Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Britta blieb stehen: »Hören Sie, da ist es wieder.« Aus der Ferne kam der Ton eines kollernden Birkhahns herüber. »Er kommt immer noch heraus«, fuhr Britta leise fort, »gestern habe ich ihn ganz nahe gesehen, ich mußte über ihn lachen. Warum springt er da ganz allein herum? Die Hennen kommen ja doch nicht mehr.«

»Vielleicht gerade, weil er so allein ist«, sagte Streith, um etwas zu sagen, und begann weiterzugehen.

»Das ist wahr«, bestätigte Britta eifrig, »wenn man ganz allein ist, will man sich zuweilen drehen, drehen, bis man umfällt.« Dann lachte sie plötzlich.

»Warum lachen Sie?« fragte Streith.

»Ich dachte«, antwortete Britta zögernd, »wie das aussehen würde, wenn Sie sich auf der Wiese ganz allein drehen würden. Aber verzeihen Sie, das war dumm.«

Streith lachte gezwungen. »Das wäre allerdings merkwürdig«, meinte er.

Nun waren sie an die Stelle gekommen, wo der Weg sich teilte. »Sie müssen dort hinabgehen«, sagte Streith. »Fürchten Sie sich nicht, allein zu gehen?«

»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte Britta zuversichtlich. »Gute Nacht.«

Sie bog in den Weg ein, tauchte unter in die flüsternde Nacht, als gehörte sie zu ihr. Streith hörte noch eine Weile ihren Schritt auf dem feuchten Grunde. Während er langsam nach Hause ging, war es ihm zuweilen, als hörte er noch in der Finsternis des Waldesdickichts den leisen Atem des Mädchens.

Zu Hause zog Streith sich um. Er liebte es, auch wenn er bei sich allein war, zum Mittagessen feierlich angezogen zu sein. Im Eßsaal erwartete ihn der hübsche Mittagstisch, übersät mit den kleinen Feuern, welche die Kerzen im Kristall und Silber entzündeten. Oskar stand da im Glanze seiner weißen Hemdbrust. Streith war hungrig, es konnte also behaglich werden. Während des Essens jedoch bemerkte er, daß es ihm nicht soviel Vergnügen gewährte, als er geglaubt hatte. Ja, er war froh, als es zu Ende war. Er blieb am Tische sitzen, zündete sich eine Zigarre an und goß mehr Burgunder in sein Glas. Sonst, wenn er von der Jagd kam, liebte er es, sich in einem Sessel auszustrecken, die wohltuende Müdigkeit zu genießen und den grünen Waldbildern nachzuträumen, bis der Schlaf kam. Heute fand er diese angenehme Ruhe nicht. Da war etwas, das mit Burgunder hinuntergespült werden mußte, eine unbegreifliche Melancholie, ja, ganz unbegreiflich.

*

In Gutheiden war es Sitte, im Mai eine Nachtigallenpartie nach der Webbra zu machen, einem dicht mit Erlen bestandenen Hügel auf einem der Vorwerke. Die Fürstinnen hatten gewünscht, auch dieses wieder zu erleben, so wurden die Diener mit Feldstühlen und Decken, mit der Waldmeisterbowle und Kuchen vorausgeschickt. Die Gräfin Dühnen mit Felix, die Üchtlitzschen Damen und die Pfarrerstöchter waren eingeladen worden.

Als Streith zur Gesellschaft stieß, ging die Sonne rot und strahlenlos unter.

»Der Sonnenuntergang ist heute nicht prima«, meinte Graf Minsky.

Aber Fräulein von Dietheim sagte: »Ich finde ihn dramatisch.«

Die Damen saßen auf den Feldstühlen, die Herren hatten sich auf die Decken gelagert. Marie saß ein wenig abseits unter den jungen Mädchen, bei denen die klaren, lauten Stimmen der Pfarrerstöchter die Unterhaltung beherrschten. Pfarrers Johanna neckte Felix Dühnen, der schweigsam und verstimmt seine Bowle trank.

