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Graf Hermann Keyserlings politische Ideen

(1919)

In den Tagen, wo ein Friede von einer Grausamkeit und Raubgier, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, fünfjähriges Schönreden der Sieger über Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Selbstbestimmungsrecht der Völker krönt, hält es schwer, Ideen und Ideale im Völkerleben als etwas anderes denn Trug und Dunst zu halten; Kanonen und Gold scheinen einzig entscheidend mitzusprechen. Aber die Schamlosigkeit, mit der ein beispielloser Ideenschwindel von seinen eigenen Urhebern vor der Welt aufgedeckt wird, darf ebensowenig über den wirklichen Wert von Ideen in der Politik täuschen, wie Banknotenfälscher den Schluß rechtfertigen, daß Banken für gewöhnlich falsche Noten ausgeben, ohne daß alle Banknoten falsch und wertlos sind. In Wirklichkeit gibt es keine politische Macht, die ohne tragende Ideen Bestand hätte; und gerade der Weltkrieg hat das bewiesen. Selbst die geheuchelten und fadenscheinigen, armseligen Ideen der Entente-Politiker waren besser und stärker als gar keine; und wenn Deutschland den Krieg verloren hat, wenn es moralisch morsch wurde, wenn es schließlich mehr an seiner eigenen Fäulnis im Innern zusammenbrach wie unter den Schlägen und Druckmitteln seiner Feinde, so lag das an der vollkommenen Ideenlosigkeit, am Materialismus, an der geistigen und ethischen Hohlheit seines politischen und öffentlichen Geistes seit dreißig Jahren. Deutsche Volksgenossen sind zu Hunderttausenden im Kriege mit einem Heldenmute und Idealismus ohnegleichen in den Tod gegangen; doch der Preußische und Deutsche Staat als Ganzes beherbergte in den letzten Jahrzehnten unter vielem falschen Flitter und einem soliden, aus Gold und Eisen geschmiedeten Leibe nicht die kleinste lebendige Idee, kaum noch den armseligsten Tropfen von echtem Idealismus. Der Staat Fichtes und Schleiermachers, Hegels und Humboldts, der Staat, der auf den Flügeln der leuchtendsten und tiefsten Ideen, die es jemals gegeben hat, emporgestiegen war in seinen Zenith, war seit dreißig Jahren in seinem offiziellen Mittelpunkte bar aller lebendigen Ideen wie kein Staat seit Byzanz. Was und wer diesen beispiellosen geistigen Absturz eines ganzen offiziellen Staatsgefüges, dem der politische und militärische gefolgt ist, verschuldet hat, kann heute hier unerörtert bleiben. Die Hauptsache ist, daß der Zusammenhang erkannt und für die heutige Situation die richtigen Folgerungen daraus gezogen werden: daß nämlich, auch wenn der furchtbare Gewaltdruck auf Deutschland nicht lastete, ja selbst wenn Deutschland infolge der fast gleichen geistigen und moralischen Erbärmlichkeit seiner Gegner gesiegt hätte, nur große Ideen, der Glaube und die Arbeit an echten allgemeinmenschlichen Idealen, nach den Verwüstungen der letzten Jahre wieder helfen, wieder Gesundheit und Blüte hervorbringen können. Denker und Idealisten hat Deutschland heute nötiger als Politiker oder Soldaten. Von diesem Gesichtspunkte ist die Bedeutung der Denkarbeit eines Mannes wie Graf Hermann Keyserling für die deutsche Politik abzuschätzen.

