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Gaildorf

Das Leben in der neuen Heimat

Im Herbst 1816 zogen wir nach Gaildorf, wo die Wohnungsnot aufs neue anfing. Hinter der Kirche, in einem kalten finstern Haus bezogen die Eltern einige Zimmer. Mit der Heizung war es sehr schlecht bestellt. Es war zwar ein großer Ofen vorhanden, so groß, wie man jetzt keinen mehr sieht; mit einer langen Ofengabel wurden die Kochhäfen hineingeschoben und mit einem Blasrohr das Feuer angeblasen; aber der große Ofen kam nicht zur Hälfte den Eltern zugut, er war zwischen zwei Zimmern eingemauert, und nur eine Platte davon ging in unser Zimmer. Zunächst an diese Platte kam unser Feuer. Es war aber ein sehr kalter Winter und nicht möglich, auf diese Art das Zimmer zu erwärmen, besonders da das Holz wie durch einen Zauber bald auf die andere größere Seite des Ofens, die in das Zimmer des Hausbesitzers ging, verschwand. Wenn der Vater zu Haus war, rückte er ein kleines Tischchen hart an die mühsam erwärmte Platte, um schreiben zu können. Er mußte es aber von Zeit zu Zeit abräumen, um die Oberfläche desselben am Ofen zu erwärmen, damit die erstarrten Hände etwas gelenkiger wurden. Ich bekam erfrorene Füße, und die Mutter schickte mich oft zu Bekannten, nur damit ich wieder erwärmt wurde. – Wie es der guten Mutter dabei erging, das hat sie mir in ihrer selbstlosen Weise nie erzählt.

Aber auch dieser Winter ging vorüber, und als das Frühjahr kam, bezogen wir ein kleines freundliches Haus, das wir allein bewohnen durften. Das Haus war Eigentum eines Fürsten und zweier Grafen, des Fürsten von Solms-Braunfels und der Grafen Waldeck und Pückler.

Ich sehe mit der größten Deutlichkeit den kleinen Garten an dem Hause vor mir, wie der Vater darin arbeitete und ich dabeistand, wie er einen Jelängerjelieberstock aus dem Beet entfernte und ich die schönen Blumen bedauerte, die daran waren. – Unten im Hause war ein Stall für den treuen Rappen. Die Wege waren bei Gaildorf etwas besser, auch war dort das Reiten der Frauen nicht so Sitte, und begleiten mußten wir doch den Vater, deshalb wurde der Rappen jetzt meistens an einen sogenannten Bernerwagen gespannt, auf welchem der Vater uns mitnahm. Wir hatten damals auch ein kleines Pferdchen, das auch ein schöner Rappe zu werden versprach. Da geschah es einmal, daß der Mann, der das Pferd besorgte, in der Frühe die Stalltüre offenstehen ließ. Dem Füllen kam die Lust an, das Haus zu besehen. Es lief die Treppe herauf bis in das Schlafzimmer des Vaters. Das alte Pferd konnte kaum noch aufgehalten werden, als es dem jungen folgen wollte. Es hätte schwer gehalten, das große wieder die enge Treppe hinunterzubringen, bei dem kleinen ging es schon leichter. Zu einem großen Rappen ist aber das Füllen nicht herangewachsen, es kam zur weiteren Ausbildung auf das Gestüt Güterstein und dort ist es gestorben. Es ging die dumpfe Sage, ein Lieutenant habe es zu tot geritten.

Meine Großmutter Kerner, die nach des Vaters Verheiratung wieder allein war, nahm ihren Aufenthalt von da an bei ihrer Tochter, der Frau Pfarrer Steinbeis in Ilsfeld. Sie wurde gefährlich krank, und der Vater eilte, als er diese Nachricht bekam, sogleich zu ihr und nahm mich mit.

Einen schweren Unfall, der uns auf dieser Reise betraf, schildert der Vater in einem Brief an Uhland wie folgt:

»All meine Lust und Liebe, meine Marie, auch mein eigenes Leben ward inzwischen aufs äußerste bedroht, ich war ganz nahe an einer dem Wahnsinn gleichkommenden Verzweiflung.

