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Liebe Stadt, wenn ich dein gedenke, wird mir die Seele ruhig. Dann bin ich auf eine Weile fort aus dem schrecklichen Leben, das wir nun alle führen müssen. Wie ein Jüngling erwache ich aus schwerem Schlafe und schaue in unschuldiges Frühlingslicht.
Wenn ich dein gedenke, Altenroda, dann ist es mir, als sei alles nicht wahr, das von Leid und Angst, von Enttäuschung und Gram, von den Toten, die noch leben müßten, vom bösen Kriege und von der Schande des Vaterlandes, als sei alles nur ein Traum gewesen, so furchtbar, daß das Erwachen desto tröstender ist. Du bist noch da, liebes Altenroda! Der Eulenwald schirmt dich noch auf mit seinen grünen Armen, der Ochsenkopf baut sich noch auf wie eine trutzige Feste, die Poststraße läuft durch die bunte Aue und auf dem Flüßchen schwimmen die silberweißen Enten.
Altenroda! Wie mich die Sehnsucht quält, dich wiederzusehen, dir zu sagen: »Siehe, ich lebe auch noch. Laß mich wieder einmal durch deine alten Straßen gehen!«
*
Heute wollte ich zu dir hinfahren. Es ist nicht weit. Als ich auf den Hauptbahnhof meiner großen Stadt kam, standen Maschinengewehre davor. Irgendwo, auf einer entfernten Gasse war wildes Geschrei. Ein Beamter kam und sagte, es sei Eisenbahnerstreik; die Züge führen nicht. Traurig ging ich heim. Ich durfte nicht nach Altenroda.
*
Deine Kinder bekommen alle das Heimweh, wenn sie von dir ferne sein müssen – auch ich habe das Heimweh nach dir. Und wie man nicht nach Sünden seines Vaters oder seiner Mutter fragt, sondern ihr Bild heilig und unversehrt im Herzen bewahrt, so mag ich nicht fragen, ob auch dir, Altenroda, der Krieg die Jugend nahm, ob auch dir die Revolution das Glück ermordete. Ich sehe dich im Lichte alter Zeit, friedlich und schön, waldfrisch und heimlich.
Ich kann nicht zu dir, weil die Züge nicht fahren. Aber ich will mich hinsetzen und alte Erinnerungen an dich aufschreiben. Dann bin ich bei dir – in dir. Ich baue mir rasch ein weißes Luftschiff mit silbernem Propeller, darauf fahre ich zu dir hin im Sonnenscheine unter dem schweigenden Himmel. Schwalben umzwitschern mich, Störche ziehen flügelschlagend vor mir her; vom Bienenstocke meines Vaters steigt die Frau Königin mit ihrem Gefolge auf und bringt mir einen Gruß; dort über den Bergen des Ostens blinkt schon der frühe Mond.
Es geht über die alte Heimaterde. Der Hahn vom Kirchturme glitzert herauf, die Wälder wogen tief unten wie blaue Teiche. Wie Fußschemel sind die Berge; aber ich bin ein Kind, meine Beine sind zu kurz, die Schemel zu erreichen; sie baumeln in freier Luft. Von unten her singen Lerchen wie Kanarienvögel, die am Fußboden sitzen. Die Glocken klingen aus der Tiefe. Kinder sehen mein Schiff, zeigen nach oben und jauchzen. Sie rufen herauf: »Du! Du! – Laß mich ein Stückchen mitfahren!«
So fahre ich gen Altenroda.
*
Von ungefähr greife ich aus der Weste einen Taschenkalender heraus. Welches Datum haben wir? Den 6. Juli 1913. Aha, das ist mein vierzigster Geburtstag. Es ist also doch nicht wahr, daß ich nahe der »50« bin, es hat auch gar keinen Weltkrieg von 1914 bis 1918 gegeben. Das waren nur böse Träume. Es ist erst der 6. Juli 1913. Der Kalender muß es wissen.
Gott sei dank! Erst 1913. Nun werde ich in Altenroda mitten in den Frieden hineintreffen und keine Trauer- und Angstgesichter, wohl aber die alte deutsche Ehre und das alte deutsche Glück finden.
