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Erst vier Jahre war Theobald alt, als die Eltern an einem Nachmittag nach Heilbronn fuhren.
Wir Kinder sollten diesmal bei der Magd zu Hause bleiben. Auf einmal war Theobald verschwunden und zum großen Jammer der Magd nirgends zu finden. Die Eltern hatten an einem Wirtshaus vor der Stadt auf dem Weg nach Weinsberg ihr Gefährt stehen, und als sie abends einsteigen wollten, lag der Theobald im Wagen und schlief fest. Er war ganz allein die Stunde Wegs nach Heilbronn gegangen.
Wir durften oft mit den Eltern dorthin zu lieben Freunden, was uns jedesmal ein großes Fest war. Das Schönste davon war aber abends die Heimfahrt, wo wir beide auf dem Boden der Chaise zu den Füßen der Eltern sitzen durften. Das Spritzleder war heraufgezogen; wir erzählten uns Geschichten und schliefen bald ein, meistens erwachten wir am Weinsberger Tor und am Aufschließen desselben. Wie gerne wären wir so die Nacht hindurch gefahren.
Damals war Weinsberg noch ganz von Mauern umgeben und die Tore wurden mit Einbruch der Nacht geschlossen. Fünf Jahre mochte Theobald alt gewesen sein, als er sich auf der Straße den Arm auseinanderfiel. Statt mit Jammern zu seiner Mutter zu laufen, ging er allein zu dem ihm wohlbekannten Wundarzt, und dieser brachte ihn mit dem eingerichteten festumwickelten Arm den Eltern zurück. Wenn Theobald hinfiel, tat er, als liege er mit allem Willen auf dem Boden und wolle etwas in den Sand schreiben. Er ließ sich nie einen Schmerz anmerken. Wahrscheinlich durch des Vaters Untersuchungen bei den Tieren angeregt, machten auch wir häufig chemische Versuche; Rosenblätter, Salz, Räucherkerzen, überhaupt alles, was wir bekommen konnten, mischten wir zusammen, kein Arzneirest war vor uns sicher. Wie freuten wir uns, hatten wir eine solche Mischung veranstaltet, auf den nächsten Tag, denn wir glaubten bestimmt, über Nacht habe sich dieselbe in etwas ganz Wunderbares verwandelt. Einmal ließen wir der Mutter keine Ruhe, bis sie uns eine kleine Flasche mit Wein füllte; die trugen wir in den Wald, begruben sie unter einem Ameisenhaufen und meinten, wenn wir sie nach einiger Zeit holten, würden wir etwas ganz Besonderes haben. Leider fanden wir sie aber gar nicht mehr vor, als wir danach suchten.
Sehr schön war es auch, wenn wir mit den Eltern nach Stuttgart durften. Schon das Aufstehen in der Nacht – man reiste schon morgens um drei Uhr ab, meistens mit dem alten Rappen, der stets noch treue Dienste leistete – das Frühstück bei Licht, wie gut der Wecken von dem Tag vorher dabei schmeckte! das Fahren in den Tag hinein, dann das Mittagessen in der Post zu Besigheim und vollends, wenn man am Stuttgarter Königstor halten mußte, die Wache heraustrat und nach dem Namen, wo man herkomme, was man in Stuttgart zu tun habe und wo man logiere, gefragt wurde, das alles war mir sehr wichtig.
Wenn wir dann zum Onkel Geheimerat, Freiherr Carl von Kerner, dem ältesten Bruder meines Vaters, kamen, in das schöne große Haus, von ihm, der Tante und der lieben Cousine Lina, die mir immer das Ideal von Schönheit war, so herzlich bewillkommt, da war ich ganz stolz, besonders auch auf Onkels viele Orden und wie vornehm und schön er aussah. Später erzählte er mir oft von Rußland, dem Übergang über die Beresina und von seiner Heimkehr; wie er, der früher so kräftige Mann, nur noch mühsam am Stocke habe gehen können und wie er jahrelang von den Schneefeldern und den grausenhaften Szenen darauf geträumt habe. Von Thorn aus, wo sich die wenigen noch überlebenden Württemberger sammelten, sollte ein höherer Offizier den anderen voraus nach Stuttgart, um König Friedrich ihre Ankunft zu melden. Wenngleich selbst kaum imstande, sich aufrecht zu erhalten, übernahm Generalmajor von Kerner doch diesen Auftrag. Wie nun der früher so kräftige, noch junge Mann gleich einem Greise gebückt am Stock gehend und abgezehrt vor den König trat, fuhr dieser heftig auf: »Warum kommen Sie, eine solche Jammergestalt, und kein anderer?« Als aber der General darauf erwiderte: »Majestät, Sie sehen hier den kräftigsten von den wenigen, die zurückkehren, vor sich«, da brach der König in lautes Weinen aus.
Das Bild seines Kindes, das er in einem Etui auf dem Herzen trug, rettete ihm das Leben, indem eine Kugel an demselben abprallte. Er kam trotz seiner Tapferkeit aus so vielen Schlachten unverwundet zurück, doch war durch den russischen Feldzug auf lange Zeit sein Körper so geschwächt, daß er aus dem Kriegsdienste trat. Von König Friedrich zum Staatsrat und Chef des Berg- und Hüttenwesens ernannt, widmete er sich ausschließlich der Leitung der Eisenwerke des Staates und brachte dieselben zu einer bis dahin nie gekannten Blüte.
Seine Wirksamkeit als Chef des Berg- und Hüttenwesens wurde zwar in dem für die vaterländische Staatsorganisation so wichtigen Jahre 1817 dadurch beschränkt, daß er in den k. Geheimerat und zur provisorischen Leitung des Ministeriums des Innern berufen wurde. Doch bald kehrte er wieder zu dem seinen Lieblingsneigungen entsprechenden engeren Kreise seiner früheren Tätigkeit zurück.
Er war ein durch seine Leistungen um das Vaterland hochverdienter Mann, ein frommer Christ, ausgezeichnet durch Herzensgüte und Reinheit des Charakters. Er starb am 12. April 1840 in Stuttgart.
Drei Jahre hielten die Eltern in ihrer ersten Wohnung in Weinsberg aus, länger war es nicht mehr möglich. Die Frau des Hausbesitzers war von einer zügellosen Heftigkeit, und die Kinder, zum Teil schon erwachsen, betrugen sich auf das ungezogenste. Für uns Kinder konnte der Umgang mit den jüngeren Kindern auch nicht von Nutzen sein. Eine andere Wohnung war nicht zu finden. Nur einmal zeigte sich Aussicht dazu. Im Dekanatshause war das Parterre unbewohnt, und mit nur geringen Kosten hätte man dasselbe zu einer Wohnung einrichten können. Die Eltern besprachen sich mit dem alten Herrn Dekan, der auch eine große Freude äußerte, »so liebe Hausgenossen« zu bekommen. Die Domänenkammer hatte die Erlaubnis zur Benützung der Wohnung zu erteilen, und zur großen Freude der Eltern traf diese auch ein.
Wir waren glückselig darüber. Ich hatte gerade vorher in der Schule das Lied: »Sollt es gleich bisweilen scheinen usw.« auswendig gelernt, und ich erinnere mich noch, wie ich es nach der erhaltenen Nachricht hersagte, als ob es allein für uns gemacht wäre. Die Mutter ging zum Herrn Dekan, um ihm gleich die frohe Nachricht zu bringen. Wie erstaunte sie aber, als dieser sie ganz zornig anfuhr: »Ich protestiere dagegen!« – »Aber Herr Dekan, Sie äußerten ja selbst eine Freude darüber«, meinte die Mutter. »Drum glaubte ich, es ließe sich nicht machen«, war die Entgegnung.
Auf dieses hin beschlossen die Eltern, ein eigenes Haus zu bauen; wenn auch noch so klein und bescheiden, war es doch besser, als sich noch länger in der Miete zu plagen. Die Gemeinde Weinsberg schenkte hiezu dem Vater, zugleich mit dem Bürgerrecht, den an der nordöstlichen Ecke der Stadt an der Straße nach Öhringen gelegenen Teil des früheren Stadtgrabens, und im Jahre 1822 wurde auf diesem Platze das Haus durch Werkmeister Hildt von Weinsberg erbaut.
Hildts, der uns freundschaftlich nahegekommen, möchte ich in folgendem noch besonders gedenken.
Ein Steinhauergeselle aus Oppelspohm, entzog sich Hildt zur Zeit der napoleonischen Kriege der Militärpflicht und begab sich nach Norddeutschland. In Hanau wurde er für einen Spion gehalten, gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Mit Not entkam er der Vollziehung dieses Urteils, kehrte in das Vaterland zurück, fing sein Steinhauergeschäft in Weinsberg an und verlobte sich dort mit der Tochter eines angesehenen Bürgers. Von neidischen Handwerksgenossen als Fahnenflüchtiger denunziert, wurde er zu sechsjähriger Festungsstrafe verurteilt. Während der Erstehung seiner Strafe wurde er von einem höheren Offizier bei der Verfertigung einer Zeichnung überrascht, welche von ungewöhnlichem Talent zeugte. Infolgedessen wurde er auf Verwendung jenes Offiziers noch vor Ablauf seiner Strafzeit begnadigt. Er kehrte nach Weinsberg zurück und betrieb sein Geschäft auf eine Weise, die ihn in der Folge zu einem der vermöglichsten Einwohner machte. Seinen Feinden, die ihn verraten hatten, stand er als ein edler Mann später hülfreich bei.
Es ging nun eine schöne Zeit für uns Kinder an. Wir kamen kaum vom Bauplatz hinweg. Sobald die Schule vorüber war, glaubten wir uns dort sehr nötig; Theobald hatte einen kleinen Hammer und Meißel bekommen, sowie einen Arbeitsschurz; da stand er nun wie ein wirklicher Steinhauer und ließ es sich recht sauer werden. Als der Keller gegraben wurde, wartete ich immer auf große Schätze und Altertümer, die zutage kommen sollten, aber damit war es nichts. Endlich war der Keller gewölbt, und der Grundstein wurde gelegt. Dieser wurde so weit ausgehauen, daß eine Glasröhre Platz darin fand, in welche ein Pergamentblatt kam, auf dem geschrieben stand:
»Dieses Haus ward mit Gott erbaut von Justinus Kerner dem Arzte, der auch Lieder sang, und seiner Hausfrau Friederike im Jahre Eintausendachthundertzwanzig und zwei. Zur Zeit, wo des Himmels Gestirne wärmend wie kaum je niederschauten auf Berg und Tal, aber Europas Herrscher, abgewandt von dem Himmel, kalt stunden und zuschauten dem teuflischen Morde von Hellas.«
Das Rohr wurde, mit noch verschiedenen Münzen, von Theobald in den Stein gelegt und darauf weitergebaut. Bald wurde das Haus aufgeschlagen und, als dies fertig war, ein großer Tannenbaum auf das Dach gesteckt, an dem bunte Schleifen und Taschentücher lustig im Winde flatterten. Ein Zimmermann stand hoch oben neben dem Tannenbaum und sprach mit lauter Stimme zu der versammelten Menge den Zimmerspruch von Uhland:
Das neue Haus ist aufgericht't,
Gedeckt, gemauert ist es nicht,
Noch können Regen und Sonnenschein
Von oben und überall herein:
Drum rufen wir zum Meister der Welt,
Er wolle von dem Himmelszelt
Nur Heil und Segen gießen aus
Hier über dieses offne Haus.
Zuoberst woll' er gut Gedeihn
In die Kornböden uns verleihn,
In die Stube Fleiß und Frömmigkeit,
In die Küche Maß und Reinlichkeit,
In den Stall Gesundheit allermeist,
In den Keller dem Wein einen guten Geist;
Die Fenster und Pforten woll' er weihn,
Daß nichts Unseligs komm' herein
Und daß aus dieser neuen Tür
Bald fromme Kindlein springen für.
Nun, Maurer, decket und mauret aus!
Der Segen Gottes ist im Haus.
