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Kaum meldete sich der zweite Tag des neuen Jahres mit dem ersten grauen Morgenschimmer an, da weckte ein Schuß des einen Wachpostens und der Ruf der anderen: »Achtung, sie kommen!« das Lager aus seinem friedlichen Schlummer. Eilends sprangen die Männer unter ihren Decken hervor, ergriffen die Waffen und kamen gerade noch zeitig genug an die Wagen, um eine ausgiebige Salve auf die Indianer abzugeben, die in dichten Gruppen, wohl an die zweihundert Krieger stark, von drei Seiten die Anhöhe heraufstürmten.
Hatten sie die Nacht benützt, um sich von dem fernen Flußarme, wo sie der Doktor vom Ballon aus bemerkt hatte, bis in die Nähe des Lagers zu schleichen, oder trieben sie sich schon längere Zeit, ungesehen von den Wachposten der Weißen, in der Umgegend herum? Der Doktor fand keine Zeit, sich darüber klar zu werden. Er stieg wieder in den Panzerwagen, während der Oberst den Befehl über die anderen Mannschaften übernahm.
Leider konnte Doktor Bergmann anfänglich gar nicht in den mit aller Heftigkeit sich entspinnenden Kampf eingreifen, weil er kein freies Schußfeld hatte. Denn da die Feinde die abschüssige Böschung heraufkamen, befanden sich stets die Wagen zwischen ihnen und dem Geschützturm, so hoch auch der Doktor letzteren emporsteigen ließ. Das war für seine Begleiter ein großer Nachteil; sie konnten trotz ihrer Repetiergewehre gegen die Überzahl der Wilden nicht aufkommen und diese gewannen immer mehr an Boden.
Der Doktor rief daher dem Oberst einige aufklärende Worte zu; dieser begriff sofort ihren Zweck und traf seine Anordnungen danach. Die Verteidiger zogen zwei der am meisten bedrängten Wagen auf die Seite, so daß eine breite Lücke in der Umwallung entstand, und vereinigten ihre Kräfte zur Abwehr der Feinde an den übrigen Seiten.
Kaum merkten die Indianer diese anscheinend schwache Stelle – sie lag auf der Ostseite – da drängten sie hier in verstärkter Anzahl vor und gelangten auch ziemlich rasch auf die Höhe. Nun aber konnte der Doktor sein Geschütz sprechen lassen. Das geschah so ausgiebig, daß die stürmenden Indianer bald den Mut verloren und in der größten Verwirrung von dannen stoben.
Die Peones begrüßten diesen Rückzug mit lauten Freudenrufen, während die Rothäute in ein zorniges Geheul ausbrachen. Dann schoben die Weißen langsam einen Wagen nach dem anderen zurück, so daß der Doktor nach und nach mit seinem Maschinengewehr den ganzen Abhang nach Süden und Westen hin bestreichen konnte. Einem solchen Geschoßhagel konnten die Indianer trotz ihrer bewundernswerten Tapferkeit nicht widerstehen. Bald zogen sie sich mit schweren Verlusten in das tiefer gelegene Gehölz zurück.
Als das Lager in dieser Weise vorläufig geschützt war, stieg der Doktor wieder aus seinem Turm herab, um sich mit den Seinen zu beraten, die ihn mit Jubel und fröhlichem Hüteschwenken empfingen.
»Großartig, Euer Gnaden!« rief der Peon, der von den übrigen durch ein stillschweigendes Übereinkommen als Sprecher angesehen wurde. »Das lobe ich mir, wie Sie den Burschen heimzuleuchten verstehen! Aber jetzt wollen wir ihnen ohne Zögern nachsetzen und sie vollends in die Pfanne hauen, ehe sie sich von diesem ersten derben Schlage verschnaufen können. Adelante!« schloß er, zu den Seinen gewandt, und wollte zu seinem Pferde eilen.
