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Ein Sonnenstrahl leuchtete in Susannas Stube umher, als Grau eintrat. In Mütterchens Glasschrank, dessen Scheiben halb blind waren, wurde es auf eine Weile tageshell und man sah all die Teller und Tassen, die da standen. Auf dem Fensterbrett, dem Tisch und der Kommode standen Blumen, Tulpen, Hyazinthen und ein kleiner blühender Baum, der genau wie ein blühender Kirschbaum in kleinem Format aussah, die Blumen glänzten und lächelten als der Sonnenstrahl sie berührte und die roten Tulpen glühten als hauche man auf rote Glut.
In der Mitte ihres Gartens saß Susanna und lächelte. Der Sonnenstrahl beleuchtete ihr Gesicht und ihre Augen glänzten wie dunkles Kupfer. Sie hatte sich geschmückt.
Um die Ärmel ihres schwarzen Kleides hatte sie Spitzen genäht, um die Schultern hatte sie ein goldgelbes Seidentuch gelegt, es warf einen warmen Widerschein auf ihr schmales Gesicht. Hinter dem Kopfe lag ein weißes Kissen. Es mochte sein, daß sie sich schlechter fühlte, aber man konnte auch glauben, daß das weiße Kissen den Zweck habe, die schwarzen Haare mehr zur Geltung zu bringen. Diese Haare waren mit größter Sorgfalt frisiert, sie glänzten von irgend einer Salbe, die Zöpfchen, die über die Ohren herabhingen, waren zu Bändern geflochten, und man konnte sich recht gut vorstellen, wie lange solche kleinen müden Hände wohl dazu brauchten.
Sie lächelte als Grau eintrat und ihre Augen glänzten ihm entgegen. »Willkommen, mein Freund! Aber da haben Sie sich ja trotz meines Verbotes wiederum Ausgaben gemacht!« Sie drohte ihm mit den Finger.
»Entschuldigen Sie nur, Fräulein Susanna!« sagte Grau und lachte, indem er die kleine Tulpe auf den Tisch stellte. Er legte den Mantel ab, hauchte auf die Fingerspitzen, er stampfte auch mit den Füßen, ganz als ob er zu Hause wäre. »Welche Kälte, dieser Winter scheint kein Ende zu nehmen. Nun, wie geht es?« Er gab ihr die Hand.
»Gut. Ich habe sehr gut geschlafen.«
»Ich danke Ihnen für Ihren Brief, Fräulein Susanna!« sagte Grau und hielt Susannas Hand. »Welch ein schöner und unvergeßlicher Brief!« Sie habe sich gedrungen gefühlt, ihm zu schreiben, denn sie vergäße so vieles zu sagen und manches lasse sich auch nicht erzählen. »Was gibt es neues?« sagte Grau.
Endlich entzog ihm Susanna sanft die Hand.
»Sie sollten sich am Ofen wärmen,« sagte sie mit ihrer hohen feinen Stimme, »Sie sehen ganz durchgefroren aus!«
»Ja, neues? Mütterchen hat Streit mit Herrn Eisenhut gehabt; zum hundertsten Male hat er gedroht, ihr zu kündigen.« Dann die Blumen. »Die weiße Hyazinthe steht so matt da. Übrigens sie riecht am allerfeinsten. Sie riecht wie ein feiner Apfel, nur noch feiner. Die weißen haben überhaupt den feinsten Duft, die blauen oder roten, auch sie riechen fein, aber es ist nicht das gleiche. Betrachten Sie die gelbe Tulpe. Sie hat ihre meisten Tage gesehen, sie stirbt. Sehen Sie, wie sie verzweifelt den Kelch öffnet? Aber so riechen Sie doch daran – wie feinster Zimt, nicht wahr?«
»Hören Sie, welch prächtige Menschen es doch auf der Welt gibt!« rief Grau aus. »Da haben Sie diese alte Frau Sammet. Was tut sie, diese arme Kirchenmaus? Heute kommt sie wieder zu mir und bringt zwölf Eier und ein halbes Pfund Butter. Ja, sage ich, was soll das eigentlich? Jetzt sind Sie erst vor acht Tagen dagewesen? Sie legt die Eier auf den Küchentisch und die Butter, aber sie rückt nicht mit der Sprache heraus. Es ist Montag, sagt sie. Sie nimmt auch kein Geld. Es ist Montag, sagt sie, sonst nichts. Also scheine ich jeden Montag meine zwölf Eier und das halbe Pfund Butter zu bekommen – ist Ihnen so etwas schon im Leben passiert?«
»Sie ist Ihnen so dankbar, die alte Frau,« sagte Susanna, »sie weint, so oft sie von Ihnen spricht.«