Man verlangte mich zu meiner kranken Mutter nach Ilsfeld. Mir zum Troste und der Großmutter zur Freude sprach mir Rickele zu, die Marie mitzunehmen. Ich fuhr mit einem Kutscher mit zwei Pferden in meinem eigenen Gefährte (einem andern als du kennst). Als wir an die große Steige kamen (nicht Chaussee), die von Löwenstein gegen das Bad führt, stieg ich aus und wollte Marie aus dem Gefährte heben. In diesem Moment wurden die Pferde rasend, ich wurde vom Rade auf die Seite geschleudert, der Kutscher stürzte vom Bocke, das Kind blieb im Gefährte, das Gefährt schlug um, die Pferde donnerten mit ihm den entsetzlichen Berg hinab, es auf der Bedachung, die Räder über sich gerichtet, fortschleifend, – ich wußte mein Kind in ihm!! Ich raffte mich auf, unverletzt, und folgte ganz vom Wahnsinn gepackt hintenher. Unter Trümmern des Gefährtes fand ich mein Kind in seinem Blute! Ich hob es für tot auf und trug es drei Stunden weit im fürchterlichsten Platzregen ganz wahnsinnig durch unwegsame Wälder und Felder bis nach Ilsfeld auf den Armen. Ich war ganz erschöpft.

Das Kind schien das linke Auge verloren zu haben, es hatte starke Quetschungen am linken Schlafe, das Schlüsselbein hatte es gebrochen. Gott im Himmel aber war gnädig, er trug Erbarmen. Am vierten Tage schlug es wieder das Auge auf, hell und lieblich wie es ist. Auch der Bruch des Schlüsselbeins und die Quetschungen heilten bald.«

Der Mutter hatte man gleich einen Eilboten geschickt, und so schnell wie möglich kam sie auf die Nachricht von diesem Unfall herbei. Als man sie erwartete, zog man mir, damit ich nicht so krank aussehe, ein Kleidchen an, den einen Ärmel ließ man leer herabhängen, was die liebe Mutter sehr erschreckte; sie glaubte, man habe ihr das Gräßlichste verschwiegen, der Arm sei abgenommen. Als ich soweit war, daß man mit mir reisen konnte, schickte Onkel Ehmann in Oehringen, ein Bruder der Mutter, einen Wagen, in welchem wir den weitern, aber besseren Weg über Heilbronn, Weinsberg, Oehringen nach Gaildorf zurücklegten. Als wir in Weinsberg den Berg hinauffuhren, an dem später unser Haus stand, sagte der Vater, wie von einer Vorahnung ergriffen: »Hier ist es schön, da möchte ich wohnen!«

Mein Bruder Theobald

Wir waren noch nicht lange zu Haus, als ich eine große Freude erlebte. Wie heute weiß ich noch, daß an einem Morgen beim Erwachen ich mein Bett ganz mit Blumen überdeckt fand, auch sehr schönes Zuckerwerk war dabei. Der Vater sagte mir, daß ein kleiner Bruder angekommen sei, der mir das alles mitgebracht habe. Ich war überglücklich, aber auf den Arm bekam ich das Brüderchen kaum, was mir sehr schmerzlich war. Ich dünkte mich schon groß und ganz passend zu einem Kindsmädchen. – Leider kam auf die Freude von des Kindes Ankunft bald ein tiefer Schmerz für die Eltern durch den nun doch erfolgten Tod der lieben Großmutter.

Uhland schrieb damals an den Vater über diese beiden Ereignisse:

»So ist das fortschreitende Leben, während man die eine Hand dem neugeborenen Geschlechte reicht, muß man die andere von dem absterbenden schmerzlich losreißen.«