»Es ist sehr schade, daß Graf Dühnen heute wieder ganz le beau ténébreux ist, und ich hatte soviel von der Liebenswürdigkeit der Berliner Leutnants gehört.«

»Es ist ja Urlaub«, warf Felix hin.

Die Pfarrerstöchter lachten zu gleicher Zeit hell auf, und Pfarrers Wilhelmine rief: »Natürlich, für uns arme Mädchen vom Lande ist diese Liebenswürdigkeit nicht, die wird für die Damen der Hauptstadt aufgespart.«

»So war er schon gestern auf der Krebspartie«, berichtete Henriette von Üchtlitz, »er trank Bowle, sprach kein Wort, und als es dunkel wurde, verschwand er.«

»Wie geheimnisvoll«, meinte Johanna.

In der Gesellschaft der älteren Leute sprach man von Nachtigallen. »Warum singt die Nachtigall bei Nacht?« fragte Fräulein von Dietheim den Hauptmann von Keck.

»Wohl, weil sie bei Tage keine Zeit hat«, erwiderte dieser mürrisch.

Aber das Fräulein war damit nicht zufrieden. »Ach, Keck, was Sie einem immer für Antworten geben«, sagte sie gereizt.

Da ergriff die Baronin Dünhof das Wort, man hörte ihrer Stimme an, daß der Abend sie bereits gefühlvoll machte: »Herr von Keck hat ganz recht, der Tag mit seinem Lärm zerstreut, erst wenn es dunkel und still ist, kann die Nachtigall ihren einen schönen Lieblingsgedanken immer wieder denken.«

»Ja, es ist merkwürdig«, begann Fräulein von Dachsberg, »wenn alles um uns still und ruhig ist, dann kommt oft ein Gedanke, den wir immer wieder und wieder denken können.«

»Zum Beispiel an unsere Schulden«, flüsterte Graf Minsky dem Baron Fürwit zu. Das Fräulein von Dietheim jedoch hatte es gehört und sagte: »Schämen Sie sich, Graf.«

»Die Nachtigall hat ganz recht«, begann jetzt die Fürstin, »wenn wir ein Gefühl haben, das uns glücklich macht, oder einen schönen Gedanken, warum sollen wir dieses Gefühl nicht immer fühlen und diesen Gedanken nicht immer wieder denken?«

Eifrig stimmten alle zu, und Baron Fürwit murmelte: »Sehr schön.«

»Mein Onkel, der General Bagration«, berichtete Graf Minsky, »haßt die Nachtigallen. Wenn sich eine in seinen Park verirrt, läßt er sie abschießen. Er sagt: der Gesang der Nachtigall klinge nach bösem Gewissen.«

»Dann hat der Herr wohl selbst kein gutes Gewissen«, bemerkte die Fürstin Kusmin.

»Sehr möglich«, bestätigte der Graf, »wenn man lange General im Kaukasus gewesen ist, da hat man manches erlebt.«

»Jetzt fängt sie an«, sagte die Fürstin.

»Ja, bitte um Ruhe«, flüsterte Baron Fürwit, und er wandte sich auch an die jüngere Gesellschaft, um Ruhe für die Nachtigall zu erlangen.

Aus dem Erlendickicht, das in der niedersinkenden Dämmerung schwarz und regungslos dastand, klangen die ersten Töne von der Nachtigall herüber, zuerst zögernd und wie suchend, dann wurde die kleine, erregte Stimme sicherer und lauter, bis sie endlich leidenschaftlich und hastig ihr Lied in den Abend hinausrief. Die Zuhörer nahmen weiche, nachdenkliche Stellungen an, die Augen schauten verträumt vor sich hin, die Fürstin Kusmin bedeckte die Augen mit der Hand, Fräulein von Dachsberg hatte ein mitleidiges Lächeln auf den Lippen, und der Graf Minsky saß da, den Kopf zur Schulter geneigt. Eine zweite Nachtigall setzte jetzt ein, es war, als wollte sie ihre Gefährtin übertönen, und auf der anderen Seite erwachte ein ganzer Chor, aus allen Büschen erklang das Flöten und Rollen, und jede dieser vielen Stimmen behielt doch ihre Einsamkeit, erzählte für sich ihre kleine leidenschaftliche Geschichte. In der Gesellschaft entstand einen Augenblick eine Bewegung, der Baron Fürwit flüsterte der Fürstin Kusmin zu: »Die Erbprinzessin weint.« Die Fürstin gab die Nachricht an Fräulein von Dietheim weiter, und diese erhob sich leise, ging zur Erbprinzessin hinüber, um ihr Kölnisches Wasser anzubieten. Auch drüben bei den jungen Mädchen wurde es unruhig, die Pfarrerstöchter konnten nicht mehr stillsitzen, sie mußten ein wenig gehen, und Henriette von Üchtlitz schloß sich ihnen an. Hilda berührte Mariens Schulter und flüsterte: »Gehen wir auch?«

