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Ein Märchen.
Seit acht Tagen war er wieder in Schlesien. Wegebaumeister in seinem heimatlichen Kreise war er geworden. Es war ja auch recht hübsch in Schleswig-Holstein gewesen; aber Heimat bleibt Heimat, und Schlesien bleibt Schlesien.
Mit Wonne betrachtete er die langgestreckte, blaue Kammlinie der hohen Eule und die wunderlichen Kuppen des Waldenburger Hochlands, die sich in der Ferne auftürmten.
Da stieg er aus dem Wagen, bezahlte den Kutscher und sagte, er möchte nur umkehren, und morgen mittag solle er ihn beim Gutsbesitzer Werner in S. abholen und ihn nach der Stadt zurückfahren. Jetzt werde er vollends laufen.
Auf der Höhe, von da er sein Heimatsdorf überschauen konnte, machte er halt. Eine alte Weide, die er aus seiner Knabenzeit her kannte, stand dort oben. Unter die setzte er sich, und allmählich streckte er sich lang aus. Es kam jetzt niemand hier vorbei; er brauchte sich nicht zu genieren.
Das Panorama des Dorfes bot für den gewöhnlichen Beschauer nichts Interessantes, aber der Herr Kreis-Wegebaumeister schaute hinunter mit großen, leuchtenden Augen. Es war seine Heimat, und er hatte sie seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen.
Unter der Weide lag ein Granitblock. Auf dem hatte der Ehrenfried – so hieß der Herr Kreis-Wegebaumeister als Junge – also auf dem hatte der Ehrenfried oft gesessen, wenn er die Gänse seines Vaters hütete. Vier Stück waren es nur gewesen; aber abends, wenn der verträumte Junge sie heimtreiben sollte, waren sie meist über alle Berge.
Wenn er nun so bei seinen Gänsen saß und an gelehrte Dinge dachte, kam manchmal der Krause Hermann vorbei, hob den Granitblock mitsamt dem Jungen in die Höhe, warf den Ehrenfried nach rechts und den Granit nach links und freute sich über sein Athletenstücklein. Dann hieß er den Ehrenfried wieder auf dem Stein Platz nehmen und setzte beide fein ordentlich an Ort und Stelle zurück.
Daran dachte der Herr Kreis-Wegebaumeister jetzt, und wie er den Stein betrachtet, der noch immer seit so vielen Jahren auf demselben Platze liegt, ist er überzeugt, daß er ihn auch jetzt noch nicht würde wegrücken können.
Dann sieht er wieder ins Dorf hinunter: nach der kleinen, ehemaligen Besitzung seines Vaters, nach der Kirche, nachher Schule und der Reihe nach auf all die vielen schrägen Dächer, die er kennt.
Jetzt würden die Dörfler unten also die langersehnte Chaussee gebaut kriegen. Es dauert zuweilen lange mit so etwas. Die Verhandlungen schwebten schon, als der Herr Kreis-Wegebaumeister noch die Gänse hütete.
Vielleicht ist damals, als soviel Gerede im Dorfe über den Straßenbau war, in seiner Seele die Konzeption für seinen späteren Beruf vor sich gegangen. Und nun hatte er das Glück, die Chaussee zu bauen. Sein Jugendfreund Werner, der jetzt Schulze war, würde Augen machen, wenn er ihm heute privatim und vertraulich die Nachricht brächte, daß nun alles beschlossene Sache sei. Der Baumeister nahm ein Papier aus der Tasche und breitet es neben sich im Grase aus. Zeichnungen enthielt es, viel Worte und noch mehr Zahlen. Hier über den Hügel weg würde die Chaussee führen und dann sich durchs ganze Dorf hinziehen. Der Weg würde gewaltig verbreitert werden müssen. Da würde manches fallen, hüben und drüben.
Es war ein sehr heißer Johannistag gewesen, und der Herr Baumeister war müde. Er hörte auf zu lesen, legte sich zurück ins Gras und schloß die Augen. So lag er ganz still und rührte sich gar nicht mehr.
Nun war die Stelle an dem tiefen Hohlwege unter der Weide, wo er lag, ein ganz besonderer Ort. Es hatte sich immer Wunderbares dort ereignet; namentlich Ehrenfrieds Großvater hatte dem Knaben viel davon erzählt, wenn er einmal nicht mit aufs Feld gehen mochte, sondern lieber mit dem Jungen die Gänse hütete.
Hüben im hohen Wegrande wohnte ein Wichtelchen, das hieß Krakedux und war ein Herr; drüben im Wegrande wohnte auch ein Wichtelchen, das hieß Miekefax und war ein Fräulein. Krakeduxens Haus hatte 43 Fenster, gerade so groß und rund, wie sonst die Mäuselöcher sind, und Miekefaxens Haus hatte 57 Fenster, auch so groß und rund wie sonst die Mauselöcher sind. Krakedux und Miekefax liebten sich, aber sie durften sich nicht heiraten; denn Miekefax hatte eine stolze Mutter, die sagte: ihre Tochter dürfe in ein Haus, das nur 43 Fenster habe, nicht ziehen.
