Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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»Ich denke«, sagte die Fürstin zu der Baronin Dünhof und schaute dabei sinnend ihre Tochter an, »ich denke, wir müssen für die Kleine so etwas wie ein Feld der Tätigkeit finden. Sie könnte in die Sonntagsschule der Pfarrerstöchter gehen, vielleicht faßt sie dafür ein Interesse. Auch plane ich monatliche Zusammenkünfte der Damen der Nachbarschaft bei mir. Wir würden Handarbeiten machen, die zugunsten der Mission verkauft werden, und der Pastor könnte uns einen Missionsbericht vorlesen.«

»Wie hübsch«, sagte die Baronin.

Marie zog die Augenbrauen zusammen und machte ihr verstocktes Gesicht; sie sah die Notwendigkeit dieser Pläne nicht ein. Schon die täglichen Beschäftigungen, das Lesen und Spazierengehen mit Fräulein von Dachsberg, die Spazierfahrten mit ihrer Mutter empfand sie als Störungen, ihr gab ihre Liebe genug zu tun. Oft wunderte sie sich selbst darüber, daß Liebe das Leben so ausfüllen konnte. Zuweilen war es nur ein Stilliegen im Sonnenschein, ein Hinaufstarren in den Himmel, während das Fühlen des großen Erlebnisses wohlig das Blut erwärmte. Allein auch das schon hielt Marie für viel wichtiger als alle Sonntagsschulen und Missionskränzchen. Die Hauptsache jedoch waren die Briefe an Felix. Bis tief in die Nacht hinein saß sie auf, um diese langen Briefe zu schreiben, in die sie ihre ganze Seele legte. Wenn sie solch einen Brief wieder durchlas, erstaunte sie über den Reichtum an Gefühlen, die sie in sich entdeckte. Abgesandt wurden diese Briefe allerdings nicht, sondern sorgsam im Schreibtisch verschlossen, dennoch gaben sie ihr ein erregendes Glück. Bald jedoch genügte Marie das nicht mehr, sie wollte Antwort haben, und so schrieb sie denn in Felixens Namen auch die Antwort, Briefe voll zärtlicher Leidenschaft, und das war noch ergreifender, als die eigenen Briefe zu schreiben. War solch ein Brief fertig, dann steckte sie ihn zu sich, ging in den Park, setzte sich auf die Bank, auf der sie mit Felix gesessen, und las den Brief. Oder sie schlich zur Kiesgrube hinaus, lag dort, wo sie mit Felix gelegen hatte, die Wangen gerötet, die Augen schimmernd und weit offen, und in der fiebernden Mädchenphantasie bekamen Felix, sie selbst, ihre Liebe, ein seltsam unwirkliches, mythisches Leben, das weit ablag von dem stillen Getriebe des Gutheidener Alltags.

Eines Abends saßen die Herrschaften zur gewohnten Zeit bei dem Diner. Jetzt, da Streith nicht mehr erschien, waren die Diners uninteressant. Die Fürstin sprach wenig, und der Baron Fürwit versuchte es zwar. die Unterhaltung zu leiten, es fiel ihm jedoch nicht viel ein. Heute machte er ein angeregtes Gesicht; das war ein Zeichen, daß er eine Neuigkeit mitzuteilen hatte, und sobald man bei Tische saß, begann er: »Die armen Dühnens!«

»Warum?« fragte die Baronin Dünhof, »Macht Felix ihnen wieder Sorge?«

»Ja«, berichte der Baron, und sein Gesicht nahm einen betrübten Ausdruck an, »der junge Mann ist wieder zu Hause, und dieses Mal ist es mit dem Dienste vorbei. Schlichter Abschied. Eine böse Spielaffäre, eine ganz böse Geschichte.«

»Die arme Mutter!« meinte die Fürstin.

