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Kerner als Arzt im Wildbad

Im Wildbad begann Kerner wieder seine schriftstellerischen Arbeiten, ohne daneben die Praxis zu versäumen. Zuerst vollendete er die Reiseschatten; hier gab er auch den poetischen Almanach heraus und schrieb das Büchlein über das Wildbad.

Ein lebhafter Briefwechsel wurde außerdem mit seiner Braut und den Freunden fortgesetzt.

Friederike war nach kurzem Aufenthalt bei ihrer Mutter zu ihrer Tante, der Frau Oberamtmann Hehl, die als Witwe ihren Wohnsitz in Tübingen genommen hatte, berufen worden. Von den Freunden Kerners waren damals in Tübingen anwesend: Ludwig Uhland, August Mayer, Schwab, Assing usw. Assing vollendete seine Studien in Tübingen hauptsächlich, um Kerner nahe zu sein. Das Verhältnis zwischen Friederike und ihrer Tante war jetzt ein anderes geworden. Die Liebe, die letztere früher verfolgt hatte, war jetzt von ihr genehmigt, und es war ihr eine große Freude, bei sich oder ihrer Tochter, der geistreichen Frau Dr. Hehl, die Abende im Kreise obengedachter Männer zuzubringen und das Rickele als den Mittelpunkt desselben zu sehen.

Die Praxis im Wildbad war sehr beschwerlich, wie es die Unwegsamkeit der dortigen Gegend mit sich brachte. Einmal, es war gegen das Ende des Winters, ging Justinus durch den Wald, in seinen Mantel gut eingehüllt (demselben, welchen er dem Schneider nach Ludwigsburg mit den aus dem Bilderbuch bekannten Versen geschickt hatte), die Kappe tief hereingezogen und wie immer die Brille auf. Da begegnete er einer Schar Kinder, Knaben und Mädchen, aus den benachbarten Weilern, die vom Konfirmationsunterricht kamen. Plötzlich wandte er sich gegen die Kleinen, indem er aus den beiden Ecken des Mantelkragens Hörner bildete, und rief mit hohler Stimme: »Wißt ihr auch, wer ich bin? Ich bin der – Teufel!« Kaum hatte er dies gesagt, als die Kinder mit Geschrei auseinander sprangen, die wilden Schluchten und die steilen Abhänge hinab, durch Waldbäche hindurch; je mehr Kerner ihnen nachrief, sie sollen doch gescheit sein, er sei ja der Doktor, desto rasender sprangen sie weiter, und er wußte sich aus Angst über das Schicksal der armen Kinder kaum zu fassen. Mehrere Tage ging er um die Schule herum, um nach den Kindern zu sehen, aber keines von ihnen konnte er erblicken, er wußte nicht, daß einige Vakanztage waren. Endlich begab er sich in seiner Not zum Geistlichen und vertraute sich ihm an. Dieser ließ in seinem Beisein die Kinder kommen und fragte sie aus, worauf sie erzählten, daß ihnen im Wald der leibhaftige Teufel begegnet sei, mit Augen wie ein Pflugrädchen, mit Hörnern, kurz mit allem, womit man sich den Teufel ausmalt. Nur auf wiederholte Versicherungen des Geistlichen schienen sie endlich an die natürliche Erklärung zu glauben. Kerner beschenkte jedes der Kinder und ging mit erleichtertem Herzen nach Haus. Doch taten ihm die Kinder lange leid, er hatte nicht gedacht, daß der harmlose Scherz solchen Schrecken verursachen würde. Besser kam ein Hirtenknabe weg, den Kerner, als er viele Jahre später einen Besuch im Wildbad machte, schlafend am Wege fand; er legte ihm, ohne daß dieser es merkte, einen Taler in die Hand. Es machte ihm nun Freude, sich auszumalen, ob der Knabe bei seinem Erwachen das Geldstück als das Geschenk einer gütigen Fee oder als einen Teufelsspuk ansehen werde.

