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Seit Jahrhunderten lebte die Stadt Altenroda in Fehde mit den Rittern von Runkelstein. Diese hatten südlich der Stadt, etwa zwei Wegstunden entfernt, ihre feste Burg und beunruhigten von da aus nicht nur die Kaufleute, die auf der Poststraße gen Altenroda fuhren, sondern fielen auch des öfteren keck in städtischen Besitz ein. Da gab es Hader und Fehde oft jahrelang, bis beide Parteien den Zank satt hatten. Dann wurde Friede geschlossen. Die Ritter brachten ihren Kaplan mit, den einzigen, der in ihrem Burgbereich lesen und schreiben konnte, und auf dem Rathause zu Altenroda wurde alles verhandelt, genehmigt und unterschrieben, von den Rittern durch drei Kreuze mittels eines Pinsels und roter Tusche, da sie einen Gänsekiel in ihren Fäusten nicht zu erfühlen und zu halten vermochten. Es handelte sich in den meisten Fällen um Waffenstillstand auf neun Jahre.
Die Hauptsache bei diesen Friedensschlüssen waren die darauffolgenden Trinkgelage, bei denen die Ritter den vortrefflichen Weinen, die im Ratskeller von Altenroda lagen, so viele Ehre antaten, daß sie in den meisten Nächten in ganz leblosem Zustande nach ihren Herbergen gebracht werden mußten. Mit der Zeit kamen diese Friedensfeste die Stadt kostspieliger zu stehen als der Krieg, weshalb der ganze Rat immer tief aufatmete, wenn die teuren Gäste endlich heimzogen.
Die Ritter hielten den neunjährigen Waffenstillstand selten länger als neun Wochen; dann fingen die Ärgernisse von neuem an. Es ist kein Wunder, daß die Bürger von Altenroda über solch permanente Bosheit in gerechten Zorn gerieten.
Als es ihnen daher einmal gelang, den einzigen Sohn des Ritters, den Junker Ottokar, auf einem besonders kecken Raubzuge zu fangen, beschloß der Rat der Stadt, dieses Mal mit den Runkelsteinern ein für allemal aufzuräumen.
Ottokar wurde vor das Gericht gestellt, mit Leichtigkeit vieler grober Taten überführt und einstimmig zum Tode verurteilt.
»Indem wir den Junker fällen,« sagte der Bürgermeister, »vernichten wir zugleich das ganze Raubgezücht der Runkelsteiner; denn auf des Junkers zwei Augen steht das ganze Geschlecht.«
Die Stadtväter berieten nun lange über die Todesart, durch die Junker Ottokar sterben sollte. Enthaupten schien ihnen zu sanft und glimpflich, ihn henken oder rädern zu lassen, aber bedenklich, da sie dann den Zorn des ganzen Adels auf sich laden würden, der solche Todesart für einen ihresgleichen als nicht standesgemäß erachten würde.
So fand ein Ratsherr großen Beifall, als er sagte:
»Wir leben im Anfang des Monats August. Der Tag Sancti Bartholomäi, welcher der 24. August ist, steht dicht bevor. St. Bartholomäus ist – wie ihr Herren wohl wißt – dadurch zu Tode gebracht worden, daß er geschunden wurde. Wir wollen den Junker am Bartholomäustage zu Ehren des Heiligen schinden.«
Niemand fiel das Sonderbare dieser Art Heiligenverehrung auf; denn es war eine grobe Zeit. Alle waren vielmehr von dem Vorschlag sehr befriedigt.
Der alte Runkelsteiner, der um seinen einzigen Sohn in begreiflicher Sorge war, selbst zu schwach zu einem offenen Überfall und zurzeit ohne Bundesgenossen, schickte einen Boten an die Stadt und bot dreitausend Goldgulden Lösegeld für seinen Junker.
Der Rat der Stadt sagte sich: »Nicht drei Goldgulden hat der alte Schlauch im Besitz, geschweige dreitausend,« stellte sich aber, äußerer Gerechtigkeit wegen, als ob er dem Vorschlag traue, und ließ sagen, wenn binnen drei Tagen die dreitausend Goldgulden da seien, wolle man sich die Sache wegen seines Sohnes überlegen.
Abermals kam der Bote des Runkelsteiners. Bares Geld, richtete er aus, hätte sein Herr eben nicht bei der Hand, wolle aber gerne einen Schuldschein unterpinseln und, wenn es sein müsse, mit zehn, nicht nur mit drei Kreuzen.
»Wir wollen mit dem Pinsel nichts mehr zu tun haben,« entschied der Bürgermeister.
Der Junker Ottokar saß im Turme, und wenn er an den bevorstehenden Bartholomäustag dachte, juckte ihn die Haut, und er kratzte sich lange und heftig, dachte aber nicht an seine Sünden, sondern nur daran, wie er ausrücken und dabei ein ganzes Fell behalten könne.