Graf Keyserling, dem sein ›Gefüge der Welt‹ und sein Buch über ›Unsterblichkeit‹ einen europäischen Namen bereits vor dem Kriege gemacht hatten, und der vor kurzem in der Form eines Reisetagebuches Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen. München und Leipzig: Duncker & Humblot 1919. ein philosophisches Welterlebnis größten Stils gestaltet hat, ist von denen, die bisher an diese wichtigste Aufgabe herangetreten sind, einer von den tiefsten und überzeugendsten. In zwei Aufsätzen, von denen der eine Hermann Graf Keyserling: Unser Beruf in der veränderten Welt. in: Der Leuchter. Hrsg. von Alexander von Gleichen-Rußwurm, Hermann Graf Keyserling, Leopold von Wiese u. a. Darmstadt: Otto Reichl 1919, S. 27–49. im Sammelband ›Der Leuchter‹, der andere Hermann Graf Keyserling: Deutschlands wahre politische Mission. Darmstadt: Otto Reichl 1919. als Broschüre erschienen ist, hat er die Frage behandelt, auf welcher Ideengrundlage Deutschland neu aufgebaut und seiner ihm zukommenden Rolle in der Welt wieder zugeführt werden kann.

Er geht davon aus, daß der Weltkrieg trotz aller tiefen Wunden, die er der Menschheit geschlagen hat, trotz der Risse, die überall entstanden sind, eine Epoche engeren Zusammenlebens, regeren Austausches, tieferen gegenseitigen Interesses und Verständnisses zwischen den Völkern einleitet. »Ein Geist weltumspannender, an ewigen Werten orientierter Universalität, in jeder Hinsicht dem entgegengesetzt, der sich im Kriege auswirkt, ist allenthalben das werdende Produkt eines Geschehens, das ihn logischerweise für immer hätte auslöschen sollen. Universalistisch denken alle überlegenen Geister in allen Landen, und auf die Dauer verkörpern doch sie die stärkste Macht ... Was wird, was kann die Rolle der Deutschen sein in dieser veränderten Welt?« H. Graf Keyserling: Unser Beruf in der veränderten Welt S. 28, 33, 37. Keyserling beantwortet diese Frage, indem er sagt: »Der Deutsche ist nicht politisch veranlagt, hat wenig Beruf zu einer Kultur der schönen Form, ist weniger erfinderisch als manche, weniger ausdrucksfähig; aber als Einzigem eignet ihm die Gabe angeborener Universalität ... Die neue Ära wird gerade das vom Europäer verlangen, worin der Deutsche die übrigen übertrifft.« Wer denkt hier nicht an Nietzsche und seinen aus tiefer deutscher Kultur geborenen Begriff des »guten Europäers«, an Wilhelm von Humboldt, den Typus des Kosmopoliten, an Goethe, den größten Deutschen und zugleich den größten Europäer aller Zeiten, an Herder, der aus dem deutschen Volkslied die Seele aller Völker verstehen lernte, an Leibniz, der in einer Zeit ähnlichen Verfalls deutscher Macht wie der heutigen der führende Geist Europas war, an den größten deutschen und den größten europäischen Mystiker, Meister Ekkehard, der in seine Seele wie in einen Brunnen hinunterstieg, um darin den weltumspannenden Gott zu entdecken, an die deutsche Musik, die trotz aller leuchtenden Schönheit des Südens die europäische Musik an sich geworden ist? Dieser erlauchten Ahnenreihe gilt es zu folgen, wenn wir mit gebrochenem Herzen, aber mit stolzer Seele aus unserer Erniedrigung emporsteigen wollen.