»Halt!« rief der Doktor und hielt ihn an seinem poncho (mantelartigen Überwurf) zurück, »wir dürfen das Lager nicht zu sehr entblößen. Wer weiß, ob nicht noch andere im Hinterhalt lauern!«
»Ich glaube das weniger,« fiel der Oberst ein. »Bis zu einer solchen hohen taktischen Kriegskunst sind die Roten noch nicht gelangt. Was sie nicht im ersten Anlauf nehmen können, das lassen sie ebenso rasch wieder im Stich, um erst bei passender Gelegenheit ihren Versuch zu wiederholen. Ich denke, eine kurze Verfolgung, die nicht zu weit vom Lager wegführt, dürfte gute Dienste leisten.«
»Es sei,« erwiderte der Doktor, allerdings mit einigem Widerstreben, »nehmen Sie die Hälfte unserer Leute und setzen Sie den Flüchtigen nach. Ich will aber zur Vorsicht gleich wieder in den Turm steigen, daß ich Ihnen den Rückzug decken kann, falls Sie zu einem solchen gezwungen werden.«
Der Oberst winkte leicht abwehrend mit der Hand. Wenige Augenblicke später setzte er mit Sir Allan und fünf Peones den Abhang hinunter und in das Buschwerk hinein, das die flüchtigen Indianer verbarg.
Von diesen suchten die Verwundeten, soweit sie noch laufen konnten, ihr Heil in eiliger Flucht; aber während die Weißen ihnen in der Hitze der Verfolgung hastig nachdrängten, sammelten sich in einem abseits gelegenen Winkel des Wäldchens gegen fünfzig noch unverwundete Krieger, die nun rasch ihren Feinden nachsetzten, um sie im Rücken zu fassen.
Von diesen Vorgängen konnte der Doktor in seinem Turme nichts erkennen, weil das Laubwerk Freunde wie Feinde seinen Augen entzog. Als dann die Hetzjagd kurze Zeit später auf ein Stück offenes Wiesenland hinauskam, sah er zuerst die flüchtigen Indianer, die blindlings nach allen Seiten auseinanderstoben, und hinter ihnen den Oberst mit seinen Begleitern. Kaum waren aber diese etwa dreißig Schritt auf die Lichtung heraus, da kam noch eine ansehnliche Schar von Rothäuten zum Vorschein, welche, die Speere wurfbereit in den Händen, den Reitern nachsetzten und deren Pferden wenig an Schnelligkeit nachgaben.
Voll Schrecken erkannte der Doktor die Gefahr der Seinen, ließ sofort das Alarmhorn ertönen, um sie zu warnen, und richtete dann sein Geschütz auf die Rothäute hinter ihnen. Wie der Oberst das wohlvertraute Zeichen vernahm, blickte er sich um und gebot sogleich den Seinen Halt. Nun galt es, im vereinten Anlauf den feindlichen Gürtel, der sie vom Lager trennte, zu durchbrechen, wenn sie nicht abgeschnitten werden wollten.
Die Indianer, die bisher in einer ziemlich breiten Linie hinter den Weißen hergeeilt waren, merkten sogleich die Absicht des Obersten und liefen nach dem Punkte zusammen, wo der Durchbruchsversuch voraussichtlich erfolgen mußte. Zwar erlitten sie in dieser Zeit noch einige Verluste durch das Maschinengewehr, aber der Doktor mußte sein Feuern doch bald einstellen, wenn er nicht seine Freunde treffen wollte. Damit waren diese auf ihre eigene Kunst angewiesen.