Der Besuch der Freunde brachte angenehme Abwechslung in den im Winter sehr einsamen Aufenthalt im Wildbad. Uhland kam im Februar 1811 auf seiner Rückreise von Paris zu Besuch. Er schreibt darüber am 23. Februar 1811 an Karl Mayer: »Von Karlsruhe aus ging ich zu Kerner und blieb vierthalb Tage bei ihm. Ungeachtet es die meiste Zeit regnete, waren wir doch recht gut beisammen. Wir hatten uns so vieles zu sagen, teilten uns unsere Papiere mit, setzten uns ins Bad, machten, wenn es möglich war, kleine Spaziergänge an dem wilden Strome hin, machten uns mit der Redaktion des Almanachs zu schaffen. Kerner hat bereits viel zu tun, und obgleich dieser Aufenthalt in mehrerer Rücksicht für ihn nicht geeignet ist, so ist doch auch die romantische Waldgebirg-Gegend für ihn nicht ohne günstigen Einfluß, der sich mir bereits erfreulich in den Szenen eines neuen Schattenspiels: »Der erste Bärenhäuter« erweist, die ich vorgestern von ihm zugeschickt erhielt. Besonders erregte mich in einer nächtlichen Waldszene der spukende Geist eines Jägers, welcher spricht:

Wenn die Eul im Wald sich reget,
Wolf und Marder Beute suchen,
Wenn der Mond blickt durch die Schläge,
Reißt michs aus dem Leichentuche.
Und der Hengst, darf ihn nicht rufen,
Steht schon wiehernd auf dem Hügel,
Trägt mich wie auf Sturmesflügel
Durch die Klüfte bis zum Steine,
Drin versteinern die Gebeine,
Die mich ewiglich verfluchen.

August Mayer schrieb seinem Bruder Karl am 2. August 1811: »Ich fand Kerner von sehr gutem Aussehen, ob er gleich immer über seinen schlechten Zustand als Wildbader Arzt klagt, indem er auch wirklich für viele Arbeit, die er sich durch große Gewissenhaftigkeit zum Teil selbst macht, fast gar keine Einnahme hat. Er ist zugleich Apotheker, und da bezahlen ihn die Leute meistens bloß für die Arzneien, oft nicht einmal für diese. Ich traf den ewig klagenden und jammervollen Assur bei ihm an, der ihm in seiner Praxis gute Dienste leistet, aber wohl auch bisweilen seine trübe Brille, womit er die Welt ansieht, aufnötigt. Kerner empfing mich sehr kordial und war auch meistens sehr lustig. Ich habe ihn erst hier kennen- und sein treffliches Herz schätzen gelernt. Ich glaube, es muß jedermann gut mit ihm auskommen. Assur ist auch ein herrlicher Kerl, aber nur durch sein ewiges Ächzen im muntern Umgang gar nicht zu gebrauchen. Ich schlief mit Kerner und Assur, und Kerner wiegte uns oft durch sein herrliches Maultrommelspiel in den Schlaf. Sonst war er viel bei Kranken. In der Poesie kommt er zu gar nichts.«

Eine große Freude brachte Kerner der Besuch seiner Mutter, die eine Badekur in Wildbad nötig hatte. Die Freude wurde noch dadurch erhöht, daß sein Rickele zu der Pflege der Mutter kam. Kerners Mutter fand an seiner Braut eine zärtlich besorgte Tochter, diese hatte bei ihr eine liebe Heimat, und Kerner ward die Freude, die beiden, die ihm die Liebsten waren, vereinigt zu wissen. Der Verkehr zwischen Wildbad und Enzweihingen war sehr lebhaft. Wenn es möglich war, von der Praxis abzukommen, was nur im Winter sein konnte, suchte Kerner auf einen Tag hinzukommen. Einem so rüstigen, unermüdlichen Fußgänger, wie er war, wurde es nicht schwer, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Der Braut wie der alten Mutter wurde ein solcher Tag zu einem Fest. Er erheiterte die oft sehr gedrückte Frau mit seinem Humor, den sie verstand und liebte, er erzählte ihr aus seiner Landpraxis, seine Gespräche mit den Bauern. Sein Maultrommelspiel hart an ihrem Ohr (sie war in ihrem Alter schwerhörig geworden) war ihr ein Genuß. Oft nahm er die kleine, zarte Frau auf den Arm und trug sie gleich einem Kinde im Zimmer umher. Was ihr »Christel« – so hieß sie ihn – tat, diente ihr zur Freude.

Der Aufenthalt in Wildbad war nicht von langer Dauer; einen Hausstand dort zu gründen, war nicht möglich, und deshalb entschloß sich Kerner, diese ihm lieb gewordene Gegend zu verlassen und sich nach Welzheim auf die dort erledigte Unteramtsarztstelle zu begeben. Dort war er auch wieder von Wäldern umgeben, aber noch einsamer und abgeschiedener von allem Verkehr.