*
Da ist schon der Gipfel des Ochsenkopfes. Vom Aussichtsturme der Bergbaude weht die schwarzweißrote Fahne. Es muß wohl ein Festtag sein, daß sie geflaggt haben. Vom Ochsenkopfe herab hat einmal ein Köhler eine ganze Stadt zuschanden geraucht – huhu! Und dort oben sind jetzt immer die Volksfeste. Am Abhang des Berges stand in alter Zeit der Galgen; jetzt ist eine lustige Wiese dort. Alle Tyrannen der Welt werden am Ende lächerlich; auf dem Schindanger grasen die Gänse.
Nun eine Biegung; ich bin über dem Flusse, über der Poststraße, über der bunten Aue. Links vor mir liegt der meilenweite Eulenwald. Auf der Straße marschiert junges, buntmütziges Volk. Gymnasiasten sind es, die in die Ferien wandern. Sie singen, jubeln und – rauchen. Aha, daher hatte der Ochsenkopf geflaggt. Die großen Ferien beginnen. Da freut sich die ganze Stadt mit den Kindern und feiert ein Fest.
Nun der Rathausturm, die Kirchentürme, der Schuldturm, das hohe, spitzgiebelige Dach der Kranich-Apotheke – ich bin da!
*
Ich muß zu allererst nach dem »Goldenen Löwen«, muß mich bei Vater Speer anmelden. Wie kann er ahnen, daß ich komme?
Er hat es aber doch geahnt, eilt mit entgegen, soweit er mit seinen zweihundertfünfzig Pfund eilen kann, schiebt das Käppchen auf dem Kopfe hin und her, lacht und sagt: »Ich dachte mir's schon. Mit Ihnen geht mir's wie mit dem Wetter. Ich merke die Ankunft vorher in den Knochen.«
»Wenn's nur kein Reißen ist, Vater Speer.«
»Nö, nö! Das Wetter ist ja sehr schön heute.«
»In Altenroda ist immer schönes Wetter.«
Er lacht sein gutmütiges Meckern.
»Haha, da ist er kaum rein zur Stadt und sagt schon wieder was Lächerliches. Immer schönes Wetter! Da hätten Sie mal den Sturm am 17. April erleben müssen. Die halbe Stadt abgedeckt. Da war gerade der August Stumpe da ...«
»Ach der! Den habe ich neulich den »Tristan« singen hören. Herrlich!«
»Wie er den Christian singt, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß er am 18. April nach dem Sturme auf die Häuser rauf ist und Dächer geflickt hat vom Morgen bis in die sinkende Nacht.«
»Ein guter Sänger!« sage ich in Erinnerung an einen schönen Theaterabend.
»Ein guter Dachdecker,« sagte Vater Speer in Erinnerung an den Sturm.
»Der Stumpe – so so – der war da. Ja, die Altenrodaer Kinder hängen an ihrer Stadt.«
»Gehört sich auch! Nur der Cyrill ist nicht mehr dagewesen. War wohl doch ein bißchen obenhinaus und konfuse. War ja aber kein Einheimischer.«
Die Häuser sind mit Fahnen, Girlanden und Tannenreis geschmückt.
»Das ist wohl wegen des Ferienanfangs?«
»Jawohl. Na, es ist doch ein Festtag. Die Schützengilde macht heute Umzug und abends ist bei mir ›Sommernachtstraum‹ im ›Löwen‹. Früher hieß es ›italienische Nacht‹. Aber das haben wir abgeschafft; wir sind ja wohl keine Italiener.«
»Nein, Vater Speer. Sind die Hullah-Araber noch auf dem Gymnasium?«
»Nein, Gott sei dank nicht. Das waren, weiß Gott, die größten Vagabunden, die wir hier auf der Schule gehabt hatten. Haben im März alle ihr Abitur gemacht, alle bestanden und sind nun fort nach den Universitäten.«
»Das freut mich!«
»Mich auch! Und die ganze Stadt freut's! Daß sie fort sind! Das sind, darauf nehme ich Gift, die Burschen gewesen, die mir zur Nachtzeit immer die leeren Fässer aus dem Hofe nach dem Marktplatz rollten und die den Fuhrleuten vor dem ›Löwen‹ die Pferde ausspannten. Und wegen der Promenadenesel von damals habe ich auch meinen Verdacht. Sie wissen schon – wegen Hero und Leander!«
Wir gehen ein Stückchen weiter.