Dieses kleine Brüderchen, das am 14. Juni 1817 geboren wurde, erhielt den Namen Theobald, nach dem General Theobald, einem Freund des Vaters, der zugleich mit Ludwig Uhland und Karl Mayer des Knaben Pate war. Theobald war ein nettes, zartes Kind, an dessen Hals aber die Mutter zu ihrem Schrecken bald eine Geschwulst entdeckte, die große Ähnlichkeit mit einem kleinen Kropf hatte. Kröpfe waren in Gaildorf etwas sehr Gewöhnliches, und manches dort war vielleicht derselben Ansicht wie die alte Frau in Weinsberg, der man nachsagt, sie habe, als ein Fremder mit schlankem Hals durch Weinsberg gegangen sei und die Kinder ihn ob seines dünnen Halses verhöhnten, diesen zugerufen: »Seid still, ihr gottlosen Kinder, danket Gott, daß ihr alle euere Glieder habt!« Die Geschwulst war der Mutter eine große Sorge, aber der Vater machte nichts daraus, er war wohl sonst sehr beschäftigt, überzeugte sich vielleicht auch bald, daß nichts Bedenkliches dabei war, und schenkte der Sache nicht viel Aufmerksamkeit. Die Mutter, in der Angst, ihr Theobald behalte ein Gaildorfer Anhängsel, beschloß auf Zureden von ihrer zur Hilfe anwesenden Schwester folgendes, von einer Nachbarsfrau angeratene, jedenfalls unschädliche Mittel anzuwenden. Es wurde mit dem Bäcker verabredet, daß das Dienstmädchen in der Frühe einen Wecken so heiß wie er aus dem Ofen kommt, unbezahlt und »unberufen« holen dürfe; dieser mußte auseinander gebrochen und dem Kinde auf die Geschwulst gelegt werden. Unterdessen wurde ein großer Hund eingesperrt und dieser sollte den Wecken, wenn er erkaltet wäre und seinen Dienst getan hätte, fressen. Die Sache war nicht so leicht als man glaubte. Das erstemal begegnete dem Mädchen, so sehr sie auch eilte, doch eine höfliche Person, die ihr: »Guten Morgen, Jungfer« nachrief. Damit war der Zauber gebrochen und den andern Morgen mußte wieder von neuem begonnen werden. Diesmal kam das Mädchen unbeschrieen nach Haus, und der Wecken wurde aufgelegt. Jetzt sollte der Hund den Wecken fressen, als man aber den Stall öffnete, brach der Hund durch und war nicht aufzuhalten. Zum drittenmal mußte die Sache vorgenommen werden, und ging nun glücklich vonstatten. Das beste daran war, daß die Geschwulst bald darauf verschwand. Der Vater behauptete zwar, der heiße Wecken habe gleich einem Kataplasma heilsam gewirkt. Vielleicht hat aber das Nichtbezahlen, Nichtberufen und der Hund doch auch geholfen. Theobald behielt einen schlanken Hals und seine Geburtsstadt hat ihm nichts geschadet.

Königin Katharina

Im Jahr, da Theobald geboren wurde, war eine große Teuerung im Land. Es war das Jahr vorher fast nichts gewachsen, die Vorräte früherer Jahre waren aufgezehrt, und die Not nahm immer mehr überhand. In dieser schweren Zeit war Königin Katharina einer wahre Mutter ihres Volkes, sie sorgte auf jede Art für die Armen und Hungernden. Sie ließ Frucht aus Rußland kommen, gründete wohltätige Anstalten und Vereine zur Milderung der augenblicklichen großen Not. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie ich hie und da die Mutter in eine große Küche begleiten durfte, in der die Frauen und Töchter von Beamten und Bürgern in umfangreichen Kesseln für Arme kochten, und der vielen Kinder, die mit Schüsseln da standen, um sich Suppe zu holen. Mit großer Sehnsucht sah man der Ernte des Jahres 1817 entgegen, und mit tief gefühltem Danke gegen Gott wurde der erste Erntewagen begrüßt. Jung und Alt zog dem bekränzten Wagen festlich gekleidet entgegen und das Lied: »Nun danket alle Gott« wurde bei Erblickung desselben aus vollem Herzen angestimmt. Auf mich machte dieses Fest einen bleibenden Eindruck. Es war der Mutter und des kleinen Theobalds erster Ausgang, sie nahm einige Ähren von dem Wagen und bewahrte sie für Theobald auf, der sie, wie ich glaube, noch heute besitzt.

Der ein Jahr darauf erfolgte Tod der Königin Katharina war ein großer Verlust für Württemberg. Durch ihr Eingehen in alle Verhältnisse und ihre Hilfe, wo es not tat, stand sie nicht auf unnahbarer Höhe. Einem jeden war die Mutter gestorben. Mein Vater besang sie in manch tiefgefühltem Lied.