»Und der Vater«, fuhr der Baron Fürwit fort, »wir kennen ja Dühnen, der redet sich in einen Fanatismus der Härte hinein; der Junge taugt nichts, sagt er, also fort mit ihm nach Amerika, ich habe noch zwei Jungen, vielleicht geraten die besser.«

»Wie schrecklich«, sagte Fräulein von Dachsberg, und der Major sagte düster: »Jetzt kostet so etwas nur eine Reise nach Amerika, zu meiner Zeit überlebte ein Offizier nicht leicht eine solche Affäre.«

Niemand antwortete darauf, Baron Fürwit sah den Major mißbilligend an; er fand es taktlos, vor den Damen so etwas zu sagen.

Maries Herz begann stark zu schlagen, aber sie richtete sich gerade auf, schaute auf ihren Teller nieder und faltete ihre kalten Hände krampfhaft über der Serviette. Jetzt nur nicht weinen, dachte sie, jetzt nur nichts merken lassen.

Die Unterhaltung nahm eine andere Wendung; die Fürstin sprach von einem Missionar, der im Dorfe predigen sollte.

»Ja«, sagte Baron Fürwit, »er kommt aus Bir-kir-kra.«

Das Wort gefiel ihm, er wiederholte: »Bir-kir-kra.«

Fräulein von Dachsberg lachte und behauptete, so etwas gäbe es nicht. Lautlos gingen die Diener um den Tisch, schenkten Wein ein und reichten den Nachtisch herum.

Marie konnte ruhig sein; sie alle merkten nichts davon, daß das junge Mädchen, das so wohlerzogen gerade unter ihnen saß, zitternd auf dem Posten stand vor der Not ihrer Seele, damit sie sich niemand verrate.

Nach dem Diner blieb die Gesellschaft im Gartensaale. Die Baronin Dünhof und Baron Fürwit spielten Halma, Fräulein von Dachsberg las aus der ›Revue des deux Mondes‹ vor, während die Fürstin sich mit einer Stickerei beschäftigte.

Marie setzte sich abseits von den anderen in eine dunkle Ecke; sie zog die Knie an sich, kauerte sich fröstelnd in den großen Sessel hinein und saß dort ganz stille. In ihr aber klagte es: Was soll ich tun? Was soll ich tun? Felix ist in Not, Felix ist von allen verlassen und verstoßen, Felix muß für immer fort, was soll ich tun? Und während dieses Grausame geschieht, können sie hier sitzen, als wüßten sie von nichts. Fräulein von Dachsberg liest mit ihrer tiefen, belehrenden Stimme, Baron Fürwit meckert sein leises Lachen, das er stets hören läßt, wenn er eine Partie gewonnen hat.

Wie Marie all diese herzlosen, tiefberuhigten Menschen haßte.

Während der schlaflosen Nacht faßte Marie ihren Beschluß. Sie mußte Hilda sprechen, und sie mußte Felix sehen.

Am nächsten Morgen äußerte Marie den Wunsch, nach Schlochtin zu fahren.

Die Fürstin war nicht zufrieden damit. »Was willst du bei dieser unruhigen Familie?« fragte sie. Als sie jedoch das angstvolle Gesicht ihrer Tochter sah, fügte sie hinzu: »Gut, gut, fahre; die Baronin Dünhof wird dich begleiten.«

Am Nachmittage fuhren Marie und die Baronin Dünhof nach Schlochtin. Dort schien der Besuch nicht gelegen zu kommen. Die Baronin Üchtlitz selbst war nicht sichtbar, die Töchter empfingen die Gäste mit bleichen, verstörten Gesichtern, und als die Gesellschaft auf der Gartenveranda beisammen saß, kostete es ersichtliche Anstrengung, eine unbefangene Unterhaltung zu führen. Hilda saß abseits und schwieg.

Marie mußte sie bewundernd anschauen, denn ein Ausdruck hochmütiger Entschlossenheit verschönte seltsam das blasse Gesicht.

Endlich erschien die Baronin Üchtlitz, sie setzte sich zu ihren Gästen, nahm zerstreut am Gespräche teil und bat dann die Baronin Dünhof, mit ihr in das Wohnzimmer zu kommen.