Er trank auf die Gesundheit des Königs, der Eltern, des Baumeisters usw. Dann schleuderte er nach alter Sitte das Glas von oben herab auf die Erde. Dasselbe fiel unversehrt zu den Füßen eines Knaben, der es sorgsam aufhob. Dieser Knabe war mein künftiger Gatte, Emil Niethammer.
An dem Haus wurde, für die damalige Zeit, sehr schnell gebaut, schon Anfang November bezogen wir dasselbe. Die Eltern waren sehr glücklich, nach langer Plage und Einschränkung besaßen sie nun ein Eigentum. Es war ein bescheidenes, kleines Haus, aber die Liebe und der Frieden hatten Besitz davon genommen.
Das Haus hatte im Parterre ein Zimmer, welches als Fremdenzimmer benützt wurde, auch der Stall für das Pferd war im unteren Räume. Im ersten Stock befanden sich vier nicht große Zimmer und die Küche, alles freundlich und hell, unter dem Dach nur noch die Magdkammer und der Bühnenraum. Zum erstenmal wohnten wir jetzt auch in tapezierten Zimmern, und die Tapete des Wohnzimmers war unser Entzücken: sie stellte eine schöne morgenländische Landschaft dar; man sah schlanke Minaretts und eine Stadt, dann kam wieder ein langer Karawanenzug mit beladenen Kamelen, auf welchen verhüllte Frauen saßen, und Reiter auf flinken Pferden zogen daher. Weiterhin hatte sich ein Zug unter Palmbäume gelagert, da saßen Männer mit langen Pfeifen, vor welchen getanzt und erzählt wurde, alles in schönster Gruppierung. Wir konnten uns aus dieser Tapete die herzlichsten Märchen herauslesen.
Die größte Freude machte es uns, wenn ein Putztag kam, denn dann wurden die Bilder von der Wand genommen und die Möbel weggerückt, und wir konnten alles im schönsten Zusammenhang sehen. Diese Tapeten hatten dabei noch die gute Eigenschaft, so dauerhaft zu sein, daß noch meine Kinder sich Geschichten aus denselben erzählen konnten.
Neben und hinter dem Haus, bis zur Stadtmauer, war noch Platz zu einem Garten. Dieser wurde im darauffolgenden Frühjahr angelegt. Es wurden Bäume gepflanzt und die Rabatten mit Blumen ausgesteckt, deren Aufblühen wir kaum erwarten konnten.
Der Vater war besonders geschickt, Plätze zu entdecken und anzulegen, wo man allein, andere wieder, wo man in Gesellschaft sitzen konnte. Der Garten hatte eine Terrasse und wurde eingeteilt in den oberen und in den unteren Garten. Im oberen Garten wurde ein Laubgang angelegt, zuerst mit schnell wachsendem und bald Schatten gebendem Gesträuch bepflanzt; daneben wurden aber Reben gesetzt, die uns später noch besseren Schatten und köstliche Trauben brachten. Dort wurde sommers meistens zu Mittag gespeist. Auch am Haus hinauf wurden Reben gezogen, von welchen es bald ganz umwachsen war. Für jede Tageszeit war wieder ein besonders angenehmer Platz vorhanden. Wir waren mehr im Garten als im Haus und führten ein wunderschönes Leben. Ich sehe den Garten noch vor mir, wie er damals war, mit seinen vielen Blumen, Rittersporn, Schneeballen, Balsaminen, Levkojen und Postknechten, Theobalds Lieblingsblumen. Von allen diesen Blumen sehe und rieche ich keine, ohne daß der Garten in seiner ganzen Pracht von damals vor mir steht. Die meisten derselben sind jetzt aus der Mode, aber mir noch die liebsten durch die Erinnerung. In der Mitte des unteren Gartens stand eine Kugelakazie, damals war die Form derselben, wenigstens in Weinsberg, etwas ganz Neues, und als der Baum an einem Sonntag morgen vollends in der schönsten Blüte prangte, blieb alles stehen, um ihn zu bewundern. Der Vater hatte ihn noch spät abends mit Feuerlilien besteckt, eine Verschönerung, an der er selbst die größte Freude hatte und die er in der Folge noch öfter wiederholte, selbst als der Betrug längst entdeckt war.
Als wir kaum das neue Haus bezogen hatten, wurden wir, am 16. November, durch die Ankunft eines kleinen Schwesterleins erfreut, ein zierliches Mädchen mit großen Augen und langen schwarzen Haaren.
Theobald ging nun längst in die Schule. Der alte Lehrer für kleine Knaben, der wahrscheinlich des Unterrichtens müde war, schaffte sich oft dadurch Ruhe, daß er, mit dem Stock auf den Tisch schlagend, kommandierte: »Jetzt wird geschlafen.« Da mußten die Kinder den Kopf auf den Tisch legen und so eine Stunde zubringen. Nach dieser höchst eigentümlichen und bequemen Weise wurde der ganze Unterricht in dieser Schule betrieben. Deshalb umging man bei Theobald die Knabenschule und ließ ihn in die der Mädchen gehen, und von dort kam er schon in seinem sechsten Jahre in die Lateinschule. Viel Selbstbewußtsein gab ihm das Lernen, denn gleich am ersten Tag, an dem er in die Schule ging, rief er einem Knaben, der dieselbe noch nicht besuchte, vom Fenster aus zu: »Du Nichtskönner«. In der lateinischen Schule mußte er sehr viel lernen, seine Zeit war so ausgefüllt, daß er immer behauptete, nur in den Ferien habe er Zeit zu wachsen, deshalb bleibe er auch so klein.
Einen großen Teil unserer Jugendfreuden hatten wir unserem Onkel Ehmann in Öhringen zu danken. Einen liebevolleren Onkel konnte es nicht geben; sommers wie winters, mit wenigen Ausnahmen, kam er jeden Sonntag morgen die vier Stunden Wegs von Öhringen her zu uns gefahren. Wie oft sprangen wir die »Holdergasse« hinunter ihm entgegen und waren glücklich, wenn wir die »Schecken« sahen und dann zu ihm in die Droschke steigen durften. Es war ein offenes Gefährt ohne Dach, wir konnten nur so hineinspringen. Zuerst kamen dann aus seiner Tasche Laugenbretzeln, die in Öhringen besonders gut gebacken wurden, auch oft ein Laib im Haus gebackenen Brotes, das uns besser schmeckte als jedes andere. Er wußte uns immer viel zu erzählen und war voll herzlicher Zärtlichkeit mit uns. Wir durften viel bei ihm in Öhringen sein und hatten ein ungezwungenes lustiges Leben in seinem Haus und Garten. Zwölf Kinder starben ihm in frühester Jugend und er war doch ein solch großer Kinderfreund. Erst das dreizehnte Kind, eine Tochter, blieb ihm erhalten, die ihren Vater aber bald verlor. Ich muß oft mit Wehmut daran denken, wie viel von seiner Liebe wir genossen und wie wenig seinem eigenen Kinde davon zuteil werden konnte.
Dem Vater fehlte es noch mehr als uns, wenn einmal der Besuch seines Schwagers ausfiel. Die beiden waren sehr verschiedene Naturen, der Onkel, durchaus nicht dichterisch angelegt, war lebenslustig und jovial und hielt viel auf sein Äußeres. Er war kein großer, aber ein starker Mann, dem die Herzensgüte aus den Augen sah. Seine breite goldene Kette und der schön gestrickte Tabaksbeutel mit einer Rosengirlande von Perlen, den er meistens im Knopfloch trug, machten einen bleibenden Eindruck auf mich.
Trotz vieler Gegensätze in Temperament und Gewohnheiten waren mein Vater und der Onkel die innigsten Freunde, und es ist mir besonders rührend, wenn ich daran denke, wie jede Ehre und Auszeichnung, die dem Vater zuteil wurde und welche dieser mit der größten Ruhe hinnahm, den Onkel mit Stolz für seinen Freund erfüllte. Die meisten Besuche, die wir bekamen, mußte man dem guten Onkel bringen, dessen Gastfreundschaft keine Grenzen kannte. Besonders war Lenau ein fleißiger Gast in seinem Hause und von einem solchen Besuche schreibt sich dessen Gedicht her: »Auf ein Faß zu Öhringen«.
Der Onkel war ein eifriger Raucher und hielt sich immer schöne Meerschaumköpfe, die seinen Stolz bildeten, wenn sie schön angeraucht waren. Ein gemeinschaftlicher Bekannter von ihm und dem Vater, der Amtmann von Maienfels, rühmte sich indessen, ein noch größerer Meister im Anrauchen derselben zu sein. An einem Geburtstag des Amtmanns wurden Onkel Ehmann und der Vater in das Amthaus eingeladen, Theobald und ich durften auch mit. Als die Herren nach Tisch gemütlich beisammensaßen, brachte der Amtmann mit großer Feierlichkeit das schönste Exemplar eines von ihm kunstgerecht angerauchten Meerschaumkopfes herbei. Der Onkel als Kenner war ganz erstaunt ob seiner Schönheit, und lange bildete dieselbe das Thema der Unterhaltung der beiden Herren.
Theobald war gerade in der unseligen Periode, in die jeder Knabe mehr oder weniger kommt, an geeignete oder ungeeignete Stellen seinen Namen zu kritzeln. Ohne den Wert des unterdessen auf die Seite gelegten Kopfes zu kennen, überhaupt ohne etwas zu denken, nahm er einen Nagel, der ihm zufällig zur Hand lag, und kritzelte so deutlich und tief er konnte »Theobald Kerner« auf den Kopf. Erst an der allgemeinen Entrüstung über seine Tat kam er zum Bewußtsein darüber, was er angestellt habe.
Die Geburtstagsfeier endete betrübt, denn alle waren über Theobalds Untat verstimmt. Der liebe Onkel suchte dieselbe zwar später gutzumachen durch einen ähnlichen Meerschaumkopf, aber der selbst angerauchte war durch nichts mehr zu ersetzen.
Zur großen Freude wurden uns auch stets die Besuche von Onkel und Tante Kerner mit der Cousine Lina; der Vater war immer voll Glück, den Bruder, mit dem er aufs innigste verbunden war, bei sich zu haben. Es kam im Leben dieser beiden Männer nichts vor, was sie einander nicht mitteilten, und waren sie getrennt, so schrieben sie sich täglich. Die Tante, eine geistreiche Frau, war der Mutter treue Freundin und Lina mir eine Gespielin, an der ich hinaufsah. Wenn sie länger bei uns auf Besuch waren, machten wir öfter Ausflüge in die Umgegend, so einmal auf den Stocksberg, einen Aussichtspunkt bei Löwenstein, von welchem aus man eine Fernsicht bis zur Alb hat. Wir fuhren am Vormittage teils in Onkels Wagen teils in unserem Einspänner bis zum Dorf Stocksberg. Dort ließen wir Pferde und Wagen zurück und erstiegen den Berg. Müde und erschöpft kamen wir oben an. Einigen Mundvorrat hatten wir mitgenommen, das noch Fehlende hofften wir, wie schon öfter, von den auf dem Berge wohnenden Leuten haben zu können. Zu unserem Schrecken fanden wir aber das unverschlossene Haus von allen Bewohnern verlassen. Da auf deren baldige Zurückkunft nicht wohl zu rechnen war, so schritt die Mutter nach kurzem Besinnen tätig ein. Es wurde auf dem Herd ein Feuer angezündet, in der Speisekammer fanden sich Mehl, Eier, Milch und Schmalz, davon wurden von der Mutter köstliche Pfannkuchen gebacken, im Garten brachen wir Gurken; Schinken und Wein hatten wir mitgebracht, ein Laib Brot lag in der Tischlade. Tisch und Stühle wurden unter die Bäume vor dem Hause gestellt, und bald genossen wir, angesichts der herrlichsten Aussicht, das vortrefflichste Mittagsmahl. Nach vollendeter Mahlzeit wurde wieder alles an Ort und Stelle gebracht und zu dem übrig gebliebenen Brot in die Tischlade eine reichliche Entschädigung für die verbrauchten Vorräte gelegt. Noch lange gedachten wir mit großer Freude unserer Fahrt auf den Stocksberg und unseres Mittagsmahles daselbst und malten uns die Überraschung der Hausbewohner bei ihrer Heimkehr aus.
