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Siebentes Kapitel

Graus Hände zitterten: Nein, nein, er hatte nicht die rechten Worte gefunden, er hatte es nicht vermocht!

Er warf einen Blick in die kleine alte Kirche, wo er eine blitzblanke kleine Orgel entdeckte und an einem Fenster die Reste einer ehemaligen Bemalung. Ein herrliches Fleckchen Blau, ein Streifen von einem seltenen Weinrot. Dann ging er durch den gedeckten Gang und hinüber ins Pfarrhaus. Während er sich umkleidete, sah er sich in der neuen Wohnung um. Das Pfarrhaus war ebenfalls alt, klein, mit Winkeln und Erkern, Holzvertäfelungen und einer kleinen Wendeltreppe. Im Vorraum hing ein altes pechschwarzes Ölgemälde. An der Türe war eine große Glocke angebracht und zwar war sie so aufgehängt, daß sie gleichsam zu schwingen anfing, wenn man sie nur ansah.

Vorläufig war es für Grau noch ein Rätsel, was er mit all den Zimmern anfangen sollte.

Er öffnete eines der kleinen Fenster. Sonne, Stille, Weite! Unter ihm lag die Stadt und die weite Talebene. So unregelmäßig und klippig wie sich das Treibeis staut, so unregelmäßig und klippig drängten sich all diese hundert steilen Giebel und Dächer ineinander. Da und dort klafften Risse und Spalten, das waren die Gassen und kleinen Plätze. Über diese beschneiten Giebel war eine Unmasse von Türmchen und Dachreitern geschüttet. Aus den unzähligen Kaminen stiegen dünne opalisierende Rauchsäulen in die klare Winterluft. Hunderte von Fenstern und Scheiben blitzten und blendeten und farbige Fünkchen tanzten auf den Schneedächern.

Rings um die weiße Stadt war alles weiß. Auch der Fluß, der die Stadt die Höhe hinaufdrängte, war weiß, er war gefroren. Eine Menge von Kähnen, Barken, Fähren und Frachtschiffen mit Masten und Stangen lag fest im Eise und auf den Schiffen kletterten kleine Pünktchen herum, Kinder, die spielten.

Eine weiße Brücke spannte sich über den weißen Fluß. Dann begann die Ebene, weit und weiß dehnte sie sich, bis zu den Höhenzügen, ferne Wälder, kriechendem Moose ähnlich, waren über sie ausgestreut.

Ein feines Klingen schwang in der winterlichen Stille, es klang aus einer Schmiede. Die Pünktchen, die auf den Schiffen klettern, erwiderten es schrill.

Zwei Fenster gingen auf den Garten hinaus. Der Garten war klein, nahezu dreieckig und in zwei Terrassen angelegt. Er war angefüllt mit unberührtem, wie Seide schimmerndem Schnee, und in den Ecken lagen Büsche, Gestrüpp, Stickereien aus Schneekristallen und mit Schichten von Schnee bedeckt, die eigentümlichen Blütentellern ähnlich sahen. Gegen die Straße zu, die Höhe, war der Garten mit einem grünen Zaun abgegrenzt, auf den andern Seiten stieß er gegen Gärten. Da war ein Park, ein wahrer Wald alter, hoher Bäume, die tief im Schnee wateten; er konnte weit in ihn hinein sehen, denn die Mauer war niedrig. Zwischen den Stämmen der alten Bäume schimmerte ein langes weißes Gebäude, ein Herrschaftshaus. Die Mauer des andern anstoßenden Gartens war übermäßig hoch und sah düster aus wie eine Gefängnismauer. Über sie hinweg blickten die zwei trüben Fenster eines grauen alten Hauses, wie zwei düstere traurige Augen unter einer niedern vergrämten Stirn. Die übermäßig hohe Mauer aber bot einen ganz merkwürdigen Anblick dar. Sie war mit Glassplittern und Eisenspitzen gespickt und trug eine große Tafel, die man leicht von der Straße aus lesen konnte, mit der Aufschrift: Vor den Hunden wird gewarnt! Achtung, Selbstschüsse! Vorsicht! Fußangeln!

Grau lächelte. »Eigentümlich!« sagte er.

