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Zweiter Teil


Erstes Kapitel

Der Liederkranzball bildete den Glanzpunkt des gesellschaftlichen Lebens in der kleinen Stadt und kehrte seit undenkbarer Zeit ebenso sicher wieder wie der Faschingsmontag. Die ganze Stadt lebte davon, ob man nun dabei war, am Hotel stand und die Masken hineingehen sah, oder nur die Berichte des »Gauboten« las, der alle Reden, humoristischen Vorträge usw. ausführlich brachte, ganz einerlei. Für dieses Jahr hatte der »Gaubote« als Programm angekündigt: Im Reiche der Mitte. »Nachdem am Sonntag ein lustiges Maskentreiben die sonst vom gewerblichen Fleiß widerhallenden Straßen unserer geliebten Vaterstadt erfüllte –«

Dieses lustige Maskentreiben bestand darin, daß ein paar Hanswurste mit Schweinsblasen knallten und ein als Frau verkleideter Schlotfegergeselle auf einem Fahrrade hin- und herraste, abgesehen von einigen Kindern, die als Tiroler, Rotkäppchen und Clowne verkleidet in den Straßen einherstolzierten.

Auch von dem Ball des Liederkranzes zu reden würde sich kaum lohnen, wenn sich dabei nicht einige recht sonderbare Dinge ereignet hätten.

Grau war von verschiedenen Seiten eingeladen worden, aber er hatte keine Lust, den Ball zu besuchen. Er verbrachte den Abend in der Gesellschaft von Susanna und Mütterchen.

Sie leerten jene Flasche Rotwein, die Grau von seinem Freunde, dem Gefängnisdirektor, seinerzeit auf die Reise mitbekommen hatte, sie tranken, lachten und plauderten und Mütterchen hatte ordentlich aufgekocht. Es war schon spät als Grau aufbrach um nach Hause zu gehen. Er schritt über den Marktplatz und plötzlich bemerkte er einen Burschen mit heller Bluse, einer niedrigen Kappe und einem starken Nacken; der Bursche stand gerade vor dem festlich beleuchteten »Elefanten« und blickte ins Tor hinein. Es war Hammerbacher. Grau blieb stehen.

Er suchte Hammerbacher seit einigen Tagen, konnte ihn aber nirgends finden. So viel er hörte, hatte der Geselle seine Stelle verlassen und trank mit einigen Burschen in den Wirtschaften der Umgebung – seit jenem Tage, da die Notiz in der Zeitung gestanden hatte.

Grau war so erregt, daß er augenblicklich auf den Burschen zugehen wollte, aber er besann sich. Er ging über den Platz und beobachtete von hier aus den Burschen. Hammerbacher ging hin und her, wie ein Posten. Zuweilen stampfte er auf den Boden, um die Füße warm zu halten, und jedesmal, wenn er am Tore vorbei kam, blieb er eine Weile stehen und lugte hinein. Er schüttelte den Kopf, blickte auf die Uhr und begann wiederum seine Wanderung. Er wartete! Ja, natürlich, er wartete! Es gab nichts mehr zu sehen, kein Mensch stand mehr vor dem Hotel, es war überdies empfindlich kalt. Aber Grau wollte ganz sicher gehen, er ging unten am Platze eine halbe Stunde lang auf und ab, während Hammerbacher vor dem Hotel Posten stand. Ein merkwürdiger Gedanke stieg in ihm auf.

So rasch wie möglich eilte Grau nach Hause, kleidete sich um und nach einer kleinen Weile kam er wieder rasch die Stufen herab.

Die helle Bluse Hammerbachers leuchtete gerade unter dem Tore. Er wartete immer noch.

Grau berührte Hammerbachers Schulter und sagte: »Wünschen Sie, daß ich den Herrn herunterrufe, ich gehe gerade hinein?«

Hammerbacher fuhr herum, er blickte Grau erschrocken an, schlug die Augen nieder und nahm die Kappe ab. »Guten Abend.«

»Nun, wie steht es, soll ich den Herrn herunterrufen? Es ist nicht sehr angenehm zu warten in dieser Kälte, nicht wahr?«

»Welchen Herrn?«

»Wie gut wir uns verstehen!« sagte Grau und blickte den Burschen scharf an. »Ist es nicht merkwürdig, wie gut wir uns verstehen?«

Hammerbacher lächelte verlegen. »Ich habe damals gelogen, als ich bei Ihnen war, aus Not – sie ließen mir keine Ruhe mehr – dieses Gestichel –«

Grau schüttelte den Kopf: »Wie konnten Sie nur so etwas tun?« sagte er mit mildem Vorwurf. »Das hätten Sie nicht tun sollen, es hat Sie befleckt für immer. Nein, sagen Sie mir nichts, ich weiß wohl, wann Sie gelogen haben, Hammerbacher. Damals haben Sie nicht gelogen, denn damals konnten Sie gar nicht lügen, das wissen Sie recht wohl!«

Sie hätten ihm ja keine Ruhe mehr gelassen.