Gegen uns Kinder war Onkel Kerner außerordentlich liebreich. Theobald, an dem er eine besondere Freude hatte, nannte er »Lindelus Pfeuzle, Ritter vom Vögelesgroschen«. Wodurch Theobald sich diesen Namen und sein Rittertum errungen hatte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Mich hieß er das Käuzle. Das kam daher:
Der Vater einer unserer Bekannten war gestorben. Ich ging in Gesellschaft von zwei älteren Freundinnen mit dem Leichenzug auf den Kirchhof. Da ich mich keiner Unterlassung schuldig machen wollte, frug ich die eine meiner Freundinnen: »Marie, weinst du?« Diese erwiderte: »Ich will das Hannele fragen.« Hannele erwiderte: »Das werden wir wohl tun müssen, die Louise (die Tochter der Verstorbenen) könnte es sonst übelnehmen.« Ich faßte auf dieses hin den festen Vorsatz zu weinen, aber als Marie sagte: »Du, jetzt weinen wir«, wollten trotz meines Bestrebens durchaus keine Tränen fließen. Auf meine Klagen: »Ich kann aber nicht weinen«, gab mir Maria den Rat: »So mache doch deine Finger naß.« Zu diesem Hilfsmittel mochte ich aber nicht greifen, und so kam ich im Bewußtsein, meine Pflicht nicht erfüllt zu haben, sehr niedergeschlagen nach Haus, wo ich meine Not kläglich erzählte. Von da an erhielt ich von dem Onkel den Namen »Käuzle«, und sooft ich zu ihm kam, empfing er mich mit: »Marie, weinst du?«
Viele Freude hatten wir auch durch die Nähe von Onkel und Tante Steinbeis, die immer noch in Ilsfeld waren. Wir konnten bald den schönen Weg zu ihnen zu Fuß zurücklegen. Er führte größtenteils durch den Wald am Jägerhaus mit seinen großen Steinbrüchen vorüber. Ich hatte dort vier Cousinen und zwei Vettern. Wir liebten uns wie Geschwister. Immer werden mir Onkel und Tante und die schönen Tage, die ich bei ihnen verleben durfte, in dankbarer Erinnerung bleiben.
Dem Vater war der Umgang mit dem geistreichen Schwager ein hoher Genuß, und er blieb stets in innigster geistiger Verbindung mit ihm.
In unserer freien Zeit durften wir manchmal mit dem Vater über Land fahren, und da kamen wir in sehr liebe Pfarrhäuser. Wie glücklich waren wir, wenn wir nach Sülzbach durften. Da war ein alter Pfarrer, dem seine Schwester Haus hielt, ein sanfter, freundlicher Mann, den man nur den Talonkel nannte. Jedes ging gerne zu ihm und fühlte sich behaglich dort. Ich sehe den alten Mann noch, wie freundlich er einem die Hand zum Willkomm entgegenstreckte und wie mitleidig ich dabei auf die linke blickte, denn diese war, meiner Meinung nach, verdorrt; ich weiß nicht, was an der Hand war, aber ich stellte mir so die verdorrte Hand des Mannes im Evangelium vor, sie war ganz welk und eingeschrumpft. In dem Sulzbacher Pfarrhaus gab man uns das Recht, in den Hühnerstall zu gehen und alle Eier, die wir fanden, für uns zu nehmen. Eines mußten wir im Nest liegen lassen, damit das Huhn nicht davon weggehe. Haselnüsse gab es prächtige dort und einen ganz absonderlichen Nußknacker dazu. Wir saßen da manche Stunde vergnügt an dem Tisch, der in der Ecke des Zimmers stand. Hinter ihm waren an der Wand auf zwei Seiten Bänke, ein Lehnsessel für den alten Pfarrer stand hinter dem großen Ofen, ein Sofa war nicht vorhanden. Oft wanderten Theobald und ich das schöne Wiesental hin allein zu dem lieben Herrn, wenn wir ihm irgend eine Botschaft vom Vater oder ein Buch zu bringen hatten. Das waren schöne Gänge, bei welchen wir reichliche Unterhaltung fanden durch die Blumen, Steine und alle möglichen Merkwürdigkeiten, die uns aufstießen. Die Stunde, die wir zu gehen hatten, dehnte sich oft über das Doppelte aus, und es war gut, daß die Mutter nicht leicht Angst um uns bekam, wir kamen oft erst in tiefer Dämmerung nach Hause.
Im Sommer machte ich mich oft in der Frühe auf den Weg, um den Tag im Steinsfelder Pfarrhaus zuzubringen. Die Frau Pfarrerin war eine entfernte Verwandte der Mutter, und ein Töchterlein von ihr war im gleichen Alter mit mir. Der Weg dorthin ging zuerst über Wiesen, einem Bächlein entlang, wo besonders viele Libellen waren, dann das sogenannte Katzensteigle hinauf. Oben angekommen, setzte ich mich meistens nieder und erfreute mich an der schönen Aussicht. In Steinsfeld ist ein Schloß mit einem damals wunderschönen Garten. Dasselbe wurde von einer Frau von G. bewohnt. Im Schloßgarten war ich mit meiner Freundin oft, wenn aber die Edelfrau im Garten saß, zogen wir uns zurück. Wir sahen sie von weitem, eine kleine, etwas verwachsene Frau mit einem feinen blassen Gesicht, ganz in Spitzen und Seide gehüllt; wir hatten großen Respekt vor ihr, sie kam uns gar so vornehm vor. Mit ihrer Dienerschaft waren wir sehr gut bekannt. Die Hausverwalterin und zugleich Kammerfrau hieß Jungfer Beate; wir gingen oft mit unserer Arbeit zu ihr in ihr großes Parterrezimmer mit den eisernen Gittern vor den Fenstern. Sie hatte immer eine schöne Aufwartung für uns, prachtvolles Obst aus dem Schloßgarten, gutes Butterbrot und was einem Kindermunde schmeckt. Das liebste war uns aber, wenn sie uns erzählte, wie es im Schloß umgehe: von der Schlüsselkäther, die nachts durch alle Gänge schlürfe und mit ihrem Schlüsselbund klirre, ja schon oft zu ihr in das Zimmer gekommen sei. Es gruselte uns sehr, wenn wir in der Dämmerung bei ihr saßen, aber immer wollten wir noch mehr wissen. Bleibenden Eindruck machten aber solche Erzählungen nicht auf mich, denn ich konnte es nie in meinem Leben dazu bringen, daß ich mich fürchtete, trotz allem, was ich auch derartiges später noch zu hören bekam. Vor dem Kammerdiener »Herr Knölle« hatten wir kaum weniger Respekt als vor seiner Herrin. Er war immer so zierlich geputzt, im braunen Rock, kurzen Beinkleidern und Schnallenschuhen, weißer Halsbinde, dick gepuderten Haaren und einem Zopf mit schöner Schleife daran und zierlichem Chapeau. Ich sah ihn nie anders als in voller Toilette. Er hatte eine große Vorliebe für Blondinen und sah mich oft ganz mitleidig an ob meinen dunklen Haaren. Einmal sagte er mir zum Trost: »Wenn man auch dunkle Haare hat, wenn man nur gesund ist.«
Nicht weit vom Pfarrhaus war ein kleiner See mit einer Insel, dorthin fuhren wir in einem Nachen, Robinson und alle möglichen abenteuerlichen Geschichten zu spielen.
Das Willsbacher Pfarrhaus ist mir auch eine liebe Erinnerung, da konnte man vom zweiten Stock eben in den Garten kommen, der rings um die Kirche ging. Die Mauer um den Garten war dicht mit Pfingstnelken besetzt.
Auch das Eberstädter Pfarrhaus wurde oft von uns besucht, auch dort war eine Tochter von meinem Alter. Wenn der Vater zu Kranken im Ort mußte, stiegen wir hie und da im Wirtshaus ab, wo eine gar liebe, alte Wirtin war. Sie hatte das Unglück, blind zu sein, deshalb war ihr eine Unterhaltung mit uns Kindern oft angenehm. Jedesmal an Ostern schickte sie uns schön gefärbte Eier und an der Kirchweih guten Kuchen. Ein schauerliches Unglück mußte die arme Frau erleben. Ihr Sohn hatte die Wirtschaft übernommen; dieser hatte eine sehr nette Frau, die der alten Mutter alles zulieb tat. Ein anderer Sohn war geisteskrank, doch war sein Zustand so, daß er, ohne andere zu belästigen, sich im Hause beschäftigen konnte. Die junge Frau saß einmal an einer Arbeit im Zimmer, als der kranke Schwager mit einem Beil, mit welchem er Holz gehackt hatte, hereinstürzte und ihr den Kopf abschlug. Die alte Frau starb bald nach diesem Jammer, der kranke Sohn lebte noch lange, war aber von dort an in einer Anstalt und meistens tobsüchtig.
Ein harmloserer Vorfall ist folgender: in der Kirche zu Eberstadt mußten bedeutende Reparaturen vorgenommen werden. Der Blitz hatte eingeschlagen und den Turm und Dachstuhl zerstört. Während darinnen gebaut wurde, unterhielten sich die Kinder damit, hinaufzusteigen und auf dem oberen Boden herumzuspringen. Unter einem größeren Mädchen schnappte ein noch nicht festgemachtes Brett. Sie fiel von dem oberen Boden, etwa zwanzig Fuß hoch, herab und nahm im Fallen noch ein Stück von der Kanzel mit. Unten angekommen, sprang sie schnell auf, setzte ihr Häubchen, das im Fallen schief gekommen war, zurecht und sagte: »Sogets nur niemerts!« (Sagt es nur niemand.) Damit war die Sache abgetan.
Nach Waldbach in das Pfarrhaus kam ich ebenfalls öfters mit dem Vater; dort war ein gescheiter, aber zu Zeiten sehr exaltierter Pfarrer. Komisch war es mir, als derselbe einmal erzählte, die Frau Schultheißin habe ihm bei der Anmeldung eine Zitrone gebracht, er wisse nicht, warum ihm die Zitrone nicht aus dem Sinn gekommen sei. Am Sonntag während der Predigt habe er immer die Schultheißin ansehen und an die Zitrone denken müssen, und es wäre ihm nicht möglich gewesen, weiterzumachen, ehe er gesagt habe: »Ei Frau Schultheißin, ich danke auch für die Zitrone.« Darauf sei die Schultheißin aufgestanden, habe einen Knix gemacht und gesagt: »Nicht Ursach, Herr Pfarrer, 's ist gern geschehen.« Dann erst habe er seine Predigt glücklich vollenden können. Er wäre erstickt, wenn er jenes nicht gesagt hätte. – Oft denke ich an die Morgengänge, die wir nach Erlenbach machten. Dies ist ein kleiner katholischer Ort, nicht weit von Weinsberg. Der Weg dahin führt eine kurze Strecke auf der Heilbrunner Chaussee und durch Wiesen. In diesem Dorfe wurden am Sonntag sogenannte Hörnlein gebacken, die weit und breit berühmt waren. An manchem Sonntag, bei guter Jahreszeit, standen Theobald und ich um vier Uhr morgens auf und wanderten nach Erlenbach, um die Mutter zum Kaffee mit Hörnlein zu überraschen und selbst mitzuessen. Es war eine wahre Sonntagsstille rings umher, und wenn dann die Morgenglocken von Erlenbach, Binswangen und Weinsberg zusammen läuteten, war es uns so feierlich zumut, wie wenn wir in einer Kirche wären, und wir getrauten uns oft nicht, laut zu sprechen.
Auch Botengänge nach Heilbronn hatten wir sommers und winters oft miteinander zu machen, da die Bötin, die in der Frühe ging, dem Vater für seine große Korrespondenz nicht genügte.