Dann nahm er rasch den Hut und verließ das Haus, immer noch zitterten leise seine Hände. Wie töricht!

Grau begab sich in den »weißen Elefanten« und trug den roten Reisesack in seine Wohnung hinauf. Auf dem Wege begegnete er jenem Mann mit dem gelben Gesicht, der ihm im Friedhof aufgefallen war. Der Mann strich an den Häusern entlang, blieb stehen, als er Grau gewahrte und ging dann geradeswegs auf ihn zu, als ob er ihn ansprechen wolle. Aber er tat es nicht, er machte plötzlich einen Bogen, blinzelte und verzog die Lippen zu einem saueren Lächeln. Er griff an den Hut und Grau grüßte hastig und freundlich.

»Ein schöner Tag!« sagte er lächelnd. »Nicht wahr?«

Der Mann aber machte nur ein verblüfftes, ernstes Gesicht, zwinkerte und strich sich die Haare aus der Stirn, er grüßte nicht. Wie sonderbar! dachte Grau und vergaß die Begegnung nicht wieder.

Nach einer Weile sah man Grau wieder die Staffeln herabkommen, einen lächerlichen kleinen Zylinder auf dem Kopfe, eine Liste in der Hand. Er ging rasch und schwebend. Er schritt über den Marktplatz und trat beim Uhrenhändler Lux ein. Hier sprach er lange. Dann erschien der Uhrenhändler Lux im Fenster, eine goldene Uhr in der Hand, er ritzte, prüfte, zwängte ein Glas ins Auge und drehte die Uhr hin und her. Darauf verließ Grau heiter den Laden und der Uhrenhändler verbeugte sich hinter ihm.

Grau ging in den »weißen Elefanten« und beglich seine Rechnung. Der x-beinige mürrische Wirt bellte wie am Abend, aber er gab sich Mühe zu lächeln. Hätte er gewußt, wer der Herr sei, so würde er ihm ein besseres Zimmer gegeben haben. »Bitte, bitte, ich habe prächtig geschlafen!« Der Wirt verbeugte sich vor Grau und Grau verbeugte sich vor dem Wirt. Die blonde Frau sah übernächtig aus. Grau betrachtete sie mit einem eigentümlichen Ausdruck der Augen, und ein fades Lächeln kam auf ihr Puppengesicht und in ihre wasserblauen Augen. Grau errötete und ging.

Nun konnte man Grau mit seinem kleinen Zylinder, die Liste in der Hand, die Straße hinab gehen sehen. Er verschwand in den Häusern, verhielt sich einige Zeit darin und erschien wieder auf der Straße, um im nächsten Hause zu verschwinden. Ganz wie ein Briefträger.

Was Grau in den Häusern tat, ist sehr einfach zu erklären. Er klopfte an die Türe, zog den Zylinder, stellte sich vor und rückte mit der Liste heraus.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, diese arme, alte Frau, sie ist im höchsten Grade bedürftig, der Kummer macht sie auf einige Zeit erwerbsunfähig – dazu die Unkosten – Grau, Vikar Grau – dann ist ja auch das Kind da, verzeihen Sie die Störung, ich bitte tausendmal um Entschuldigung!«

Überall brachte er das gleiche vor. Die Leute räusperten sich, putzten sich die Nasen, kamen in Verlegenheit – denn Grau stand geduldig wartend da, blickte sich lächelnd im Zimmer um und verbeugte sich ab und zu ein wenig mit der Liste in der Hand – sie fuhren hastig in die Taschen und klapperten mit Schlüsseln. Hier und da waren aber diese Schlüssel absolut nicht zu finden, und sie sprangen umher, rannten gegen Türen und Wände, aber die Schlüssel waren ganz einfach fort. Man wird die Spende ins Pfarrhaus senden.