Zu jener Zeit lebte in Altenroda ein Mädchen namens Rosmarie. Sie war die Tochter eines Herbergsvaters, und da der Junker Ottokar beim letzten Friedensfeste in ihres Vaters Haus in Quartier gelegen hatte, in den Junker tief und schmerzlich verliebt. Hatte es doch der Edelherr nicht verschmäht, sie manchmal in die rosigen Wangen zu kneifen oder ihren blühenden Mund zu küssen.
Dieses Mädchen aber wurde von Kaspar, dem Sohne des Turmwächters, bis zur Unsinnigkeit geliebt. Kaspar war ein schmucker, starker Bursche, aber sein Geist war nur von geringen Gaben.
Als das Mädchen Tag und Nacht lang um den Junker geweint hatte und den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, daß ihm die junge Haut samt dem schwarzen Schnurrbarte vom Kopfe gezogen werden sollte, kam sie aus einen Rettungsgedanken. Sie berief den Turmkaspar zu sich und tat so schön mit ihm, daß der arme Bursche glaubte, er sei plötzlich ins Paradies gekommen. Und dann sprach die Schlange:
»Mein schöner, allerliebster Kaspar! Wie gerne wollt ich deine Frau werden, wenn du mir nur ein einziges Mal einen Gefallen tun wolltest.«
Kaspar schwur, daß er ihr alle Gefälligkeiten der Welt erweisen, ja, daß er Wunder wirken wolle, wenn es nicht anders ginge.
»Wunder brauchst du nicht zu wirken,« sagte das Mädchen, »bloß du sollst dem Junker Ottokar, der im Turme sitzt, etwas von mir ausrichten, und du sollst ihn in der morgigen Neumondnacht heimlich aus dem Gefängnisse herauslassen.«
»Mädel!« schrie der Kaspar. »Wenn ich das täte, gäbe mir mein Vater wahrhaftig eine Ohrfeige.«
»Siehst du,« begann das Mädchen zu weinen, »nicht einmal eine Ohrfeige willst du für mich wagen und sprichst doch vom Wunderwirken.«
»Eine Ohrfeige will ich schon hinnehmen,« sagte Kaspar, »auch ein paar gebrochene Rippen. Aber, Rosmarie, was liegt dir an dem Junker? Liebst du ihn?«
Da merkte Rosmarie, daß Kaspar eifersüchtig wurde. Sie sprach nun mit hundertspältigen Worten auf ihn ein; erzählte, wie freundlich und herablassend der Junker immer zu ihr gewesen sei, und daß sie den Gedanken nicht ertragen könne, ihn so grausam gemartert zu sehen.
Kaspar brummte. Er sagte sich: sie liebt ihn! Die Eifersucht fraß an seinem Herzen.
Rosmarie senkte das Köpfchen und faltete die Hände. Mit traurigem Seufzen sprach sie:
»Wenn du mir also nicht zu Willen bist, so muß der liebe Junker dahingehen, und ich sehe schon, daß du dir aus mir nichts machst. Ich werde also sterben und dann gewiß nicht deine Frau werden.«
Da begann auch Kaspar zu weinen; denn er konnte das Mädchen nicht also kläglich reden hören. Und ob er gleich den Verdacht nicht los wurde, daß Rosmarie den Junker lieb habe, so hörte er doch auch, wie schön sie zu ihm selbst sprach, und schließlich sagte er sich: Sie liebt uns beide. Wenn sie erst meine Frau ist, werde ich dafür sorgen, daß sie mich allein liebt.
Also willigte er in den Handel ein, worüber das Mädchen in Seligkeit geriet. Sie gab dem Kaspar drei Küsse auf die Backe.
Es wurde nun alles genau beraten, wie das Abenteuer bewerkstelligt werden sollte. Kaspar sollte seinem Vater, dem Turmwächter, sobald dieser seinen tiefen Abendtrunk getan hatte, die Turmschlüssel stehlen und den Junker durch eine Seitenpforte des Turmes ins Freie lassen. Rosmarie wollte schon vor Toresschluß die Stadt verlassen und mit einem Pferde, das sie von einem verwandten Bauern entlehnen wollte, in der Nähe der Turmtüre warten. Kaspar sollte sie dann durch den Turm in die Stadt wieder hinein lassen, und in drei Wochen sollte Hochzeit sein.
Abgemacht!
Als der Junker im Turm hörte, daß seine Rettung bevorstand, freute er sich gewaltig, fragte aber, was das für eine Herbergstochter sei, die ihm so dienstlich sein wolle.
»Ach Gott, doch die Rosmarie,« sagte Kaspar verwundert, »doch die mit den roten Backen und den braunen Haaren.«
Der Ritter schüttelte den Kopf. Er sagte, es gäbe mehrere Herbergen in Altenroda und also auch mehrere Herbergstöchter. Rote Wangen hätten alle und Haarfarben könne er sich nicht behalten.
Darüber freute sich Kaspar. Er sagte sich, der Ritter kann sich auf Rosmarie nicht genau besinnen, also wird er sie auch nicht allzu heftig lieben, und ich habe sie allein für mich.
Um Mitternacht öffnete Kaspar das Ausfallpförtlein und ließ den Junker frei. Alsbald kam mit leisem Jauchzen Rosmarin aus einem nahen Gebüsch. Sie führte ein Pferd am Zügel und sprach leise Worte zu ihrem Ritter. Der lachte, schwang sich aufs Roß und zog das Mädel blitzschnell zu sich in den Sattel.