»Ah!« sagte Grau und lachte und wandte sich ab. »Da haben Sie es, sie ist ein altes Weib. Wofür, um Gottes willen, sollte sie mir zu danken haben? Nun rennt sie meilenweit in den Dörfern umher, um ihr bißchen Brot zu verdienen, und bringt mir jeden Montag zwölf Eier und ein halbes Pfund Butter – ja, vielleicht ist es ein Pfund, wer weiß es – für nichts, für rein nichts, solche Menschen gibt es unter der Sonne.«
»Sie soll jetzt eine große Kundschaft haben. Sie hat sich einen kleinen Handwagen angeschafft. Das alles hat mir Adele erzählt.«
»Fräulein von Hennenbach?«
»Ja, sie war hier. Sie hat viel von Ihnen gesprochen.«
»Wie freundlich von ihr.«
»Adele hat mir das seidene Tuch hier geschenkt, auf eine kleine Äußerung hin, auch die Spitzen hier. Ich habe nur gesagt, die Ärmel des Kleides sehen so kurz aus. Von ihr habe ich eine ganze Menge Neuigkeiten!« Susanna lächelte schelmisch und wichtigtuend. In ihren pechschwarzen Augen glänzten goldene Funken, Reflexe des Seidentuches. »Sie haben die alte Frau Sammet auch aufgefordert im Pfarrhaus zu wohnen, ist es nicht so?«
Grau sah erstaunt auf. »Grundgütiger Himmel, welch eine Stadt ist das doch!« sagte er. »Jeder Pflasterstein scheint ein Ohr zu haben. Ja, ich habe der alten Sammet dieses Anerbieten gemacht, weil ich vier Zimmer habe und weil ich dachte, sie könnte mir vielleicht ein wenig in der Wirtschaft helfen –«
»Aber Sie tun ja alles allein, nicht einmal die Stiefel lassen Sie sich von der Küstersfrau putzen.« Susanna lachte.
Susanna lächelte. »Wenn Sie wüßten, was ich alles erfahren habe! Ja, bei Gott, das ist eine Stadt, jeder Pflasterstein scheint ein Dutzend Ohren zu haben, da haben Sie recht!« Sie lachte und klatschte ein wenig in die Hände. Dabei verrückte sich das Kissen hinter ihrem Rücken und Grau eilte, ihr behilflich zu sein. Aber Susanna wurde dunkelrot und wehrte ab. Sie wollte nicht, daß er sehe, daß sie ausgewachsen war. »Es betrifft ihn, Herrn Eisenhut,« fuhr sie leise fort, »er ist hier und Mütterchen spricht mit ihm – wegen einer Rechnung von zwölf Mark ist ein langwieriger Krieg zwischen den beiden ausgebrochen – es betrifft ihn. Sie wissen nicht, was ich meine? Nein? Wie klug Sie es auch angestellt haben, es ist doch bekannt geworden. Ja, zuerst haben Sie einen Schulknaben herausgefischt und ihm das Versprechen abgenommen, nicht mehr hinter Herrn Eisenhut herzulaufen und Spottlieder zu singen, auch das Versprechen, daß er niemandem etwas sagen sollte, daß Sie mit ihm sprachen – dann einen zweiten und dritten und auf diese Weise alle zusammen, aber es ist doch bekannt geworden.«
Grau zog die Brauen zusammen, seine Augen wurden groß, er sah niedergeschlagen und unglücklich aus. »Es ist also glücklich herausgekommen, wie?« sagte er leise. »Ich hätte es mir denken können, wenn ich ein klein wenig mehr gedacht hätte, so hätte ich es mir – ja, es war ein schlechter Einfall. Auf diese Rangen ist kein Verlaß! Ich habe gedacht, sehen Sie, es war so, ich habe es gesehen, wie sie hinter Eisenhut herliefen und sangen. Er war ein wenig angetrunken. Sie sangen und schrieen und tanzten, grausam, wie Kinder sein können, die Polizei wollte sie verjagen, aber das gelang natürlich nicht, und nun sah ich, daß Eisenhut sich gegen alle umwandte und eine hilflose Gebärde machte. Diese Gebärde aber und vor allem sein Blick – nein, wie dumm ich es aber angestellt habe –« Er schüttelte den Kopf und sah auf den Boden.
Susanna aber lächelte und begann von neuem: »Sodann sagen die Leute, Sie seien eine Art Freidenker und gar kein Geistlicher, wie er sein soll. Auch sagt man, Sie lebten in Feindschaft mit dem Dekan in Weinberg.«
Grau schien gar nicht zuzuhören. Er blickte zum Fenster hinaus. Der Schnee sah eigentümlich rot aus und die Wolken waren kupferrot und drohend. Aber rasch erblaßten die Farben und ein schweres düsteres Grau schlug über die Erde zusammen. Nun wurde das Feuer im Ofen lebendig und tauchte Susannas Gesicht in zarte huschende Glut.
