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Tabor war gefallen, aber es verschwand nicht spurlos. Dieser kommunistische Kriegerstaat hatte zu glänzend gewirkt und sein Wirken hatte zu tiefe Wurzeln in den sozialen Verhältnissen seiner Zeit gehabt, Verhältnissen, die nach seinem Sturze nicht nur nicht aufhörten, sondern vielmehr noch schärfer zutage traten, als daß die Ideen, auf denen es aufgebaut war, nicht hätten fortleben müssen, wenn auch in anderer, der veränderten Lage angepaßter Form.
Zwei Sekten Tabors haben über dessen Sturz hinaus ihre Fortsetzung gefunden in Organisationen, die, derselben Wurzel entstammend und sogar den gleichen Namen führend – beide hießen sie Böhmische Brüder –, doch den schärfsten Gegensatz aufweisen, der möglich ist. Die eine dieser Sekten führte seine kriegerische, die andere seine kommunistische Seite weiter fort.
Wir haben gesehen, wie fremdes Kriegsvolk den Taboriten zuzog, nur um an ihrem Kriegsglück und ihrer Beute Anteil zu bekommen. Auf der anderen Seite verwilderten in dem ständigen Kriege die Taboriten selbst, und vielen von ihnen wurde schließlich Kriegführung um Beute oder Sold Selbstzweck.
Nach der Niederschlagung Tabors fanden diese Elemente in Böhmen kein Feld für ihre Betätigung mehr vor, sie zogen ins Ausland, um sich zu verdingen, zum Teil als einzelne Söldner, zum Teil aber als fest organisierte Kriegsbanden, die sich bald dem, bald jenem vermieteten. Derartige Banden waren damals nichts Ungewöhnliches, aber in der Regel war es ein bekannter General, der die Söldner um sich scharte und von vornherein ihr Haupt bildete. Im Gegensatz zu diesen despotisch organisierten Kompanien waren die böhmischen Brüderrotten nach taboritischem Muster demokratisch organisiert.
Namentlich in Ungarn, aber auch in Polen haben diese Banden eine Zeitlang eine große Rolle gespielt. Die Kosaken, die zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in der Ukraine auftauchten, sollen sich nach ihrem Vorbild organisiert haben.
Viel wichtiger ist jedoch die andere Art Böhmischer Brüder geworden, die in Böhmen selbst geblieben sind.
Wir haben schon bemerkt, daß die Kommunisten des Mittelalters im allgemeinen friedliebend waren (S. 191) und die Gewalt verabscheuten. Es entsprach dies ebenso der Ohnmacht der Besitzlosen jener Zeit wie der Überlieferung des Urchristentums. Als aber in Böhmen die Hussitische Revolution begann, die alten Autoritäten stürzten und die niederen Volksklassen sich in siegreichem Aufstand erhoben, da wurde die Masse der Kommunisten mit fortgerissen, und einmal in der gewaltsamen Revolution drinnen, trieb sie die Logik der Tatsachen naturnotwendig an die Spitze der demokratischen Erhebung, deren weitestgehendes Element sie bildeten.
Indes hörte die friedliebende Richtung, die den Krieg, jede Gewalt, jeden Zwang verurteilte, auch während der glänzendsten Triumphe des Taboritentums nicht völlig auf. Ihr vornehmster Vertreter war Peter von Chelèic, Peter Chelèicky. Ungefähr um das Jahr 1390 geboren, wahrscheinlich ein verarmter Ritter, lebte er still und zurückgezogen in dem Dorfe Chelèic bei Wodnian, einer der taboritischen Städte (S. 294), und verfaßte dort eine Reihe von Schriften, die allgemeine Aufmerksamkeit erregten. Schon 1420 hatte er behauptet, in religiösen Dingen dürfe man keine Gewalt anwenden; diese Überzeugung befestigte sich in ihm während der Revolutionskriege. Er brandmarkte den Krieg als das gräßlichste aller Übel; die Krieger seien um kein Haar besser als Totschläger und Mörder. »Was für Ritter meint ihr denn«, schreibt er einmal, »denen es zukomme, Krieg zu führen? Etwa jene Zierbengel in den Burgen und Festen, denen die Haare auf die Schultern herabhangen und die so kurze Röcke tragen, daß sie damit nicht einmal ihr Gesäß zu bedecken wissen? Haben die allein das Recht, Krieg zu führen, was machen dann in den Schlachten die Bürger und Bauern? ... Denn weder ein König, noch ein Fürst, noch ein Herr, noch der armseligste Edelmann führt den Krieg für sich allein, sondern sie alle treiben die Bauern mit Gewalt dazu und leiten so alles Volk zu Mord und Missetat an.« (Zitiert bei Palacky, a. a. O., IV, 1, S. 478, 479.)