Die zweite Grundlage des kommenden Zeitalters sieht Keyserling im Sozialismus. »Der sozialistische Gedanke grenzt ohne Zweifel die Lebensbasis ab, auf der wir alle einmal fußen werden und schon heute fußen.« Und er begründet dieses damit, daß »der Kantsche Grundsatz, kein Mensch dürfe jemals als reines Mittel, er müsse als Selbstzweck behandelt werden, bei uns nur mehr auf sozialistisch durchführbar« H. Graf Keyserling: Deutschlands wahre politische Mission S. 44. scheine. Dazu führt er in einem Artikel der ›Neuen Europäischen Zeitung‹ H. Graf Keyserling: Der Sozialismus als allgemeine Lehensbasis. in: Neue Europäische Zeitung vom 26.11.1918; wieder abgedruckt in: Deutschlands wahre politische Mission S. 44-47. weiter aus: »Es ist eines der tragischen Mißverständnisse dieser Zeit, daß der Sozialismus noch immer als Parteifrage verstanden und behandelt wird, und dies von Anhängern sowohl als Gegnern. In Wahrheit wurzelt sein Gedanke tief unter allen Parteien; er weist über alle mögliche Parteibildung hinaus. Sein Ideengehalt umgrenzt eine neue Lebensbasis, oberhalb derer erst von Parteiprogrammen die Rede sein kann. Man kann Sozialist sein und im übrigen konservativ, liberal oder radikal. Wie im Altertum eine Verwandlung der Gesamteinstellung dem Leben gegenüber die heidnische Menschheit zur christlichen umschuf... sind heute alle lebendigen Menschen Sozialisten, insofern eine bestimmte ›Bekehrung‹ in sozialpolitischer und ökonomischer Hinsicht in ihnen Platz gegriffen hat, während die Mehrzahl sich noch sträubt und auch immer sträuben wird, sich zu einem der heute gültigen sozialdemokratischen Programme zu bekennen.« Keyserling verlangt daher: »Eines vor allem muß Deutschland gelingen, dann ist eine große Zukunft ihm gewiß: es muß den Gedanken des Sozialismus aus aller Parteigrammatik herauslösen und ihm den universellen Sinn verleihen, den er tatsächlich besitzt: Solidarität zwischen allen Völkern und Menschen.« ebd. S. 43

So muß sich der Universalismus mit dem Sozialismus verbinden, um, wie Graf Keyserling meint, und wie es auch unsere Meinung ist, das kommende Zeitalter zu gestalten. Und wie Deutschland an den Universalismus mit der erlauchtesten Tradition herangehen kann, so trägt es auch für den sozialistischen Neubau der Welt nicht bloß die größten und exaktesten Denker bei: Marx, Engels, Lassalle, sondern auch die längste sozialpolitische Praxis und das größte natürliche Talent des Volkes, einem sozialistischen Ideale sich einzuordnen. Das alte Preußen, dessen Schöpfer und Lehrmeister Friedrich der Große und Kant waren, dessen Rückgrat der Begriff der Pflicht und die Aufopferung für das Gesamtwohl bildete, hinterläßt gerade hierin dem neuen Deutschland und der zukünftigen Weltordnung ein unschätzbar reiches Erbe.

Was dem heutigen Deutschland dazu fehlt, um diese ungeheuren Möglichkeiten für sich und die Menschheit zu verwirklichen, ist vielleicht, wie Ernst Bloch in einem übrigens ungerechten und einseitigen Aufsatze der ›Weißen Blätter‹ Ernst Bloch: Wie ist Sozialismus möglich? in: Die Weißen Blätter. Eine Monatsschrift. Hrsg. von René Schickele. Berlin: Paul Cassirer. 6. Jg. Heft 5, Quartal April/Juni 1919, S. 193-201. ausführt, das Herz, die allumfassende geistgetränkte Güte, durch die hohe Ziele menschlich werden; das Marienhafte, durch dessen Lächeln die rohe Farbigkeit des Mittelalters, sein harter Eigennutz, seine blutige Gewaltpolitik, verklärt und vergöttlicht erscheinen; die Dostojewskische allumfassende Liebe, durch die der Schmutz, die Unordnung, das Elend des russischen Lebens als Schauplatz eines neuen Evangeliums ewig leuchten werden. Denn nur durch die Liebe wird das Wort Fleisch, können Ideale in ihrer Echtheit und nicht bloß als Schein in warmes, zeugendes Leben verwandelt werden.

Keyserling hat dieses ebenso gefühlt, aber gerechter und tiefer erfaßt wie Bloch. Das Problem, das im Mittelpunkt seiner ganzen Philosophie steht: das Problem der Vollendung, der » Selbstverwirklichung«, verengert sich ihm hier zur Frage der deutschen Zukunft. In seinem ›Reisetagebuch‹ sagt er einmal, es sei das Ziel unserer Zeit, daß »Glaube und Sein zu Eins werden; und es nun gilt, vollkommen ernst zu machen mit der Selbstbestimmung«. Auf einem anderen Blatte desselben Buches wiederholt er denselben Gedanken in einer wunderbar schönen mystischen Formulierung: »Immer handelt es sich darum, daß das Instrument ›Mensch‹ so gestimmt werde, daß Gott daraufspielen kann.« H. Graf Keyserling: Das Reisetagebuch S. 78. Dasselbe gilt von den Nationen.