Grau sah Susanna an und lächelte. »Wie schön das Feuer doch Ihr Gesicht macht,« sagte er leise, gleichsam als spräche er für sich selbst. Dann sagte er: »Was ist doch mit der Bank, von der Sie in Ihrem Briefe schrieben? Sie nannten sie ‚meine‘ Bank, es muß also eine ganz besondere Bewandtnis mit der Bank haben? Wollen Sie mir nicht davon erzählen?«
Susanna zögerte. Aber dann feuchtete sie die Lippen mit der kleinen Spitze ihrer Zunge an und begann: »Wenn man um das Haus herum geht, über den Bach hinüber und dann die Höhe hinaufsteigt, so kommt man an diese Bank. Hier saß ich schon mit zwölf Jahren. Aber nur dann und wann. Später öfter und endlich saß ich jeden Abend dort, wenn die Sonne sank. Die Bank liegt so hoch! Von ihr aus sieht man ein Stückchen von der Stadt und das sieht so friedlich aus, jenes Stückchen, mit den alten Häusern und den vielen rauchenden Kaminen. Dann sieht man die breite Landstraße weit hinab ins Tal ziehen und man sieht auch das Bahngeleise. So hoch liegt die Bank, daß man über das Bahnhofgebäude hinweg noch die Waggons auf den Rangiergeleisen stehen sieht. Noch etwas gutes hat die Bank, sie liegt so versteckt, müssen Sie wissen, daß jemand nahe an ihr vorbei gehen kann, ohne einen zu sehen. Dann hat sie auch im Sommer ein ordentliches Dach aus grünen Blättern, so daß es nicht durchregnen kann. Das ist gut. Hier saß ich und blickte über das Land hinaus und träumte. Ich träumte – ja, mein Gott, ich träumte alle möglichen Dinge hier oben. Ich war jung, ich war fröhlich! Ich träumte und träumte, aber da wurde es ganz eigen mit meinen Träumen. Was war es doch, ja, was sollte es sein? Was wollte ich hier und was nagte an meinem Herzen? – Ich wartete! Ich wartete! Das war es, ich wartete und wußte nicht, worauf ich wartete. Ich wußte es lange nicht, hören Sie, so lange, vielleicht zwei Jahre lang nicht. Aber ich wartete und ich dachte: Ja, worauf wartest du denn eigentlich? Ich wußte nur, daß ich wartete. Was sollte denn kommen, wie und wann denn eigentlich? Nicht wahr? Aber ich saß da und wartete, wartete und die Sonne ging unterdessen unter. Ich glaube, es gibt keinen Menschen auf der Welt, der so oft in die untergehende Sonne blickte wie ich! Auf der Landstraße kam ein Wagen daher, ein Fußgänger, ein Trüpplein Kinder. Sonst nichts. Heute? Ist es das? Ich blickte hin und her, weit hinein ins Land, weit hinab die Straße. Nun war die Sonne gesunken, ich ging nach Hause. Aber etwas in mir wartete unausgesetzt, auch auf dem Weg nach Hause, auch zu Hause, aber richtig und bestimmt wartete ich eigentlich nur oben auf der Bank.« Sie schwieg.
»Weiter?« sagte Grau leise. Er saß und sah sie an.