Der Oberst und die Peones waren mit der Kriegführung der Indianer hinreichend vertraut um zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Eng zusammengedrängt, daß sie mit den Schenkeln aneinanderstießen, sprengten sie in gestrecktem Galopp den Feinden entgegen, von denen sie mit vorgehaltenen Lanzen erwartet wurden. Etwa fünf Schritt vor ihnen angekommen, feuerten sie insgesamt ihre Revolver auf die mittlere Gruppe der Indianer ab, so daß mehrere von diesen zusammenbrachen und eine schmale Lücke frei wurde. Allerdings war sie nicht groß genug, daß alle sechs Reiter in einer Reihe hindurchkonnten. Darum formten sie blitzschnell noch im letzten Augenblick einen Keil, nahmen ihre Pferde hoch und setzten mit einem kühnen Sprunge mitten in die Feinde hinein, die durch das Feuer kurz vorher in einige Verwirrung geraten waren. Das Wagnis glückte; die Rothäute prallten auseinander, und mit lauten Siegesrufen flogen die wackeren Reiter nach dem Lager zurück.
Leider hatten sie aber in der Hitze des Kampfes darauf vergessen, daß Sir Allan mit solchen landesüblichen Reiterkünsten nicht vertraut war. Er blieb um einige Ellen hinter den anderen zurück, und diese kurze Verzögerung reichte aus, sein Verderben herbeizuführen.
Die Indianer fanden Zeit, ihre Überraschung über den Durchbruch der anderen zu überwinden, und vereinigten nun, da ihnen jene entgangen waren, ihren Angriff auf den letzten Mann. Von einem halben Dutzend Speeren durchbohrt, brach Sir Allans Pferd zusammen. Die Rothäute sprangen herzu, rissen den vom Sturze halb betäubten Reiter unter dem verendenden Gaule hervor und schleppten ihn in raschestem Laufe nach dem nächsten Gehölz. Dort fesselten sie ihn, gaben den zersprengten Mitgliedern ihrer Schar durch Pfiffe zu erkennen, wo sie sich wieder sammeln sollten, und verschwanden dann nach allen Richtungen in den Wald, um jede Verfolgung vom Lager aus unmöglich zu machen. Nur zwei blieben bei dem Gefangenen und zwangen ihn mit vorgehaltenen Messern, ihnen geradeaus nach Westen zu folgen, so rasch ihn die Beine tragen wollten.
Oberst Iquite und seine Peones merkten diesen Unglücksfall erst, als sie wieder im Lager anlangten, denn die Zeichen, die ihnen der Doktor schon von weitem zuwinkte, hatten sie nicht verstanden.
Nun wollten sie auf der Stelle wieder umkehren, um ihre Vergeßlichkeit gut zu machen; doch Doktor Bergmann wußte mit eindringlichen Worten durchzusetzen, daß sie schließlich davon abstanden. Es war klar, daß die Indianer ihren Gefangen eher töten als herausgeben würden. Wenn es nicht gelang, ihn aus dem Hinterhalte zu befreien, war der unerschrockene Entomologe verloren.
Eben wollten die Weißen in ergrimmter Stimmung zu beraten beginnen, mit welchen Mitteln dieser Befreiungsversuch einsetzen sollte, da hörten sie hinter sich ein lautes Schluchzen, und sich umwendend, sahen sie an einem Wagen John, Sir Allans Diener, lehnen, der sich die Hände vor das Gesicht hielt und fast wie ein kleines Kind weinte.
»Aber John, sei doch ein Mann,« sagte der Doktor, indem er hinzutrat und ihm tröstend die Hand auf die Schulter legte. »Wir werden gewiß tun, was in unseren Kräften steht, um deinen braven Herrn zu retten.«
»O, tun Sie das, Mr. Bergmann!« rief John händeringend. »Denn wenn Seine Ehren nicht wieder davonkommt, ist es auch um mich geschehen.«
»Es wird niemandem einfallen, dich verantwortlich zu machen,« sagte der Doktor.
