtiere«. Doch hier muß ich das über die schweizerische Nicht-Angepaßtheit Gesagte gleich erstmalig einschränken: die am besten, weil seit längster Zeit typisierten Schweizer (das Wort immer europäisch, nicht eidgenössisch verstanden), also die Gastwirte im weitesten Verstand, die Pastoren und die Ärzte wissen meist, daß ihre moderne Rolle eben auf der Funktion, nicht der Nation beruht, die gewissermaßen ihre Privatsache ist. Die sind entsprechend innerlich frei; die sind ein unbedingt wertvoller Bestandteil der europäischen Gesellschaft. Hans Badrutt vom Palace-Hotel in St. Moritz z. B. rechne ich direkt zu den zählenden Persönlichkeiten dieser Zeit. Desgleichen sind viele Schweizer Ärzte, viele Geistliche von internationalem Ruf im besten Sinne Europäer. Gewiß entsprechen sie keinem aristokratischen Ideal und sind deshalb, da dieses das absolut Höhere ist, den guten Europäern aus andern Ländern seelisch dort allein ebenbürtig, wo das spezifisch Schweizerische überwunden erscheint; aber sie sind ebensogut, wie die besten bodenständigen (nicht europäisierten) Amerikaner, deren Typus ja auch ein bäuerischer und provinzlerischer ist. Auch die sich in Wohltätigkeit, also im Geist des Roten Kreuzes auslebenden Schweizer wären hier zu nennen, wenn es sich nicht dabei um besondere Berufung, wie bei Ordensleuten, handelte, die unter allen Völkern vorkommt und in der Schweiz nicht häufiger als anderswo. Aber bei der Mehrheit fehlt leider, im Unterschied von den Juden, die psychische Anpassung vollkommen. Dies ist denn der Grund, warum dem Schweizer als nationalem Typus jede Stellung unter den anderen Völkern fehlt – ich meine wieder nicht den bodenständigen Dörfler, sondern den weithin sichtbaren, in weiteren Verhältnissen wirkenden, und er trägt genau so die Verantwortung für alle, wie jedes Volk als solches selbstverständlich im Falle einer Niederlage die Verfehlungen seiner Regierung zu büßen hat. Ist diese Tatsache nicht Gemeingut der öffentlichen Meinung, so liegt dies daran, daß kaum ein repräsentativer Europäer auf den Gedanken kommt, mit Schweizern zu verkehren, während diese selbst sich wiederum instinktiv zurückhalten; sie fühlen, daß ihr Lebensstil jeder werbenden Kraft entbehrt. Dabei gibt es aber kaum einen Fremden, der die öffentlichen Einrichtungen der Schweiz nicht als vorzüglich, wenn nicht als vorbildlich anerkennte, der zur Erholung und zur Kur nicht besonders gern in diesem schönen Lande weilte. Wie sollte die Diskrepanz zwischen dem, als was sie sich und anderen erscheinen, zumal wo sie unbewußt bleibt, in den Seelen der Schweizer nicht zu den bedauerlichsten Verdrängungen führen?
Das Bedeutsamste und dabei Tragischste ist nun, daß sich besagte Diskrepanz in der neuentstehenden Welt zwangsläufig verschärfen muß. Unter den Besten der schweizerischen Jugend wird eine Renaissance des echt helvetischen Geists erstrebt. Aber wie soll der in den heutigen so weit gewordenen Verhältnissen weiter- oder auch nur aufleben? Ist ein Volk einmal auf bestimmte Weise in die Umwelt eingefügt, und ist die Umwelt mächtiger als es selbst, dann ergeht es ihm nicht anders wie dem Einzelnen: es paßt sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich an. Es ist ausgeschlossen, daß der Geist der Rütlizeit, ja sogar der des »Fähnleins der sieben Aufrechten« außerhalb intimster Kreise herrschend bliebe; bald werden auf ihn bezügliche Nationalfeiern nicht mehr bedeuten können, als solche der Erinnerung an sagenhafte Vorzeit. In der neuen Welt müssen die Schweizer immer mehr ein reines Wirtsvolk werden, sofern, sie ihre Selbständigkeit behalten wollen; Fremdenindustrie im weitesten Verstand ist da ihr gottgewollter Beruf; was sie sonst treiben, ist im großen bedeutungslos. Das kleine Land als solches, das dank besonderen Umständen das Bild eines mittelalterlichen Freistaats in die Moderne hinüberrettete, wird im inniger zusammenhängenden Europa unmöglich mehr bedeuten können, als eine irgendwie besonders gut verwaltete Stadt. Wahrscheinlich wird sie weniger bedeuten, weil es ihr immer schwerer fallen wird, als internationaler Mittelpunkt, den sie darstellt, einen wirklich eigenen, weil ursprünglichen Geist zu entwickeln. Denn noch einmal: der Rütligeist ist in weitere Verhältnisse nicht exportfähig. Überdies ist das Weite dem Engen an suggestiver Kraft absolut überlegen; es gab noch keinen Fall, wo ein Dorf seinen Geist auf eine Metropole übertrug. Wie soll z. B. Genf ein anderes Schicksal blühen, als ein einziges riesenhaftes Organisations- und Stellenvermittlungsbüro zu werden? Wie soll das unaufhaltsam wachsende und sich internationalisierende Zürich nicht bald für sich den althergebrachten Schweizer Zustand sprengen? Wie soll das, was innerhalb des Kantönli geschieht, noch je irgendwelche Bedeutung gewinnen? Der ursprüngliche nationale Typus des Schweizers muß immer mehr dem rein funktionellen weichen, zumal die neue Situation die Zufuhr fremden Bluts zwangsläufig noch steigern wird – schon heute ist sie groß – und natürlich immer mehr solche sich als Schweizer naturalisieren lassen werden, denen die Schweizer Situation und Mentalität von Hause aus kongenial ist. Und das sind heute grundsätzlich nicht mehr Freiheitshelden. Selbstverständlich wird der Schweizer Bauer, der Schweizer Senn, der Schweizer Bergführer bleiben, was er war. Der Bauer verändert sich nie. Doch nicht er kann den Geist der weiteren Geschichte bestimmen.