So wird Keyserling die Frage der »wahren politischen Mission Deutschlands« zur Frage, wie Deutschland sich von der gegebenen Grundlage aus am vollkommensten selbst verwirklichen kann? In seiner Broschüre bezeichnet er dieses Ziel mit dem Wort »Spiritualisierung«. Spiritualität sei »Fleisch gewordenes Wort; und auf sie allein kommt es im Letzten an«. Und weiter: »Spiritualisierung, mithin Vergöttlichung.« Hier setzt in der Tat die wirkliche Arbeit ein, die nicht Politiker oder Geschäftsleute, sondern nur große, herzenswarme Menschen leisten können. Sie läßt sich nicht auf dem Papier oder am Schreibtisch, sondern nur im Leben leisten. Der Denker kann ihr nur ihre Richtung geben. Für Keyserling besteht die »wahre politische Mission« Deutschlands »in den Aufgaben, die soziale Frage zu lösen, die ideale Demokratie zu begründen, den Weg über die politische Notwendigkeit hinauszuweisen«. H. Graf Keyserling: Deutschlands wahre politische Mission S. 41. Und dieses so zu tun, daß die Lösung für andere Völker »vorbildlich im Sinne einer spezifischen Vollkommenheit wird«. ebd. S. 33. Insofern ist das Problem der deutschen Zukunft und der Wiederaufrichtung Deutschlands ein innenpolitisches und eine dem Herzen jedes einzelnen Deutschen auferlegte Prüfung und Pflicht.

Außenpolitisch wird es dadurch, daß ein solcher innerer und menschlicher Aufbau nur möglich ist im Rahmen einer Welt, die ihn duldet und ihn nicht unmöglich macht. Hier greift der Universalismus ein, dessen politische Form in der heutigen Epoche nur bewußte Organisation der Welt als Völkerbund sein kann. Deutschlands Außenpolitik kann, wenn man Keyserlings Gedankengängen folgt und sie billigt, nur gerichtet sein auf einen möglichst gerechten, sozialen und dauerhaften Völkerbund. Er selbst formuliert als sein allgemein universal-politisches Ziel: »Jeder Mensch soll ganz Mensch sein, jede Nation frei sich entwickeln können, ihrem Ideale zu: hierzu bedarf es zunächst einer vollkommenen Organisation des nationalen wie internationalen Zusammenhanges

Wie eine solche Weltorganisation praktisch möglich ist, untersuche ich in meiner Schrift ›Der Weltrat der Völker‹. Harry Graf Kessler: Der Weltrat der Völker. Berlin: Verlag der Sozialistischen Monatshefte 1919 Keyserling stellt ideal eine ganz ähnliche Forderung auf: vor allem stellt er als politische Forderung ein Ideal auf. Dieses ist das wichtigste. Denn nur über ein allgemein menschliches Ideal führt der Weg wieder zu Deutschlands Gesundung. Haben wir das aber, so können wir wie Prometheus aller Fesseln spotten und aller Gewalt mit der Sicherheit des Sieges unser »Und Dennoch« entgegensetzen. Hierin liegt zukünftig unser Heldentum, in der festen Erfassung und standhaften Verfolgung eines Ideals; nicht in heroischen Gesten oder nutzlosen Opfern. Indem Graf Keyserling ein solches Ziel aus unserer Veranlagung entwickelt und vor unseren Augen das Ideal der deutschen Selbstverwirklichung auf sozialer und universaler Grundlage aufstellt, hat er, wie wir meinen, den richtigen Weg zu unserer Wiederaufrichtung gewiesen.


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