»Und wir gehen in den Garten«, sagte Marie zu Hilda.

Diese stand schweigend auf und bot Marie den Arm.

Sobald die beiden Mädchen allein im Garten waren, begann Marie: »Was ist es mit Felix?«

»Felix«, erwiderte Hilda ruhig, »Felix hat eine große Dummheit begangen. Ich wußte, daß es so kommen würde. Er hat sein Leben hier verdorben, aber was will das heißen? Die Welt und das Leben sind ja weit.«

»Muß er fort?« fragte Marie weiter.

Hilda schaute zu den Kastanienzweigen auf, unter denen sie hingingen, und sagte feierlich: »Felix geht fort, und ich gehe mit ihm.«

»Du?« Maries Augen wurden groß und klar vor Erstaunen.

»Ja, ich gehe mit ihm«, fuhr Hilda fort, »denn sonst ist er verloren. Er ist so schwach und leichtsinnig; ich werde ihm helfen, ein neues Leben zu beginnen und ein Mann zu werden. Wir haben uns verlobt.«

»Und deine Eltern?« forschte Marie.

Hilda zuckte die Achseln: »Es tut mir sehr leid, daß meine Eltern nicht damit einverstanden sind, aber ich bin in dem Alter, selbst über mich zu bestimmen. Ich gehöre ja nicht meinen Eltern, sondern mir und Felix.«

Marie schwieg einen Augenblick, und dann brach es erregt aus ihr hervor: »Liebst du ihn denn?«

Hilda lächelte: »Wie du fragst, Kleine. Natürlich liebe ich ihn.«

»Und er?« fragte Marie. »Liebt er dich?«

»Ach ja«, erwiderte Hilda nachdenklich, »gewiß liebt er mich, aber wie die Männer schon lieben, das ist unsicher und flackernd, bis wir Ordnung schaffen.«

»Das verstehe ich nicht«, rief Marie mit blitzenden Augen, »das ist doch nicht möglich!«

»Warum soll das nicht möglich sein?« meinte Hilda. »Ah so, du meinst dieses Frühjahres wegen. Mein Gott, so etwas ist doch vorüber, wenn das Leben ernst wird. Gut, ihr habt zusammen in der Fliederlaube gesessen. Das ist so eine Urlaubsunterhaltung, eine Spielerei, wie die Männer sie nötig haben. Kannst du ihm denn helfen, kannst du ihn denn retten? Kannst du ihm etwas sein? Du weißt ja in deinem Schlosse nicht einmal, was das Leben ist. Wenn du einmal ohne Erlaubnis in den Park gehst, glaubst du, du hast viel für ihn getan. Aber jetzt ist es nicht die Zeit, an solche Kindereien zu denken, jetzt geht es ums Leben.«

Marie wurde ganz rot, und das Weinen war ihr nahe. »Ich weiß, du hast immer so gesprochen«, sagte sie, »du hast immer so getan, als sei es lächerlich, daß einer mich liebt, als sei es eine Kinderei und Spielerei und Dummheit. Nur wenn einer dich liebt, dann ist es Ernst. Du warst immer eifersüchtig und wolltest ihn für dich haben.«

Hilda lächelte mitleidig: »Armes Hühnchen, rege dich nicht auf. Es war unrecht von Felix, aber die Männer sind nun einmal so. Es tut vielleicht ein bißchen weh, aber du wirst es bald vergessen. Du wirst einen anderen finden, der mit dir in der Fliederlaube sitzt.«

Unter dieser Beleidigung beugte Marie den Kopf und schwieg. Diesem selbstbewußten, stolzen Mädchen gegenüber fühlte sie sich ganz schwach und hilflos, und als sie zu sprechen begann, klang es wie ein Wimmern: »Ich will Felix sehen.«

»Wozu?« meinte Hilda, »was könnt ihr euch noch zu sagen haben?«

Sie waren die Kastanienallee hinabgegangen und gelangten an einen Teich. Dort stand Felix im hellen Sommeranzug, den Strohhut auf dem Kopf, und ließ flache Kiesel über das Wasser springen.