Nicht unähnlich, noch einmal, ist der Judentypus entstanden. Und bedenkt man, daß auch der Jude vorwiegend unangenehme Eigenschaften hat, so versteht man leicht, warum gleiches in so hohem Grade von den Schweizern gilt. Ein außerordentliches Ressentiment herrscht unter ihnen gegen alle innerlich Freieren, als sie es sind. Nur ist es, wenn ich mich nicht sehr irre, noch größer als das bekannte jüdische Ressentiment: es muß ja größer sein, denn hier hat äußere Zwangslage bisher überhaupt nicht innere Anpassung erzwungen. So leiden die siegreichen Franzosen unter dem Zusammenbruch der alten Welt mit ihren Werten mehr als die besiegten Deutschen. Bei den Juden ist alle Rückbesinnung auf einstige Größe schließlich Romantik; zu lange ist sie vorüber, und dann war die nationale Größe nie weit her. Die orthodoxe Lehre sagt ja geradeheraus, daß Gott die Juden ob ihrer Schlechtigkeit willen auserwählt hat, um eben dank ihr die erforderliche Unendlichkeitsspannung herzustellen zwischen Gott und Mensch. Die Schweizer können tatsächlich auf eine große Geschichte zurückblicken. Sie haben wirklich unter den allerersten die politischen und sozialen Ideale der modernen Menschheit realisiert. Sie haben allein dadurch, daß sie sich über sechshundert Jahre allseitiger Übermacht gegenüber behaupteten, Bewundernswertes geleistet. Ferner sind sie heute wirklich politisch und sozial nicht allein, sondern auch moralisch (im Sinn des französischen le moral) in besserem Gleichgewicht als manche anderen Völker. Und nun fühlen sie, daß sie in der modernen Welt keine irgendwie bedeutsame Rolle spielen noch spielen können. Sie fühlen, aber können nicht verstehen.
Betrachten wir jetzt die Schweizer Situation von einem höheren Standort aus und gehen wir dabei nicht vom seelischen Zustand des Schweizer Bauern, sondern der Schweizer aus, die sich als Führer Europas fühlen. Das tun nämlich außerordentlich viele; es tun dies eigentlich alle, die vom Ausland her ins Auge fallen. Dies gilt zumal von den meisten schweizerischen Presseleuten. Auch das Unerfreuliche am Schweizer Zustand ist ein Beweis der Wahrheit, daß eine Bewegung, die gesiegt hat, eben damit erledigt ist. Das Pochen der Schweizer auf Freiheit in einer Welt, in der diese Gemeingut geworden, gehört vom Standpunkt der anderen ins Kapitel der kapitolinischen Gänse. Die Geschichte der Kultur bewegt sich nie geradlinig, sondern in Zyklen. Daraus aber folgt, daß gerade Linien einerseits nur oberhalb des organischen Kulturwerdens, andererseits nur innerhalb eines gegebenen Zyklus sinnvoll zu konstruieren sind, und auch hier jeweils nur kurze Strecken entlang. Sobald ein neuer Zyklus begonnen hat, liegt das Fortschrittsmotiv nicht mehr in der noch so hohen Vollendung des überlebenden Alten, sondern beim noch so barbarischen Jungen. So lag es am Ende der Antike nicht bei den Alexandrinern, sondern den Germanen. Dies ist der Grund, warum alle verstehenden Geister des Westens immer mehr den aus dem vorigen Jahrhundert überkommenen Fortschrittsbegriff verwerfen. Er war nicht immer falsch; er war so lange sinngemäß, als er als Sinnbild aufsteigenden Lebens gelten konnte. Dies ist er ja auch heute bei den meisten Völkern des Ostens, die darum mit den gleichen Kategorien gut arbeiten, die bei uns versagen. Im Westen ist er's nicht mehr, weil er keinem lebendigen Wachstum mehr zum Sinnbild dient. Die fortgeschrittensten Länder im Sinn der Ideale des 19. Jahrhunderts sind heute, soweit ich urteilen kann, neben der Schweiz Neuseeland und Schweden, denn dort ist der größten Zahl das »fortgeschrittenste« Leben gewährleistet; dort herrscht auch die konsolidierteste soziale Moralität. Doch in Neuseeland, wo die soziale Fürsorge ihr heutiges Höchstmaß erreicht hat, kommt keine Initiative mehr auf; dort ist über Wohlstand und Wohlleben hinaus nichts mehr zu wollen. In Schweden hat das Volk auf so hoher Stufe ein so vollkommenes inneres Gleichgewicht erreicht, daß alle Dynamik in Statik eingemündet ist. In der Schweiz nun mag es materiell noch so wechselnd gehen: institutionell und moralisch ist sie dermaßen saturiert, daß ihren Bewohnern die bloße Idee eines möglichen Fortschritts im großen über ihren Zustand hinaus unmittelbar widersinnig vorkommt; zumal sie innerlich bei der Reformation stehen geblieben sind; was seither geschah, zog ihre Seelen nicht mehr in Mitleidenschaft. Nun sind die Schweden und Neuseeländer in der glücklichen Lage, für absehbare Zeit auf traditionelle Art weiterleben zu können; sie sind »Selbstversorger«, wie es in der Kriegszeit hieß. So sind sie zwar veränderungsfeindlich, doch ohne Ressentiment; ihre Selbstzufriedenheit ist nicht aggressive Selbstgerechtigkeit; sie sind Phäaken, keine Pharisäer. Die Schweiz ist keine Selbstversorgerin; sie ist auf Zwischenhandel angewiesen in jedem Sinn; sie muß, um zu leben, an den Veränderungen des Weltzustandes teilnehmen. Doch sie tut es nur äußerlich, nicht innerlich. So fühlt sie sich bei allem Glauben an ihre Vorbildlichkeit doch wesentlich unsicher. Dies ergibt denn die weltberühmte Schweizer Selbstgerechtigkeit.