Susanna feuchtete wieder die Lippen mit der Zungenspitze und fuhr fort: »Da saß ich Tag für Tag, da droben auf der Bank, sah die Sonne sinken, und wartete und wußte nicht, worauf ich wartete. So ging der Frühling und der Sommer und der Herbst und so ging der Winter. Ich wartete. Die Tage wurden lang, die Tage wurden kurz. Das konnte man so gut beobachten, am Expreßzug nämlich. Ich höre ihn auch jetzt noch jeden Nachmittag rauschen, aber ich kann ihn nicht mehr sehen, nur die kleine Postkutsche, die gelbe, die sehe ich jetzt. Im Sommer da war es lichter Tag, wenn er kam, er tauchte auf als kleiner Punkt zwischen den Feldern und roten Dächern der fernen Dörfer, flog heran und flog in die Ferne und ließ nichts zurück als einen kleinen Schreck und ein feines Klingen in der Luft. Im Frühling und Herbst da kam er in der Dämmerung, und im Winter da kann man ihn gar nicht sehen, nur ein feuriger Streifen fliegt vorüber und man hört ihn donnern, viel lauter als im Sommer. Da fing es immer mit den Träumen an, wenn ich ihn sah, und ich hatte Sehnsucht mit ihm zu fahren. Ich reise leidenschaftlich gern, aber ich bin nie weit gekommen und nur zweimal kam ich fort. Ich und Mütterchen zusammen, wir sollten einsteigen, wir zwei, unsere Billete in der Hand – er sollte ja extra für uns beide halten! Ja, großer Himmel, wie oft habe ich das gedacht! Wie viele Reisen haben Mütterchen und ich zusammen gemacht! Und denken Sie sich, daß der Zug extra für uns zwei anhalten sollte, alles würde erstaunt sein, die Beamten, die Leute, auch die Reisenden, daß er hält in dieser kleinen Stadt, nicht wahr, ausnahmsweise sollte er anhalten. Vielleicht würde nun kein Platz sein und ein freundlicher alter Herr würde sein Reisegepäck ins Netz legen und zu Mütterchen sagen: Wollen Madame nicht Platz nehmen? Vielleicht wäre es ein Franzose und er würde uns französisch ansprechen. Vielleicht aber würde nun noch nicht Platz für mich sein und der freundliche alte Herr würde die Zeitung zusammenlegen und sagen: Wollen Sie nicht meinen Platz nehmen? Mille merci, monsieur, würde ich sagen, ich stehe sehr gern und sehe zum Fenster hinaus. Der Zug kommt von Paris und geht nach Wien, und von Wien geht er weiter – immer weiter, bis Konstantinopel. Ja, bei Gott, wie viele Nächte schläft man wohl, bis er endlich, endlich hält? Nun, was gibt es da nicht zu träumen? Man konnte einmal nach Paris fahren, einmal aber nach Konstantinopel, wie man wollte. Paris, Paris, dachte ich, so weit ist es, so fern, es lockt, schon der Name, nicht wahr? Und ich dachte an Paris und ich stellte es mir vor wie eine Stadt, in der immer ein Feuerwerk ist und die Leute Feste feiern und in den Straßen ziehen, als ob jeden Tag ein König zu empfangen wäre. Welche Hüte sie dort tragen, welche Kleider, wie sie sich verbeugen, verneigen und alle fein und graziös sprechen und so schnell, daß niemand sie verstehen kann. Dann müßte es auch hohe spitze Türme haben, die in der Sonne funkelten, denn die Dächer der spitzen Türme waren vergoldet. Und die Museen so still, so kühl, grüne Grotten, und da müßten die Statuen aus Marmor stehen, so schön und so alt, und die sie meißelten sind lange tot. Von daher kommt der Zug, und er saust und saust und zuweilen heult er in großen Bahnhöfen und wenn Sie hinausblicken, so blenden Sie all die vielen Bogenlampen, die da hängen. Aber je weiter er nach dem Osten fährt, desto niedriger werden die Häuser und ich stellte mir die fremden Städte vor, viele, viele fremde Städte mit dicken, runden Türmen und roten und gelben Dächern. Sogar die Menschen stellte ich mir kleiner vor, dick mit runden Backen, in gelben und roten Kleidern. Wenn Sie nun hinhorchen, was sie sprechen, so verstehen Sie keine Silbe mehr, denn sie sprechen alle eine fremde Sprache. Plötzlich aber hielt der Zug und da sind wir nun. Da ist die Sonne, so viele, viele Sonne und – Palmen! Die Sonne ist wie ein heißer Nebel und wenn Sie gehen, so durchdringt Sie die Sonne und Sie fühlen, wie Sie warm werden und glühen durch und durch und plötzlich kommt ein neuer Geist über Sie. Können Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine?«
Sie blickte Grau an und wartete. Über ihr Gesicht huschte der Schein des Feuers. Sie zog das Tuch um die Schultern, als ob sie friere, und wandte die großen Augen dem Feuer zu. Sie lächelte.
»Können Sie sich diese Sonne vorstellen, die ich meine, gerade diese Sonne?« fragte sie, da Grau nicht antwortete.
»Ja,« sagte Grau mit auffallend tiefer Stimme. Das aber war wahr, denn er sah diese Sonne vor sich, gerade diese Sonne – er, der so viel von Licht und Sonne träumte – er sah diese Palmen, in einem Nebel von Sonne zittern, genau wie Susanna es beschrieb.