»Schön, schön! Ganz nach Belieben, gnädige Frau. Darf ich Sie vielleicht bitten, Namen und Betrag einzuzeichnen, hier in diese Liste, Bleifeder habe ich, bitte hier. Es ist der Ordnung halber und dann ermutigt es die andern Herrschaften – denn wo ein Sperling ist, da sind auch schon zwei, wo zwei sind, sind drei, wo drei sind, da sind auch gleich hundert, nicht wahr? Hier, erlauben Sie gütigst, ein ungenannt sein wollender Wohltäter hat auf einen Schlag zwanzig Mark gezeichnet, Herr Bürgermeister Stürmer zehn Mark, Frau Tierarzt Hammer fünf, Frau Rentamtmannswitwe Ulzhöfer eine Mark – wenn es auch nur eine Kleinigkeit ist – mit einem Tropfen kann man den Durst ja nicht löschen, aber in einer Ansammlung von Tropfen kann man recht schön ertrinken – danke, herzlichen Dank, gnädige Frau.«

»Vergessen Sie nicht zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, Herr Vikar!«

»Danke, auf keinen Fall! Ich danke Ihnen aufs herzlichste!«

Er kam in alle diese alten, krummen Häuser, in alle möglichen Stuben, zu allen möglichen Menschen. Jedes Haus roch anders, die Treppen knarrten anders. Die einen waren steil und dunkel und kletterten in eine Art von Turm hinauf, andere waren breit und licht, knarrten vornehm und führten auf weite, helle Vorplätze. Zuweilen stand man unvermutet dicht vor den Türen, es gab aber auch Treppen, auf denen man sich verirren konnte; sie liefen kreuz und quer, endeten im Boden oder führten auf einen Hof hinaus. All die Glocken, die Grau an diesem Tage läutete, hätten zusammen ein Konzert gegeben. Da waren schüchterne und anmaßende Glocken, gutgelaunte und mißgestimmte, winselnde und lachende, solche die knarrten und fauchten, bevor sie einen Ton herausstießen, andere, die bei der leisesten Berührung in ein übermäßiges Gebimmel ausbrachen, die einen beruhigten sich sofort wieder, die andern läuteten fleißig weiter; es gab freundliche Glocken, die sofort höflich sagten: Herein, herein! es gab ungastliche, die brummten: Geh weg, weg! Die Zimmer, in die Grau trat, waren weit und licht, oder düster, oder schmal wie ein Omnibus. Es gab eine Menge von interessanten Dingen zu sehen, eine Uhr aus Porzellan, einen Ofen, der merkwürdigerweise an der ungeschicktesten Stelle im Zimmer stand, dafür aber die zwölf Apostel auf den Kacheln zeigte, Schränke von unglaublicher Größe, förmliche Häuser, alte Waffen, Truhen, Zinnkannen, in jedem Zimmer wenigstens etwas.

Grau sah sich alles aufmerksam an und nichts entging ihm. In einem Hause rannten ihn zwei große Jagdhunde beinahe um, Kinder prügelten sich in einem andern und rollten ihm unter die Füße, das aber brachte ihn nicht aus der Fassung. »Bitte, bitte, ich bin ja der Eindringling, entschuldigen Sie – Grau, Vikar Grau.« Er lächelte, verbeugte sich vor den jungen Mädchen, die steif wie Besen dastanden, vor den Männern und Frauen, den Dienstboten, ja vor den Hunden. An die Hausfrauen hatte er nach dem ersten Anliegen noch ein zweites. Nachdem er sie mit Worten, Entschuldigungsformeln, Redensarten und Sprichwörtern, die er selbst erfand, allen erdenklichen Liebenswürdigkeiten genügend bearbeitet hatte, um sie für sein erstes Anliegen günstig zu stimmen, rückte er noch mit einem andern heraus. Ja, nämlich, wo sie Eier, Butter und Schmalz bezögen? Es wäre am Platze, diese Eierhändlerin auch anderweitig zu unterstützen. – »Darf ich Ihre Adresse in dieses Notizbuch schreiben, wie? Die Frau wird sich erlauben, zu Ihnen zu kommen, ich habe alles mit ihr besprochen. Gut!«

Er hatte überall Erfolg. Die Leute waren anfangs ein wenig erstaunt, aber gegen so viel Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit konnten sie nicht aufkommen. Dann waren es auch Graus Augen, die sie alle ansehen mußten. Wie merkwürdig, dieser Mensch hatte goldene Augen. Auch seine Weise dazustehen, zu plaudern, zu lächeln, so unerhört herzlich, frei und fein – sie zeichneten!