Grau schüttelte den Kopf. »Geben Sie sich weiter keine Mühe mehr!« rief er zornig aus. »Ich habe mir recht wohl gedacht, daß Sie zu Dem und Jenem fähig sein könnten, deshalb habe ich Ihnen so dringend nahe gelegt das Andenken jenes unglücklichen Mädchens hoch zu halten. Seien Sie nur still! Ich will Ihnen das eine sagen, daß Sie von meiner Seite aus nicht das geringste zu befürchten haben werden. Aber ich werde nicht ruhen – ich werde nicht eher ruhen! – bis ich jenen Herrn gefunden habe, der Sie beschwätzt hat, um ihn an seine Pflicht zu erinnern. Sagen Sie ihm das! Leben Sie wohl – wenn Sie einmal einen Rat brauchen, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Es läßt sich noch alles in Ordnung bringen, überlegen Sie es!«

Grau stieg hinauf in den Saal, wo er mitten in den Trubel des Festes trat.

Der Saal war angefüllt von Menschen, er war so voll, daß man sich kaum bewegen konnte. Alles lachte, schrie, riß den Mund auf, alle waren in übermütiger, vom Tanzen und Trinken erregter Stimmung. Eine Menge von Chinesinnen und Chinesen in allen denkbaren Kostümen und Farben schob sich hin und her und wo man hinsah, erblickte man Zöpfe, Pfauenfedern, Schirme, Fächer, breite chinesische Hüte, in fortwährender Bewegung. Der Saal aber hatte sich verwandelt in eine chinesische Straße mit Tee-, Kaffee-, Sekt-, Wein-, Bier- und Verkaufsbuden; bunte schmale Tücher mit phantastischen Drachen und Schriftzeichen hingen von der Decke herab und überall brannten Lampione in allen Farben und Formen, klein, nicht größer als eine Faust, mächtig groß und dick wie ein Faß, glühend rot, zart und schimmernd und manche verblaßten vollständig in all dem Rauch und Dunst, der aus der lachenden, treibenden Menge emporstieg.

Grau hatte keine Zeit alles genau zu betrachten, er begann augenblicklich fieberhaft zu suchen.

Der erste Bekannte, den er sah, war Eisenhut. Er trug ein unglückliches, gelbes Kostüm, eine Art Sack mit weiten Ärmeln, eine gelbe runde Mütze und merkwürdigerweise einen hohen Stehkragen, in den er den Spitzbart drückte, so daß er wie ein Pinsel vorsprang. Er trug eine gelbe Maske, aber jeder mußte ihn sofort erkennen, an seinem Spitzbart, den tiefen Furchen um den Mund, der Körperhaltung. Er schlich sich durch die Menge und seine kleinen Augen lugten mit komischer Lebhaftigkeit aus den Schlitzen der Maske, er ging, als wolle er alles sehen und selbst nicht gesehen werden.

Einen Augenblick lang ruhten ihre Blicke ineinander, aber Grau blickte weg, als ob er ihn gar nicht kenne. Er wollte ihm die Freude nicht rauben. Zwei Chinesinnen stürzten auf Eisenhut zu und drängten ihm Zigaretten auf, aber Eisenhut machte eine ärgerliche Handbewegung und entfloh zu einer Weinbude, wo er rasch ein Glas Wein hinunterstürzte.

Die Menge kam aus irgend einem Anlaß in Bewegung und Grau wurde dicht ans Orchester gedrückt, wo ihm die Baßtrompete direkt ins Ohr plärrte. Er verlor Eisenhut aus den Augen. Plötzlich wurde er von zwei Seiten angepackt. »Herr Grau, Herr Grau!«

Es waren die Schwestern Sinding, die ihn bestürmten, Sie hatten glühendrote Wangen. In ihren losen Kostümen sahen beide etwas dick aus. Hahaha, also er sei doch hier! Welch ein Lärm, abscheulich, puh! Aber er sei wohl Nichtraucher?