Nicht lange vor ihrem Tode machten der König und die Königin eine Rundreise durch das Land. Der Tag, an dem sie durch Gaildorf kamen, war für das Städtchen ein Festtag. Die Beamten und Bürger versammelten sich auf dem Marktplatz, um das Königspaar dort zu empfangen. Die Schuljugend zog ihnen entgegen mit dem Lehrer an der Spitze. Ich ging zwar noch nicht in die Schule, durfte aber doch mitziehen. Es kamen uns mehrere Wagen entgegen, aber keiner war uns schön genug für den König. Der Lehrer mochte wohl mit uns einen goldenen Wagen, König und Königin mit goldener Krone, erwartet haben. Wir ließen alle an uns vorüberfahren. Endlich, als ein Packwagen kam, sagte man uns, daß der König im ersten Wagen gewesen sei. Wir waren in schönster Ordnung ausgezogen, aber nun löste sich alles auf. Ein jedes sprang, so schnell es nur konnte, zurück, um doch noch etwas vom Königspaar zu sehen. Wir kamen gerade recht, um den Wagen von hinten im Abfahren zu erblicken. Mit dem Vater hatte der König und die Königin sich länger unterhalten. Das war das einzigemal, daß der Vater das Glück hatte, die von ihm so hochverehrte Königin zu sehen. Er bedauerte nachher sehr, daß er es für passender gehalten hatte, während die Königin mit ihm sprach, die Brille abzunehmen; seiner Kurzsichtigkeit halber blieb ihm kein deutliches Bild von ihr. Bekannt war er der Königin schon früher durch seine schriftstellerische Tätigkeit. So forderte sie ihn auch auf, in Gemeinschaft mit dem allemannischen Sänger, Peter Hebel, nach dessen »Rheinischem Hausfreund« und »Schatzkästlein« den württembergischen Landeskalender zu einem gemeinnützigen Volksbuche umzubilden. Die Sache zerschlug sich jedoch, weil Hebel als »Ausländer« den »Schwaben« mit Belehrungen in ihrer eigenen Sache nicht zu nahe treten mochte.

Eine traurige Veränderung

Das Weihnachtsfest, das auf meinen vierten Geburtstag folgte, ist mir noch gut in Erinnerung. Ich bekam eine Puppe; sie prangte in einem rosa Zitzkleid, hatte aber keinen Kopf wie die jetzigen Puppen, konnte nicht schreien und nicht die Augen verdrehen. Ihr Gesicht war vielmehr von Wachs und am Hinterkopf war Flachs statt der Haare angeklebt, den Körper hatte die Mutter selbst gemacht und mit Sägmehl gefüllt, was ich erst später entdeckte. Dazu bekam ich einige kleine irdene Geschirrlein für die Puppe. Der Reichtum war zu groß, das Glück überwältigte mich so, daß ich in der Nacht ein Hirnfieber bekam zum großen Jammer der Eltern. – Als ich wieder in der Genesung war, sang mir mein lieber Vater ein Lied vor, das er darauf gemacht, dessen ich mich aber leider nicht mehr entsinne. Ich saß dabei in meinem Bettchen und weinte vor Rührung und Freude.

Bald nach dieser Krankheit trat eine traurige Veränderung für mich ein. Ich bekam die Gelbsucht, und von dieser Zeit an datiert sich manches Schmerzliche für mich. Bis dorthin war ich ein sogenanntes Wunderkind gewesen. Mit der Gelbsucht trat ein Stillstand ein und in meinem zehnten Jahre mußte ich noch hören: »Ja wenn du noch wärst wie in deinem vierten Jahr, da warst du so gescheit, so brav und so folgsam.« Als mir der Spiegel später sagte, daß ich ein mageres braunes Mädchen sei, und von der Mutter wollte, sie solle mich weißwaschen, hieß es wieder: »Ehe du die Gelbsucht bekamst, warst du ein kugelrundes, weißes, rotbackiges Kind.« Da verwünschte ich die Gelbsucht, die mich so verändert hatte, und die schrecklichste der Krankheiten war nach meinem Begriff diese. Fast betrübte ich die gute Mutter, wenn ich ihr folgenden Vers aus des Knaben Wunderhorn sang:

Wann ich schon schwarz bin,
Schuld ist nicht mein allein,
Schuld hat mein' Mutter g'habt,
Weil sie mich nicht gewaschen hat,
Da ich noch klein,
Da ich wunderwinzig bin gesein.