Das Gerücht ging vor ihm her und er fand sie alle vorbereitet; die Türen waren entweder verschlossen oder sie öffneten sich sofort, als ob man dahinter gewartet habe. Fräulein Karola Sperling, die Modistin, die in der Stadt die »ewige Braut« hieß, ließ ihn sogar durch ein Mädchen bitten, bei ihr vorzusprechen. Sie sah aus wie ein junges Mädchen und hatte weißblondes Haar, ihre Manieren waren verschämt und kokett und doch war sie über fünfzig Jahre alt. Ihr weißblondes Haar war an den Schläfen schneeweiß. Sie hatte den Bräutigam im Kriege verloren und trauerte seitdem um ihn. Sie erzählte Grau ihre ganze Lebensgeschichte, ein trauriges Idyll; sie zeigte ihm auch das Bildnis des Bräutigams, eines Offiziers, während sie lächelte und eine Träne verbarg. Zuletzt zeichnete sie dreißig Pfennig, nicht ohne zu erröten. Grau dankte ihr aufs herzlichste und hätte ihr am liebsten die Hand geküßt.

Ein feister, glänzender Herr mit einer großen Zigarre im Munde, die das ganze Zimmer mit Rauch angefüllt hatte, wies ihn dagegen kurz ab. Er gab prinzipiell nichts.

»Wieso?«

»Ja, zum Teufel – Pardon! – aber ich bin ein Feind von all diesen Dingen, Almosengeben und Unterstützungen und so weiter,« sagte er und paffte, so daß er nahezu in der Rauchwolke verschwand!

»Ah!« sagte Grau schüchtern. »Ich bitte um Entschuldigung, wenn es brennt, so nimmt man Wasser und löscht und denkt nicht weiter. Man kann nicht weniger geben als Geld, mein Herr, glauben Sie mir. Ich habe einen Mann gekannt, der bei keinem Juden etwas kaufte, ja niemals mit einem Juden sprach – ebenfalls aus Prinzip! Was sagen Sie dazu? Hahaha! Aber könnten Sie nicht eine Ausnahme machen – diese unglückliche Eierhändlerin –«

»Ich habe weder mit Ihrem Manne noch mit der Eierhändlerin etwas zu tun!«

»Mehr als Sie glauben!« Grau setzte sich auf einen Stuhl, obgleich ihn der feiste, glänzende Herr nicht zum Setzen aufgefordert hatte. »Weit mehr, als Sie glauben. Ich habe beobachtet, daß eine Schwalbe in einer Dachrinne festgeklemmt wurde, nun kamen hunderte von Schwalben –« begann er lächelnd.

»Ich bin aber keine Schwalbe!« unterbrach ihn der feiste Herr mit einer verzweifelten Gebärde und verschwand in der Rauchwolke.

»Mehr als Sie glauben, mein Herr!« sagte Grau und stand auf. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie in Ihrer Arbeit gestört habe. Vielleicht könnten Sie aber Ihre Frau Gemahlin oder Ihre Haushälterin dazu bewegen, Eier und Schmalz bei dieser armen Frau –«

Der Herr brach in ein zorniges Lachen aus. »Hier!« sagte er. »Hier nehmen Sie drei Mark, basta. Aber meinen Namen lassen Sie hübsch aus dem Spiele!« Er warf ärgerlich die Münze auf den Tisch.

Grau verneigte sich. »Also ungenannt sein wollender Wohltäter – gut, danke! Sehen Sie, wie recht ich hatte, Sie sind doch eine Schwalbe, trotzdem!«

»Ich gebe Ihnen diese Kleinigkeit da,« sagte der Herr und stand auf, »ehrlich gesagt, um meine Ruhe zu bekommen. Das ist der wahre Grund, der wahre!«

»Das glauben Sie nur!« sagte Grau, merkwürdig lächelnd.

Der dicke Herr stutzte; er griff sich an den Kragen, dann lachte er, und zwar ein komisches Gemisch von zornigem und vergnügtem Lachen.