»Der gute Vater Ansorge ist also tot?«
»Leider!« sagt der Löwenwirt düster. »Viel zu früh! Erst siebzig! Er hat der Stadt sein ganzes Vermögen vermacht.«
»Und Dr. Schicketanz auch?«
»Der auch! Liegen beisammen. Wird sich auch so gehören.«
»O, der Tod!«
»Ja, der Tod!«
Vater Speer spuckt gerade aus, als ob er dem Tod ins Gesicht treffen wollte.
Im Sonnenschein liegt die Krumme Straße, die ein wenig bergauf führt. An den Häusern sind Söller und Balkone, vor den Türen stehen grüngestrichene Bänke. Das Pflaster ist holperig. Selbst Herr Ansorge, der große Wohltäter der Stadt, hat nicht haben wollen, daß neumodisches, glattes Pflaster käme. »Solches Katzenkopfpflaster«, hat er gesagt, »gehört zur kleinen Stadt. Es macht ihm seine Marktmusik. Ohne Rumpeln kein fröhlicher Markt.«
In den Hausgärten hängen die Kirschbäume voll goldener Fruchtkugeln. In den zahlreichen Starkästen hausen Sperlinge. Speer weist darauf hin und brummt: »Wer in einem Obstgarten Starkästen aufhängt, ist so dumm wie einer, der in der Vorratskammer Mäusenester anlegt.«
»Aber, Papa Speer, Sie haben ja wohl in Ihrem Garten auch viele Starkästen?«
»Leider! Die Dummen werden nicht alle!«
Die Leute, die in den Türen stehen oder uns begegnen, reichen uns die Hände und plaudern mit uns. Man kommt in Altenroda langsam vorwärts. Mein Gedächtnis wird bewundert, weil ich noch weiß, daß die kleine Friedel zugleich Scharlach und Diphtherie hatte, und daß Dr. Schicketanz sie rettete, und weil ich mich erkundige, ob der geblümte Rock sich gut getragen habe, den die Großmutter nach langem Rechnen und Zaudern um eine Mark und zwanzig Pfennige das Meter gekauft hatte.
Wir kommen am »Weißen Roß« vorbei.
»Wie geht es dem Wirt?«
»Schlecht! Hat zu hohe Preise. 1911er Zeltinger verkauft er die Flasche für zwei Mark und fünfundzwanzig Pfennige. Das kann kein Mensch zahlen. Die Gäste verkrümeln sich. Ich habe diesem Roß von Roßwirt gesagt: ›Ich verschenke den Zeltinger für zwei Mark; gib du ihn für eine Mark und neunzig Pfennige und du hast die Gäste.‹ Er kann's nicht tun, hat den Wein selber mit zwei Mark in der Hand. Saure Schnauze gehabt beim Einkauf. Kommen Sie, wir wollen die Konkurrenz was verdienen lassen.«
Wir kehren ein und lassen die Konkurrenz was verdienen. Im Lokal sitzt ein dürres Männchen mit einer Brille auf der Nase. Es wird von Vater Speer auffallend schlecht behandelt.
Draußen frage ich: wer der Dürre sei.
»Ach der,« knurrt Speer; »der ist ein schlechter Kerl. Ein Berliner. Früher ist er Archivrat gewesen, und bei seiner Pensionierung ist er leider auf den Gedanken verfallen, nach Altenroda zu ziehen. Jetzt kriecht er auf den Bodenräumen des Rathauses rum, stöbert in alten Pfarr- und Innungsbüchern und schreibt blecherne Artikel. Wütend sind wir auf den!«
»Was schreibt er denn?«
»O, der hat zum Beispiel geschrieben, die Stadt Wenighofen sei gar nicht von unserem Köhler zuschanden geraucht, sondern im Hussitenkriege anno Vierzehnhundert so und so viel zerstört worden. Denken Sie, wenn das die Kinder lesen! Das ist, als wenn sich ein Kerl zu Weihnachten vor die Kleinen hinstellt und ihnen sagt: ›Es gibt gar kein Christkind; der ganze Plunder, über den ihr euch so freut, ist aus dem Warenhause.‹ Eine Roheit ist so etwas. Auch die Geschichte vom Meister Michael und seiner Wunderuhr hat er angezweifelt. Er hat gesagt, das hätte sich gar nicht bei uns, sondern in Olmütz zugetragen. Er saß bei mir im ›Löwen‹, als er das behauptete.«
»Was haben Sie denn darauf erwidert?«
»Ach, erwidert hab' ich gar nichts; ich hab' ihn bloß rausgeschmissen.«
Aus der Gerbergasse tönt Kinderlärm. Eine ganze Schar ärmlich gekleideter Buben und Mädchen tollt dort herum. »Sehen Sie,« sagte Vater Speer, »drei Viertel von diesen Radaumachern sind direkte Nachkommen von Paul Distelfink, Enkel oder Urenkel. Na, Sie kennen ja die Geschichte von Ansorge und Distelfink und der dummen Emma. Ja, ja, lauter Distelfinken! Wenn das so weiter geht mit dieser Familie Distelfink, ist Altenroda in sechzig Jahren eine Großstadt. Und ein Mann wie Ansorge muß sein Leben lang einsam bleiben und erhält keinen Erben!