»O, Sie wissen nicht alles,« klagte John, während ihm die dicken Tränen unaufhörlich über die Wangen rollten. »Wie wir von daheim fortfuhren, nahm mich Seine Lordschaft, welche der Onkel von Seiner Ehren ist, vorher beiseite und sagte: ›John‹, sagte er, ›gib mir auf meinen Neffen acht! Denn wenn ihm was passiert, oder wenn du gar allein zurückkommst, lasse ich dich schaben, so wahr ich hier stehe.‹«
»Schaben?« fragte der Doktor verwundert. »Was soll denn das heißen?«
»Ich weiß nicht, Sir,« jammerte John mit verzweifeltem Schütteln seines wohlgenährten Hauptes; »aber Seine Lordschaft wird es wohl wissen, und wenn der etwas weiß, dann ist es sicher was Schreckliches. Und ich möchte um nichts in der Welt geschabt werden!«
Als sich die vermeintliche Anhänglichkeit des Dieners an seinen Herrn auf diese Weise als schnöde Selbstsucht herausgestellt hatte, brach der Doktor, über die Einfalt des Iren lächelnd, seine Trostversuche ab und kehrte sich wieder zum Oberst.
»Es ist eine verwünscht heikle Geschichte, in die wir da geraten sind,« sagte er. »Die Indianer sind ohne Zweifel auf hundert verschiedenen Schleichwegen auseinandergeeilt, so daß wir die Spur Sir Allans nur mit der größten Schwierigkeit feststellen können. Sicherlich werden ja alle diese Fährten nach einer gewissen Zeit an einem im voraus bestimmten Sammelpunkte zusammentreffen. Aber ebenso sicher dürften alle Zugänge zu ihm aufs schärfste bewacht sein, so daß an eine Überrumpelung der Indianer nicht zu denken ist. Wir müssen ihnen daher vom Rücken beizukommen suchen und zu diesem Ende die Lage des erwähnten Sammelplatzes genau kennen. Diese Gegend ist aber noch vollständig unerforscht und die immer dichter werdenden Wälder verhindern selbst vom Ballon aus einen genauen Überblick; daher können wir nicht einmal Vermutungen aufstellen, an welchem Punkte die Indianer zusammenzutreffen gedenken. Ich weiß wirklich nicht, wie wir einen Ausweg aus dieser Verlegenheit finden sollen.«
»Vielleicht kann ich Ihnen einen Wink geben,« fiel da Miguel Rodilla ein.
Sofort umringten ihn die anderen mit hundert neugierigen Fragen, bis er lächelnd abwehrte: »Aber, Señores, wollen Sie nicht lieber warten, bis ich zu Ende bin?«
Die anderen beherrschten sich, und so konnte er fortfahren: »Sie haben vielleicht schon gehört, daß sich die Indianer durch Pfiffe miteinander verständigen, die bei gewissen Stämmen so ausgebildet sind, daß sie teilweise die Sprache ersetzen. Namentlich auf der Jagd geben sie einander auf diese Art Zeichen, weil es die Tiere weniger erschreckt als der Ruf einer menschlichen Stimme und auch weiter zu hören ist. Daher kommt es, daß sie für jedes Jagdtier ein besonderes Zeichen besitzen und auch viele andere Worte durch Pfiffe ausdrücken können, wie rechts, links, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Fluß, Berg und dergleichen. Ich habe alle diese Sachen lernen müssen, weil sie mich bei der Jagd immer als Späher benutzten, und so habe ich auch die Pfiffe verstanden, die dort drüben aus dem Walde herübertönten, als die Indianer mit dem Señor Ingles darin verschwunden waren.«
»Sprechen Sie rasch!« rief der Doktor in großer Erregung. »Das wäre wirklich ein unschätzbarer Vorteil, wenn wir etwas über den Ort erfahren könnten, an den Sir Bendix geschleppt werden soll. Aber es fragt sich nur, ob diese Zeichen bei allen Stämmen die gleichen sind.«
»Da hat es keine Not,« erwiderte Miguel Rodilla. »Ich habe ja unter den Toba gelebt, und die Rothäute, die uns da angriffen, waren ebenfalls Toba, wenn auch aus einer anderen Abteilung.«
»Woraus erkannten Sie das?« forschte der Doktor.