»Wir haben Zigaretten zu verkaufen – buh, buh!« Klara Sinding winkte der Baßtrompete still zu sein. »Es geht lustig zu! Ja, wir sind heute alle vergnügt!«

»Im Gegenteil, ich rauche leidenschaftlich gern!« sagte Grau und er erstand ein Paket Zigaretten.

»Wie gefällt es Ihnen? Bitte, Feuer!«

»Ganz prächtig!« sagte Grau und paffte. »Ganz herrlich ist das.«

Die beiden Mädchen sahen einander an und dann riefen sie wie aus einem Munde aus: »Aber wir haben ja ganz vergessen zu gratulieren! Herzlichsten Glückwunsch! Allerherzlichsten Glückwunsch!«

»Danke! Danke!« Grau verneigte sich.

»Wir waren so überrascht, als wir es in der Zeitung lasen! Und wie sehr wir uns gefreut haben! Wie glücklich Susanna ist! Und Mütterchen erst! Mütterchen hat die Zeitung mit der Anzeige naß geweint! Ja, so herzlich haben wir uns darüber gefreut! Wir lieben Susanna!« Hahaha – diese ganz abscheuliche Baßtrompete!

Sie plauderten und es trat noch eine Chinesin zu ihnen, ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit vorstehenden langen Zähnen, die eine eigentümliche Art hatte den Kopf langsam auf den Schultern zu drehen. Dann rannte eine pechschwarze Jüdin heran, die Grau einen Fächer aufschwätzte, es kam noch eine Chinesin, die Orangen zu verkaufen hatte, ein kleines häßliches Mädchen mit stumpfer Nase und großen Ohren, eine andere, und schließlich stand ein ganzer Kreis von Mädchen um Grau herum. Alle lachten, schwätzten und sahen Grau an.

»Gestatten Sie, daß ich vorstelle – Fräulein Anna Mohr –«

»Keine Namen, keine Namen! Es ist ja Fasching!« schrien die Damen.

Grau lachte und rauchte die Zigaretten. »Ich habe gar nicht gewußt, daß es so viele schöne Damen in der Stadt gibt?« sagte er und sah alle der Reihe nach an. Sein Blick war ruhig und rein.

Die Mädchen lachten.

»Wir wollen ihn fragen –« Aber ja! Sie wollten fragen, welche die schönste von ihnen sei.

»Welche ist die schönste von uns allen,« sagte Klara Sinding, jene, die das kleine Mal auf der Wange hatte.

»Die schönste?« Grau blies den Rauch durch die Lippen. Das sei eine sehr schwierige Frage. Er errötete ein wenig, denn alle blickten ihn an und ihre Gesichter sahen aus, als ob sie auf eine Gelegenheit warteten, herauszuplatzen mit Gelächter. Er sah eine nach der anderen an und fügte hinzu: »Das ist schwer zu sagen, denn ich kenne ja die Damen kaum. Aber Sie meinen – so nach dem ersten Blick zu urteilen – aber auch das ist schwer, denn sobald ich glaube jene Dame sei die schönste, springt mir etwas im Gesichte einer andern Dame in die Augen – ja, es ist unmöglich.« Er blickte zuerst das kleine häßliche Mädchen mit der stumpfen Nase und den großen Ohren an und sagte: »Bei Ihnen, mein Fräulein, da sind es die Augen, es sind die schönsten silbergrauen Augen, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe –« das Mädchen errötete und lachte allen verlegen ins Gesicht – »bei Ihnen, mein Fräulein, sind es vor allem die Wangen, die so zitternd weich sind und von eigentümlichen Rot – bei Ihnen sind es die Brauen und die Schläfen –«

Die Mädchen lachten und schrien durcheinander und machten solchen Lärm, daß alles nach der Ecke blickte. Nein, das sei ja keine Antwort – aber nein – wir sollten ihn fragen wer die klügste von uns allen ist –! Sie fragten.

»Die klügste? Aber, bitte, meine Damen, das ist ja noch schwerer!« Grau lachte. »Wenn ich aber nun etwas Bestimmtes sagen soll, so erkläre ich dieses Fräulein hier für die klügste von allen.« Es war das kleine häßliche Mädchen. Gelächter. Die Damen klatschten in die Hände. Das kleine häßliche Mädchen sagte mit tiefer Stimme: »Ich war stets die Dümmste im Institut!« Aber sie lächelte.

Grau lächelte ebenfalls. »Was sollte das beweisen? Ich werde den Damen eine Frage vorlegen und wir werden es gleich sehen. Hören Sie zu –«

Aber ja! Das würde ja schrecklich interessant werden.