Das war sehr unartig von mir, aber die Gelbsucht war schuld daran! Damals jedoch lebte ich, unbewußt der leidigen Veränderung, die über mich gekommen war, dahin.

Kleine Reisen

Ich war ein sehr glückliches Kind, das immer bei den Eltern sein durfte und nur Freude erlebte. Der Vater mußte auch in Gaildorf viel über Land; da die Mutter des kleinen Theobalds wegen mehr zu Hause bleiben mußte, so war ich oft seine einzige Begleitung. Ich durfte das Leitseil in die Hand nehmen – bei dem braven alten Rappen konnte man es schon wagen – und wenn dann der Vater sich stellte, als schlafe er, und ich glaubte, ganz allein das Pferd zu leiten, war ich sehr stolz. Mußte ich zu Hause bleiben, so brachte mir der Vater immer etwas mit. Er ging aber nicht in einen Kaufladen, um mir Spielzeug oder Zuckerwerk zu holen, nein, er brachte mir ein Stück schwarzes Brot, das mir viel besser schmeckte, als das zu Haus, oder Tannenzapfen, die ich meine Kühe hieß und in den Stall sperrte, auch irgend eine Merkwürdigkeit, die er in dem Wald oder auf dem Wege fand, Blumen, Steine oder ein Stück Holdermark, aus dem er mir dann »Holdermännlein« machte. Er wußte wohl, wie er mich mit allem erfreute. Niemand konnte auch so schön, nur mit einigen Strichen, einen Tannenbaum zeichnen; wenn er sonst nichts für mich hatte, so wurde ich mit einem solchen beglückt.

Eines sogenannten »Rezeptbüchleins« erinnere ich mich noch, das der Vater immer bei sich trug, um die Rezepte, die er den Tag über verordnete, sogleich hineinzuschreiben. Auf dem Deckel desselben hatte er mit Tinte einen solchen Tannenbaum gezeichnet, unter diesem einen Totenkopf mit gekreuzten Totengebeinen. Darunter stand: »Gegen den Tod kein Kraut gewachsen ist.«

Oft nahm der Vater mich mit in das Pfarrhaus des Ortes, in dem er eben Besuche zu machen hatte. Meist wurde ich dort mit Honigbrot bewirtet, und es gefiel mir in all diesen Pfarrhäusern gar wohl. Eines aber blieb mir vor allem in lieber Erinnerung. Der Zimmerboden war dort, nach damaligem Brauch, mit schönem weißen Sand bestreut, auf dem ich aber immer ausglitt und hinfiel, deshalb wurden mir sogleich bei der Ankunft die Schuhe ausgezogen, und ich durfte ungestraft in den Strümpfen herumspringen.

Lebensgefahren

Nicht viel über ein Jahr durften wir in dem kleinen Haus bleiben. Es wurde eine gräfliche Bierbrauerei erbaut und in das Haus die Wirtschaft verlegt. So behaglich und wie im Eigentum bekamen wir es nicht wieder; aber doch eine freundliche Wohnung innerhalb der Stadt bei sehr lieben Leuten, einem Tuchmacher Seylacher. Sie hatten einen Knaben von meinem Alter, der mir ein lieber Spielgefährte wurde. Ich war deshalb oft bei ihnen. Was mich aber besonders dort anzog, war ein Haspel, der von dem Zimmerboden bis an die Decke ging. Er gehörte zu des Hausherrn Gewerbe. In diesen setzten wir uns und drehten uns stundenlang, wie in einem Karussell. Einst wollte die Hausfrau ihren Heinrich und mich in eine Mühle mitnehmen. Wir gingen über einen schmalen Steg am Kocher hin; auf einmal, als die Hausfrau sich nach mir umsah, war ich verschwunden, und sie sah nur noch meinen Hut im Kocher schwimmen. Rasch sprang sie nach, zog mich heraus und trug mich in großem Schrecken nach Haus. Erst als sie mich warm eingewickelt in ihrem Bett hatte, holte sie die Mutter. Diese dankte Gott, daß es so gut abgelaufen war.