»Nun, die Toba haben zwar die Mataceo, ihre früheren Nachbarn, in sich aufgesogen,« erklärte der ehemalige Indianersklave, »aber dabei mancherlei von den Gebräuchen der letzteren übernommen, vor allem die Art, wie sie sich zu einem Kriegszuge schmücken. Sie malen sich dann das Gesicht und teilweise auch den Körper mit schwarzer Farbe an, verwirren nach Möglichkeit ihr Haar, um die Schrecklichkeit ihres Aussehens zu erhöhen, und behängen sich den ganzen Leib mit gelben und roten Federn.«
»So sahen unsere Angreifer von vorhin allerdings aus,« bestätigte der Doktor. »Folglich mögen Sie auch die für uns hochwichtigen Signale richtig verstanden haben.«
»Ich zweifle nicht daran,« erwiderte Rodilla. »Das erste Zeichen, das Auseinanderlaufen bedeutete, habe ich oft genug vernommen, wenn eine Gruppe der Jäger unvermutet auf einen Jaguar oder Puma stieß und uns übrige warnen wollte. Dann folgten zwei schrille hohe Pfiffe, die zwei bedeuten, sodann ein langer, erst anschwellender und dann wieder abnehmender Pfiff, der Tag besagen will, dann das Zeichen für stilles Wasser, Sumpf und schließlich das für Kaiman. Daraus glaube ich mit gutem Grunde schließen zu dürfen, daß sie sich vorläufig zerstreuen, nach zwei Tagen aber am Kaimansumpf wieder zusammentreffen wollen. Diesen letzteren müssen wir nun ausfindig machen.«
»Diese Entdeckung ist wahrhaftig kostbar,« riefen der Doktor und der Oberst wie aus einem Munde, und der letztere fuhr rasch fort: »Freilich wird es noch ansehnliche Schwierigkeiten machen, die Lage dieses Sumpfes festzustellen. Doch da er Kaimansumpf genannt wird, bildet er ohne Zweifel einen beliebten Tummelplatz dieser Panzerechsen, und wird daher ebenso von den Wasservögeln gemieden sein, wie unser kleiner See hier wegen der Nogoyegi. Diesen Umstand können wir schon aus ziemlicher Ferne feststellen, ohne erst das Wasser selbst nach der Häufigkeit von Kaimanen durchforschen zu müssen. Es fragt sich nur, ob der Sumpf mit dem Rio Salado wenigstens zur Zeit der Überschwemmungen in Verbindung steht oder ein abseits gelegener, mitten im Urwalde verborgener Tümpel ist. Denn dann wäre die Aufgabe allerdings kaum zu lösen.«
»Ich halte das letztere nicht für wahrscheinlich,« entgegnete der Doktor. »So gute Fußgänger die Indianer sind, wissen sie doch sehr wohl die Vorteile der Wasserstraßen zu schätzen. Ein Marsch ermüdet und raubt gerade die zum Angriff notwendige Frische der Glieder, während sie in Booten viel leichter und rascher vorwärtskommen können. Sie werden daher auch diesmal wieder an den Rio Salado zurückkehren, denn ich glaube nicht, daß der heutige Angriff auf uns der letzte gewesen ist, noch daß sie sich mit der Gefangennahme eines von uns begnügen.«
»Ich kann Ihnen nicht widersprechen. Daher wird es wohl das beste sein, wenn wir uns in einem Kanu stromaufwärts auf die Suche machen.«
»Da fällt mir übrigens ein,« sagte der Doktor, »daß ich gestern abend eine sonderbare Bewegung auf einem nach Westen zu gelegenen Arme des Flusses bemerkte. Leider verhinderte mich die schlechte Beleuchtung, den Vorgang genauer zu untersuchen. Aber wenn ich mir diese Beobachtung mit dem heutigen Überfall zusammenreime, wäre es wohl möglich, daß die Indianer gestern abend von jener Stelle aufbrachen, die mir verdächtig vorkam, und während der Nacht zu Wasser bis in unsere nächste Nähe vorrückten.«
»Wollen Sie mir diese Örtlichkeit einmal zeigen?« fragte der Oberst.