»Gewiß«, erwiderte Marie erfreut und nahm Hildas Arm. Felix sprang auf, um die Freundinnen zu begleiten. Seit den Tennispartien im Schlosse hielt er das für sein Recht.

Schmale Wege führten durch das Erlengebüsch hindurch. Hier war es dämmerig und duftete stark nach jungem Laub, am Rande des Hügels aber sah man auf das Land herab, das flach und farblos dalag, nur die Nebel, die vom Bache aufstiegen, zeichneten ein leuchtend weißes Band hinein. Unten im Vorwerk erglommen in den Fenstern trübe, rote Lichter, und vor den Häusern schlangen Kinder einen Reigen, sie waren im Hemde, kleine, weiße Gestalten, hielten sich an den Händen und sangen ein Lied vom »blauen, blauen Fingerhut«, und die dünnen, heiseren Stimmchen mischten sich in das Schlagen der Nachtigall.

»Ich weiß sehr gut, warum du heute wieder die Flügel hängen lässest,« sagte Hilda zu Felix, und ihre Stimme klang gereizt, »du hast wohl die Auseinandersetzung mit deinem Vater gehabt.«

»Nun ja«, erwiderte Felix, »so etwas erhöht nicht gerade die Stimmung, aber sollen wir jetzt davon sprechen?«

»Ja, ja, gerade davon will ich sprechen«, fuhr Hilda fort, »ich finde es unmännlich, sich so niederdrücken zu lassen. Als du deine Schulden machtest, wußtest du, daß die Szene mit deinem Vater kommen mußte; kann man so etwas nicht ertragen, nun, so macht man keine Schulden. Macht man die Dummheiten aber doch, so erträgt man die Folgen und macht nicht ein Gesicht wie ein Bube, der in den Winkel gestellt worden ist.«

»Du hast gut predigen«, entgegnete Felix, die Stimme heiser vor Erregung, »laß dich einmal so behandeln, als wärest du der Auswurf der Menschheit, als wärest du unwürdig, noch zur Familie zu gehören, und was weiß ich, nur um einiger hundert Mark willen. Gut, man ist abhängig, aber es ist nicht angenehm, wenn an dem Stricke, der einen bindet, immer wieder gezerrt wird.«

»Gut, ist das zu demütigend«, meinte Hilda, »dann mache keine Schulden; aber ich finde es lächerlich, wenn ein Mann nicht den Mut seiner Dummheiten hat.«

»Ach, ich kann das so verstehen«, mischte sich nun Marie in das Gespräch, »ich würde in solchen Augenblicken sterben.«

»Nicht wahr«, rief Felix, froh über den unerwarteten Beistand, »aber Hilda versteht das nicht, sie hat so ein Heldenideal, und wenn man nicht ganz so ist, wie ihre Romanhelden, dann verachtet sie einen.«

»Von Helden ist hier nicht die Rede«, höhnte Hilda, ihre Stimme zitterte, und das Weinen war ihr nah, »mir ist nur diese Weichlichkeit zuwider. Übrigens, wenn ihr euch so gut versteht, bin ich ja unnütz, bitte.«

Sie ließ Mariens Arm los, trat zurück und verschwand hinter den Büschen. Betroffen blieben die beiden stehen, Felix zuckte die Achseln und meinte: »So ist sie immer, ein gutes Mädchen, aber zu leidenschaftlich. Man soll immer so sein, wie sie es verlangt, aber ich habe nun mal nicht diese edle Männlichkeit, von der sie träumt, wo soll ich sie hernehmen?«

»Das muß schrecklich sein, Schulden zu haben«, sagte Marie.