Der Briefwechsel mit seinem Rickele und den Freunden mußte auch hier ihn für vieles entschädigen. Er vollendete nun auch die Schrift über das Wildbad, und die Herausgabe des poetischen Almanachs und des Dichterwaldes verkürzten ihm die Zeit. Dabei hatte er eine große und sehr beschwerliche Praxis, der er mit vieler Treue und Aufopferung nachkam.

Man darf sich Kerner nicht nur dichtend vorstellen, er war ein sehr geschickter, gesuchter und pflichtgetreuer Arzt, der auch auf medizinischem Gebiet mit Forschungen nicht nachließ. Nur insofern paßte er nicht zum Arzt, als er jedes Leiden so tief mitfühlte, wie wenn es sein eigenes wäre. Der Tod eines Familienvaters, einer Mutter oder eines Kindes zerriß ihm das Herz, und es raubte ihm völlig die Nachtruhe, wenn ein solcher Fall in seiner Praxis vorkam. Ganz bezeichnend ist es, daß er, als er in späterer Zeit einmal gefragt wurde, ob ihm keine Kinder gestorben seien, mit tiefem Seufzer sagte: »Ja, mehr denn hundert.« Der Schmerz war ihm beim Tod eines jeden der gleiche, wie wenn es sein eigenes Kind wäre. In seinen Gedichten sind mehrere auf den Tod von Kindern zu finden, die ihm aus dem Innersten des Herzens kamen.

Beinahe zwei Jahre war Kerner in Welzheim, als endlich die Zeit kam, in der er sein Rickele heimführen konnte. So nahe am Ziel, kam er noch in große Not. Ein Mißverständnis veranlaßte ihn, das Gesuch um Erlaubnis zu seiner Verheiratung, das damals jeder Staatsbürger eingeben mußte, statt von Behörde zu Behörde, direkt an den König Friedrich zu senden. Schon war das Schreiben abgesandt, und Kerner hatte in der Hoffnung auf die gewisse Gewährung seiner Bitte an seinen Bruder in Stuttgart darüber geschrieben, als dieser ihn schleunigst auf die Folgen dieses direkt an den König geschickten Gesuchs aufmerksam machte. Der König war den Heiratsgesuchen im allgemeinen nicht günstig, und je nachdem er in einer Stimmung war, konnte er, wenn ihm ein solches vorgelegt wurde, ebensowohl auf den Rand setzen: »Hat nicht nötig zu heiraten, soll unter die Soldaten« als seine Genehmigung erteilen. Diese Nachricht brachte Kerner ganz außer sich, statt in den Armen seines Rickeles sah er sich schon im Soldatenrock. Zum Glück wurde ihm noch dadurch geholfen, daß auf seines Bruders schleunige Verwendung die Bittschrift vom Sekretär des Königs, ehe sie in dessen Hand kam, beiseite geschafft wurde.

Dies war, gottlob! der letzte Sturm. Im Februar 1813 wurden Rickele und Justinus in der Kirche von Enzweihingen durch den Bruder Kerners getraut. Ich weiß nicht, hatte Kerner es so sehr eilig oder wie es sonst kam, daß, als der Bruder anfing: »Ich frage dich, Justinus Andreas Kerner, ob du usw. usw.« er vom Altar wegging. Als die Braut stehenblieb, ging er wohl wieder zu ihr zurück, aber das »Ja, ich will« ließ er ungesprochen, was ihm sein Rickele später noch oft im Scherz zum Vorwurf machte.

An Ludwig Uhland schrieb er noch vor der Vermählung von Ludwigsburg aus:

Grasburg, den 25. Febr. 1813

Auf meinem Weg zur Hochzeit!!! schreibe ich Dir dies in Grasburg, ich erhielt noch im Abreisen Dein Schreiben.

O lieber, lieber Uhland, wenn Du doch nur am 28., am Sonntag, nach Enzweihingen reiten würdest, wir könnten dann über manches uns besprechen und Du wärest bei unserem Hochzeitsschmaus anwesend, bei dem niemand sein wird als wir, wo Rickele die saueren Spatzen selbst dazu kochen wird.

Ich grüße Köstlin alsbald!!

Dein J. K.


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