Seit der Zeit war alles so geblieben, und es hatte sich nichts verändert. Wie nun der Herr Kreis-Wegebaumeister so regungslos lag, begann das Wunderbare. Der Granit räkelte sich und schielte zur Weide hinauf.
»Du,« sagte er, »was ist dir denn? Dir stehen ja auf deinem dicken Kopfe alle Ruten zu Berge.«
»Ja,« flüsterte die Weide erregt, »es ist mir durch Mark und Holz gegangen. Kennst du ihn nicht mehr?«
»Den? O ja! Andere Hosen hat er an; sonst ist's derselbe! Wenn bloß der Krause Hermann nicht käme. Der Kerl echauffiert mich.«
»Schafskopp!« tadelte die Weide, »an den wagt sich der Krause nicht mehr. Der ist ein sehr hohes Tier geworden. Kreis-Wegebaumeister!«
»Is mir ganz piepe!« sagte der grobe Granit.
»Wird dir nicht lange piepe bleiben,« meinte die Weide. »Ich sage dir, er bringt uns um die Ecke, er bringt uns weg von hier.«
»Mich nich,« sagte pomadig der Granit, »mich tummelt er nich. Ich hab' höchstens Angst vorm Krause.«
»Du bist ein Idiote,« murrte die Weide, »lies doch mal in dem Papiere, das neben dir liegt, da wird dir die Angst schon kommen.«
Der Granit, der nicht lesen konnte, aber sich auch nicht blamieren wollte, sagte:
»Ich kann's nicht ersehen. Es ist zu weit weg, und ich bin kurzsichtig. Was steht drin in dem Wisch?«
Da hielt die Weide dem Granit mit fieberhaft erregter Stimme einen Vortrag über den Chausseebau, vor allen Dingen darüber, daß dann der Weg verbreitert werden müsse und darum die Ränder abgetragen würden und sie, die ehrwürdige Weide, umgehauen und verbrannt werden würde.
Kaum hatte sie das letzte Wort gesagt, da erscholl ein tausendfältiger Weh- und Schreckensruf. Ein Sperlingsweiblein, das gerade ein Ei in das Nest auf der Weide legen wollte, flog schleunigst davon; sämtliche Holzwürmer, die in der Weide hausten, hielten sofort eine Generalversammlung ab und beschlossen, aus der bedrohten Festung samt und sonders auszubrechen; 45 367 Blattläuse gerieten in Bewegung und begannen am Stamme hinabzuklettern; der Ameisenkönig versammelte sein Volk und gebot ihm, mit Sack und Pack sofort aufzubrechen, ein Laufkäfer und ein Totengräber ergriffen mit langen Schritten die Flucht, und die alte Weide, also schmählich verlassen, seufzte in philosophischer Resignation:
»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.«
Eine einzige Genugtuung blieb ihr, die nämlich, daß zehn besonders mutige und ergrimmte Ameisen, ehe sie die Heimat verließen, den schändlichen Mann, der sie daraus vertrieb, mit einer ätzenden Flüssigkeit bespritzten, während drei Wespen, die unter der Weide gehaust hatten und nun auch retirierten, nicht die Courage fanden, ihre wirksamen Waffen gegen den mächtigen Feind zu richten.
Der Granit war einfach sprachlos. Erst nach langer Zeit würgte er die Worte heraus:
»Also es ist wirklich Tatsache? Und was geschieht da mit mir?«
»Mit dir?« fragte die Weide nicht ohne eine kleine Schadenfreude. »Du, alter Freund, wirst einfach zerklopft und mit verpflastert.
»Zer–klopft, – ver–pflastert –« hauchte der Granit noch, dann wurde er ohnmächtig und glitt besinnungslos den schrägen Wegrand hinab auf die Straße.
Dabei geschah es leider, daß das Ungetüm dem armen Krakedux vier Fenster von seiner Wohnung verschüttete. Das bedauerliche Wichtelein hörte den Skandal, fuhr in der Angst aus Nummer 27 seiner Front mit dem Kopfe heraus und sah nach, was los sei. Als es den ungeheuren Schaden gewahrte, fing das arme Kerlchen bitterlich an zu weinen. Jetzt hatte er gar bloß noch 39 Fenster und mußte die Hoffnung auf die reiche Miekefax für immer aufgeben.
Erschien auch gleich vis-à-vis die böse Schwiegermutter Gruplestox mit ihrem Töchterchen am Fenster. Auch sie sahen die Verheerung. Ein Strom von Tränen brach aus Miekefaxens Augen, die Gruplestox aber warf sich in die Brust und sagte:
»Da hast du's nun! Wenn ihr nun geheiratet hättet! Du wärst jetzt so eine arme Frau, daß keine anständige Wichtelchenfamilie mit dir verkehren möchte. Ich hab es immer gesagt: der Kerl ist ein Lump!«
Das wurmte die Weide. Sie hatte eine Vorliebe für den Krakedux, weil er ihr immer die Würzelchen begossen und nie zugegeben hatte, daß die Mäuse eines abbissen. Also hielt sie über den Weg hinüber eine Rede über den Chausseebau, daß die Wegränder abgetragen werden würden, und daß es dann mit aller Herrlichkeit, mit allem Stolze und mit allen 57 Fenstern aus sei.