Susanna lächelte und fuhr mit hoher, dünner Stimme fort: »Die Leute aber haben einen Turban auf, rot oder grün oder gelb, mit Edelsteinen übersät, und sie rauchen aus langen Pfeifen. Sie sehen aber so aus als ob sie in Teppiche gehüllt wären, und nun können Sie sich wohl vorstellen, wie das blitzt und funkelt, zumal wenn die Pfeifen aus Gold und Silber und mit Edelsteinen besetzt sind – und wie hübsch sich der Rauch aus dieser Unmenge von Pfeifen in der Sonne ausnimmt. Die Türme sind spitz wie Nadeln und funkeln ebenfalls, es gibt viele, viele Kuppeln aus farbigem Glas, die Sonne leuchtet und leuchtet durch alles hindurch, so daß alles durchsichtig aussieht, die Türme, die Kuppeln, die Leute, die Gesichter, die Palmen, die Kamele und Elefanten – denn da gibt es unzählige! – die Pfeifen – können Sie sich das vorstellen?«
Je mehr Susanna sprach, desto glänzender und größer wurden ihre schwarzen Augen, und je mehr sie von der Sonne sprach, desto mehr fröstelte sie. Zuweilen sprach sie ganz langsam und ihre kleinen abgezehrten Hände beschrieben alles mit, was sie erzählte. Wenn sie Turban sagte, so tat sie, als schlinge sie sich ein Tuch um die Stirne, sprach sie von den Pfeifen, so fuhr sie wagrecht von den Lippen aus mit den Fingerspitzen in die Luft, dann formte sie den Pfeifenkopf und darauf ließ sie die Finger emporwirbeln, daß man den Rauch ordentlich emporsteigen sah. Sprach sie von den Elefanten, so machte sie die Augen klein und listig und zeichnete sich einen langen Rüssel an die Nase. Meistens aber sprach sie hastig, wie im Fieber, und ihre eingesunkene schmale Brust arbeitete krampfhaft. Auf ihren Wangen erblühten giftige Rosen.
Sie fror. Sie legte die Fingerspitzen an die Wangen, ihre Augen fieberten, ihr Mund lächelte.
»Nun rennt einer auf uns zu und schreit und brüllt. Mütterchen bekommt Angst. Was will er nur? fragt sie, dieser Türke. Vielleicht will er deine Tasche tragen, Mütterchen. Ich fühle mich gar nicht wohl bei diesen Ungläubigen. Sage ich: Sie glauben an Gott wie wir, Mütterchen, und plötzlich spreche ich türkisch! Hören Sie, ich spreche türkisch! Ich öffne den Mund und es geht, ich verstehe, ich spreche. Haha – Mütterchen steht da und staunt, und die Türken paffen aus ihren Pfeifen und lachen über sie. Ich aber erkläre ihnen, daß das meine Mutter ist. Da nehmen sie alle die Pfeifen aus dem Munde, alle, alle, und verneigen sich bis zur – bis zur Erde –«
Susanna hielt inne und lauschte.
Man hörte Mütterchen in der Küche draußen mit Geschirr klappern. Man vernahm auch Eisenhuts Stimme. Er sagte etwas und Mütterchen machte pst, pst! Aber Eisenhut kümmerte sich nicht darum. Er sagte laut: »Ach was! Machen Sie doch keine solche Wirtschaft! Es ist sein Beruf Krankenbesuche zu machen, dafür wird er ja bezahlt, punktum.« Er sagte es absichtlich laut, damit man es durch die Türe höre. Mütterchen schrie leise auf und sagte: Pst, pst! Eine Tasse klirrte am Boden und Eisenhut lachte belustigt. Er meckerte nicht, er lachte ganz anders als sonst.
Es war still im Zimmer und man hörte die kleine Uhr ticken und schnarchen, denn die kleine Uhr hatte die Angewohnheit zuweilen zu schnarchen, als ob sie aufatme.
Susanna errötete, ganz langsam stieg ihr das Blut ins Gesicht, während sie die großen Lider niederschlug, die an die Lider eines Vogels erinnerten. Sie saß still, bewegungslos und wagte kaum zu atmen.
»Wie geht es weiter mit Ihren Türken?« fragte Grau.
Aber Susanna wandte ihm den Blick zu, mit einer hilflosen Bewegung der Hände flüsterte sie hastig: »Er hat getrunken, Sie hören es am Lachen. Er hat auch sein Gewehr dabei, da steht es zumeist schlimm um ihn. Dann kann er so boshaft sein, so schrecklich boshaft.«
Grau lachte. »Er wollte Mütterchen erschrecken, das tut mir leid,« sagte er absichtlich laut. »Was seine Bemerkung anbetrifft, so weiß er recht gut, daß ich so etwas richtig auszulegen verstehe. Er weiß es recht gut, denn er ist klug, Herr Eisenhut!«
Eisenhut räusperte sich in der Küche.
»Freilich! Sie sind so vernünftig,« hauchte Susanna. »Nun wird Mütterchen sich aber nicht ins Zimmer wagen?«
»Klingeln Sie ihr!«
Susanna klingelte und Mütterchen erschien zaghaft in der Türe. Sie trug ein Servierbrettchen in der Hand.