Seit einigen Minuten ertönt Glockengeläute. Nun begegnen wir einem Leichenzuge; gerade an der Marktecke zieht er an uns vorüber. Vornweg ein mit schwarzen Schleiern geschmücktes Kreuz, dann etwa vierzig Schulkinder, die unter Leitung ihres Kantors ein Begräbnislied singen, hellstimmig, krähend, fidel, als ob es zu einem Schulausfluge ginge; dann ein blasser, junger Geistlicher, der in einem Gebetbuche liest, vor ihm rotbäckige Ministranten mit Weihbrunnen und Rauchfaß, äußerlich würdig, aber die Augen rechts und links werfend; dann der Sarg, von sechs Männern getragen, denen die Zylinderhüte schief auf dem Kopfe sitzen und die Zitronen in der Hand tragen; dann schwarzgekleidete Leidtragende und zuletzt viel Volk. Die meisten Leute des Trauergefolges machen gleichgültige Gesichter; manche schwätzen miteinander.
»Der alte Kesselschmied Mentke,« flüstert mir Speer zu. »Dreiundachtzig Jahre alt. Der Tod war eine Erlösung.«
Einem Begräbnisteilnehmer ist sein Hund nachgelaufen gekommen, ein schöner Dobermann. Umsonst versucht der Mann, durch zischelnde, zornige Befehle, durch Drohen mit dem Regenschirme oder scheinbares Aufheben eines Steines das Tier zur Rückkehr zu bewegen. Er erreicht nur, daß sich der Dobermann als Letzter dem Trauerzuge anschließt.
Vater Speer und ich haben unsere Häupter entblößt, als der Sarg vorbeigetragen wird, und gehen nun langsam auf dem Bürgersteige mit, begleitet von einer Kinderschar. Eine Arbeiterfrau gibt ihrem Sprößling, der seinen Reifen neben dem Sarge hertreibt, eine gewaltige Ohrfeige. So geht der Schlingel jetzt bitterlich weinend, die schmutzigen Fäustchen in die Augen gebohrt und den Reifen um den Hals gehängt neben dem Sarge her als der Betrübteste im Zuge.
Alle Türen öffnen sich. Käufer und Verkäufer treten aus den Läden und entbieten dem toten Kesselschmiede einen letzten Gruß. Nur der Barbier mit seinem Streichriemen und seinem eben eingeseiften Kunden hätten sich lieber nicht in der Türe zeigen sollen. Von der Berliner Straße her, die am anderen Ende des Marktplatzes mündet, tönt schmetternde Musik. Die Schützengilde marschiert an; die Kapelle spielt einen wirbelnden Marsch. Plötzlich bricht die Musik ab. Der Kapellmeister hat den Begräbniszug erblickt. Er spricht leise auf die Musiker ein, und als der Sarg vorbeigetragen wird, läßt er, ein Protestant, ob es auch ein katholisches Begräbnis ist, den herrlichen Choral spielen: »Meinen Jesum lass' ich nicht; Jesus wird mich auch nicht lassen«. In strammer militärischer Haltung steht die Schützengilde und die Fahne senkt sich vor dem alten Kesselschmiede.
Als der Zug schon um die nächste Biegung und nichts mehr davon zu sehen ist, steht die Gilde immer noch da. Der Kapellmeister überlegt, wie er in die so jäh unterbrochene Freudenstimmung musikalisch zurückfinden könne. Etwas Lustiges muß es wieder sein; denn dafür ist Schützenfest; aber es soll doch an das eben gehabte ernste Erlebnis angeknüpft, etwas Schickliches zur Überleitung gefunden werden. So läßt der Kapellmeister spielen: »Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus« und dann in die Hohe Gasse nach dem »Löwen« einbiegend: »Freut Euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht ...«
Da habe ich wieder ein echt Stück Altenroda erlebt. Es ist nichts, was mich an diesem Leichenbegängnis mit seiner Mischung von Wehmut, Feierlichkeit und Humor gestört hätte. So ist Altenroda, so ist schließlich das ganze Leben – neben den Särgen der Alten treiben die Kinder ihre Reifen, blasen die Musikanten.