Wir nahmen solche Gänge, die uns meistens auf die Post führten, ganz leicht, besonders wenn wir zusammen gehen konnten. Es fehlte uns nie an Unterhaltung; bot der Weg nichts, oder mußten wir schnell hin und wieder zurück, so hatten wir doch so viel zu reden, daß die Zeit hinging, wir wußten nicht wie. Durften wir uns aber aufhalten, so brachten wir manche Zeit, wenn wir über den Berg auf die Heilbronner Seite kamen, an dem Neckarsand, den man zur Ausbesserung der Straße auf die Seite gelegt hatte, zu, und manche versteinerte Muschel trugen wir davon. Einmal fanden wir ein so großes Stück versteinertes Holz, daß wir es nicht tragen konnten, wir versteckten es sorgfältig, um es dem Vater, wenn er einmal wieder von Heilbronn zurückfahre, aufzuladen. Wenn wir einen ebenso großen Klumpen Gold versteckt hätten, so hätte unsere Sorge nicht größer sein können als um dieses Stück Holz. Aber diesmal ging es uns gut, es wurde uns nicht, wie wir fürchteten, gestohlen, noch konnten wir es nicht wieder finden, wie den Wein, den wir seiner Zeit im Walde vergraben hatten. Der Vater nahm es bei der nächsten Fahrt in den Wagen, und wir zeigten unser versteinertes Holz mit großem Stolz.
Die Mädchenschule war damals neben der Kirche. Es ist ein großer Platz, der ehemalige Kirchhof, rings um dieselbe. Sehr gern studierte ich die Inschriften auf den alten Grabsteinen. Einer war mir besonders anziehend, der eines jungen Mädchens, die in Lebensgröße mit einem gar lieblichen Gesicht abgebildet war; ich dachte mir immer dabei, daß sie in Wirklichkeit so ausgesehen habe. Vor und nach der Schule wurden Spiele getrieben, und der Kirchhof widerhallte oft von unserem Jubel, besonders wenn auch die Lateiner dazu kamen, die aber für sich spielten. Wenn die Abendglocke geläutet wurde und die Dämmerung nahte, wurden wir still und machten, daß wir nach Hause kamen. Es war nicht ganz geheuer auf dem alten Kirchhof und es kam uns fast das Gruseln an, besonders als die Lateiner erzählten, daß, als sie einmal zu später Stunde noch »Lupus« gespielt hätten, eine Stimme aus der Kirche gerufen habe: »Wenn ihr immer Lupus schreit, kann man ja nicht schlafen!« Eine Öffnung war unten an der Kirche, in die man hineinkriechen konnte; es ging die Sage, daß von diesem sogenannten Pfaffenloch aus ein unterirdischer Gang auf die Weibertreu führe. Man erzählte sich Schauergeschichten von diesem Gewölbe, und der Mut desjenigen Knaben, der einmal hineinkroch, wurde nie mehr in Zweifel gezogen.
Oft bestiegen wir, wenn die Kirchentüre geöffnet war, den Turm und sahen durch das Fenster, von welchem man sagte, es sei dasjenige, aus welchem im Bauernkrieg nach Erstürmung von Burg und Stadt Weinsberg die Bauern einen der in die Kirche geflüchteten Ritter, den Dieterich von Weiler, gestürzt hätten. Der Vater fand im Stadtarchiv bisher unbenutzte handschriftliche Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit und beschrieb nach diesen »Die Erstürmung der Stadt Weinsberg durch den hellen christlichen Haufen im Jahr 1525 und die Folgen für diese Stadt«. Für unsere Phantasie gab diese Geschichte eine reichliche Nahrung. Wir vergegenwärtigten uns alles und oft suchten wir die geschichtlichen Plätze dieser traurigen Begebenheiten auf, so auch den Platz an der Linde, wo die Ritter durch die Spieße gejagt wurden – und wie viele Tränen habe ich vergossen über den frommen Worten, welche die Gräfin Helfenstein, die Tochter Kaiser Maximilians I., den Bauern gegenüber gebrauchte, als sie nach dem schrecklichen Tod ihres Mannes mit ihrem Kinde auf einen Mistwagen gesetzt wurde, um nach Heilbronn geführt zu werden! »Auf einem goldenen Wagen«, höhnten die Bauern, »fuhrst du zu Weinsberg ein, auf einem Mistwagen fährst du hinaus!« Da erwiderte die Gräfin: »Jesus Christus, den sie am Palmsonntag jubelnd empfingen und dann an das Kreuz schlugen, der tröstet mich.«
Der Monat September war uns immer der wichtigste und schönste Monat im Jahr. Es war am 18. des lieben Vaters Geburtstag. Es bleibt dieser Tag, so alt ich bin, immer in meiner Erinnerung voll Sonnenschein und Freude. Kuchen wurden gebacken, was sonst selten vorkam, Gäste wurden geladen, der Onkel von Öhringen kam, und wir durften in vieler Armen Häuser Kuchen und Fleisch bringen. Wohin die Mutter Freude bringen konnte, tat sie es, besonders an diesem Tag.
Eine solche Geburtstagsfeier fiel auch in Graf Loebens Anwesenheit in Weinsberg. Der Graf durfte vormittags nicht ausgehen, deshalb mußten wir drei Kinder zu ihm kommen. Dort setzte man uns in einen großen Waschkorb, umkränzte uns ganz mit Blumen, und ich mußte ein Gedicht, das Graf Loeben auf den Geburtstag gemacht und das Bezug auf uns drei Kinder im Korb hatte, dem Vater, der den Grafen zu besuchen kam, hersagen. Emma und Theobald überreichten Geschenke, und zuletzt, was für uns das schönste war, trugen uns der Kutscher und der Bediente des Grafen im Korb von der Wohnung desselben zu uns nach Hause, daß uns die Mutter auch sehe.
Dann kam am 27. September der Geburtstag König Wilhelms. Morgens wurde von der Stadtmusik die Tagwache und »Segne Gott unsern Herrn« geblasen. Wir hatten nicht genug, es vor dem Hause zu hören, wir zogen in aller Frühe mit der Musik durch die Straßen. Darauf der feierliche Kirchgang der Beamten und Bürger, die Beamten in Uniform. An dem festlichen Mittagsmahl in der Traube nahmen meistens die Frauen auch teil. Für uns Kinder besorgte die Mutter ein Festessen zu Hause. Abends war großer Ball, da durften wir ein wenig zusehen. Meine höchste Bewunderung erregte der Kronleuchter, der von weißem geschliffenen Glas war. Zwölf Talglichter waren auf demselben aufgesteckt. Von Zeit zu Zeit kam der Hausknecht mit einem Stuhl und putzte die Lichter und ebenso die Hausmagd mit Wasser und einem Sprenzer, um den Staub zu legen. Es war immer sehr schön und alles war vergnügt, selbst der Vater, obgleich er in seinem Leben nie getanzt hat, hatte als Zuschauer seine größte Freude an dem Vergnügen der Jugend.
Eines Geburtstags unseres Königs erinnere ich mich noch, wie nach dem Gottesdienst Männer und Frauen auf die Burg zogen. Dort wurde ein Lied, das der Vater zu dem Fest gemacht hatte, gesungen und in gutem Weinsberger Wein des Königs Gesundheit getrunken. Ich kann mich des Gedichtes nicht vollständig erinnern, nur zwei Verse desselben blieben mir im Gedächtnis, sie heißen:
Was tönt so tief ins Bürgerherz
Heut unserer Glocken Klang,
Was wallt ein langer Männerchor
Zur Burg der Frauentreu empor
Mit Jubel und Gesang?
Einst trugen Frauen ihr liebstes Gut
Herab von diesem Stein,
Wir Weinsbergs Männer tragen heut
Hinauf, was uns am meisten freut,
Weinsberger goldnen Wein.
Über diesen ungalanten Vers wurde der Vater von den Weinsberger Frauen sehr geneckt. Wie mächtig waren unsere jugendlichen Herzen in solchen Tagen bewegt. Der König gehörte zu uns, er war uns das höchste Ideal, das wir uns aus der Wirklichkeit und unserer Phantasie geschaffen hatten. Wenn es bekannt wurde, daß er durch Weinsberg komme, wie waren wir da glücklich! Wir konnten es nicht unterlassen, lautes Hoch ihm zuzurufen. Einmal machten Theobald und ich eine Bittschrift an ihn um unsere Lieblingsspeise, eine Knackwurst, die, nebenbei gesagt, damals viel besser waren als jetzt.
Hätt' ich eine Knackwurst,
Hätt' ich eine unaussprechliche Lust,
Sie zu drücken mit Entzücken an die Lippen,
Sie zu tragen mit Behagen in dem Magen.
Euch, Herr König, ists wenig,
Uns aber so ein Wurstring ein unaussprechlich liebes Ding,
So lieb wie Ihm die Königskrone;
Drum bitten wir, Herr König, lohne
Er unsere dumme Sudelei, mit Kreuzer eins, zwei, drei.
Wir hatten ernstlich im Sinn, sie abzugeben, bis wir aber fertig waren, war der König vorübergefahren.
Solange wir Kinder noch klein waren, wurde der Mutter Geburtstag, der auf den 9. Januar fiel, nicht regelmäßig gefeiert, dem Vater war es nicht möglich, sich Zahlen und Datum zu merken. Meistens fiel es ihm erst zu spät ein, daß der Geburtstag vorüber war. Er gab nach einer solchen Entdeckung der Mutter einmal nachfolgenden Vers:
Wann du geboren, weiß ich nicht,
Wills wissen nicht, wenn ichs auch könnte,
Sei mir ein Kreis, ein ewges Licht,
Wie ohne Anfang, so ohn Ende.
Später, als ich so verständig war, den Tag im Gedächtnis behalten zu können, wurde er nicht mehr vergessen. Er wurde aber immer ganz still nach der Mutter Sinn gefeiert. Einmal sagte ich ihr folgende Verse, die mir der Vater gab:
Heut ist der Tag, der dich gebar,
Du sagest nichts, doch seh ichs klar
Durch mein Zigeunerwissen.
Wir bringen kein Geschenk dir dar,
Selbst Blumen mußt du missen.
Welk ist der Garten, welk der Wald,
Ich weiß nichts als: Komm, Theobald,
Lass' uns sie herzlich küssen.
Später, als wir unsere Emma hatten, sagten wir ihr folgendes Gedicht:
Ein Band wir, Mutter! bringen,
Das reichet Liebe dar,
Das soll dich fest umschlingen
Am Tag, der dich gebar.
Von Gold ists keine Kette,
Kein Stoff aus fremdem Land,
Es ist an ihrer Stätte
Ein festgewobnes Band.
Wohl rührt, befreit vom Harme,
Dein Herz darunter sich,
Sieh, deiner Kinder Arme
Umschlingen, Mutter, dich!
Dieses Gedicht durfte ich der Mutter vor etwa dreiundfünfzig Jahren sagen. Ich sehe und fühle aber, wie wenn es heute geschehen wäre, wie sie, mit der kleinen Emma auf dem Arm, von Theobald und mir fest umschlungen wurde und sie uns an ihr Herz preßte.
Die Geschichte der treuen Weiber von Weinsberg darf ich wohl als bekannt voraussetzen, wenn auch nicht all' meine Leser das Gemälde in der Kirche von Weinsberg kennen, auf welchem der Auszug der Weiber aus der Burg, mit ihren Männern auf dem Rücken, dargestellt ist. Auf des Vaters Anregung bildete sich ein Verein von Frauen, dessen Aufgabe es war, die Burgruinen so viel wie möglich zu erhalten und zugänglich zu machen. Innerhalb der Mauern waren Weinberge angelegt, und die Besitzer derselben, die schon wegen ihrer Reben die Besichtigung der Ruinen nur ungern zuließen, hatten an den letzteren den besten Steinbruch. Es führte auch kein Weg zu den Ruinen als die schmalen Weinbergwege. Es ergingen nun vom Verein aus Aufrufe an alle deutschen Frauen mit der Bitte um Beiträge zur Erhaltung des Denkmals der Weibertreue. Die Beiträge flossen auch bald von allen Seiten zu, wer einen solchen über fünf Gulden sandte, erhielt einen einfachen Goldring, in den ein Steinchen von der Burg gefaßt war.