Damit gelange ich zu dem, was jedem Nichtschweizer am Schweizer, der nicht in kleinen Verhältnissen lebt oder nicht auf einen der betrachteten funktionellen Typen hin typisiert ist, als Grundcharakteristik in die Augen springt. Es gibt heute keinen schlimmeren Pharisäer auf Erden als den begüterten, gebildeten und zumal den schreibenden Schweizer. Man lese nur, wie die Schweizer Zeitungen allen Völkern von selbstverständlich eingenommener höherer Tribüne aus Lektionen erteilen; man höre sie als entscheidend die Tatsache proklamieren, daß Zürich oder Genf von Rußlands Zukunftsmöglichkeiten nichts hält; man lese zumal, wie Genfer Blätter in anmaßendster Form die Ansprüche beraubter Minoritäten ablehnen und ihnen allenfalls zugute halten, daß der Ton ihrer Eingaben beweise, wieviel ihnen am Genfer Urteil liegt, Der Pharisäer ist nun der eine Mensch, für den es kein Weiterkommen gibt. Es gibt kein mögliches Weiterkommen für ihn, weil er endgültig verkrampft ist; sein ganzes Wesen ist stachelichte Abwehr; er stellt einen analytischen Fall dar durch und durch. Ich persönlich habe davon einen höchst possierlichen Beweis erlebt. Einiges von dem vorhergehend Gesagten veröffentlichte ich schon 1926 unter dem Titel »Fortschrittliche und rückständige Völker« im »Weg zur Vollendung«. Selbstverständlich nahm mir kein Neuseeländer und erst recht kein Schwede meine Betrachtungen übel. Der »Berner Bund« dagegen reagierte so unwahrscheinlich grob, mit solchen Beschimpfungen meiner Person, daß ich die Gelegenheit wahrnahm, persönlich teilnahmslos, ein völkerpsychologisches Experiment anzustellen. Ich, der ich auf Angriffe sonst nie erwidere, schrieb einen überaus höflichen Antwortbrief. Prompt wurde dieser abgedruckt; nur mit einem noch gröberen Nachwort. Ich schrieb wieder, noch höflicher. Die Antwort war noch gröber. So ging es eine ganze Weile hin und her. Das Material nun, das ich auf diese Weise zusammenbekam, ist reich genug, um mir zu erlauben, das Ergebnis meines Experiments als konklusiv anzusehen. Erstens schrieb der »Bund« von Hause aus als Vorkämpfer der Schweiz dagegen, daß ich auf einzelne Aufsätze hin unvorteilhafte Allgemeinurteile fällte: also war er ermächtigt dazu. Dann freute der Ton zweifelsohne seine Tausende von Lesern. Kein Schweizer trat öffentlich gegen sein Vorgehen auf. Statt dessen griffen kleine Provinzblätter den Fall in noch saftigerer Weise auf. Vor allem aber verdanke ich dieser Kontroverse einen Segen von Privatbriefen aus der Feder mir persönlich unbekannter Eidgenossen, wie mir solche kein Feind irgendwelcher anderer Abstammung je schrieb, deren Ton und Wortlaut für mich den letzten Zweifel am Sinn des Tatbestandes begraben. Hier handelt es sich um Pathologisches: um die Abreaktion extremen Minderwertigkeitsgefühls. Dieses Pathologische aber ist für den psychoanalytisch Gebildeten restlos zu erklären aus der tragischen Situation, in der sich das Schweizer Volk befindet, und deren Nicht-Realisieren im Bewußtsein.
Hier wäre denn der Ort, einige Worte über das Schweizerisch-Nationale zu sagen. Sicher äußerte sich die schweizerische Verkrampftheit nicht so, wenn die Schweizer nicht Deutsche wären. Das sind sie nun so sehr, daß das nationale Schweizertum als Karikatur des Deutschtums am besten zu bestimmen ist. Denn der Deutsch-Schweizer hat der Schweiz diesen Typus gegeben, die erst später dazu gekommenen Welschen sind nur angeschweizerte Romanen. Der Weltkrieg mit Seinen Folgen hat es bewiesen. Nirgends findet Léon Daudet ein so großes und begeistertes Publikum, wie in der französischen Schweiz, und speziell von Lausanne zirkuliert das Witzwort: »Peut-être que Paris pardonnera un jour aux Allemands; Lausanne – jamais.« Die französischen Schweizer sind ihrem Wesen nach französische Protestanten aus. besonders enger Provinz, die in der Fusion mit dem wesentlich deutschen Schweizertum an Feinheit und Eleganz verloren und dafür ein gut Teil Derbheit und pompousness (wie der Engländer die betreffende deutsche Untugend unübersetzbar gut bestimmt) eingetauscht haben; so wirken sie heute im ganzen als die schlimmsten der französischen Bourgeois – als die schlimmsten, weil sie die un-schlichtesten, aufdringlichsten sind; sie fühlen sich eben sowohl als Franzosen wie als Schweizer nicht ganz sicher. Die Schweiz ist unter allen Umständen die Karikatur des Deutschland, das zwangsläufig entstehen wird, falls die jetzt herrschende demokratische Ordnung und die Bevormundung seitens der anderen Mächte andauert. Denn dann wird auch Deutschland bedingungslos neutral bleiben müssen, um sich zu halten. Dann wird diese Neutralität auch ihm sehr großen materiellen Gewinn bringen. Und dementsprechend wird der Typus des »Neutralen« national-bestimmend werden. – Also: der Kantönli-Geist ist die Karikatur des deutschen Partikularismus. Die Bedeutung der Bodenständigkeit in der Schweiz ist die Übersteigerung des allgemein deutschen Heimatsgefühls; in der Schweiz bedeutet Bodenständigkeit beinahe noch so viel wie Bürgerschaft in den antiken Republiken. Die Neutralitätsstellung der Schweiz ist der Höchstausdruck dessen, wozu deutsche »Sachlichkeit« im Schlimmen führt: dem vollkommenen Überwiegen des Billigkeits- über den Gerechtigkeitsgedanken. Die Billigkeitsforderung bedeutet nämlich in allem die Negation des Gerechtigkeitssinns, denn sie setzt Gleichberechtigung unabhängig