Ich denke daran, daß der alte Mentke nun für immer zum Städele hinaus muß, in dem er über acht Jahrzehnte lebte. Glückliche Reise in die große Ferne! Alter Mentke, gelt, es war schön in Altenroda!
Mein Begleiter Speer räuspert sich.
»Weiß der Himmel,« sagt er, »wenn ich ein Begräbnis gesehen habe, muß ich immer was trinken. Es ist mir stets nicht ganz lauter um den Magen. Gehn wir mal zum Apotheker.«
Dazu bin ich gern bereit. Der Apotheker ist mein Freund seit langem. Er ist einer der angesehensten Bürger, in vielerlei Wissen erfahren, sehr musikalisch, als Sänger kunstgerecht ausgebildet, etwas streitsüchtig, aber im ganzen eine goldene Seele. Über der Tür seiner Apotheke funkelt ein goldener Kranich, das hochgiebelige Haus ragt stattlich in die Luft. Hinter dem Geschäftsraume der Apotheke ist eine Trinkstube, die der Apotheker, der von Hause aus Oberösterreicher ist, den »Giftgadern« nennt. »Gadern« ist ein durch ein »Gatter« abgeschlossener Raum.
Der Apotheker mich sehen, an der Hand fassen und in den Gadern ziehen, das geschieht alles in Sekunden. »Freut mich, Sie zu sehen!« oder auch nur »Guten Tag!« sagt er nicht. Er hält das für selbstverständlich und haßt Phrasen, die ja meist doch rein gar nichts bedeuten.
Der Giftgadern der Kranich-Apotheke zu Altenroda ist – glaube ich – eine der verrücktesten Trinkstuben der Welt. Ein Panoptikum. Einmal ist einer, der im Gadern auf einem Sofa über Nacht blieb und in bleichem Mondlichte aufwachte, in Schreikrämpfe verfallen. In einer Ecke steht ein Totengerippe. Daneben hängt auf der einen Seite das Bild einer alten Zigeunerin, auf der anderen ein Gemälde, das ein hoch talentierter futuristischer Maler gestiftet hat und das die »Maul- und Klauenseuche« darstellt. Ich glaube, daß dieses Gemälde das Allerschrecklichste im Giftgadern ist; wer es angeschaut hat und bei gesunden Nerven geblieben ist, erschrickt vor nichts mehr im Leben. In einer anderen Ecke steht ein Ritter in Originalrüstung. Auf seinem Schilde ist eingraviert: Qui bene bibit bene dormit, qui bene dormit non peccat, qui non peccat venit in coelum, item qui bene bibit venit in coelum. (Der Archivar aus Berlin hat diese Inschrift als eine nachträgliche Fälschung erklärt und darf daher nicht mehr in den Gadern kommen.)
Die Wände sind bis an die Decke mit Bildern, Konsolen, Urnen, Kriegstrophäen bedeckt, alles in erstaunlichem Durcheinander, so daß eine Karikatur Napoleons I. neben dem Bilde einer neuzeitlichen Berliner Theaterdiva hängt und eine (auch vom Archivar angezweifelte, aber trotzdem echte) Tabaksdose Friedrichs des Großen auf einer Konsole neben einem in ein ganz modernes Glaskästchen eingeschlossenen Bleistiftlein liegt, mit dem der Dichter Geibel angeblich das schöne Lied: »Der Mai ist gekommen« geschrieben haben soll.
»Ordnung,« sagte der Apotheker, »ist in einem Giftgadern nicht zu fordern. Außerdem, wer sollte auch Zeit und Lust genug haben, hier Ordnung zu machen? Wem's nicht paßt, der bleibt draußen.«
Der Mann hat recht: die Erde und ihre Zeit und ihr Raum sind winzig wie ein Stäublein, das im Winde fliegt. Homer und Geibel sind Zeitgenossen, Altenroda und Peking liegen dicht beieinander.
Im Giftgadern sitzen drei Männer, alte Bekannte von mir. Keiner läßt sich durch meine Ankunft in der Unterhaltung stören.