Ich war aber schon bestimmt, andern Leuten Schrecken einzujagen. Die Mutter hatte in einem Koffer, in dem sie alte Kleider aufbewahrte, etwas zu suchen; ich stand dabei und ein alter Hut der Mutter fiel mir sehr in die Augen, ich setzte ihn auf und beschloß, darin spazierenzugehen. Die Mutter bemerkte nichts davon, und ich machte mich mit dem großen Hut, der mir über die Augen fiel, auf den Weg und sah in meinem Stolze nicht, daß ein mit vier Pferden bespannter Güterwagen auf mich zukam. Schon wurde ich von den Pferden umgeworfen, als eine Frau, die unter der Haustüre stand, es bemerkte und mich rasch hervorzog, ohne daß es mir Schaden getan hatte. Die Frau war aber so angegriffen, daß sie, nachdem sie mich kaum gerettet hatte, bewußtlos umsank.

Bald nachher erlitt ich einen Unfall, der noch schlimmere Folgen hätte haben können. Ein böser Knabe, wie es deren nicht nur in Gaildorf gibt, sprang auf der Straße an mir vorüber und warf mich, ich weiß nicht mit Willen oder aus Versehen, mit einem Stein, der mich gerade unter das Auge traf. Es war ein Wunder, daß das Auge verschont blieb; aber sehr lange behielt ich eine Wunde. Das war gottlob der letzte Schrecken der Art, in den ich meine Eltern versetzte. Ich müßte nur noch erwähnen, daß, als einmal Besuche sich zum Kaffee anmelden ließen und der Vater sich schnell noch rasieren wollte, ich auch den Drang in mir fühlte, mich noch schöner zu machen, das Rasiermesser ergriff und mir einen solchen Schnitt im Gesicht beibrachte, daß alle Vorbereitungen zum Kaffee unterbleiben mußten und es nur zu tun gab, das Blut zu stillen und die Wunde mit Heftpflaster zu schließen.

Der gräfliche Hof

Zwei der standesherrlichen Familien, die Grundherren in Gaildorf waren, residierten damals dort; es waren das die Grafen Pückler und Waldeck. Von den ersteren kann ich mich nicht mehr viel erinnern, nur das weiß ich noch, daß die Gräfin eine freundliche schöne Frau war, die mehrere Knaben, aber nur ein einziges Töchterlein hatte, und daß ich einigemal dort war, um mit diesem zu spielen. Noch einmal durfte ich hin, da lag das Mädchen in einem schwarz behängten Zimmer von Blumen umgeben im Sarg. Daß das Kind einen Ring mit einem blauen Stein am Finger trug und diesen mit in die Gruft nahm, beschäftigte mich sehr.

Mit Graf Waldecks kamen die Eltern viel zusammen. Graf Georg von Waldeck, aus einer Seitenlinie des fürstlich Waldeck-Pyrmontschen Hauses, ein geist- und kenntnisreicher Mann, spielte als Vertreter der standesherrlichen Interessen vor der Bundesversammlung und in den damaligen württembergischen Verfassungswirren eine bedeutende politische Rolle. In Gaildorf schuf er einen kleinen Hof um sich, in welchem aber der Vater sich sehr ungeniert bewegte. Trotz seines Adelsstolzes hatte der Graf eine Frau von bürgerlicher Abkunft, Tochter eines Beamten, namens Wirth, geheiratet. Es war eine sehr feine schöne Dame, mit der er recht glücklich lebte. In die Kirche ging der Graf nie zu Fuß, obgleich das Schloß so nahe bei der Kirche war, daß die vordern Pferde des Viergespanns an der Kirchentüre standen, wenn der Graf am Schloß seinen Wagen bestieg.