vom Wert. Wo Gerechtigkeit gilt, muß der jeweils Entscheidende den Mut zur Parteinahme haben; nämlich zur Parteinahme für das qualitativ Bessere. Geraten ein Heiliger und ein Schurke in Konflikt, so ist es zwar »billig«, wenn sich beide auf mittlerer Linie begegnen, so daß beider Interessen gewahrt bleiben, doch einzig gerecht, daß der Schurke unschädlich gemacht wird. Vom Billigkeitsstandpunkt hat kein Schiedsrichter Höheres zu tun, als zwischen zwei Tatbeständen, unabhängig vom Wert, ein Kompromiß zu schaffen, was keinerlei persönliches Risiko involviert, denn jedes Urteil läßt sich rein sachlich motivieren. Hier entscheidet tatsächlich Unparteilichkeit, aber eben damit Feigheit und letztlich Gemeinheit. Was auch in Deutschland seit Versailles – ich will nicht sagen immer mehr, aber doch sehr unerfreulich deutlich – in die Erscheinung tritt, ist in der Schweiz konsolidierter Nationalcharakter. Und zwar haben die Umstände dort eine Hypertrophie der Unparteiischkeit im schlimmsten Sinn herbeigeführt. Die Schweiz mußte von je zwischen Mächtigen lavieren; sie mußte Geschäfte machen, um zu leben, wie es gerade ging. Daraus ergab sich zwangsläufig vollkommene Gesinnungslosigkeit auf allen Gebieten, wo persönliches und nationales Interesse dies praktisch erscheinen läßt. Neutralität an sich schon ist recht eigentlich Gesinnungslosigkeit. Sie ist, wie der große Ethiker Albert Schweitzer jüngst so erfreulich stark betont hat, an sich unethisch Vgl. Kultur und Ethik, S. 250; zwischen Neutralität und Schiebertum fehlt jede feste Grenze. Wird sie nun gar, vom Unbewußten her beurteilt, nicht aus innerer Schiedsrichter-Anlage, sondern zu persönlichem Vorteil geübt, so muß sie verbildend wirken, und zwar zwangsläufig mehr von Jahr zu Jahr. Selbstverständlich sind im Falle der Schweiz die Umstände schuld. Aber gleiches kann auch der Eingeweidewurm für sich sagen. Und sind Schweizer in anderen Hinsichten desto aufrechter, zeigen sie desto mehr Idealismus dort, wo ihre Interessen dies gestatten, sind sie also auch sachlich und billig im besten Sinn – z. B. in der Asylfrage –, so ändert das doch nichts an der anderen Seite, desto weniger, als dieses Gute Erbe aus andergearteter Vergangenheit ist und deshalb unter den neuen Verhältnissen aussterben kann. Auch hier erweist es sich, daß alle Schweizer Tugenden einen engen Rahmen voraussetzen. Blieb das einzelne Bergdorf neutral, wo sich die Städte stritten, so war dies nicht verwerflich, denn des Dörflers Horizont reicht tatsächlich nicht bis zur Stadt; hier entscheidet das Motiv, daß er seine Scholle gegebenenfalls todesmutig verteidigt hätte. Doch beim Baseler, beim Zürcher, beim Berner Patrizier früherer Tage lagen die Dinge schon anders, und ganz anders liegen sie bei der heutigen beinahe als Großmacht anerkannten neutralen Schweiz; ganz anders liegen sie bei jedem einzelnen Schweizer, dessen psychologische Struktur verbietet, die »Achtung« vor dem anderen, was immer er tue, als letztes Motiv gelten zu lassen. Neulich las ich auf einem Hause eines Schweizer Bergdorfs die Aufschrift: »Der eine betracht's, der andere acht's, der dritte veracht's, was macht's!« Bei jedem Gebildeten und in höherer sozialer Stellung Befindlichen bedeutet solche wertfremde Gesinnung ganz einfach Gesinnungslosigkeit.
Und wenn die deutsche Billigkeit und Sachlichkeit in der Schweiz ihre Karikatur findet, so tut es auch die deutsche »Persönlichkeit«, die überall herrschende Sachlichkeit kompensiert. In Deutschland, wo immer nur von der Sache geredet wird, entscheiden weit mehr als in Frankreich letztlich persönliche Motive; das zeigt sich vor allem in der Politik und in Gelehrtenfehden. In der Schweiz tritt das gleiche grotesk in die Erscheinung. Ich zitiere aus einem Aufsatz »Drei Jahre Schweiz« von Herbert Schäffler, dessen Inhalt offenbar von den Schweizern selbst nicht beanstandet wird, da ihn der löbliche Berner »Bund« höchstselbst abgedruckt hat: »Ich erlebte eine Reihe von Wahlen, Pfarrerswahlen, in der Presse, Lehrerwahlen in meinem quasi-Berufsbereich. Da bin ich als Demokrat vor dem Volk erschrocken. Es wurde da von Machenschaften, Umtrieben, Eifersüchteleien, Eigennützigkeiten gesprochen, die für mich völlig unerwartet das Bild der Sachlage rasch trübten. Der Volkswille stand plötzlich als Kegelklubwille, als Gesangvereinswille, als politisch-parteilich bedingter Kommissionswille, als Lokalclique oder Freimaurerzusammenhalt da. Auch das würde mich nicht erschrecken, wenn ich nicht verschiedentlich das Gefühl gehabt hätte, daß schließlich von sachlichen Gesichtspunkten kaum noch etwas zu hören war. Eine Reihe von Schweizern, mit denen ich diese Dinge durchsprach, steckten mir noch ganz andere Lichter auf.