»Die Zeitung – die Zeitung, nehmen Sie die Zeitung nur mit!« rief Eisenhut, dessen gerötetes Gesicht in der Türspalte erschien. Er beugte sich vor und legte ein Zeitungsblatt auf das Servierbrett. »Für ihn, für Herrn Grau!« fügte er hinzu und lachte und zog die Tür zu.
Susanna wurde glühend rot. Mütterchen wagte Grau nicht in die Augen zu blicken. »Wenn der Herr mir die Ehre antun wollen?«
Grau dankte. Er wechselte einige Worte mit Mütterchen und Mütterchen schlich sich wieder hinaus.
»So ist es gut!« sagte Susanna mit einem dankbaren Blick. »Nun ist sie glücklich! Was ist es denn mit der ‚Zeitung‘?« fragte sie. »Was will er nur damit?«
Grau fand eine angestrichene Notiz: Der Geselle Anton Hammerbacher hat vor dem Vormundsgericht die Vaterschaft des Kindes der Dienstmagd Margarete Sammet eingestanden. An den Rand hatte Eisenhut geschrieben: »Seiner Aussage ist unbedingter Glaube zu schenken – hahaha! Eisenhut!«
Grau verbarg rasch sein Erstaunen.
»Aber Ihre Notiz in der Zeitung?« sagte Susanna.
Grau zuckte die Achseln. »Man kann sich täuschen,« sagte er, »aber kümmern wir uns nicht um diese Geschichten, Fräulein Susanna!« Wie sonderbar, dachte er, deshalb hat wohl Herr Eisenhut getrunken, weil diese Notiz erschien! Ein merkwürdiger Mann! Er lächelte und wandte Susanna den Blick zu und sie mußte ihn ansehen. Susanna besann sich, was Graus Blick zu bedeuten habe.
»Sie haben nicht zu Ende erzählt.«
Susanna schüttelte den kleinen Kopf. Alle Lust habe sie verloren.
»Sie haben angefangen, Sie müssen fortfahren,« beharrte Grau und sah Susanna in die Augen, »bis ans Ende müssen Sie erzählen. Sie sind übrigens plötzlich mit dem Expreßzug davon gefahren, und was ist aus Ihrer Bank geworden? Die haben Sie wohl ganz vergessen?«
Susanna sah ganz erschrocken aus. Ja, bei Gott, da habe sie gänzlich diese Bank vergessen! »Wie aufmerksam Sie doch zuhören?« sagte sie und richtete sich auf. »Ich habe die Bank vergessen, das ist wahr. Ich – ja, lassen wir die Türken sein. Was wollte ich doch bei den Türken? Ich werde Ihnen erzählen, denn ich muß Ihnen alles sagen. Ich muß! Sprechen Sie, wie ist das: Sie sagen, erzählen Sie, Sie sagen ein kleines Wort und ich muß Ihnen folgen. Sie sehen mich an und ich muß. – Adele hat mir erzählt, Sie sind bei einem schwerkranken Flickschneider gewesen, der vor Schmerzen nicht schlafen konnte, und Sie haben zu ihm gesagt: ‚Schlafen Sie‘ und sahen ihn an. Da schlief er.«
Grau schüttelte den Kopf.
»Doch!« sagte Susanna. »Die ganze Stadt spricht darüber, selbst die Ärzte, denn sie konnten ihn ja nicht mehr einschläfern.«
Grau lächelte.