Kaspar erschrak furchtbar.
»Halt, halt,« schrie er, »was macht ihr? Das ist ja meine Braut!«
Und er hing sich verzweifelt dem Pferde an den Schweif.
»Du Tölpel,« rief der Ritter, »lauf hinter uns her! Komm auf den Runkelstein!« Hieb dem Pferde die Faust auf den Hals, daß es aufbäumte, ausschlug, davonraste und den armen Kaspar ins Gras schleuderte.
Der lag erst ohnmächtig, dann richtete er sich auf und befühlte seinen Schädel.
»Sie ist fort. Er ist fort. Und ich sitze hier!«
Diese drei Tatsachen stellte Kaspar in tiefer Traurigkeit fest. Er war von so einfacher Wesensart, daß er sich erst bei Tagesgrauen ganz klar wurde, was eigentlich geschehen war.
Da warf sich Kaspar ins Gras und weinte aus Scham und Herzeleid darüber, daß die Rosmarie so schlecht war.
Als die Stadttore geöffnet wurden, ging er nach dem Marktplatze und wartete auf die Ratsherrn. Die kamen heute früher als sonst, und viel Volk war auch schon vor dem Rathause versammelt; denn es war ruchbar geworden, daß der Runkelsteiner aus dem Turme entwichen war.
»Was hast du uns zu sagen?« fragte der Bürgermeister, als Kaspar vor dem Rate stand.
»Ich will mich beklagen,« sagte Kaspar, »über den Junker Ottokar und über das Mädchen Rosmarie. Denn sie haben mich betrogen, und der Rat der Stadt soll sie bestrafen.«
»Was haben sie dir denn getan?«
Nun erzählte der törichte Kaspar alles genau, wie es sich zugetragen hatte, wie er mit dem Mädchen und dem Junker einen Vertrag gemacht habe, daß er den Junker aus dem Kerker lasse und dafür das Mädchen zur Frau kriege, und wie die beiden den Vertrag gebrochen und ihn betrogen hätten. So sollte nun die beiden auch die verdiente Strafe treffen.
Der Rat der Stadt entschied:
»Der Junker Ottokar und das Mädchen Rosmarie haben abscheulich an dem Kaspar gehandelt. Wegen ihrer verwerflichen Gesinnung sollen beide hart bestraft werden, so man ihrer einmal habhaft werden sollte. Der Kaspar aber, der den gefährlichsten Feind der Stadt aus dem Kerker befreit hat, soll gehenkt werden.«
Als der törichte Kaspar dieses Urteil hörte, fiel er um. Sein Herz war so voll Liebe, Zorn und Wehe gewesen, daß er gar nicht daran gedacht hatte, ihm selbst könne wegen seiner Tat auch etwas geschehen.
Nach Tagen erst in der kühlen Kerkerluft ging ihm alles richtig auf. Jetzt dachte er auch daran, daß der Junker gerufen hatte: »Du Tölpel, laufe hinter uns her. Komm auf den Runkelstein!« Das war wegen des Henkens gewesen, und müßte er wohl gar noch dem Junker wegen seines Rates dankbar sein.
Der älteste der Ratsherrn, ein milder Greis, der weit über das Leben sah, rückwärts wie vorwärts, sagte in der nächsten Ratssitzung:
»Kaspar ist eine Einfalt. Die Liebe hat sein armes Gehirn stumpf und seine Augen so blind gemacht, daß er seine Schuld nicht erkannte, wie er ja auch die Gefahr nicht ersah, in die er hineinlief, da er sich selbst bezichtigte. Deshalb, ihr Herren, wollet milde mit ihm verfahren, damit Gott euch gnädig sei und ihr eurer Feinde doch noch Herr werdet. Schenket dem Toren die Strafe des Stranges. Sperrt ihn eine Zeitlang in denselben Kerker, aus dem er den Junker entließ, und dann verbannt ihn aus Altenroda. Wer aus einer solchen Heimat verbannt wird, trägt schwere Strafe genug.«
Diesem weisen Rate folgten die Väter der Stadt. Kaspar mußte drei Jahre im Turme sitzen und dann mit einem Stecken aus Haselholz, einem schmalen Ränzel und zehn Groschen Münze für immer die Stadt verlassen.
Kaspar ist hin und hergewandert in der Welt und endlich unter die Söldner eines Fürsten geraten. Auf einem Kriegszuge fand er in einem Straßengraben eine sterbende Soldatendirne. Es war Rosmarie. Der Junker hatte sie eine Zeitlang auf der Burg behalten und dann verstoßen.
Rosmaries Gesicht war ganz häßlich geworden; nur die Haare waren von brauner Seide wie einst.
Als die Arme entschlafen war, grub der Kriegsknecht Kaspar ein Grab, legte Rosmarie hinein und sprach ein Gebet, wobei er sein Gesicht gen Osten wandte, wo in weiter Ferne die Heimatstadt Altenroda lag.