« Und weiter: »Eine andere Frage erhebt sich dem denkenden Betrachter angesichts der Nachkriegsentwicklung. Das Schweizervolk ist zahlenmäßig nicht stark. Es wird zu internationalen Aufgaben, zu Missionen aller möglichen Art immer stärker herangezogen. Es wächst wie kein anderes in die Organisation des Völkerbundes hinein (schon gibt es, wie ein vor mir geprüfter Abiturient, ein Genfer Adliger, zu erkennen gab, in Genf eine ›Völkerbundskarriere‹, die man bereits in den mittleren Gymnasialjahren sich vornehmen kann). Geht die Entwicklung auf dem sich immer deutlicher abzeichnenden Wege weiter, so wird die Schweiz mehr und mehr Ausgleichplattform für die europäische, ja für die Weltpolitik. Und da fragt sich der, der die Schweiz liebt, ob hiermit nicht ein sehr starkes Schicksal auf Schultern gelegt wird, die nicht immer dem allen gewachsen sein könnten. Diese Frage stand zum ersten Male an einem Winterabend vor drei Jahren vor meinen Augen, als mir Ahnungslosem ein Schweizer erzählte, daß die internationalen Möglichkeiten einen Ausgleich schaffen helfen für die ungenügende Dotierung und vor allem Pensionierung hoher eidgenössischer Beamter. Ich war über diese Ansicht der mir sehr ernsten internationalen Dinge etwas verblüfft und hielt das Vorgebrachte für persönliche Meinung. Bei anderen Gelegenheiten hörte ich als Ergänzung, daß der Direktor einer solchen internationalen Stelle ja doch nicht so viel zu tun habe, daß die Arbeit ja mehr ›unter ihm‹ erledigt werde. Es darf doch mit aller Bescheidenheit gesagt werden, daß die Welt schwerlich den Haag und Genf und die Berner und sonstigen internationalen Ämter als Versorgungsstellen betrachtet. Die ernste Frage ist nun die: Wird die Schweiz immer imstande sein, den großen, ihrer harrenden weltpolitischen Aufgaben gerecht zu werden? Wird man immer Dutzende von klugen, energischen Persönlichkeiten für die zu besetzenden, immer wichtiger werdenden Ämter und Kommissionsposten zur Verfügung haben, oder wird dort die Reihenfolge: ›Jetzt ist der Thurgau dran – jetzt muß die juristische Fakultät einer anderen Universität drankommen‹ auch Geltung erlangen? Das sind ernste Dinge, und je lieber jemand die Schweiz ist, desto mehr muß ihm daran liegen, daß sie nach möglichst vielen Seiten gut vertreten ist.«
Und wie das Schweizer Volk in seiner Sachlichkeit und Billigkeit die Karikatur des Deutschen darstellt, so tut es dies in seiner Bürgerlichkeit. Es ist das Prototyp eines Kleinbürgervolks; es ist absolut auf den kleinen Mann hin typisiert. Auch der deutschen Mehrheit fehlen die adeligen Instinkte, sie erkennt diese aber immerhin als höherwertig an. In der Schweiz hat historische Entwicklung bedingt, daß deren Bewohner Bestes, ihr Freiheitsbewußtsein und ihr Mannesmut, in Gegensatzstellung zu jeder Art von Vornehmheit erwuchsen. So ist denn Plebejismus dort heute Ideal. Unter kleinen und armen Leuten oder solchen in niederer Stellung führt dies, wie gesagt, zu keiner Häßlichkeit, denn da entsprechen sich eben Sinn und Ausdruck. Bei sozial Höherstehenden hingegen hat es das zur Folge, warum kein feinerer Mensch die Schweizer als solche mag, und warum nur aus der Art geschlagene Schweizer in Gesinnung und Form »europagültig«, wirken. Seit langem studiere ich die Ausdrucksweise der Schweizer besonders genau, denn sie läßt tief blicken. Wo der bessere Deutsche »überlegen« sagt, sagt der Schweizer »pfiffig«. Das Schweizer Synonym für selbstbewußt ist »wichtigtuerisch«. Wo jener höchstenfalls das Wort »Gemeinheit« verwenden würde, braucht dieser »Niedertracht«. Er sagt »ruchlos«, wo der Deutsche höchstens »häßlich« sagen würde. Lässige Freiheit heißt er »Liederlichkeit«, Schroffheit »ruppig«. Die allgemein-deutsche Grobheit erlebt in der Schweiz eine phantastische Übersteigerung. Was aber doch nie, wie in Holland, zu einer Kultur der Häßlichkeit führt, sondern eben rein, d. h. kulturlos häßlich bleibt. Doch genug davon. Jedem Kenner der Schweiz werden auf meine Ausführungen hin viele andere Parallelen einfallen. Nur noch fünf harmlosere Vergleichs-Beispiele von Deutschland und der Schweiz. Auch in Deutschland ist der höhere Mensch notwendig isoliert; es gibt da keine anerkannten Eliten wie in Frankreich. Aber in der Schweiz muß er sich unmittelbar verstecken: so groß sind dort der Neid und der Abscheu gegenüber menschlicher Überlegenheit. Auch in Deutschland gibt es Kastenunterschiede. Aber sie liegen offen vor Augen, weshalb Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu ihnen keine Verdrängung schafft. Die Genfer »gens bien«, die Züricher obersten Fünfhundert, die Baseler Patrizier hingegen leugnen offiziell jedes Ungleichheitsbewußtsein, schließen sich dafür aber faktisch desto hermetischer ab; was denn gar oft bis zum Erstickungstod der Seele führt. Auch der bedeutende Deutsche ist grundsätzlich nicht repräsentativ, wie der bedeutende Franzose, sondern Kontrastprodukt gegenüber der Majorität. In der Schweiz gilt gleiches in dem Maß, daß nicht nur der bedeutende, sondern schon der angenehme Schweizer aus höheren Kreisen, außer in ganz seltenen Fällen, als solche Ausnahme wirkt, daß jeder ihn instinktiv außerhalb des Rahmens seines Volkes sieht und beurteilt. (Hier wäre denn die Gelegenheit, öffentlich zu sagen, daß ich die angenehmen und vornehmen Schweizer, die ich kenne, aus meiner Charakteristik ausnehme. Zweifellos gibt es auch außerhalb der Gewerbe, die von sich aus einen europagültigen Schweizer Typus schaffen, viele Schweizer, die den Vergleich mit jedem anderen Europäer aushalten.) Auch der Deutsche ist geborener Gastwirt. Wo er hinkommt, bewährt er sich als solcher. Das Schweizer Volk ist im selben Sinn als Gastwirtsvolk schlechthin zu bestimmen, wie andere Völker als Krieger- und wieder andere als Seefahrer-Völker. Endlich: auch der Deutsche tritt gern in Fremdendienst. In der Schweiz war das Reislaufen von jeher nationale Angelegenheit. Die Schweizer Garde der nicht mehr regierenden Päpste ist die amüsantest denkbare Persiflage des Schweizergeists.