König Wilhelm ließ die Burg ankaufen und schenkte sie dem Verein. Großfürstin Helene von Rußland, eine geborene Prinzessin von Württemberg, schickte bei ihrem Scheiden aus der Heimat fünfhundert Gulden. Der Schutt, mit dem die zerfallenen Überreste angefüllt waren, wurde fortgeschafft, Wege wurden angelegt, die Mauern ausgebessert und Gesträuche angepflanzt. Der Vater war unermüdlich tätig. Es war im Volk der Glaube, daß große Schätze auf der Burg vergraben seien, nun war die beste Zeit, sie zu finden, ein jeder Arbeiter wollte der erste und der letzte sein, damit ihm das Glück zuteil werde. Etwas Merkwürdiges fand man dabei nicht, nur einige Pfeilspitzen und Scherben von alten Trinkgefäßen. Sehr überrascht wurde man durch den Fund eines großen Quantums sehr weißen, feinen Mehls, das man im Grund des hohen Turmes fand. Es sah noch so schön und gut erhalten aus, daß ein Bäcker sofort davon mit nach Hause nahm, um zur Probe Brot daraus zu backen, was aber nicht gelang, denn es stellte sich heraus, daß das Mehl sogenannter bayerischer Kalk war. Wie dieser in den Turm kam und zu welchem Zwecke, blieb unenträtselt.
Wir brachten jede freie Zeit damals auf der Burg zu, immer waren wir bei den Arbeitern, um uns an jedem Fortschritt zu erfreuen. – In den höchsten der Türme kam eine Treppe, nach deren Besteigung man reichlich belohnt wurde durch die schöne Aussicht in das anmutige Weinsberger Tal. In den Turm, der das Burgverließ enthielt, wurde durch die dicke Mauer ein Eingang gebrochen. Vorher konnte man nur mit Mühe auf den Rand desselben kommen, auch noch mit einiger Gefahr in den ersten Raum hinunterklettern, in dem große Schießscharten und im Boden eine Öffnung war, durch welche die Gefangenen in das Burgverließ hinuntergelassen worden waren. – In dem ersten Raum wurden in den Schießscharten Äolsharfen angebracht und über die Öffnung in das Burgverließ Eisenstäbe kreuzweise eingelassen, damit niemand fehltreten und hinunterfallen konnte. Wie erschrak aber einmal der Vater, als er hineinkam und zwei kleine Hände sich an den Stäben anklammern sah; sie gehörten Theobald, der sich an diesen hinunter- und hinaufschwingen wollte, aber nicht mehr herauf kam; noch wenige Augenblicke, und er wäre in das sehr tiefe Verließ gestürzt, welches damals noch keinen Eingang hatte. – Eine Zisterne wurde aufgefunden und sehr tief ausgegraben. Wasser gab es nie auf der Burg, das nahegelegene Dorf Gellmersbach mußte, wie aus alten Urkunden zu ersehen war, Esel halten, die das Wasser auf die Burg brachten, wofür es frei von Abgaben war. Die Zisterne hatte wohl zum Aufbewahren des Regenwassers gedient. Als wir einmal auf die Burg kamen, hatte ein nettes Füchslein sich in der Zisterne gefangen; wir fütterten es mehrere Tage, auf einmal war es verschwunden: hatte es jemand geholt oder wußte sich der schlaue Reinecke selbst zu befreien, das blieb uns ein Rätsel.
Nicht nur große Schätze an Gold und Silber vermutete das Volk unter den Ruinen, man nahm auch an, daß ein großer Keller unter der Burg sei, in dem noch manches Faß des besten Weinsberger Weines liege, und diesen aufzufinden, war der höchste Wunsch der Arbeiter. Es ist wohl möglich, daß, wenn auch nicht der Keller mit Wein, doch noch manche Gewölbe und unterirdische Räume vorhanden sind, ihre Auffindung hätte aber schwerlich einen Wert gehabt, auch wären die Kosten dadurch sehr vermehrt worden, deshalb unterließ man derartige Nachforschungen.
Nur einer ließ sich den Glauben an den mit Wein und Schätzen gefüllten Keller nicht nehmen. Es war ein geborener Weinsberger, namens Weh, der sich mit Abschreiben fortbrachte und dem dieser Glauben zur fixen Idee wurde. Er schrieb Hunderte von Bittschriften an den König, die Regierung und alle möglichen hohen Personen, ihm Mittel zu verschaffen, den Keller, mit Wein und Geld angefüllt, aufzufinden. Den König bat er immer wieder um eine Kompagnie Soldaten zur Ausgrabung desselben. Er betrachtete sich als den Hüter und Kommandanten der Burg und lebte in steter Sorge, ein anderer könnte ihm seine vermeintlichen Entdeckungen streitig machen. Wohl mancher bekam einen Schrecken, wenn unvermutet aus dem Gebüsch, wie ein Burggeist, der Weh trat. Er hatte eine zwerghafte, gnomenartige Gestalt, schwarzes, langes herabhängendes Haar und einen mächtigen Bart. Er war aber kein stummer Geist, vielmehr machte es ihn sehr froh, wenn man sich mit ihm in ein Gespräch einließ und er von dem, was er Geheimnisvolles auf der Burg gesehen und gehört, und von seinen Plänen und Hoffnungen erzählen durfte. So war er viele, viele Jahre ein treuer Wächter der Burg, bis er, alt und schwach, sie nicht mehr besteigen konnte und endlich zur Ruhe kam.
Er war es auch, durch den der Vater an die Wand des Äolsharfenturmes folgenden Vers anschreiben ließ:
Getragen hat mein Weib mich nicht,
Aber ertragen,
Das war ein schwereres Gewicht,
Als ich mag sagen.
Sein Leben lang blieb der Vater ein treuer Pfleger der Weibertreu und noch sorgte er testamentarisch für die Erhaltung der Äolsharfen.
Einmal war er mit der Mutter und uns Kindern oben und machte sich den Spaß, in die vergitterten Schießscharten der Äolsharfen, welche eben zu einer Reparatur entfernt waren, uns drei Kinder einzusperren. Während die Eltern auf der Burg umhergingen, kamen zufällig fremde Gäste in den Äolsharfenturm, welche erschrocken sich rasch entfernten, als sie statt der Äolsharfen die drei lebenden Wesen sahen.
Im Jahr 1823 sollte der Turm, der an der Ecke der Stadtmauer steht und an unseren Garten grenzte, zu einem Gefängnis vergrößert und ausgebaut werden. Eine traurige Nachbarschaft hätte uns den Genuß des Gartens sehr verbittert. Um dieses abzuwenden, kaufte der Vater der Stadt den Turm ab. Derselbe war mit einem spitzen Dach bedeckt, welches nun entfernt wurde. Um ihn besteigen zu können, brachte man außen eine bequeme Treppe an. Die Plattform wurde geebnet, mit Zinnen eingeschlossen, auf derselben ein hölzernes Zelt errichtet, an dessen vier Ecken Akazienbäume gepflanzt, die es bald überschatteten.
Der gewölbte Raum unter der Plattform war bis vor nicht gar langer Zeit als Gefängnis benützt worden; er hatte eine starke eiserne Tür und kleine vergitterte Fenster. In der Mitte desselben war eine viereckige Öffnung, durch welche die Gefangenen in alten Zeiten in das Verließ hinuntergelassen wurden. In diesem Kerker hielten die Bauern Graf Helfenstein gefangen, ehe er zum Richtplatz geführt wurde. Der Vater ließ den vorher so düsteren Raum in ein wohnliches Zimmer umgestalten; aus den kleinen, vergitterten Fenstern wurden Spitzbogenfenster gemacht, in welche man alte Glasmalereien einsetzte, die das Gemach magisch erhellten. Dasselbe wurde mit einem Ofen versehen und mit altertümlichen Möbeln eingerichtet. In zwei Nischen ließ der Vater die Bildsäulen je eines Mönches und einer Nonne stellen, welche er sich bei der Aufhebung der Heilbronner Klosterkirche erwarb. In diese Kirche hatte Gräfin Helfenstein nach dem Tode ihres Mannes reiche Stiftungen gemacht.
Lenau bewohnte öfter das Turmzimmer und schrieb auch dort einen Teil seines »Faust«.
Nachdem unten ein Eingang durch die dicken Mauern des Turmes gebrochen war, fand man in dem Verließ einen in der Mauer befestigten eisernen Ring mit dem Stück einer Kette daran und die morschen Bretter einer alten Lagerstatt.
Das Verließ wurde aufgefüllt und zu einer Waschküche eingerichtet, welche die Mutter schon lange vermißte.
Unsere Spiele gewannen durch den Turm noch mehr an Abwechselung, und unsere Phantasie zauberte uns durch ihn und die Burg die alten Ritterzeiten in ihrer ganzen Pracht hervor. Sobald der Turm benützt werden konnte, wurde an jedem schönen Sommerabend unter dem Zelte zu Nacht gespeist. Selten waren wir allein, es kamen immer liebe und interessante Gäste, und es wurden mir dort die genußreichsten Stunden meines Lebens zuteil. Oft wurde der Abend damit beschlossen, daß der Vater im dunklen Turmzimmer die Maultrommel spielte, welcher er wunderbare Töne zu entlocken wußte. Uhland, Schwab und Mayer kamen jeden Sommer zusammen oder allein zum Vater. Eines schönen Pfingstsonntages erinnere ich mich noch, an dem sie miteinander kamen; ich ging ihnen mit dem Vater auf dem Weg nach Heilbronn entgegen. Sie bestiegen damals zum erstenmal den Turm; als Uhland sich umsah, sagte er zum Vater: »Da würde ich auch wieder anfangen zu dichten.« – »Ich glaube, das würdest du noch viel mehr tun, wenn man dich unten in das Verließ sperren würde«, entgegnete der Vater. Der Vater war nie glücklicher, als wenn er Freunde bei sich hatte, dann war alle Melancholie, die ihn sonst so oft befiel, verschwunden, sein Humor erheiterte die ganze Gesellschaft und riß jeden mit fort.
Aus der damaligen Zeit erinnere ich mich eines Besuches von Matthisson, den ich auf dem Turm zum ersten- und letztenmal sah. Ich habe kein deutliches Bild mehr von ihm, nur das weiß ich noch, daß er sich zu mir herunterbeugte, um mich weihevoll auf die Stirne zu küssen. Ich verstand es nicht und bot ihm schnell den Mund, was mich, als ich bemerkte, wie er es gemeint hatte, in einige Verlegenheit brachte.
Nicht lange nachher wurden wir durch einen Besuch von Ludwig Tieck erfreut. Ich hatte mit großem Interesse seine Volksmärchen gelesen und war glücklich, den Dichter derselben von Angesicht zu sehen. Er unterhielt sich freundlich mit mir, und ich sagte ihm treuherzig, was mir in seinen Märchen gefallen und was nicht. Beim Abschied gab er mir mit den Worten: »Fahren Sie fort, so vortreffliche Schriften, wie die meinigen sind, zu lesen«, auch einen Kuß auf die Stirne, den ich schon besser verstand.
Ich komme wieder auf unser häusliches Zusammenleben zurück.
Ein friedlicheres Geschwisterpaar konnte es nicht leicht geben, als Theobald und ich es waren, und ich kann mich keines Streites erinnern, der zwischen uns stattgefunden hätte, als eines Wettstreites, bei welchem wir, vor dem Spiegel stehend, Versuche machten, welches von uns den Gemüselöffel am weitesten in den Mund hineinbringen könne und demnach den größten Mund hätte. Zu meiner damaligen großen Freude trug ich den Sieg davon.
Der kleinen Emma gegenüber haben wir aber doch manches auf dem Gewissen. Sie war ein zartes, sanftes Kind, das leicht zum Weinen zu bringen war, besonders war sie gegen das Auslachen empfindlich, Theobald und ich durften sie nur ansehen und lachen, so brach sie in den Jammer aus: »Ich weiß wohl, daß ihr mich auslacht.« Saßen wir beim Vesperbrot und sie glaubte spöttische Mienen an uns wahrzunehmen, so flossen ihre Tränen so reichlich, daß sie nichts mehr genießen konnte, was zu unserem Vorteil war. Wir neckten sie gewiß nicht aus dieser eigennützigen Absicht, doch hatten wir aber auch nichts dagegen, wenn wir unsere Milch nur in zwei Teile teilen durften. Sie war sehr stolz auf ihre Geburtsstadt Weinsberg, und man konnte sie durch nichts mehr betrüben, als wenn man die Schattenseiten derselben aufzählte, was wir hie und da aus Neckerei taten.