Eine Verwandte des Grafen feierte im gräflichen Schlosse ihre Vermählung mit einem Grafen Gronsfeld. Die meisten Honoratioren des Städtchens wurden zu der Vermählung geladen mit der Vorschrift: »schwarzer Frack, weiße Halsbinde, weiße Weste, kurze Beinkleider«. Der Vater, der alles gerne bequem hatte und allen feierlichen Gelegenheiten auswich, war nicht mit solch feiner Toilette versehen. Die Einladung konnte er aber diesmal nicht umgehen. Zum Glück wurde ein Freund von ihm, der alles Vorschriftmäßige besaß, nicht geladen; dieser mußte ihm aushelfen. Die Mutter gab sich alle Mühe, den Vater schön herauszuputzen, und alles schien zu gelingen; nur, als er die kurzen Beinkleider anzog, fand es sich, daß es mit den langen Unterbeinkleidern nicht ging, diese mußten noch abgeschnitten werden und das gab wieder einen längeren Aufenthalt, über den der Vater sehr ärgerlich war; denn ihm war es eine große Last, sich lange mit der Toilette befassen zu müssen. Die Gesellschaft war schon einige Zeit versammelt, als der Vater kam. »Mein Gott, Kerner, wo bleiben Sie so lange!« rief ihm die Gräfin entgegen. »Wenn ich ohne Hosen hätte kommen dürfen, wäre ich schon lange da«, entgegnete zum Entsetzen der hochgräflichen Versammlung der Vater, den es verdroß, daß er zur Plage hin auch noch Vorwürfe haben sollte.

Schaudergeschichte

Es gab in Gaildorf viele Kretinen und die Kröpfe waren dort, wie ich schon früher sagte, zu Haus; eine alte Person, das »Annesybele« (Anna Sybille), hatte einen besonders merkwürdigen Hals, der sich, ich weiß nicht durch wie viel, Kröpfe auszeichnete, und oft zeigte der Vater, wenn ärztliche Freunde zu ihm kamen, ihnen diese Abnormität. Besonders interessierte sich Professor Georg Jäger, ein Universitätsfreund des Vaters, der das Naturalienkabinett in Stuttgart unter sich hatte, für diesen Hals. Nun kam eines Tages der Bruder von Annesybele ganz feierlich zum Vater mit einem großen Pack in der Hand. Da der Herr Doktor schon so viel an ihm und seiner Familie getan und nie Bezahlung dafür genommen habe, so sei er so frei, ihm eine Erkenntlichkeit dafür zu bringen, seine Schwester sei gestern gestorben und hier bringe er dem Herrn Doktor ihren Kopf, den er sich vom Chirurgen habe abschneiden lassen, weil er wisse, wie sich der Herr Doktor dafür interessiert habe.

Es sei schrecklich anzusehen gewesen, als der liebevolle Bruder den Kopf an den grauen Haaren gepackt und ihn dem Vater hingehalten habe. – Ich habe es gottlob nicht gesehen. Der Vater packte den Kopf in ein Kistchen, um ihn durch den Boten, der wöchentlich einmal nach Stuttgart fuhr, seinem Freund Jäger zu schicken, ohne dem Boten zu sagen, was das Kistchen enthielt. Dieser fuhr arglos mit Annesybeles Kopf nach Stuttgart und lieferte ihn, seinem Auftrage gemäß, an Jäger selbst ab. Letzterer ließ dem Boten ein Glas Wein geben und unterhielt sich mit ihm, bis das Kistchen geöffnet war. Aber welches Entsetzen befiel den Mann, als Jäger Annesybeles Kopf herausbrachte. Als er zurückkam, war sein erster Gang zum Vater: »Wie haben Sie das tun können, Herr Doktor! Wenn ich es gewußt hätte, nicht um tausend Gulden hätte ich Annesybeles Kopf mitgenommen, habe ich doch nicht gewußt, warum mein Pferd den Wagen nicht weiterbrachte, obwohl ich nicht stark geladen hatte.«

Eines sehr freundlichen und gutmütigen Kretins erinnere ich mich noch, der immer die Sonne aufsuchte und in dieser sitzend ganz glücklich sagte: »Die Sonne mag mi, die Sonne hat mi lieb.« Der arme Tropf hatte wahrscheinlich sonst nicht viele Liebe zu genießen.


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