Felix lachte: »Oh, das ist nicht so schlimm.« Beide schwiegen dann, Marie schaute befangen zu Boden. Endlich sagte Felix leise: »Es ist wohl etwas Unerhörtes, daß Hilda uns hier so allein läßt?«

Marie lachte: »Ja, aber ich habe schon zuweilen etwas Unerhörtes getan.«

»So, nun dann können wir noch ein wenig weiter gehen.« Sie schritten langsam zwischen den Büschen hin.

»Gestern um die Mittagszeit«, erzählte Felix, »war ich in Gutheiden im Park.«

»Bei uns?« fragte Marie.

»Ja, es ist natürlich unschicklich, ohne Erlaubnis in einen fremden Park zu gehen, aber was angenehm ist, ist gewöhnlich unschicklich. Dort ist ein kleiner, schwarzer Teich und Fliederbüsche und eine Steinbank, dort saß ich. Durch die langen Alleen hindurch konnte ich bis zum Schlosse sehen, gerade ein Stück der Gartentreppe sah ich und kleine, blaue und rosa Gestalten, die dort ab- und zugingen.«

Marie blieb stehen und sagte besorgt: »Ich glaube, wir müssen zu den anderen zurückgehen. Ich fürchte, Fräulein von Dachsberg fängt schon an, mich zu suchen.«

»Gut«, erwiderte Felix, »aber bitte, wollen wir noch einen Augenblick hier stehen, nur so einen Augenblick still beieinander stehen.«

Sie waren dicht vom Erlengestrüpp umgeben, der Nachttau raschelte im Laub, ganz nah bei ihnen schlug eine Nachtigall. Marie sah Felix an, sein Gesicht hatte einen hübschen, andächtigen Ausdruck, er schaute an ihr vorüber. Wenn ich nicht eine Prinzessin wäre, dachte Marie, würde er mich jetzt küssen, und dann wurde ihr seltsam weich um das Herz, denn sie fühlte, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie fuhr mit der Hand nach den Augen.

»Weinen?« fragte Felix.

»Nein, nein«, sagte Marie angstvoll, »gehen wir schnell zu den anderen zurück.«

Eilig und schweigend schlugen sie den Rückweg ein.

Nur einmal sagte Felix: »Wenn wir hier gehen, kommen wir unbemerkt zu den anderen.«

Ihr Wiedererscheinen in der Gesellschaft fiel nicht auf, denn es war dort eben eine kleine Aufregung entstanden, Fräulein von Dietheim war ohnmächtig geworden und wurde von den besorgten Damen umringt.

»Sie verträgt die Nachtigallen nicht«, sagte Streith zu Roxane.

»So nervös zu sein«, erwiderte diese.

Streith hatte den ganzen Abend versucht, eine Unterhaltung mit Roxane anzuknüpfen, hatte jedoch stets kühle und abweisende Antworten erhalten.

Da es stark zu dunkeln begann und der Abend feucht wurde, gab die Fürstin das Zeichen zum Aufbruch. Streith führte sie den Hügel hinab.

»Es war sehr schön«, sagte die Fürstin, »wir in unserem stillen Winkel werden eben zu einfachen Menschen. Die Armen, die aus der großen Welt mit ihren komplizierten Herzen kommen, die greift ein Nachtigallenabend an.«

»Einfach, ja, hm«, meinte Streith, »stark werden wir.«

Unten standen die Wagen bereit. Die Pfarrerstöchter wollten zu Fuß gehen, und die Fahrenden hörten noch vom Feldwege her die klaren Stimmen der beiden Mädchen in die Mainacht hinausgingen:

»In einem kühlen Grunde,
Da rauscht ein Mühlenrad,
Mein Liebchen ist verschwunden,
Das dort gewohnet hat.«

*


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