»Da ist er!« rief Marie.

Felix hatte die Kommenden gesehen und schlenderte ihnen langsam entgegen. Er grüßte und lächelte ein verlegenes Lächeln.

»Ich habe die Ehre, meine Damen.«

»Warum bist du hier?« fragte Hilda streng.

Felix lachte. »Warum soll ich nicht hier sein? - Sie sehen, Prinzessin«, wandte er sich an Marie, »wie ich hier empfangen werde. Darf ich mich nach dem Befinden erkundigen?« fügte er höflich zu.

»Ich danke«, antwortete Marie und wurde blaß bis in die Lippen.

»Es ist heute wieder sehr schwül«, fuhr Felix fort. »Ein merkwürdiges Jahr; schon im Mai beginnen die Hundstage.«

»Ja, es ist sehr heiß«, stimmte Marie zu. Eine große Schwäche machte ihr das Stehen schwer. Vor ihren Augen begannen die Blätter der Bäume und die Sonnenstrahlen zu schwingen und sich zu drehen, dann wurde es dunkel, und sie sank lautlos auf den Rasen nieder.

Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie, daß ein feuchtes Tuch ihr auf die Stirn gedrückt wurde. Sie war noch zu matt, um die Augen zu öffnen oder sich zu regen, sie hörte jedoch, wie Hilda und Felix leise miteinander sprachen.

»Sie kommt schon zu sich«, sagte Hilda.

»Die arme Kleine«, erklang Felixens mitleidige Stimme.

»Jetzt ist Mitleid billig«, bemerkte Hilda scharf. »Warum machst du solche Sachen?«

»Ich wußte nicht, daß sie das so schwer nimmt«, meinte Felix. »Wenn sie es nur übersteht.«

Hilda lachte leise: »Das ist so eure Eitelkeit, du verlangst wohl noch, daß sie deinetwegen an gebrochenem Herzen stirbt? Du kannst ruhig sein, sie wird ohne dich ganz friedlich ihr Prinzessinnenleben abhaspeln.«

Marie öffnete die Augen, Hilda beugte sich über sie und fragte: »Ist dir besser, Kleine?«

Ja, es war vorüber, und sie versuchte sich aufzurichten. Felix und Hilda halfen ihr. »Gehen wir nach Hause«, sagte sie und stützte sich auf Hildas Arm.

»Es ist die große Hitze«, meinte Felix, »ich wünsche gute Besserung.«

Marie neigte ein wenig den Kopf, dann gingen die beiden Mädchen schweigend dem Hause zu.

Dort erwartete sie die Baronin Dünhof, und der Wagen stand zur Abfahrt bereit.

Die Sonne ging sehr festlich unter, rote Wolken loderten wie große Flammen am Himmel hinan, die Dorfstraße war voll Kinder, die berauscht von dem roten Lichte lärmten und wilde Tänze aufführten.

Marie schaute gleichgültig auf das Getriebe, in ihr war es leer und tot. Was sollte sie denken, was sollte sie fühlen?

Im Schloß ging die Baronin Dünhof sogleich zur Fürstin, um dieser mitzuteilen, was sich in Schlochtin ereignet hatte, und als Marie in das Zimmer trat, rief die Fürstin ihr klagend entgegen: »Mein armes Kind, hast du all diese Dinge anhören müssen, du bist ganz blaß.« Sie nahm Maries Hände. »Ich glaube, sie fiebert«, sagte sie. »Es ist wohl am besten, sie geht zu Bett.«

Marie war auch das recht, sie wurde zu Bett gebracht, sie lag still da in der Sommerdämmerung, später kam die Lampe, Malwine kam, saß bei der Lampe und strickte, und ihr Schatten fiel groß und grau auf die Wand, und wenn Marie ihn mit halbgeschlossenen Augen ansah, dann schien er zu wachsen, immer zu wachsen. Sonst war ja nichts da, nur der große, graue Schatten, der alles verschlang.

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