Denn das hat der Apotheker heraus: nichts stört in einer Gesellschaft mehr, als das ständige »Guten Tag« und »Ade« sagen. Sitzen Leute zusammen und unterhalten sich gerade gut, kommt ein neuer hinzu, reicht jedem die Hand: »Guten Tag, Herr Schulze!« – »Guten Tag, Herr Müller!« – »Guten Tag, Herr Lehmann!« – so hat er mit seinem nichtssagenden Grüßen die Unterhaltung gestört, das feine Geflecht der Behaglichkeit zerrissen. Und sind die Maschen wieder geschlungen, steht einer auf, reicht jedem die Hand und sagt: »Gute Nacht, Herr Müller!« – »Gute Nacht, Herr Schulze!« – »Gute Nacht, Herr Lehmann!« so ist er allen durch die Unterbrechung lästig. Sinn und Zweck hat so etwas nicht. Im Giftgadern hängt an einer Strippe eine Hand herab, die in feinem Glacéleder steckt. Wer kommt, schüttelt diese Hand (soll für alle heißen: »Guten Tag!«), wer geht, schüttelt die Hand (heißt für alle »Auf Wiedersehen!«). Oben an der Strippe ist ein Läutewerk, das bimmelt leise bei Ankunft und Abgang.
Ich stehe nun da und schüttele die künstliche Hand. Der Apotheker neben mir fragt:
»Nun, was ist zuerst gefällig: Mundwasser, Gurgelwasser oder Zahntropfen?«
»Zahntropfen!« sagt mein Begleiter Speer. »Hab's Begräbnis mitmachen müssen, da ist mir nicht lauter um den Magen.«
»Dreimal Zahntropfen!« ruft der Apotheker in die Apotheke hinaus, und es erscheinen drei Gläser Kognak. Hätte er »Gurgelwasser« bestellt, so wäre Bier gekommen, bei »Mundwasser« aber Wein. Der Apotheker hat diese Decknamen eingeführt, weil er seine Reputation wahren muß. Wenn er eine Bestellung aus dem Giftgadern hinausruft in die Apotheke, dann muß das einen pharmazeutischen Anstrich haben, damit die Kunden draußen kein Ärgernis nehmen.
Allerhand Fallen sind im Giftgadern. Wer so kindisch ist, an dem Seile der kleinen Glocke zu ziehen, die an der Wand hängt (und fast jeder Neuling ist so kindisch!) der zahlt eine Auflage, ebenso, wer auf der Laute klimpert, die daliegt (und fast jeder Neuling klimpert). Auch muß der, welcher sich auf einen Hocker setzt, der ein verkapptes Musikinstrument ist und »Trink'n wir noch ein Tröpfchen« spielt, diese hinterlistig erpreßte Aufforderung wahr machen.
Beileibe keine Nebberei! Einen gastfreundlicheren Wirt als den Apotheker gibt es in ganz Europa nicht. So darf zum Beispiel der, der das erste Mal in den Giftgadern kommt, für seine Zeche überhaupt nichts bezahlen. Niemand hat dieses »Recht des ersten freien Tages« mißbraucht, jeder ist wiedergekommen und hat sich »revanchiert«.
Nur einer hat es anders gemacht. Der ist in Abwesenheit des Apothekers in den Giftgadern gekommen, hat einmal, zweimal, dreimal gut gegessen, siebenmal gut getrunken, seine Zigaretten verlangt, hat dann gesagt: »Ich bin das erste Mal hier, also zahle ich nichts, danke bestens! Mahlzeit!« ist gegangen und nie wieder gekommen. Das war ein Berliner. Selbstverständlich war das ein Berliner!
Sechs Wochen lang hat ganz Altenroda auf diesen »Schmierfink« von Berliner geschimpft. In der siebenten Woche kam ein Brief aus Berlin: »Nachdem jetzt wohl genug auf den Berliner geschimpft worden ist, zahlt er seine Schuldigkeit.« Schickt der Mann den Betrag seiner Zeche und ein hochanständiges Trinkgeld dazu für die Bedienung. Ganz Altenroda war betroffen. Ganz Altenroda schämte und ärgerte sich und schimpfte dann aufs Neue auf den Berliner, der eine angebotene Gastfreundschaft bezahlt hatte.