Nun zur sinnbildlichen Bedeutung des Schweizer Zustands im Zusammenhang Europas. Dazu knüpfe ich an den Gedanken des vorletzten Abschnitts wieder an. Die Schweizer sind das Volk des äußersten mir bekannten Ressentiments, ressentimentvoller noch als die Juden; weil sie ihrer modernen Stellung psychisch nicht angepaßt sind. Sie fühlen sich nach wie vor als Pioniere der Freiheit, des Fortschritts. Das sind sie nicht mehr. Denn die Freiheit, die sie meinten und vertraten, ist seither Gemeingut geworden; sie sind insofern ihre eigenen Klassiker. Der Liberalismus ist heute, wie anläßlich Italiens ausgeführt, jedes Beschleunigungsmotives bar. So muß jeder Hochmut auf ihren Zustand hin verbildend wirken. Und der Hochmut der Schweizer ist ungeheuerlich. Daß er hier Stolz auf »Schlichtheit«, »Gediegenheit« oder »Gleichheit« ist, anstatt auf anderes, ändert nichts am psychologischen Tatbestand. Vor allem aber wirkt ihr Anti-Aristokratismus heute unmittelbar seelentötend. Er hatte zur Zeit Geßlers selbstverständlich hohen Sinn. Heute, wo aller Feudalismus abgebaut ist, wo Kampf gegen Vornehmheit nicht mehr Kampf für äußere, sondern nur gegen innere Freiheit bedeutet, bedeutet er nichts Besseres mehr wie Kampf für niedrige gegen höhere Gesinnung. Und da natürlich alle nicht ganz unintelligenten Schweizer ahnen, wie die Dinge tatsächlich liegen, so ist die Folge Seelisch-Häßlichstes. Bei der Mehrheit äußert sich dies in Scheelsucht und Grobheit. Bei den besseren Einzelnen als eine besondere Art Verschlagenheit. Den wirklich Guten aber fehlt im letzten der Freimut. Nur zu natürlich. Während meiner Weltreise trug ich auf einem Maskenball das Gewand eines orientalischen Despoten und verstellte entsprechend auch mein Gesicht. Trotzdem es Maske war, stürzten sechs freie Schweizerinnen keifend auf mich zu und schimpften: so etwas würde bei uns in der Schweiz nicht erlaubt. Ganz gewiß ist dort heute jede Vornehmheit – ich meine gerade die echte – in den Augen der Mehrheit verpönt. Ein hervorragender Schweizer muß in seinem Land beinahe ebenso Versteck spielen, wie ein Monarchist in Sowjet-Rußland. Dort tritt der Fluch aller Demokratie am stärksten zutage, nämlich die Feigheit gegenüber der öffentlichen Meinung. Auch in Amerika gilt diese als beinahe göttlich letzte Instanz; sonst aufrechte Männer strecken selbstverständlich vor ihr die Waffen, und sei schreiendstes Unrecht im Spiel. Jeder, außer dem Helden, denkt eben instinktiv zunächst an seine nächste Lebensmöglichkeit. Beim Angelsachsen ergibt dies trotzdem kein häßliches Gesamtbild, weil er (zumal der Brite) wesentlich sozial ist; d. h. ihm geht die Gemeinschaft ehrlich, weil von innen heraus, dem Sonderwillen vor. Der Schweizer ist, als Deutscher, asozial. Darum ist seine Vornehmheitsfeindschaft ein Häßliches schlechtweg.
Und hier erscheint denn die Schweiz als unmittelbar abschreckendes Sinnbild dessen, wozu ein innig zusammenhängendes Europa von morgen leicht auch anderweitig werden kann. Mit Absicht setzte ich meine Betrachtungen über dieses Land unmittelbar denen über Ungarn nach; ich wollte mich nicht wiederholen. Vornehmheit steht absolut höher als Unvornehmheit, der Edle absolut über dem bürgerlich Gesinnten. Würde Europa je in diesem Sinne schweizähnlich, dann wäre es mit dem, was Europa von jeher und immer wieder groß machte, aus. Betrachten wir noch einmal, und jetzt von anderem Blickpunkt aus, das psychologische Bild der heutigen Schweiz. Das schweizerische ist ressentimentbehaftet wie kein zweites Volk, weil dessen Selbstbewußtsein den wirklichen Verhältnissen nicht entspricht. Die Schweiz wähnt das Land der Freiheit zu sein und ist heute in Wahrheit das der äußersten Enge, nämlich im letztlich über allen Wert entscheidend innerlichen Sinn. Im Mittelalter war äußere Kleinstaaterei allgemeine Lebensform; sie wurde durch innerlichen Universalismus kompensiert, im Sinn des Goetheschen »äußerlich begrenzt, innerlich unbegrenzt«. Dies galt damals auch von der Schweiz. Heute entspricht bei ihr das Innerliche dem Äußerlichen. Dementsprechend ist die Schweiz heute in allen Hinsichten Provinz. Dies aber ist die unmittelbare Folge der Demokratisierung. Gerade die Schweiz war ja bis zu Napoleon eines der aristokratischst strukturierten Gebilde – wie der Mensch einmal ist, kann nur das Ideal der Weite den äußerlich Beengten innerlich weit erhalten. In der modernen Schweiz herrscht gerade das Ideal der Enge; denn das ist eins mit dem Ideal des kleinen Manns. Darauf beruht einerseits gewiß, was als die politische Vorbildlichkeit der Schweizer gilt: auf das Elementare hin ist am leichtesten Verständigung möglich, und ebenso von diesem her, denn nur in der Blüte, bildlich gesprochen, nicht an der Wurzel, unterscheiden sich die Menschen voneinander. Aber diese Vorbildlichkeit besteht andererseits auf Kosten der Möglichkeit höheren und freieren Menschentums. Denn sie kommt letztlich dadurch zustande, daß der Einzige zugunsten der Mehrheit jede Bedeutung verliert. Alle Menschenwerte nun verwirklichen sich durch den Einzigen hindurch. Insofern ist soziale Gesinnung als letztes Wort unbedingter Minderwertigkeitsbeweis: sie darf und soll das erste Wort sein; zunächst muß das »politische Tier«, das der Mensch ist, in möglichst günstigen Verhältnissen leben. Dann aber hat aller Nachdruck auf dem Einzigen zu ruhen, weil erst die Dimension der Einzigkeit, wie dieses Christus zuerst erkannte, den Menschen im Unterschied vom Tiere macht. Doch zurück zur sozial-politischen Problematik. Am Beispiel der Schweiz muß den Einsichtsfähigen endgültig klar werden, wie