»Er schlief ja fast schon, Fräulein Susanna. Da legte ich ihm die Hand auf die Stirn und sagte: Schlafen Sie – das ist alles.«
Susanna lachte und hustete. »Ich sagte ja ganz dasselbe, mein Freund, nichts andres. Es ist ja so merkwürdig mit Ihnen. Sie kamen zu mir herein und sofort begann ich zu erzählen, Dinge, die ich noch niemand erzählt habe, und doch waren Sie ein Fremder. Aber ja, ich will fortfahren, lassen Sie mich alles sagen. Es tut gut. Ich liebe es. Wir waren bei den Türken, nicht wahr? Bei den Träumen, ja.«
»Die Sie träumten, während Sie auf der Bank da droben saßen und warteten.«
»Ja, als ich wartete.«
»Sie warteten und wußten es lange nicht, worauf sie warteten. Vielleicht zwei Jahre lang wußten Sie es nicht.«
Susanna lächelte fein. »Wie gut Sie aufmerken!« wiederholte sie. »Jedes Wort wissen Sie. Ja, damit fing ich an und dann vergaß ich es ganz und verlor mich in Träumen. Es passiert mir jetzt häufig, daß ich den Faden der Erzählung verliere, mein Gedächtnis wird sehr schlecht, auch ist es mir oft so schwer mich zu sammeln. Lassen Sie mich nachdenken. Ich wartete, sagte ich, ja, ich wartete und die Tage gingen, Frühling ging, Sommer ging, Herbst ging, Winter ging – die Jahre gingen und ich wartete. Jeden Abend saß ich da oben auf der Bank und wartete ohne zu wissen, worauf. Ich spann Träume, ich träumte all diese Dinge, von denen ich Ihnen erzählte, immer neues, immer mehr. Aber die Traume füllten mich nicht aus. Es blieb eine große Leere und diese große Leere habe ich fast wie eine Höhlung in mir, in der Brust, gefühlt, wie ein Loch, wo gar nichts war: Das war das Warten. Ich wartete immer sehnsüchtiger, aber nie war ich ungeduldig. Es gab manches in unserer Familie, nicht besonders viel, aber doch einiges. Wie Vater seine Stellung aufgab – da litt ich, für Vater, für Mütterchen, wir standen so allein, wir zwei, und mußten uns verkriechen und allein sein. Wir wollten es auch so. Es ging uns auch zeitweise etwas knapp. Aber ich sage Ihnen, ich habe nie Hunger gelitten, denn Mütterchen, hören Sie, sie kann ja auch aus nichts etwas machen und immer fand sie etwas. Ich war nie ungeduldig. Ich wartete und dachte, man müsse etwas Geduld haben. Es konnte nicht so bald kommen, wiederum aber konnte es doch schon morgen oder übermorgen da sein. Und ich sehnte mich und wartete. Und endlich, endlich, da wußte ich, worauf ich wartete. Ich wartete auf etwas Seltenes!«
Susanna hielt inne und sah Grau an. Ihre Augen waren groß und glühend. »Seltenes!« wiederholte sie und sie sprach das Wort aus wie ein unheimliches fremdes tiefes Wort. Dann lächelte sie schmerzlich und indem sie ins Feuer starrte fuhr sie fort: »Auf etwas Seltenes und Großes! Nicht auf etwas Alltägliches, nein, auf etwas, das nicht jeden Tag zu den Menschen kommt, auf etwas Seltenes und Großes. Vielleicht so groß und selten, daß mein Herz es nicht ertrüge. Aber was würde wohl größer, süßer und seltener sein, als eben etwas, das unser Herz nicht ertrüge? Oh, so unfaßbar sollte es sein. Ich stellte mir das Unfaßbare, dieses Seltene vor. Es erfüllte mich, es blendete mich und oft schlug ich die Hände vors Gesicht und lachte und weinte: Weil es so groß, so herrlich, so blendend und so selten war. Aber ich wußte ja nichts davon?«
Susannas Stimme sank zu einem Flüstern herab, das Lächeln irrte hin und her auf ihren Lippen, sie senkte den Kopf. Sie fügte leise und singend hinzu: »Und ich träumte davon – wie es wohl sein würde – wenn das Seltene mich verklärte – wenn es mich niederbeugen würde mit seiner süßen Schwere – niederbeugen – wie der Tau – der Tau die kleine Glockenblume niederbeugt – wenn der große Tag erschien, da es kann –«
Susannas Stimme erstarb. Sie lächelte und blickte in das Feuer. Lange. Aber dann, mit einer plötzlichen, unerwarteten Bewegung schlug sie die Hände heftig vors Gesicht und krümmte sich zusammen. Sie krümmte sich wie unter einer Last, sie bog den Kopf und die Brust vor und ihre Stirne drückte sich auf die Knie. Ihre schmalen Schultern zuckten. Das geschah so schnell und mit solch schmerzlicher Leidenschaft, daß Grau erschrak und vom Stuhle auffuhr. Susanna krümmte sich tiefer und preßte die Stirn zwischen die Knie, ihre Schultern zuckten und sie begann am ganzen Körper zu beben. Plötzlich fing sie an zu husten. Sie hustete pfeifend und schrecklich, sie nahm eine Hand vom Gesicht und winkte Grau, hinauszugehen.
Grau verließ das Zimmer. Ihm schwindelte und sein Herz pochte laut in der Brust. Es war kalt hier außen, die Dämmerung war grau und des Winters trübes, vergrämtes Gesicht stand riesengroß über die Erde gebeugt.
Er ging wieder hinein. Susanna lächelte heiter. Sie war sehr bleich. Sie reichte ihm die Hand hin und sagte: »Vergessen Sie es. So töricht war es von mir. Wie konnte es doch so heftig über mich kommen! Es ist ja nicht so, schon lange ist es ja nicht mehr so.«
»Erzählen Sie weiter!« sagte Grau leise und blickte Susanna an.