»Ich war vielleicht etwas geradeaus!« sagte er lachend und seine Mienen hellten sich mehr und mehr auf. »Aber es ist mein Prinzip, stets unverblümt zu sagen, was ich denke! Ich bin ein Feind aller Verzärtelung und alles Damenhaften! Hom, hom! Ich bin auch ein Feind der Damen, ehrlich gestanden, hahaha! Ich bin auch ein Feind aller phrasenhaften Entschuldigungen, verdamm’ mich Gott! Aber ich bitte Sie, zum Zeichen Ihrer Nachsicht – Ihrer – ein paar meiner Zigarren zu rauchen. Bitte, bitte!«

Grau wollte ablehnen, aber der feiste Herr schüttelte erregt den Kopf und fuhr so energisch in die Zigarrenkiste, daß es aussah, als ob er Grau alle Zigarren auf einmal geben wollte. Je tiefer seine Hand aber in der Kiste wühlte, desto mehr mäßigte er seine Erregung und als er die Hand zurückzog, befanden sich nur vier Zigarren darin; er legte sie vor Grau auf den Tisch, merkwürdigerweise jedoch blieb eine Zigarre in seinen Fingern hängen und wanderte wieder in die Kiste zurück.

Grau dankte, nahm zwei Zigarren und ging. Der Herr begleitete ihn hinaus, bis ans Stiegenhaus, und verneigte sich laut lachend.

»Also, ich bitte nochmals um Entschuldigung, ich bin zuweilen sehr reizbar – hahaha – auf Wiedersehen, Herr Grau!« Er lachte noch in das Stiegenhaus hinein, als Grau schon das Haus verlassen hatte.

Grau kam auch zu dem Schuhmachermeister mit dem aufgeblähten Hals. Hier mußte er eine Tasse Kaffee annehmen. Der Schuhmachermeister versprach, die Schuhe der alten Frau kostenfrei auszubessern, zu sohlen, zu flecken, auch eine Filzsohle wollte er hineinlegen. Übrigens bezog er Eier und Schmalz schon von ihr.

»Vergessen Sie ja nicht, zum Steinbruchbesitzer Eisenhut zu gehen, neben dem ‚Elefanten‘, das alte Haus – er ist der reichste Mann der Stadt!«

»Auf keinen Fall!«

Graus Liste wuchs. Es ging die Straßen links hinunter und rechts herauf. Er vergaß kein Haus. Auf diese Weise lernte er die ganze Stadt kennen; er machte die Bekanntschaft von vielen liebenswürdigen Menschen; viele Güte, die sich in einem Lächeln verriet, viel Stolz und Feinfühligkeit, die sich in einem Verstecken des Blickes offenbarte, ja, selbst Adel, den Grau in einer kleinen Bewegung der Hand entdecken konnte. Versteckte Schönheiten und viel Sehenswertes, so daß er sich für die geringe Mühe überreich belohnt fühlte. Seine Laune wurde noch besser. Endlich kam er zum x-ten Male auf den Marktplatz und ging auf Eisenhuts Haus zu.

Da lag dieses Haus, in dem der reichste Mann der Stadt wohnte, inmitten all dieser gepflegten, gestrichenen und mit Schnitzwerk und Erkern gezierten Häuser, grau, elend und verwahrlost. Ein kalter Hauch ging von ihm aus. Der Bewurf war an vielen Stellen herabgefallen und die nackte Mauer blickte hervor, es war geschwärzt von Ruß und lange, schmutzige Regenspuren liefen vom Dache bis zum Erdgeschoß herab wie Tränenspuren über ein altes, schmutziges Gesicht. Kinder hatten Gesichter an die Wand gemalt und unter einem riesigen Kopf mit spitziger Nase und zwei kleinen Augen auf der gleichen Seite des Gesichtes stand geschrieben: »Ich bin der Geizhals Eisenhut, bembele bembum –.« Von der Türe war die Farbe gesprungen und sie sah fleckig aus wie ein Pilz und so staubig, als hinge der ganze Staub vom letzten Sommer daran.

Grau zog an einem Glockenring und eine Glocke im Hause bellte wie ein alter, heiserer Hund. Grau läutete drei-, viermal, die Glocke bellte und klaffte, aber niemand öffnete.