»Wie hübsch er plaudert!« flüsterte das hochaufgeschossene Mädchen der Jüdin ins Ohr. Die Jüdin ließ ihre Augen funkeln. »Ja,« wisperte sie, »er ist so jung und schön. Siehst du, wie schüchtern er ist – er zittert immer ein wenig.« »Pst, er hört dich.«

Die Mädchen brachen in heiteres Gelächter aus. Klara Sinding also würde eine Nadel nehmen und in die Bohnen stechen. »Es ist aber verboten, die Bohnen irgendwie mit der Hand oder sonst etwas zu berühren.« Die jungen Damen öffneten die Münder und blickten einander verdutzt an: Ja, große Güte, da liegen nun zwölf Bohnen auf dem Tische, zwölf weiße Bohnen, alle ganz gleich, und unter ihnen ist eine Bohne aus Elfenbein, ganz wie die andern, wie könnte man sie doch herausfinden?

»Nun werden wir es gleich sehen, wer die Klügste ist!« sagte Grau und lachte. Die Damen dachten angestrengt nach. Sie brachten die abenteuerlichsten Projekte vor, aber es stellte sich immer heraus, daß sie unbrauchbar waren.

Grau wandte sich an das kleine häßliche Mädchen. Sie schüttelte den Kopf. Sie habe ja von vornherein erklärt, daß sie die Dümmste sei.

»Ich werde Ihnen etwas helfen,« sagte Grau lächelnd und blickte sie an. Plötzlich nun schrie das kleine Mädchen aus vollem Halse: »Ein Huhn!«

»Ein Huhn! Hahaha, ja, mein Gott –« die Mädchen schüttelten sich vor Lachen. Wer sollte auch daran denken! Es sei das Ei des Kolumbus!

Das kleine häßliche Mädchen aber sagte ganz verwirrt: »Es ist ganz merkwürdig, ich habe ja gar nicht daran gedacht und plötzlich ist mir der Gedanke gekommen – gerade als Herr Grau sagte, er wolle mir ein wenig helfen –« Sie blickte mit verwirrten, fast scheuen Augen auf Grau.

Grau lächelte. »Die Damen müssen mir den Scherz vergeben. Denn es war ja ein Scherz. Ich maße mir keineswegs an, Behauptungen solch kühner Art aufzustellen. Mein Beispiel ist ebenfalls schlecht gewesen, das erste beste, das mir in den Kopf gekommen ist, natürlich. Klugheit und Scharfsinn, rasches Denken und langsames Denken, das ist ja alles so verschieden – ich weiß das wohl, aber da sie mich nun gerade gefragt haben –?«

Das Orchester spielte die ersten Takte eines Walzers und die jungen Mädchen machten Miene auseinander zu stieben.

»Auf eine Sekunde noch!« bat Grau; und nun lud er sie alle zu einer kleinen Feier bei Susanna ein. Er wollte ihnen mitteilen, wann die kleine Feier stattfinden sollte – Fräulein Sinding wäre vielleicht so gütig ihm die Adressen der Damen aufzuschreiben –?

Die Mädchen lachten, waren etwas verblüfft und sagten alle zu. »Ja, natürlich, natürlich.« Sie schrien, was sie konnten.

Wirklich liebenswürdige Mädchen, sagte Grau ganz gerührt zu sich selbst, mischte sich in die treibende Menge und spähte nach links und rechts aus.

Er wanderte im Saale umher, blickte in den Tanzsaal, wo alles wirbelte und fegte, musterte jede Gruppe. Er begegnete einigemal Eisenhut, aber der schien es nicht zu sein, den er suchte, denn er hörte nicht auf umherzuspähen. Er begrüßte da und dort Bekannte, aber er ließ sich nicht in Gespräche ein. Über einer Gruppe von Köpfen, Hüten, Glatzen sah er etwas ungeheuer Schönes, eine feine Bewegung, eine feine Hand, kurz und huschend; das war Adele. Grau blieb stehen und blickte zwischen einem großen chinesischen Schirm und einer geschminkten Wange hindurch auf die Gruppe. Zufälligerweise schneuzte sich ein Herr und zufälligerweise einer jener Herren, die sich beim Schneuzen verneigen. So oft der Herr sich verneigte, sah er Adeles Gesicht. Sie lachte gerade heiter und übermütig.

Dann zwängte er sich wieder zwischen den Masken hindurch und spähte in jeden Winkel. Vielleicht doch unter den Tanzenden? Er stand an der Türe des Tanzsaales und blickte aufmerksam in jedes Gesicht.

Da berührte jemand leise seine Schulter und Adele stand vor ihm.


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