Besonders entrüstet war sie, wenn wir ihr die angeblichen Nachteile des Weinsberger Wassers vorhielten. Eines Tages, als sie kaum schreiben konnte, brachte sie uns folgende begeisterte Worte:
»Die Leute sagen alle, das Weinsberger Wasser mache Kröpf. – Ich habe schon so viel Wasser getrunken und habe doch keinen Kropf. – Nein, nein, die Sag ist nicht wahr, ich streite für Weinsberg, mein Vaterland.«
Auf dieses hin waren wir geschlagen, und sie blieb fortan darüber ungeneckt.
Von ihrer Patin, Fräulein Julie Hartmann, Tochter des Geheimerats von Hartmann, hatte Emma eine Tasse erhalten, die aussah, als wäre sie von lauterem Gold. Sie war ihr höchster Schatz und Stolz, und als des Vaters Geburtstag kam, wußte sie ihm nichts Besseres zu schenken als ihre goldene Tasse. Im Januar darauf war der Mutter Geburtstag; es war der kleinen Emma ein Kummer, der Mutter nicht ein ebenso schönes Geschenk geben zu können, denn nichts, was sie besaß, war der goldenen Tasse gleichzustellen. Da kam ihr der glückliche Gedanke, den Vater in das Vertrauen zu ziehen und sich von ihm die goldene Tasse zu erbitten, um sie der Mutter zu geben, mit dem Trost: »Weißt, sie gehört doch noch dein.« Von diesem Geburtstag an wanderte die goldene Tasse von einer Hand zur andern, an jedem Geburtstag wurde sie wieder verschenkt, zuerst im Ernst, dann im Scherz, und blieb doch schließlich in der Hand der ersten Besitzerin.
Am oberen Tor war ein großer Brunnen, auf dessen Rand wir oft stiegen, um Wasser zu trinken, was immer eine gefährliche Sache war. Emma versuchte es auch, bekam das Übergewicht und fiel hinein; zum Glück sah es der Torwart, der sie schnell herauszog. Seine Frau trug das nasse Kind sogleich in das nächste Haus zu Frau Präzeptor Walker, die sie in ein Bett legte, und die kleine Tochter derselben sprang eilig fort, um der Mutter den Unfall anzusagen. Dieses gab uns wieder Ursache zu Neckereien, und wenn wir anfingen an den Fingern abzuzählen: »Emma ist in den Brunnen gefallen, der Torwart hat sie herausgezogen, die Torwartin hat sie nach Hause getragen, Frau Walker hat sie ins Bett gelegt, und das Paule hat es der Mutter gesagt«, so flossen der Emma Tränen wieder reichlich.
Eines Tags aber kam ein ernster Unfall über Emma. Mit einem beladenen Müllerswagen gingen die Pferde durch; Emma, die damals kaum über sieben Jahre alt war und gerade aus der Schule kam, flüchtete sich noch auf die Seite, sah aber in diesem Augenblick, daß ein kleines Kind in Gefahr war, und in dem Bestreben, dieses noch zu retten, was ihr auch gelang, kam sie unter den Wagen, und ein Rad ging über sie. Äußerlich war außer den Quetschungen nichts zu entdecken, aber bis in spätere Zeit hatte sie an den Folgen dieses Unfalls zu leiden.
Bei Emma zeigte sich bald, daß sie die größte Ähnlichkeit mit dem Vater hatte. Sie ist eine poetische Natur, was sich in ihrem ganzen Wesen, in ihren Spielen und Beschäftigungen schon frühe aussprach. Denke ich zurück an die Zeit, da sie noch ein kleines Mädchen war, und vergegenwärtige sie mir in all ihrer Lieblichkeit, so geht mir das Herz auf. Wenn wir gleich im Alter so verschieden waren, so kam doch bald die Zeit, in der es uns bewußt wurde, was wir Schwestern aneinander hatten, und in vielem konnte sie mir zum Beispiel dienen.
Ihre Liebe zu Kindern, die sich in früher Jugend schon kund tat, als sie mit eigener Lebensgefahr das Kind rettete, trat später immer schöner hervor. Wie manches arme Kind brachte sie von der Straße nach Haus, um es zu speisen, aber auch zu reinigen, denn sie konnte nichts Unschönes sehen. Ihre geschickte Hand verfertigte ohne weiteren Unterricht die schönsten Arbeiten, und im Erzählen von schönen poetischen Märchen besaß sie ein ganz eigenartiges Talent.
In einem benachbarten Ort warf der Sturm einen jungen Storchen aus dem Neste, er verletzte sich bei dem Sturz an dem Flügel. Der Verunglückte wurde dem Vater gebracht, und der Garten war von dort an sein Aufenthalt. Daß der Storch die Ehrfurcht verdient, die er gewöhnlich genießt, möchte ich nicht behaupten; er hat ein zorniges Temperament, und wir hatten alle Ursache, uns vor ihm zu hüten. Oft wurde man von ihm verfolgt, und er hackte besonders gerne nach den Augen, wie überhaupt nach allen glänzenden Gegenständen. Seine Gefräßigkeit war groß, einmal verschlang er nacheinander fünf Ratten, so daß ihm der Schwanz der letzten noch zum Schnabel heraussah. Wenn man im Garten bei Tisch saß, konnte er schnell daherkommen und das Fleisch von der Platte rauben. Ein Freund und nachheriger Verwandter der Eltern, Kameralverwalter Fetzer, wohnte ganz in unserer Nähe und ließ täglich sein Mittagessen zu uns tragen, um mit uns in dem großen Laubgang an gemeinschaftlichem Tische zu speisen. Auf die Fetzerische Fleischplatte hatte es der Storch besonders abgesehen, weshalb Fetzer auf Rache sann und zwischen zwei Stücke Fleisch, die er dem Storch in den Schnabel warf, seine volle Schnupftabaksdose ausleerte. Der Storch verschlang dieses Fleisch mit demselben Genusse wie jedes andere; das ihm zugedachte Unbehagen blieb aus, und er war ein Räuber wie zuvor. Wurde sein Appetit zu Hause nicht gehörig befriedigt, so wanderte er in die Stadt zu dem ihm wohlbekannten Metzger und ließ sich dort Abfälle von geschlachteten Tieren behagen.
Einen gezähmten Falken hatten wir auch, der sich ebenfalls frei im Garten und Hof bewegte. Dieser und der Storch lebten immer im Streit wegen ihrer Nahrung; nur einmal weiß ich, daß sie Friede schlossen und gemeinschaftlich mit ihren Schnäbeln das hölzerne Gitter des Hühnerstalls aufbrachen und die jungen Hühnchen zusammen verzehrten.
Im Winter, wenn man in den Pferdestall kam, war es gleich einem Märchen, wenn der Falke auf der Raufe über dem Pferd saß, der Storch daneben auf einem Strohbündel stand, und unser weißes Kätzchen seinen Lieblingsplatz auf dem Rücken des Pferdes einnahm. Wie oben in der kleinen Wohnung sich die verschiedensten Charaktere friedlich vertrugen, so war es auch unten bei den Tieren.
Es ist kaum glaublich, aber es war immer noch der alte Rappe, der die Mutter und mich schon in Welzheim auf seinem Rücken getragen hatte. Er war altersschwach und kaum mehr zu gebrauchen, so daß er eigentlich das Gnadenbrot aß. Doch konnte dieser Zustand aus verschiedenen Gründen nicht lange mehr andauern. Der Vater war für seine Praxis eines Pferdes durchaus benötigt, und dennoch konnte er sich nicht entschließen, den alten treuen Rappen fortzuschaffen. Dieser Zwiespalt wurde durch unseren Freund Hildt gelöst. Als der Knecht das Pferd zum Brunnen führte, nahm Hildt ihm dasselbe ab mit der Weisung, zu Hause nichts davon zu sagen. Noch in der gleichen Stunde ließ er es nach Willsbach zum Kleemeister führen. Als Hildt uns sagte, was er getan, brachen wir alle in Tränen aus. Vorwürfe konnte man ihm nicht machen; wenn man gleich um den alten Freund tiefe Trauer trug, so war uns doch ein Druck vom Herzen in dem Bewußtsein, daß das gute Tier zur Ruhe gekommen sei.
Fast hätte ich versäumt, von Fritzle zu erzählen, einem Marder, den Theobald sich gezähmt hatte. Es war ein außerordentlich gescheites, graziöses Tier, das wegen seiner Gelehrsamkeit sehr bewundert wurde, das schönste aber an ihm war seine Anhänglichkeit an Theobald. Fritzle ging frei im Haus und in den Gärten umher, Theobald durfte aber nur »Fritzle« rufen, so kam er herbei und sprang auf seine Achsel. Manche Stunde lag Theobald im Garten im Gras mit seinem Fritzle im Arm. Trotz seiner Zähmung konnte er aber doch seine Diebsnatur nicht verleugnen. Er hatte sich auf der Bühne unter dem Dach eine Diebshöhle angelegt; unter allen möglichen, in ihrer Zusammenstellung oft komischen Gegenständen fand sich auch ein Gebetbuch, das er der Köchin gestohlen hatte, vor. Er erinnerte uns dadurch an seinen Vetter Reineke. Während einer längeren Abwesenheit Theobalds blieb Fritzle aus; nur dadurch ahnten wir seine Nähe, daß uns die Hühner einigemale umgebracht und geraubt wurden.
In späterer Zeit hatten wir auch einen zahmen Raben; nach Lenau, der große Freude an ihm hatte, wurde er Niklas geheißen. Ein gescheiteres Tier als Niklas war nicht leicht zu finden; nicht an das Haus gebunden, konnte er frei umherfliegen. Oft blieb er mehrere Tage aus, dann konnte man, am offenen Fenster stehend, den Niklas in raschem Fluge daherkommen sehen, oder es klopfte an das geschlossene Fenster, und der Niklas stand außen und begehrte Einlaß. Er war ein zutrauliches und doch so stolzes Tier. Sein Stolz zeigte sich hauptsächlich in seinen gravitätischen Bewegungen und in seinem Gang. Er hatte viel Menschenähnliches an sich, man konnte glauben, er verstehe alles, was man mit ihm redete. Vielleicht war es auch so. Im ganzen waren wir immer von Räubern umgeben, denn auch der Niklas war ein solcher, und man mußte besonders alle glänzenden Gegenstände sehr vor ihm hüten, daß er sie nicht davontrug. Er hatte keine bestimmte Zeit, sein Futter zu holen; ging er nicht nach Hause, so fiel er beim Metzger oder im Wirtshaus ein, nahm einem hungrigen Gast die Wurst oder den Käs von dem Teller und flog schnell mit seiner Beute davon. Trotz dieser Untaten war Niklas überall wohl gelitten und wurde endlich Gemeingut der Weinsberger, denn wo es ihm behagte, machte er seine Besuche.
Zerwürfnisse mit der Polizei trugen die Schuld an seinem frühen Tod. Sein unglückliches Geschick führte ihn durch das offene Fenster in das Amtszimmer des Stadtschultheißen, wo er in dessen Abwesenheit unter herumliegenden Akten Verheerungen anrichtete. Solches Verbrechen mußte streng bestraft werden. Denn es kam auch noch der weitere Umstand hinzu, daß er schon vorher der Frau Stadtschultheiß einen silbernen Fingerhut gestohlen hatte. Im Polizeigefängnisse saß ein Handwerksbursche, der sich bei wiederholtem Betteln hatte erwischen lassen, diesem wurde augenblickliche Freiheit zugesichert, wenn er den Niklas vom Leben zum Tode befördere. Was tut man nicht, um die Freiheit zu erlangen? Der Niklas mußte auf höhere Verordnung durch des Handwerksburschen Hand sein edles Leben lassen.