Da wurde die alte Gruplestox aschfahl. Sie glaubte es anfangs nicht; aber dann lief sie zum Baumeister hinüber, warf einen Blick in dessen Papiere, bekam augenblicklich Nervenanfälle und hub laut an zu jammern:
»O Miekefax, o mein gutes, gutes Kind, – wir sind ruiniert! – Du bist ein armes Mädchen, – jetzt bleibst du sitzen, jetzt mag dich keiner mehr.«
Da setzte mit einem Sprunge Krakedux auf die Straße, machte eine tiefe Verneigung vor der Gruplestox und sagte zitternd und bebend:
»O gnädige Frau Gruplestox, gebt mir sie! Mir ist sie nicht zu arm, denn ich heirate nicht nach den Fenstern!«
Miekefax jubelte laut auf, als sie diese Rede des edlen Jünglings vernahm, und auch Gruplestoxens Gesicht wurde freundlicher.
»O gebt sie mir!« wiederholte Krakedux.
Da sagte Gruplestox:
»Ich will mir's überlegen, gebt mir eine halbe Minute Bedenkzeit.«
Sie kletterte nochmals zu dem Baumeister hinauf, sah nochmals in dessen Papiere, und als sie nun zum zweitenmal sich überzeugt hatte, daß nichts mehr zu machen sei, streckte sie oben auf dem Wegrande beide Hände aus, zerdrückte eine Träne mütterlicher Rührung im Auge und sagte:
»So nehmt euch denn und werdet glücklich!«
Mit einem Satze sprang Miekefax aus dem Fenster und dem Krakedux um den Hals. Der Weidenbaum erfaßte die Gelegenheit, streckte ein paar Dutzend Ruten über die beiden aus und murmelte den Trausegen. Eine hohe Maistaude hielt indes dem Bräutigam und der Braut je eine goldene Blüte über das Haupt, und die glänzten wie flammende Kronen.
Von irgend einem Hochzeitsmahle wurde abgesehen, vielmehr beschlossen, daß sich die Neuvermählten sogleich auf die Hochzeitsreise begeben sollten. Die Frau Schwiegermama würde sich anschließen, denn in dem gefährdeten Hause blieb sie nicht mehr eine Stunde. Auch von Abschiedsvisiten wurde in der Eile abgesehen, nur Frau Holle, einer alten, aber freundlichen Nachbarin von Herrn Krakedux, machten sie einen ganz kurzen Besuch. Die gute Frau wünschte glückliche Reise und schenkte einen wunderschönen, goldenen Wagen als Hochzeitsgabe. Der Wagen hatte den Vorzug, daß er tausend Meilen lief in einer Stunde, und den noch größeren, daß auf dem Sitze nur für das Brautpaar Platz war. Madame Gruplestox mußte auf dem Kutscherbocke neben dem borstigen Hirschkäfer vorliebnehmen, der mit einer Graspeitsche die sechs feurigen Heuschreckenpferde regierte. Da es schon dunkelte und die Reisenden keinerlei Scherereien mit der Polizei haben wollten, flogen zwei Glühwürmer als Laternen rechts und links an den Wagen.
Ein letzter trauriger Blick wurde den Heimstätten zugeworfen, ein letzter Gruß mit dem zitternden Weidenbaume getauscht (der Granit war bedauerlicherweise immer noch ohnmächtig), und fort ging die Fahrt.
Eine goldene Straße flammte auf am Himmel. Ein blaues Wunderland schimmerte aus märchenfernem Osten herüber, das Land, in das kein Menschenfuß, zieht, das Land, in das es für alles Menschliche zu weit ist, die Kinderträume ausgenommen, – – das Land, in das sich unsere Jugend rettet, wenn wir alt werden.
Dahin zogen Krakedux und Miekefax. Kein Mensch würde sie wiedersehen. Die Menschen – der Herr Kreis-Wegebaumeister voran – würden nichts finden als zwei gewöhnliche Wegeränder mit ebenso gewöhnlichen zahlreichen Mäuselöchern.
Ein Donnerschlag ertönte, – der Kreis-Wegebaumeister schreckte empor. Ein Gewitter stand ganz in der Nähe. Die Blitze zuckten.
Da raffte er seine Papiere auf und lief dem Dorfe zu. Der Regen erreichte ihn; aber er blieb noch einmal stehen und wandte sich um.
Da fiel ein Blitz! – Von Osten her zuckte er und zerschmetterte die Weide auf der Höhe.