zwangsläufig ein auf einen kleinen Rahmen hin typisierter und nun in weite Verhältnisse gelangter Mensch, so er nicht innerlich weit ist, verdirbt. Der unabhängige Schweizer Dörfler, wie er zu Geßlers Zeiten bestimmte und noch heute lebt, ist in seiner Schlichtheit und Bedürfnislosigkeit unstreitig ein höherer Mensch. Aber der psychologisch gleich gebliebene Mensch als reich gewordener Bürger ist es nicht. In ihm verwandeln sich die ererbten Tugenden in Laster. Nun hat die Generationen lang befolgte Neutralität die Schweizer Oberschichten reich, zum Teil unermeßlich reich gemacht. Und wie überall die materielle Macht entscheidet, so liegt trotz aller Verfassung auch in der Schweiz auf ihnen der faktische Bedeutungsakzent; im Falle der Schweiz schon allein deswegen, weil sie allein in der Lage sind, am internationalen Leben anders wie als Fremdenindustrielle teilzunehmen. Diese reichen Schweizer nun aber sind gesinnungsmäßig erst recht kleine Leute. Hier setzt der Fluch des ursprünglichen calvinischen Geistes ein. Der Wohlstand muß in der Lebenshaltung verheimlicht werden. Das gilt nicht nur von Genf, wo die Nachwirkungen des calvinischen Spitzelwesens, welches jeden seinen Wohlstand zu verbergen zwang, bedingt, daß noch heute vielfache Millionäre fast ohne Dienstboten leben, sondern sogar vom froheren, weil Zwingli-beseelten Zürich. So leben denn auch die reichen Schweizer ärmlich. Desto mehr aber leben sie für ihren Besitz. Sie sind keine Calvinisten im Sinn der Pilgerväter, welche zwar Reichtum auch nicht genießen durften, doch desto mehr zur Ehre Gottes mit ihm wuchern mußten: sie denken und fühlen im Sinn des Sparstrumpfs des Kleinbürgers. »Gediegenheit« ist ihr eines Ideal. Sie verstehen überhaupt nicht auszugeben. Nun ist der eine Sinn des Geldes, ausgegeben zu werden. Freilich soll man zunächst Geld haben oder verdienen. Ohne materielle Macht ist Ideales im großen nicht zu verwirklichen in dieser materiellen Welt; deshalb verbildet, innerlich, jeden, der nicht geborener Asket ist, äußere Beschränktheit. Und nur der äußerlich nicht bloß Unabhängige, sondern Mächtige ist bis auf seltene Ausnahmen innerlich ganz frei. Auch deshalb stellt der Grandseigneur den Höchsttypus des Menschentumes dar. Der Grandseigneur nun hat nur, um zu geben; hält er Haus, vermehrt er seinen Besitz, so tut er's, um immer und mehr geben zu können. Darf Sparen beim kleinen Mann als Tugend gelten, so nur deshalb, weil er, sozial beurteilt Kind, zunächst einmal haushalten lernen muß, um dann später aus sich ein höheres, weiten Verhältnissen gewachsenes Gleichgewicht zu entwickeln. Geld sinnvoll ausgeben ist nämlich viel schwerer, als Geld sammeln; deshalb kommen auf Millionen redlicher Sparer, die ihren animalischen Trieb zum Vorrat-Sammeln ausleben, nur wenige, die richtig auszugeben wissen. Aber tatsächlich ist Sparen vom Standpunkt der Seele immer verheerend. Zunächst verstärkt es den Trieb zur Sicherung, den schlimmsten Hemmschuh auf dem Weg zur inneren Freiheit, denn diese steht und fällt mit dem Willen zum Risiko. Und zwangsläufig mündet es schließlich ein im Geiz, diesem schlimmsten und gottlosesten aller Laster. So sind denn auch die Demokratien, die einen irgendwie höheren Menschentyp entwickelt haben, über das bürgerliche Sparideal hinaus: in Amerika ist Grundsatz, auszugeben was man verdient. Selbstverständlich sollte Geld nicht vertan werden, solange es Armut gibt. Aber so paradox dies klinge: gelegentliches Vertun und Verständnis für solche »Liederlichkeit« schaden einem Volk viel weniger, als allzu große Ehrbarkeit. Hier, wenn irgendwo, hat der Sünder vor dem Gerechten den Vortritt. Wer viel Geld hat, dem ist oberste Pflicht, es sinnvoll auszugeben. Wer nicht ein hohes Einkommen auszugeben versteht, der, nicht der Leichtfuß, hat kein Recht darauf. In der Schweiz nun tun vielfache Millionäre so, als hätten sie keine dreitausend Fränkli jährlich zu verleben, und das ganze Volk sieht eine Tugend darin. Sie sparen, sparen, sparen, sparen grenzenlos. Ihnen fehlt absolut das Verständnis für das Ideal der schenkenden Tugend. Fragt man solche kleinbürgerliche Krösusse in ihren jungen Jahren, warum sie sich dies und das nicht leisten, so erwidern sie: wir haben noch nicht geerbt. Später sparen sie für ihre Kinder.
Diese »Tugend« ist nun der tiefste Grund der moralischen Häßlichkeit des heutigen Schweizer Typs. Ja, leider ist es so: die Schweizer sind heute das unadelige Volk par excellence. Von provinzieller Enge als Wert, von Kleinbürgertum als Ideal her kann höheres Menschentum unmöglich erblühen. Und zwar weniger denn je in der modernen, sehr weit gewordenen Welt. Das Bürgerzeitalter ist historisch um. Und wenn auch einzig ein seigneuriales groß sein kann, so ist sogar ein proletarisches besser als ein bourgeoises. Der zurückgedrängte Bourgeois wird dementsprechend immer kleiner und häßlicher. Dieser Prozeß ist beim schweizerischen Volk in klassischer Klarheit zu verfolgen. So kann denn den Schweizern nur eine nationale Psychoanalyse helfen. Sie müssen sich ihren wahren Zustand eingestehen. Bei den Schweizern, die als Typen der neuen Schweizer Situation schon angepaßt sind, fehlt ja auch heute alles wesentlich Häßliche. Diese müssen zur Norm werden. Die heutige Schweizer Selbstgerechtigkeit muß sich in echte Bescheidenheit verwandeln. Die Schweiz muß einsehen, daß auch auf ihrem Boden die alte Zeit vorbei ist und daß sie neuwerden muß. Daß sie vorwärts, nicht rückwärts zu blicken, daß sie ihren Stolz nicht auf ihrer Vergangenheit, sondern dem Willen einer höheren Zukunft zu begründen hat.