Vor dem Nachbarhause stand der Schlächtermeister Keim unter der Tür des Ladens, dick und wohlgenährt, eine Kappe auf dem Ohr. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und seinen Bauch erschütterte ein verhaltenes Lachen. Trotzdem es Winter war, glänzte er von all dem Fett, das er ausschwitzte, seine Schürze flatterte leicht und er erweckte durchaus nicht den Eindruck der Schwere trotz seiner Dicke. Er erinnerte an einen jener komischen Papierballone, die man zur Volksbelustigung an Jahrmärkten steigen läßt, und das Zittern des Bauches drückte gleichsam die Ungeduld des Ballons aus, in die Höhe zu segeln.

»Er ist da, er ist zu Hause!« sagte der Schlächtermeister Keim und schon zitterte das Lachen in seinen dicken Backen. »Er ging soeben hinein.«

Grau läutete wieder.

»Unterdessen,« sagte er zu dem Schlächtermeister, »ich komme in einer Angelegenheit, die nicht nur Herrn Eisenhut betrifft – Grau, Vikar Grau – Sie kennen diese alte Frau Sammet, diese Eierhändlerin, Herr Keim, nicht wahr, das ist Ihr Name – auf dem Firmenschild da –«

»Jawohl, Keim, so heiße ich.«

»Wer so prächtig aussieht wie Sie – hier ist die Liste – deswegen wird kein Auge weniger auf der Suppe schwimmen –«

In dem Gesichte des Schlächtermeisters, der vor Wohlgenährtheit nahezu platzte, verschwand augenblicklich jede Spur von Fröhlichkeit, ja, er sah plötzlich betrübt aus. Er hatte in letzter Zeit soviel gegeben, daß er wirklich nicht mehr konnte. Er rückte die Kappe vor, um sich hinterm Ohr kratzen zu können. Jeden Tag käme etwas Neues.

Grau sah ihn an und lächelte. »Aber wer so gütig aussieht wie Sie?« sagte er. »Ich glaube ja gerne, daß Sie in der letzten Zeit stark in Anspruch genommen wurden, aber das ist doch ein besonderer Fall, nicht wahr?«

»Jeder Fall ist eben besonders.« Der Schlächtermeister steckte die Hände in die Hosentaschen und schaukelte leise auf den kurzen schwammigen Beinen hin und her.

Grau lächelte. »Erlauben Sie,« begann er von neuem, »würden Sie sich zu einer kleinen Gabe entschließen können, wenn ich Ihnen einen Scherz erzählte, über den Sie herzlich lachen müssen und den Sie Ihr ganzes Leben – ich sage, Ihr ganzes Leben lang nicht mehr vergessen?«

Herr Keim bemühte sich ein ernstes Gesicht zu machen.

»Das kommt darauf an!« sagte er und spuckte gleichgültig in den Schnee.

Grau sagte lächelnd: »Hören Sie, Sie heißen Keim, aber wenn Sie schon Keim heißen, so muß man zugeben, daß der Keim hübsch aufzugehen verspricht!«

Der dicke Fleischer brach augenblicklich in ein lautes Gelächter aus. Er hielt den hüpfenden, dicken Bauch mit den beiden Händen und schüttelte sich.

»Hahaha!« lachte er und hustete, »hahaha!«

Grau wippte mit der Liste und Herr Keim gab zwei Mark.

Da rasselte etwas an der alten fleckigen Haustüre und ein Guckfensterchen, nicht größer als eine Streichholzschachtel, fiel herab.

Dieses Geräusch des herabfallenden Fensterchens kam Grau bekannt vor. Und nun schien es ihm, als ob er dieses Guckfensterchen selbst schon vorher gesehen hätte.

Ein Auge funkelte in dem Guckloch und eine zaghafte, hohe Fistelstimme fragte:

»Wer ist da?«

»Ist Herr Eisenhut zu Hause?«

»Nein!« antwortete die Fistelstimme und Grau glaubte ein feines Kichern zu hören.

»Wann kommt er denn zurück?«

»Er ist verreist!« Das Guckfensterchen schloß sich wieder.

Grau verließ die Türe mit einer eigentümlichen Empfindung. Wie merkwürdig! dachte er und die Fistelstimme klang ihm noch lange im Ohr, während er die Jungferntreppe hinaufstieg, eine Art von schmalem Kamin, der zwischen kahlen Hauswänden und Gartenmauern zur Höhe führte. Er wollte im Schlosse vorsprechen, jenem weißen Herrschaftshause, das er heute von seinem Fenster aus gesehen hatte.