Gegenüber von unserem Hause war ein großer Garten, von einer lebendigen Hecke umgeben, die kaum einen Einblick in denselben gestattete. Er soll früher als Kirchhof gedient haben, und das kleine Haus, in der Mitte desselben, hieß das Totenhäuschen; es waren auch noch einige steinerne Kreuze in dem Garten zu sehen. Für uns hatte dieser Garten immer etwas Geheimnisvolles, es gingen auch allerlei Sagen von Lichtern, die man in der Nacht dort wandeln sehe usw., überhaupt sollte es nicht recht geheuer dort sein. Der Vater kaufte den Garten, alles Geheimnisvolle verschwand, und nur Freude erblühte uns aus demselben. Die hohen Hecken wurden beschnitten, und wir konnten vom Fenster aus unser fast zwei Morgen großes Besitztum überblicken. Der Garten war mit schönen Obstbäumen bepflanzt, und Stachelbeeren und Johannistrauben gab es in Menge. Ein Teil war Gemüseland, und wir konnten nun die Gemüse für den Hausbedarf selbst pflanzen, was dem Vater eine große Freude war. Er verschrieb sich Samen von Gurken, die eine besondere Form haben mußten, auch Spritzgurken, die zerplatzten, wenn man sie nur leicht berührte, und ihren Inhalt weit hinausspritzten, was manchen kleinen Schrecken hervorrief. Kürbisse aller Art wurden auch gezogen; bekamen wir einen solchen recht großen, so höhlten wir ihn aus und stellten ihn bei Nacht mit einem Licht beleuchtet in den Garten. Wir hofften dann, man halte ihn für ein Gespenst. Es war auch viel Platz zu Blumen da, doch gab man sich mit diesen weniger ab als mit dem Gemüsebau.
Eine zu Besuch gekommene Dame, die nicht anders meinte, als Kerner müsse in lauter Blumenduft weben und schweben, sagte zu Vater: »Sie werden wohl recht glücklich unter Ihren Blumen sein?« – »Meine Bohnen und Gurken sind mir wichtiger«, erwiderte er ihr zu ihrem nicht geringen Entsetzen.
Es gab in diesem Garten auch Ameisenlöwen, von welchen uns der Vater schon viel erzählt hatte, und es machte uns viele Freude, zu beobachten, wie sie unten in einer trichterförmigen Grube von Sand saßen und diesen nach den Ameisen heraufwarfen, bis dieselben als willkommene Beute hinunterfielen.
Durch den Obstgarten wurden Wege gezogen und an schattigen Stellen Sitze angebracht. Das sogenannte Totenhäuschen, das die Jahreszahl 1610 über der Türe trägt, wurde zu einer Herberge für Gäste, indem darin ein Zimmer mit zwei Kabinetten eingerichtet wurde. Im größeren Zimmer stand unter andern Möbeln auch der vom Vater als Knabe verfertigte Schreibtisch, die beiden Kabinette dienten als Schlafzimmer. Mancher berühmte Mann übernachtete dort: Rybinsky, der letzte Feldherr der Polen, Geibel, Freiligrath und andere mehr. Lenau und Graf Alexander von Württemberg hatten oft lange Zeit ihr Quartier dort aufgeschlagen. Oft – doch das fällt in eine spätere Zeit – tönte in tiefer Nacht Lenaus wildes, melancholisches Violinspiel von dort zu uns herüber.
Der größere Garten erforderte mehr Arbeit, deshalb sollte der Kutscher zugleich auch etwas von der Gärtnerei verstehen. Des Vaters Wahl fiel auf einen armen Menschen von Weiler (einem Ort in der Nähe von Weinsberg), der auf die mildeste Art geisteskrank und dabei das harmloseste Geschöpf war, das es geben konnte. Bei allem, was er tat, sang er mit hellklingender Stimme geistliche Lieder. Glaubte man ihn im Garten bei der Arbeit, so hatte er auf einem Tisch Blätter ausgebreitet, dieselben mit Blumen verziert und Beeren daraufgelegt. Hielt man ihm vor: »Aber Adam, was tust du, warum arbeitest du nicht?« erwiderte er: »Ich hab' doch de Vöchele (Vögelein) den Tisch decke müsse, sie singe ja so schön.« Schickte man ihn in den Garten, um das Gras abzumähen, so ließ er oft die Sense ruhen, weil er die schönen Blumen nicht abschneiden wollte. Einmal machte er sich eine Mütze aus Kletten, die sich ihm so fest in das Haar setzte, daß er sie tagelang nicht herunterbrachte. Er lebte ganz mit der Natur, aber arbeiten wollte er nicht, nur spielen und singen. Hätten wir nicht wieder ein älteres und sehr ruhiges Pferd bekommen, wäre es nicht möglich gewesen, ihm die Leitung desselben anzuvertrauen, denn vom Kutschieren hatte er gar keinen Begriff. Als er zum erstenmal den Bock bestieg, antwortete er auf die Frage, ob er gewiß nicht herunterfalle: »Ha! do sin(d) jo zwai Salche (Seilchen) dran, an dene kann ich mich jo hebe.« Zu diesem Zweck glaubte er die Leitseile angebracht.
Der Vater hatte übergroße Geduld mit ihm, aber endlich wurde sein Zustand doch so, daß man ihn nicht mehr behalten konnte. Noch viele Jahre lang, bis zu seinem Tode, sang und spielte er so fort. Oft noch kam er von seiner nahen Heimat singend zu uns, sang, solange er da war, und ging singend wieder nach Hause.
Es war für uns nichts Außergewöhnliches, einen solchen Menschen um uns zu haben, der Vater hatte eine besondere Anziehungskraft für solche Kranke, und beinahe immer waren auch derartige Gäste bei uns. Dieselben lebten mitten unter uns und in fortwährendem Verkehr mit uns. Es kam oft vor, daß Besuche keine Ahnung hatten, daß sie in Gesellschaft eines in gelindem Wahnsinn Befangenen am Tische saßen, bis irgend eine Tat oder eine Äußerung des Betreffenden sie darauf aufmerksam machte. Der Vater hielt den Umgang mit Kindern für das beruhigendste bei derartigen Kranken, und oft mußten wir dieselben auf ihren Spaziergängen begleiten oder uns mit ihnen in ihrem Zimmer unterhalten. Das war aber kein Zwang für uns, es gab sich alles von selbst und kam uns ganz natürlich vor. Wir lernten unbewußt in die Ideen der Kranken eingehen und machten keinen Unterschied zwischen ihnen und gesunden Menschen.
Ehe wir den größeren Garten hatten und zu dessen Bearbeitung eine Hilfe brauchten, kutschierte der Vater meistens selbst. Ein Mann aus Weinsberg besorgte das Pferd, und hie und da ließ sich der Vater auch durch diesen fahren.
Eines Tages kam ein Freund des Vaters, Dr. Seyffert von Heilbronn, zu Fuß zu uns, der Vater ließ ihn abends durch den Mann zurückführen. Während der Fahrt unterhielt sich Seyffert mit dem Kutscher. Als sie an dem Heilbronner Kirchhof vorüberfuhren, sagte der Mann: »Schön ist der Heilbronner Kirchhof, das muß man ihnen lassen, aber ihre Gräber machen sie nicht tief genug, das ist ein Fehler.« – »Was versteht denn Ihr davon?« erwiderte Seyffert. »Das muß ich doch verstehen«, meinte der Mann, »ich bin ja der Totengräber Zipperle.« Seyffert diente es noch lange zur Belustigung, daß der Doktor von Weinsberg den Totengräber zum Kutscher habe.
Schon in Welzheim kam ein Schneider aus Neckarsulm zu uns, der uns auch in Weinsberg noch oft aufsuchte. Er hatte viele, aber unschädliche fixe Ideen. Für gewöhnlich verfertigte er aus bunten Tuchlappen Bäusche und Nähkissen, zog damit durch das Land und verkaufte sie. Dem Vater und Karl Mayer, der sich damals in Heilbronn aufhielt, diente er oft als Bote schon von Welzheim aus. Sehr komisch war es, wenn unser Schneider von dem »Kommandantsgeist« erzählte, der in ihm wohne, was der ihm gesagt habe, und wie er ganz nach dessen Willen handle. Dem Kommandantsgeist war nichts verborgen, und durch denselben glaubte er sich ein Wunder von Verstand. Eine weitere fixe Idee von ihm war, jedes Kleidungsstück, dessen er habhaft werden konnte, heimlich zu zertrennen, das Muster davon abzuschneiden und es dann möglichst schnell wieder zusammenzunähen. Die Landjäger waren sein Schrecken, und er hatte denselben ewige Feindschaft geschworen, denn es kam oft vor, daß er von einem solchen weitertransportiert wurde, bis er wieder in seinem ihm angewiesenen Aufenthaltsort Neckarsulm war.
Mit großer Schadenfreude erzählte er mir einmal, wie er, als er zugleich mit einem Landjäger in einem Wirtshaus übernachtete, sich dessen Rock zu verschaffen gewußt, denselben zertrennt und ein Muster davon abgeschnitten habe. Der Tag hätte ihn bei der Arbeit überrascht, ehe er Zeit gefunden, den Kragen wieder aufzunähen, und er hätte daher denselben mit Leim am Rocke festgeklebt. »Der wird sich schön gefreut haben, wenn er in Regen kam«, schloß er diese Erzählung.
Wenn der närrische Schneider längere Zeit nicht kam, so fehlte es dem Vater sehr. Er unterhielt sich gerne mit demselben und erfreute sich an dessen gesundem Mutterwitz, der oft, einem Blitzstrahl gleich, durch seinen umwölkten Geist brach. Als er alt und schwach war, mußte er in Neckarsulm im Armenhaus bleiben; ich durfte ihn noch hie und da mit dem Vater besuchen und bekam als letztes Andenken noch ein schönes buntes Nähkissen von ihm.
Ein Weingärtner namens Röd ging täglich an unserem Hause vorüber, er war ein fleißiger Mann, aber auch verwirrt im Kopf. Während des Gehens hielt er immer lange Reden und machte alle Familienstreitigkeiten, eingebildete und wirkliche, auf der Straße aus, indem er laut vor sich hinsprach. Seine Reben besorgte er treulich. An einem schönen Frühlingstag, als es ihm bei der Arbeit warm wurde, zog er sein Wams aus und hängte es über einen Weinstock. Beim Nachhausegehen am Abend vergaß er, es anzuziehen, obgleich mittlerweilen ein starker Nordwind angefangen hatte zu wehen. Voll Sorge, seine Reben möchten in der kalten Nacht Schaden genommen haben, eilte er am andern Morgen in aller Frühe in den Weinberg hinaus und richtig, alle waren erfroren bis auf den einzigen Stock, über den er sein Wams gehängt hatte. Da fuhr er voll Entrüstung, so daß es in der Nähe arbeitende Weingärtner hörten, seine Rebstöcke an: »So! glaubt ihr, man solle euch auch noch Wämser machen lassen!« und fing an, einen um den andern an der Wurzel abzuschneiden. Kaum gelang es den Nachbarn, den Aufgebrachten etwas zu beschwichtigen und seinem Treiben Einhalt zu tun.