Wird es dazu kommen? Das weiß ich nicht. Soviel aber kann ich sagen: wenn es dahin kommt, dann, aber dann allein wird die Schweizer Menschheit wieder schön werden. Dann wird der Schweizer Stolz auf Bodenständigkeit nicht mehr beengend und verbildend wirken, wie er es heute tut. Die Schweizer Menschheit war ja so lange schön, als sie ihre Sendung ihrem wahren Sein gemäß auffaßte. Die Schweizer waren bisher das Volk der kleinen Leute. Sind sie's noch, dann dürfen sie nur das wollen, was kleinen Leuten ziemt; und als solche haben sie tatsächlich eine Menschheitssendung. Ein sehr großer Teil aller Menschen gehört nun einmal diesem Typus an. Deren Rechte zu vertreten, ist eine ganze Nation dieses Typs besonders berufen; sie ist überhaupt dazu berufen, für die Schwachen gegenüber den Mächtigen einzustehen. Heute tut dies mehr denn jemals not, und es ist jammerschade, daß die schweizerische öffentliche Meinung gerade in dieser Zeit wie nie vorher unterdrückter Minoritäten im allgemeinen auf der Seite der Großen und Mächtigen steht … Oder aber die Schweizer sind keine kleinen Leute mehr: dann müssen sie sich an neuen Normen bilden. Unter allen Umständen muß, soll die Schweiz zu neuer Schönheit erblühen, der Pharisäismus der Demokratie und sozialen Gesinnung aufhören. Noch einmal: Kommt es dahin, daß die Schweiz sich innerlich erneuert, dann kann sie, die als geographisch-politische Gegebenheit natürlich bestehenbleiben wird und soll, ohne Zweifel auf neue Weise ein wertvoller Bestandteil Europas werden. Was ich meine, erläutert vielleicht am besten eine Analogie, die sich ein jeder in seine Privatsprache übersetzen möge. Bald nach dem deutschen Umsturz wetterte Richard Strauss einmal vor mir gegen den möglichen Anschluß Österreichs an Deutschland: dann werde das letzte deutsche Kunstland verpreußt werden. Ich erwiderte: ich sehe die Lage anders. Gerade dann kann Wien zu einer feinen Kunststadt werden. Alle Bureaus der deutschsprachigen Länder werden dann in Berlin zusammengelegt werden, wo sie ortsgemäß sind.
Zum Ausklang noch ein paar Worte über die Eigentümlichkeit des bedeutenden Schweizers, wie er bisher als isolierte Sondererscheinung war und für die Dauer hoffentlich zum nationalen Vorbild werden wird. Denn da die Schweiz nicht mehr innerlich eng bleiben kann, ohne in immer schlimmerem Provinzialismus zu versauern, tun auch ihr heute Vorbilder aus höheren Menschheitssphären not. Wenn sie nicht bald anerkennt, daß der Schweizer Durchschnittsbürger nicht Vorbild ist, so ist sie als Kulturfaktor erledigt und nur mehr dazu da, im Rahmen gesicherter Neutralitätsstellung Philister zu mästen. Die Schweiz muß sich fortan an dem Typus polarisieren, den heute am besten Carl Gustav Jung vertritt. Auch der bedeutende Schweizer ist grundsätzlich ein rauher Mann, ein Bär, ein Produkt von Urgestein und zähem Bauerntum. Aber er ist zugleich auf seine besondere Weise vornehm. Er ist unabhängig, im wahren Sinn bescheiden, im echten Sinne schlicht. Er ist vor allem neidlos. Mit den besten Europäertypen hat er nur wenig Ähnlichkeit. Desto mehr jedoch mit den besteh Vertretern des alten, heute aussterbenden Amerika. Und das ist wohl verständlich. Der Amerikaner ist das Produkt der Verpflanzung eines ursprünglich Beengten in sehr große Weite. Seine Großzügigkeit erwuchs in ursprünglicher Gegensatzstellung zu feudaler Vornehmheit. Seinen Reichtum schuf der Geist nicht des ritterlichen Eroberers, sondern des Puritaners. Amerika und die Schweiz sind also insofern innerlich verwandt, als in beiden Fällen der Volkstypus nicht von freien Herren, sondern von freien Bauern seine Prägung erhielt und in beiden Fällen traditionsmäßig kleine Leute mit entsprechenden Idealen und Normen später reich wurden. So tun die Schweizer nicht unrecht, wenn sie die Vorbilder zu ihrem neuen, größere innere Weite erfordernden Zustand in Amerika und nicht in Europa suchen. Äußere und innere Weite stehen in Korrespondenzverhältnis. Der innerlich Überlegene ist dem äußerlich Reichen physiologisch verwandt. Deshalb steht die Kleinheit der Schweiz einer Amerikanisierung im Guten nicht entgegen, wenn nur der bedeutende, d. h. der innerlich weite Mensch und nicht, wie bisher, der kleine Mann als nationales Vorbild gilt. Allerdings setzt die Wahlverwandtschaft mit Amerika der Entwicklungsmöglichkeit der Schweizer ihrerseits enge Grenzen. Das eigentliche Amerika ist im selben Sinn das Land der kleinen Stadt, wie die Schweiz das des Kantönli. Richtig adelige Gesinnung ist dort als Typus unbekannt. So ist ein reiches Ausschlagen seiner Natur und deren Vollendung im höchsten Sinn dem Amerikaner im Europäersinne kaum erreichbar. Es ist es schon nicht wegen seines bestimmenden Gleichheitsglaubens, mit seinen Idealen von standardization und normalcy: was der Mensch von sich glaubt, das wird er; Differenzierung setzt Anerkennung von Unterschieden voraus und dementsprechend Kultur die Anerkennung der Ausnahme und nicht der Regel als Vorbild. Aber über sein ursprüngliches Format und seine ursprüngliche Qualität bis zur Sprengung der Urform hinauszuwachsen, ist niemandem beschieden. Und jede Seele sucht sich wohl den Körper, der ihr entspricht.