»Das können Sie glauben,« sagte Vater Speer damals zu mir, »Berlin ist eine Stadt von lauter Lauseigeln.« Ich wagte nichts zur Verteidigung der Berliner zu sagen, dazu bin ich Vater Speeren gegenüber zu furchtsam. Und dann hatte ich die ganze Geschichte selbst mit erlebt, hatte selber mit geschimpft und war dann ob des Benehmens des Berliners auch selbst mit »betroffen« gewesen.
Mein herrlicher, nun verewigter Freund Ansorge sagte damals milde:
»Man soll nie schimpfen; denn erstens hat es keinen Zweck, zweitens steht es einem schlecht zu Gesichte, und drittens ärgert man sich hinterher immer darüber, daß man sich geärgert hat.«
Ja, ja, lieber, ehrwürdiger Freund, solltest halt noch leben! Solltest nicht zu den Toten gegangen sein. Solltest jetzt wie einst mit im Giftgadern sitzen. Da würdest du mild auf die Freunde einwirken, die auf den Archivar schimpfen, der aus Berlin gekommen ist und sich ungehörig um die Geschichte der Stadt Altenroda kümmert.
Sie freuen sich doch, die alten Kumpane, daß ich gekommen bin. Sie fragen natürlich nach vielem aus der großen Stadt. An die Großstadt denken sie oft mit einem Schauer wie an ein sündiges Babel und haben bei diesem Schauer immer eine heftige Sehnsucht, hinzufahren. Das ist halt so.
Es werden wirtschaftliche Fragen erörtert. Die Bauern wuchern neuerdings furchtbar, wird mir geklagt. Für ein Pfund Butter haben sie eine Mark und dreißig Pfennige verlangt, für ein Ei nehmen sie, ohne vor Scham in die Erde zu sinken, acht Pfennige. Da kann sich ja auch ein begüterter Mann zum Frühstück nicht mehr seine drei Eier gönnen. Der Hering kostet zwölf Pfennig, Schweinefleisch ohne Knochen schon neunzig! Traurige Zeiten!
Der Zentner Kohle gilt eine Mark und zwanzig Pfennige. Die Bergleute werden immer frecher. Ein achtzehnjähriges Dienstmädel verlangt mir nichts dir nichts fünfzehn Mark pro Monat und jeden zweiten Sonntag frei; die Schullehrer wollen mit eintausendfünfhundert Mark Jahreseinkommen nicht mehr zufrieden sein. Ja, wohin soll denn das noch führen?
»Ach,« sagt der Apotheker, »wir sitzen in einem Schlaraffenlande; wir wissen's bloß nicht!«
»Sie vielleicht,« höhnte der Kaufmann Nerlich, der das größte Kolonialwarengeschäft in der Stadt hat. »Wissen Sie, was ich im vorigen Jahre für Einkommensteuer hab' zahlen müssen? Vierundachtzig Mark! Wo soll man denn das hernehmen?«
»Aus der Kasse!« sagt Vater Speer pomadig.
Nerlich wird wild.
»Ja, Sie haben leicht in die Kasse zu greifen, wo Sie für den Kognak fünfzehn Pfennig und für die Zigarre zehn Pfennig nehmen. Was da bleibt! Und die Portion Mittagessen fünfundsiebzig Pfennig, hehe, feine Sache!«
»Ihnen geb' ich Rabatt,« sagt Vater Speer.
Wenn sich die Stimmung so zuspitzte, schrie der Apotheker allemal in die Apotheke hinaus:
»Zahntropfen!«
Die besänftigten nicht nur die Zähne, sondern auch die Gemüter. Aber nicht lange. Die Bürger von Altenroda lieben es zu streiten, eine Eigentümlichkeit, die man in deutschen Landen des öfteren antreffen kann. Es ging bald wieder los. Nerlich erhitzte sich aufs neue.
»Was das jetzt auch für eine Schlamperei mit der Eisenbahn ist! Gestern wollte ich meine Schwiegermutter abholen. Muß ich doch geschlagene acht Minuten auf dem Bahnhofe warten. Soviel hatte der Zug Verspätung! Ist das nicht unerhört?«
»Na,« sagte der Apotheker, »wenn sich die Schwiegermutter um acht Minuten verspätet hat, dann schreiben Sie doch an die Bahn einen Dankbrief.«
Nerlich trank sein »Gurgelwasser« aus.