»Sogleich, sogleich,« erwiderte Doktor Bergmann und hieß den Ballon in Bereitschaft setzen.
Als dies geschehen war, stiegen die beiden Herren auf, und der Doktor wies seinem Begleiter die fragliche Stelle. Die Beleuchtung war diesmal, weil das Licht von Osten kam, bedeutend besser, und das Fernrohr zeigte ziemlich deutlich, daß der Wasserarm einsam und verlassen zwischen seinen waldigen Ufern lag. Ob es jedoch Wasservögel dort gab, ließ sich auch diesmal nicht bestimmt erkennen.
»Nun fragt es sich,« sagte der Oberst, als sie wieder auf fester Erde standen, »wer von uns die Befreiung unseres gefangenen Kameraden versuchen soll. Sie müssen selbstverständlich hier im Lager bleiben, Doktor; daher werde ich die Sache auf mich nehmen, wenn Sie mir so viel Vertrauen schenken.«
»Ich wüßte niemand besseren, den ich damit beauftragen könnte,« beeilte sich der Doktor zu erwidern. »Leider bin ich, wie Sie selber sagen, allzusehr an das Lager gebunden, als daß ich mich selber auf die Suche nach dem Freunde machen könnte. Aber auch von unseren Leuten kann ich eigentlich fast keinen entbehren. Die Indianer haben sicher Späher hier in der Nähe zurückgelassen und würden sich schleunigst zu einem neuen Angriffe zusammenfinden, sobald diese die erfolgte Teilung unserer Streitkräfte melden.«
»Ich hege auch nicht die Absicht, viele Begleiter mit mir zu nehmen,« sagte der Oberst mit zustimmendem Kopfnicken. »Dieser Miguel Rodilla, der alle Schliche der Roten kennt, genügt mir in jeder Hinsicht; auch können wir uns zu zweien viel leichter den neugierigen Augen der roten Kundschafter entziehen. Jetzt brauchen wir nur noch ein schnelles Boot, denn ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß wir den Rettungsversuch zu Lande wagen. Wir kämen viel zu spät und wären schon in der ersten Stunde von den Indianern entdeckt. Ich will einmal unsere Peones fragen, ob sie sich getrauen, bis heute abend eine Chalana herzustellen.«
Mit diesem Namen bezeichnet man eine Art von schmalen, flachen Booten, die sich wegen ihres geringen Tiefganges besonders zum Überschreiten von arrecifas (Stromschnellen) eignen. Die Peones waren zwar als echte Söhne der Pampa mit solchen Schiffbauerkünsten wenig vertraut, doch Miguel Rodilla verstand sich darauf, und unter seiner Anleitung kam wirklich in der geforderten Zeit ein treffliches kleines Kanu zu stande, das allen Anforderungen des Obersten genügte.
Als der Doktor an Miguel die Frage richtete, ob er das Wagnis unternehmen wolle, legte dieser die Hände auf die Brust und sagte treuherzig: »Señor, Ihnen verdanke ich es, daß ich mich wieder einen Christenmenschen nennen kann. Darum fragen Sie mich, bitte, nie wieder, ob ich ein Opfer, und wäre es das größte, für Sie zu bringen bereit bin. Kenne ich doch nur allzugut das Schicksal, das dem Señor Ingles droht, falls wir ihn nicht rechtzeitig den Klauen der Rothäute entreißen. Ich werde ohne Zögern mein Leben für ihn einsetzen.«
Der Doktor drückte dem wackeren Manne die Hand und beriet dann mit ihm und dem Obersten noch mancherlei Einzelheiten, besonders, wie sie sich mit dem Lager verständigen sollten, falls sie das Versteck Sir Allans zwar entdeckten, ihn aber ohne weitere Beihilfe nicht befreien konnten.
Als der Abend hereingebrochen war, nahmen die beiden kühnen Männer von ihren Freunden Abschied, schoben ihr kleines Boot ins Wasser und ruderten in aller Stille davon.