Peter Babel, ein Müller in Bitzfeld, war auch ein Original, das durch jahrelangen Umgang wir als zu uns gehörend betrachteten. Zweimal in der Woche schickte er einen Boten an den Vater mit einem Krankenbericht, der, mit wenig Abwechslung, immer dasselbe enthielt: »daß die Nase trocken, Zunge belegt, Hände und Kniee kalt seien und der ›Adam‹ (Atem) nicht von unten herauf gehe«. Auf jeden Bericht verlangte er eine Verordnung. Für den Arzt war es keine Kleinigkeit, immer eine unschädliche und nicht zu teuere Arznei herauszufinden, besonders da keine Krankheit bei ihm zu entdecken war. Zu prozessieren war ihm ebenso Lebensbedingung. War einer seiner Prozesse in vollem Gang, so lauteten die Krankenberichte etwas günstiger. In dieser Weise trieb es der Mann mindestens dreißig Jahre lang; sein Vater hatte ihm mehrere Güter und eine stattliche Mühle hinterlassen, allein alles verzehrten endlich die Apothekersrechnungen und die Prozeßkosten. Als keine Mittel mehr vorhanden waren, die Arzneien zu bezahlen, und doch immer noch Krankenberichte kamen, mischte der Vater dem Patienten selbst solche zusammen, die er mit dem gleichen Erfolg nahm, wie die Arzneien aus der Apotheke. Der Vater nahm natürlich nie eine Bezahlung von ihm. Er hatte ihn durch seine Originalität und jahrelangen Umgang liebgewonnen und betrachtete seine Krankheitsgeschichten als eine unheilbare fixe Idee. Nicht allein als Arzt konsultierte Babel den Vater, er zog ihn auch bei allen seinen Prozessen ins Vertrauen und verlangte Rat von ihm. Leider wurde letzterer, der stets zum Frieden aufforderte, nur selten befolgt. Für uns Kinder war der gute Mann sehr heilsam, denn wir nahmen uns sehr in acht, ein unbedeutendes Übel zu klagen, weil uns dafür von den Eltern sehr leicht der Name »Peter Babel« zuteil wurde. Dieses Mittel hatte noch für die nachfolgende Generation seine gute Wirkung. Der arme Peter Babel nahm ein trauriges Ende. Als nichts mehr vorhanden war, sein Leben zu fristen, fiel er der Gemeinde zur Last. Mühsam versah er noch längere Zeit das Amt eines Polizeidieners, bis er endlich im Elend starb an der Krankheit, für die kein Kraut gewachsen ist, am Alter.
Als wir einmal mit dem Vater zu Fuß nach Eberstadt gingen, kam uns in der Hälfte des Wegs ein Bote entgegen mit dem Brief eines Patienten. Die Sache erforderte Eile. Umzukehren, um das Rezept zu Hause zu schreiben, war nicht mehr möglich, und niemand hatte etwas zum Schreiben Dienliches bei sich. Während des Überlegens, was zu tun sei, kam ein uns bekannter Weinsberger Weingärtner vorüber, der nach Hause ging. Der Vater frug ihn: »Habt Ihr kein Bleistift und Papier bei Euch, Hansjörg?« – »Das nicht, Herr Doktor, aber ein Stück Kreide.« – »So muß diese helfen; kommt her, Hansjörg, haltet mir Eueren breiten Rücken her, auf Euerem blauen Wams läßt sich prächtig ein Rezept schreiben. – So, jetzt geht zusammen in die Apotheke nach Weinsberg, und du Bote sorge, daß niemand dem Hansjörg auf den Rücken klopft.«
Beide kamen glücklich in der Apotheke an, und der Apotheker verfertigte unter Lachen die Arznei. Er behauptete nachher, er hätte nicht leicht ein so schön und deutlich geschriebenes Rezept des Vaters zu lesen bekommen.
In Sülzbach war ein Schullehrer namens Wurst, der immer mit seinem Pfarrer (es war aber nicht mehr der Talonkel) in Streit lebte. Oft klagte er dem Vater seine Not, wie feindlich der Pfarrer gegen ihn sei, letzthin habe er ihn mit einem Blick angesehen, wie der »Franz Moor im Don Carlos«. Dieser Schullehrer kam einmal zum Vater, als derselbe auf dem Turme war. Das Thema über den Pfarrer war erschöpft, und Wurst plagte den Vater mit Fragen über die Farbe der Fahne auf seinem Turm, was dieselbe zu bedeuten habe usw. Der Vater nahm als Mittel gegen die Langweile den Humor zu Hilfe und erklärte dem Schullehrer, daß jeden Tag andere Farben aufgesteckt würden, gleichsam als ärztliche Berichte und Weisungen an die Chirurgen im Tal. Sei die Ruhr vorherrschend, werde eine rote Flagge aufgesteckt, beim Gallenfieber eine gelbe, sei die Sterblichkeit groß, eine schwarze. Auf diese Weise malte er die Sache immer weiter aus. Während des Gesprächs kam meine Tante Steinbeis, die auf Besuch bei uns war, auf den Turm. Der Vater schloß mit den Worten: »Ja, so ist es, Herr Schullehrer, und das ist meine Schwester, Frau Pfarrer Steinbeis.« – »Sie haben mir viel erzählt, Herr Doktor, und ich habe Ihnen alles geglaubt, aber daß Ihre Frau Schwester Steinbeis heißt, das glaub ich Ihnen nicht«, war des Schullehrers Antwort.
Unter die Originale zähle ich auch die Frau eines Schmieds in Weinsberg. Dieselbe kam oft zu uns und wurde manchmal zum Kaffee gebeten, besonders wenn Besuche da waren. Sie war eine Elsäßerin und in ihrem siebenzehnten Jahr nach Paris gekommen. Mit großer Lebendigkeit wußte sie den Einzug der Marie Antoinette und die nachfolgenden Hochzeitsfeierlichkeiten zu schildern. Wie durch ein Wunder entkam sie dem Gedränge, das durch den Einsturz einer Tribüne entstand und das so viele Menschen das Leben kostete. Einen Teil der Revolution erlebte sie noch in Paris. Sie wußte sehr interessant von dieser Zeit und ihren Schicksalen überhaupt zu erzählen, die sie endlich nach Weinsberg verschlugen. Es war eine sehr nette alte Frau, die sich mit großem Anstand zu bewegen wußte. Ihre Kleidung war ihrem Stande angemessen, aber von der größten Zierlichkeit. Einmal traf sie mit Graf Loeben bei uns zusammen. Dieser unterhielt sich äußerst lebhaft mit ihr und schien bald nicht mehr daran zu denken, daß eine einfache Handwerkersfrau vor ihm saß, so gewandt wußte sie sich auszudrücken in deutscher wie in französischer Sprache, trotzdem daß sie jahrelang ohne Übung in letzterer geblieben war. Im Laufe der Unterhaltung über französische Sitten und Gebräuche kamen sie auch auf den Tanz zu sprechen, wobei sich die Frau mit großem Entzücken über den Menuett äußerte. Der Graf schlug ihr vor, einige Touren desselben mit ihm zu versuchen. Mit der größten Leichtigkeit bewegte sich die alte Frau in den verschiedenen Wendungen mit dem Anstand einer Dame. Als ihr das Taschentuch entfiel und der Graf es ihr galant überreichte, sagte sie: »Herr Graf, diese Ehre ist zu groß für mich, ich kann es nicht annehmen, es soll sein, wie wenn es nicht geschehen wäre.« Mit diesen Worten ließ sie es wieder zur Erde fallen und hob es selbst auf.
Es ist schade, daß sie nie mit Graf Helmstädt bei uns zusammentraf, aber als dieser einige Jahre später zu uns kam, hatte die arme Frau ihr sonst so vortreffliches Gedächtnis gänzlich verloren.
Graf Helmstädt war in seinem zwölften Jahre als Page zu Ludwig XV. gekommen und, als er uns zum erstenmale besuchte, etwa achtzig Jahre alt. Wenn er von der Pompadour und dem Leben am damaligen französischen Hof als von etwas Miterlebtem erzählte und man den rüstigen Greis vor sich sah, so konnte man kaum begreifen, daß seine Jugend in eine uns so fern liegende Zeit hineinragte. Er hatte ein Gut am Neckar, Hochhausen, das wohl vier Stunden von Weinsberg entfernt ist. Oft kam der alte Mann zu Pferd bei uns an, um nach einigen Stunden wieder zurückzureiten. Solange er lebte, trank er keinen Wein, selbst der Geruch desselben war ihm widrig. Kaffee genoß er nie, ohne vorher einen Kaffeelöffel voll Salpeter in denselben getan zu haben. Sein hohes rüstiges Alter schrieb er allein der Enthaltsamkeit von Wein und dem Genusse des Salpeters zu. Er war in seinem Leben nie krank. Seine erste Krankheit war auch seine letzte. Der Vater besuchte ihn während derselben öfters; in seinen Phantasien beschäftigte er sich fast allein mit seiner Jugendzeit.
Eine Gräfin Eckermann-Alisson wohnte auch längere Zeit in Weinsberg und kam täglich zu uns. Es war eine schon alte Frau, der man die Spuren ehemaliger Schönheit wohl ansah. Über ihre Vergangenheit war sie sehr geheimnisvoll, und nur aus Andeutungen erfuhr man, daß sie eine politisch Verfolgte war und aus ihrer Heimat vertrieben. Mir erzählte sie einmal, daß einer ihrer Todfeinde ihr auf ihrer Flucht vor einer sehr schmalen Brücke begegnet sei. Ohne die Geistesgegenwart zu verlieren, habe sie ihm zugerufen: »Gib mir deinen Arm, damit ich hinüberkomme.« Er habe sie hinübergeführt und ihre Flucht ungehindert fortsetzen lassen.
Oft, wenn sie zu uns kam, wickelte sie mit großer Feierlichkeit aus mehreren seidenen Tüchern eine Spieldose, die sie uns aufspielen ließ. Sie war noch im Besitz verschiedener wertvoller Schmuckgegenstände, als Zeichen besserer Tage. Nirgends hatte sie lange Ruhe. Sie wechselte sehr häufig ihren Aufenthaltsort und starb endlich in Stuttgart. Dem Vater wurde nach ihrem Tode auf ihren Wunsch die Spieldose zugeschickt. Dieselbe ist in meinem Besitz.
Selbst ihre nächste Umgebung wurde nie über das Geheimnis ihrer Person und ihrer Schicksale aufgeklärt. Es hieß, ihr Mann sei in Schweden hingerichtet worden, und bei ihr hätte man nach ihrem Tode eine um ihren Leib festgeschmiedete Kette gefunden.
Ehe diese schwedische Gräfin zu uns kam, war auch der 1809 vertriebene schwedische König Gustavsohn beim Vater gewesen. Uns war es unbegreiflich, daß der schlichte Mann mit dem Ränzchen auf dem Rücken und einem Stock in der Hand ein König gewesen sein solle. Er war einige Stunden bei uns, unterhielt sich mit dem Vater über seine Schicksale und wie er um den Thron gekommen, ging mit ihm auf die Burg und zog dann einsam seinen Weg weiter. Theobald hatte einen guten Freund an Oberamtspfleger von Olnhausen, an dessen Haus ihn täglich sein Weg zur Schule vorüberführte. Wenn die Schulstunde heranrückte, lag der Herr Amtspfleger schon unter dem Fenster seiner Parterrewohnung, um auf Theobald zu warten und seinen Spaß mit ihm zu haben. In den Freistunden war Theobald oft bei ihm, Olnhausen hatte selbst keine Kinder, war aber ein großer Kinderfreund. Das Leben der Frau von Olnhausen war uns immer sehr geheimnisvoll. Wir sahen sie fast nie, sie bewohnte die Zimmer des ersten Stocks, und die Sage ging, ihr Adel sei so alt und sie so vornehm, daß sie nicht mit gewöhnlichen Menschen umgehen könne. Er war ein origineller Mann, der besonders viel auf seine Toilette hielt, deren Zierlichkeit sich auch auf sein Reitpferd erstreckte. Wir bewunderten ihn sehr, wenn er seinen täglichen Spazierritt machte, auf einem lichtbraunen Pferd mit grün angestrichenen Hufen, einem ganz mit weißen Muscheln besetzten Zaum und bunter Schabracke. Der Reiter selbst trug eine zierliche Kappe von Goldleder, auf der Brust eine prächtige Nadel mit grünem Stein, eine blauseidene und darüber eine weiße Weste, eine prachtvolle goldene Kette mit einem großen Cachet daran und einen hellbraunen Rock. Die Blume hinter dem Ohr durfte, solange es die Jahreszeit erlaubte, nie fehlen. Das Beste aber war sein liebes, freundliches Gesicht, das im Alter noch blühend aussah. Wir hatten ihn alle lieb, aber Theobald nannte ihn mit Stolz seinen Freund.
Sein Diener hieß Speckmaier, ein grimmig aussehender Mann, mit einem weit herabhängenden, weißen Schnurrbart. Wenn er guter Laune war, erzählte er uns von seinen Kriegsfahrten; seine Frau war uns sehr merkwürdig, weil sie als Marketenderin auch dabei gewesen war, was man ihr noch ansah.