»Schwiegermutter hin, Schwiegermutter her. Über solch ernste Sachen soll man nicht spotten. Ordnung muß sein im Lande! Ordnung! Und Recht und Billigkeit! Und das ist nicht mehr in Deutschland.«
Er stand auf, schüttelte die lederne Hand, die an der Decke hing, und verschwand.
Schweigen. Jeder grübelte, ob er nun in einer schlechten oder erträglichen Zeit lebe.
Der Apotheker und Vater Speer fanden das Leben anno 1913 »erträglich«.
Der Apotheker sagte zu mir:
»So, was man arme Leute nennt, das mag's bei Ihnen in der Großstadt geben, bei uns nicht. Hungern kennt hier keiner, Frieren auch nicht. Wär noch schöner! Luxus, na ja, das ist nicht, aber was sein muß, ist da! Bei uns kann jeder achtzig Jahre alt werden, wenn's ihm der Herrgott von Geburt aus mit in die Knochen gegeben hat, und wenn er seinen Lebensbrennstoff nicht selbst verliedert hat.«
Er ging zu einer riesigen Tonurne, die eine Ausgrabung war und die Asche eines Menschen enthielt, der vor zweitausend Jahren starb. Neben der Urne stand ein Grammophon. Von diesem ließ der Apotheker das Deutschlandlied spielen.
*
Eine kleine Welt ist Altenroda. Aber die ganze Welt ist klein; Paris und Berlin sind Nester wie Altenroda. Die größten Spießer sind unter denen, die das Spießertum verachten. Außer der Liebe ist nichts Großes auf der Welt. Es gibt keine großen Reiche, keine große Kunst, keine großen Männer. An solche Dinge glauben nur Knirpsgehirne. Selbst die Sonne ist nur ein Flimmerchen. Über ein paar kleine Differenzen, wie etwa zwischen Goethe und einem Stallknecht, sollte sich niemand aufregen; beide – Goethe und der Stallknecht – sind ganz klein, der eine ein bißchen kleiner als der andere.
Groß allein ist die Liebe, die der Odem Gottes ist. Sie läßt uns das Winzige groß sehen, so daß wir selbst ein Käferlein im Sonnenlichte mit seligem Entzücken zu betrachten vermögen und mit heimlichem Schaudern zusehen, wie ein gewaltiger Sperling ein Würmchen auffrißt, oder – wie ein Reich durch ein anderes zugrunde gerichtet wird.
»Sie spintisieren!« sagt Vater Speer, da wir über den Marktplatz gehen. »Was ist los?«
Ich sage ihm etliches von dem, was ich eben gedacht habe.
Speer schüttelt den Kopf.
»Wegen der paar Zahntropfen braucht man ja nicht gleich auf solche Gedanken zu kommen.«
So sagt er und grüßt gleicherzeit devot nach dem Bürgersteige hinüber, wo der Herr Major daherschreitet, der Kommandeur des hier in Garnison liegenden zweiten Bataillons des xten Infanterieregiments, Feldmarschall Graf von Kunsewitz.
»Haben Sie gesehen, wie freundlich der Major gedankt hat?« fragte Vater Speer. Er strahlt. Das Offizier-Kasino ist in seinem »Löwen«. Es bringt zwar bei den Vorzugspreisen, die die Herren Offiziere genießen und bei den Ansprüchen, die sie machen, nicht viel ein. Aber die Ehre, man denke, die Ehre! Der Herr Major hat auf Speers Gruß nicht nur gedankt; er hat direkt mit dem Kopfe genickt. Das tut sonst beim Grüßen kein Offizier. Beim Militär nickt man nicht mit dem Kopfe. Das sah beinahe wie Vertraulichkeit aus. Vater Speer strahlt.
Es sind halt doch große Differenzen zwischen den einzelnen Menschen. Meine Gedanken von vorhin ... Nun, lassen wir es!
*
Was ist das?
Jemand kommt und sagt: es sei spät in der Nacht; das Schießen auf der Straße habe nun aufgehört; es sei Zeit, schlafen zu gehen; auch wäre der Ofen kalt geworden.
Schießen?
Ich habe nichts gehört.
Und Feuer im Ofen?
Eben hat sich Vater Speer mit einem bunten Schnupftuch den Schweiß von der Stirne gewischt.
Aha – die täuschen sich; die denken, ich sei in Breslau, es sei Winter und Revolte.
Sie täuschen sich. Ich bin in Altenroda; es ist ein friedlicher Sommertag – der 6. Juli 1913 – mein vierzigster Geburtstag.