Er ging durch den weiten Park, dessen Bäume so hoch waren, daß er sich winzig klein dagegen vorkam, und sann darüber nach, wo er das kleine Guckfensterchen schon gesehen habe. Jenes Geräusch, das es beim Herabfallen verursacht hatte, verfolgte ihn hartnäckig. »Es ist doch höchst einerlei,« sagte er vor sich hin, »wo ich solch ein Guckfenster schon gesehen habe, was liegt viel daran? Aber trotzdem, trotzdem! Ich habe dieses Guckfenster schon gesehen oder vielmehr gehört, das ist es.« Er schüttelte den Kopf und stand vor dem weißen Hause. Nun erst sah er, daß ein Flügel des Herrschaftshauses eingeäschert war bis auf den Grund. Die Brandstätte war abgeräumt, Gerüststangen waren eingerammt, aber man sah keine Handwerksleute.

Er stieg die Treppe hinauf, öffnete die schwere Türe und stand plötzlich vor einem pechschwarzen Neger, der eine Laterne auf dem Kopfe trug.

»Ach,« ging es ihm durch den Kopf, »jetzt erinnere ich mich! Ich habe dieses Guckfensterchen schon gesehen in einem Hause, in dessen Flur eine alte Holzfigur stand, ein Heiliger. Die Arme des Heiligen waren abgeschlagen. Aber wo, wo denn?«

Der pechschwarze Neger war aus Bronze und von der Laterne hingen schwere Messingketten herab. Grau wollte eben an einer Türe pochen, als ein Diener hinter ihm fragte, was der Herr wünsche. Die Jacke des Dieners war gestreift und erinnerte an das Fell eines Zebras. Der Diener öffnete die Türe eines kleinen Salons und bat Grau zu warten.

Der Salon wurde von einem Sonnenstrahl erhellt, der sich durch die Gardinen zwängte. Die Möbel waren hell und niedrig und standen auf zierlichen weißen Beinen.

Grau wartete und wagte nicht zu atmen, so still war es hier und so vornehm. Er hätte sich gerne geräuspert, aber das ging wohl nicht gut hier. Da hörte er einen gedämpften Schritt und eine junge Dame erschien in der Türe.

Sie nickte und fragte: »Womit kann ich Ihnen gefällig sein?« Sie sprach höflich aber kühl.

Grau erwiderte nichts. Er sah die junge Dame an. Sie hatte auffallend reiches Haar von tiefschwarzer Farbe und war von fremder, stolzer Schönheit. Sie stand im Schatten und ihr Gesicht sah lang und bleich aus. Ihre Augen waren klar und ernst. Aber das Merkwürdige daran war, daß sie heller aussahen als selbst die blassen, langen Wangen. Das kam von den schwarzen wie Atlas glänzenden Haaren, die fast die ganze Stirn bedeckten und von den langen glänzenden Wimpern, die die Augen einsäumten. Etwas von dem Glanze, der Kerzenlicht bei Tag eigen ist, war in diesen Augen.

»Womit kann ich Ihnen gefällig sein, mein Herr?« wiederholte das Mädchen.

Grau brachte hastig seine Bitte vor, und die junge Dame erwiderte, daß sie mit ihren Eltern sprechen werde und ihm Bescheid zugesandt werden würde.

Grau verbeugte sich und sah noch einmal in dieses schöne, regungslose Gesicht und ging. Er vergaß ganz mit seiner Liste herauszurücken und zu fragen, wo die Herrschaften Eier und Schmalz bezögen.

Er ging rasch durch den Park hindurch und war so erregt, daß er nichts sah und nichts hörte, bis er wieder auf dem Marktplatze stand.

»In welche Stadt bin ich doch da geraten!« flüsterte er. »Zuerst diese Sache mit dem Guckfensterchen und nun dieses Mädchen. Ich habe ja dieses Mädchen schon einmal gesehen, irgendwo und irgendwann, ich erinnere mich deutlich an dieses Gesicht und diese sonderbaren Augen.«

Er eilte weiter und erst nachdem er bis zum Flusse hinabgelaufen war, fiel ihm ein, daß er noch einen Besuch hatte machen wollen.


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