Und Susanna fuhr fort: »Es verging ein Jahr und wieder ein Jahr, Jahr um Jahr verging. Nein, es kam nicht! Und so ist es: Zuerst, da hat die Frage gesungen in mir. Es klang: Wann kommt es? Und ich bebte vor Sehnsucht und Freude der Erwartung. Ich stand auf dabei und mußte einige Schritte gehen. Die Zeit verstrich und nie kam es. Nun sang die Frage nicht mehr in mir. Nun war es ganz leise und ohne Musik: Wann kommt es? Und ich bebte wohl noch ein bißchen, aber es war nicht das alte Beben, ich stand auch nicht mehr auf, nein, ich fühlte wie die Füße mir etwas schwer wurden. Und jetzt? Jetzt weiß ich, daß es ein Traum war, der Traum eines jungen Mädchens, wie jede ihn träumt. Ja, aber doch denke ich zuweilen noch – zuweilen klingt es noch in mir: Es kommt doch, es kommt doch!«
Sie lächelte und blickte Grau an.
Und Grau sagte leise: »Warum sollte es nicht mehr kommen?«
Susanna schüttelte langsam den Kopf. Sie antwortete nichts. Dann schüttelte sie wieder den Kopf und sie sagte heiter: »Nein, ich glaube es nicht mehr, das ist es. Früher hoffte ich und ich glaubte, daß es käme, jetzt hoffe ich zuweilen noch – ach, selbst wenn man verzweifelt, hofft man ja noch – aber ich glaube es nicht mehr. Ich bin nicht unglücklich. Das kommt vielleicht von der Krankheit, daß ich nichts mehr wünsche. Einen Wunsch habe ich noch, wissen Sie welchen?« Aber ehe Grau antworten konnte, fügte sie hinzu: »Ich möchte noch einmal die Blumen auf dem Felde sehen.«
Grau stand hastig auf und ging in der Stube umher. »Hören Sie, Fräulein Susanna,« sagte er und lachte halblaut, »hören Sie, Fräulein Susanna,« wiederholte er und lachte, »Sie sind bescheiden, das muß man sagen, zu bescheiden!«
Susanna betrachtete ihn erstaunt und folgte ihm mit den Blicken.
Grau ging an ihren Sessel heran und lächelte. »So übermäßig bescheiden brauchen Sie nun gerade nicht zu sein. Vielleicht werden Sie noch die Welt sehen, ja, wer kann es wissen, vielleicht werden Sie noch dieses Paris sehen, wo ein ewiges Feuerwerk knattert und die Statuen in den kühlen, grünen Grotten der Museen stehen und diese Sonne, die wie ein heißer Nebel ist, diese Muselmänner mit den Pfeifen. Sie und Mütterchen, wer kann es denn wissen? Und das, worauf Sie warten, das Seltene, ja, warum um alles in der Welt sollte es denn nicht mehr kommen? Nun sind Sie krank und müde, aber sobald es Frühling wird – meine Freundin, meine liebe Freundin?«
Susanna blickte ihn an und ihre Augen füllten sich langsam mit Traurigkeit. Sie schüttelte langsam den Kopf und lächelte mit den traurigen Augen. Sie sagte nichts.
»Sobald es Frühling wird,« wiederholte Grau, und seine Augen nahmen einen bannenden Ausdruck an, »da werden Sie ganz anders denken!« Er lächelte und begann im Zimmer umherzugehen. Sie sprachen nichts mehr. Die Uhr tickte und schnarchte und in der Küche draußen gackerten die Hennen, die gefüttert wurden. Grau stand am Fenster und blickte hinaus, der Schnee leuchtete in tiefem Violett. Er ging an den Glasschrank und blickte hinein, er betrachtete eine Photographie an der Wand. Von Zeit zu Zeit richtete er den Blick auf Susanna. Es wurde ganz dunkel im Zimmer. Plötzlich ging Grau auf Susannas Sessel zu. Es war so dunkel, daß er nur ihre Hände, ihr Gesicht und den Glanz der Augen sah. Er legte eine Hand auf die Lehne des Stuhls und blickte Susanna lange an.
»Haben Sie da droben auf der Bank nicht auch von Liebe geträumt?« fragte er flüsternd.
Susannas Blick wurde starr. Ihr Gesicht sah plötzlich viel dunkler aus, sie errötete. Sie regte sich nicht, sie sah ihn an.
Grau ging langsam weg; er trat ans Fenster. Hier stand er lange, dann verabschiedete er sich hastig. »Grüßen Sie Mütterchen, Susanna,« sagte er. »Auf Wiedersehen.« Er ging.
Als er das Gärtchen durchschritten hatte, blieb er am Türchen stehen und zögerte es ins Schloß zu werfen. Er blickte auf das Fenster und wartete. Da erschien ein kleines, fahles Gesicht an der dunkeln Scheibe, er warf das Türchen ins Schloß und ging rasch weg.