Chelèicky ist Gleichheitskommunist – im urchristlichen Sinne. Aber nicht durch den Krieg, nicht durch staatlichen Zwang soll die allgemeine Gleichheit der Gesellschaft aufgezwungen, sondern sie soll hinter dem Rücken des Staates und der Gesellschaft verwirklicht werden. Der wahre Gläubige darf an dem Staate keinen Anteil haben, denn dieser ist sündhaft und heidnisch. Die sozialen Ungleichheiten, Vermögen, Stand und Rang werden durch den Staat geschaffen, können nur mit ihm verschwinden. Aber die einzige christliche Methode, den Staat abzuschaffen, besteht darin, daß man ihn ignoriert. Dem wahren Gläubigen ist es nicht nur verboten, ein Staatsamt anzunehmen, es ist ihm auch verboten, die Staatsgewalt anzurufen. Polizei und Gerichte existieren nicht für ihn. Der wahre Christ strebt von selbst nach dem Guten und darf andere zum Guten nicht zwingen, da Gott das Gute aus freien Stücken verlangt. Jeder Zwang ist vom Übel.
Im bestehenden Staate und in der bestehenden Gesellschaft gibt es für den wahren Christen keinen Platz, außer in den untersten Schichten, die nur gehorchen und dienen, nicht befehlen und herrschen. Jede Herrschaft, jede Klassenbildung verstößt gegen das Gebot der Brüderlichkeit und Gleichheit. Wie der Christ nicht herrschen darf, darf er auch nicht ausbeuten. Daher ist ihm jeder Handel verboten, denn dieser ist notwendig mit Betrug verbunden. Die Städte, die Sitze des Handels, sind von Übel. Kain hat sie erfunden; er hat die ursprüngliche Einfalt des Lebens in List verwandelt, indem er Maß und Gewicht erfand indes früher das Volk tauschte, ohne zu messen und zu wägen. Am verworfensten und fluchwürdigsten aber ist der Adel. Vergleiche darüber Jaroslav Goll, Quellen und Untersuchungen zur Geschichte der Böhmischen Brüder, II, Peter Chelèicky und seine Lehre. Prag 1882.
Dieser anarchistische, aber friedfertige Kommunismus fand um so mehr Anhang, je mehr die Kriegsmüdigkeit wuchs, je mehr in den unteren Klassen das taboritische Regiment an Sympathien verlor.
Von den kommunistischen Sekten, die nach dem Untergang Tabors in Böhmen erstanden, zum Teil von zerstreuten taboritischen Elementen gebildet, ist die der Anhänger Chelèickys, die Chelèicer Brüder, die bedeutendste geworden.
Unter Peters Jüngern ragte besonders hervor Bruder Gregor, ein Edelmann, aber so verarmt, daß er sich vom Schneiderhandwerk nähren mußte. Als ehemalige Taboriten eine Kolonie in dem Dorfe Kunwald bei Senftenberg gründeten, einer Gegend, in der sich taboritische Gesinnungen erhalten hatten, wählten sie Gregor zu ihrem Haupte und Organisator, 1457. Ihm ist es wohl hauptsächlich zuzuschreiben, daß die Kolonisten, die »Brüder«, Chelèickys Lehre annehmen und ihr in jeder Weise nachlebten.
Die ursprüngliche Organisation der Böhmischen Brüder ist keineswegs völlig klar, denn die späteren Brüder schämten sich ihres kommunistischen Ursprungs und suchten ihn möglichst zu verdunkeln. Geht man jedoch von der späteren Organisation der Böhmischen Brüder aus, zu deren Erhellung man noch die wohlbekannte Organisation der Herrnhuter, ihrer Nachfolger, heranziehen kann, und zieht man die inneren Kämpfe in Betracht, aus denen sie hervorgegangen ist, dann ergibt sich uns folgendes Bild. Die spätere Organisation der Böhmischen Brüder ersieht man sehr gut aus des schon oben erwähnten J. A. Comenius Kirchengeschichte der Böhmischen Brüder, ihrer Kirchenordnung von 1609 und dem Glaubensbekenntnis, das sie dem König Ferdinand 1535 überreichten (alle drei enthalten in der deutschen Ausgabe der »Kurzgefaßten Kirchenhistorie der Böhmischen Brüder« des Comenius, Schwabach, verlegt bei »J. J. Enderes, hochfürstlich privilegiertem Buch- und Disputationshändler«, 1739). Die Kämpfe, die zu dieser Organisation führten, sind eingehend geschildert in A. Gindelys Geschichte der Böhmischen Brüder, Prag 1857, 2 Bände.
Selbstverständlich war jedem Mitglied der Brudergemeinschaft der Kriegsdienst, jede Beteiligung an der Staatsverwaltung durch Übernahme eines Staats- oder Gemeindeamtes strengstens verboten, ebenso jede Anrufung des Staates, jedes Erheben einer Anklage. Vollständige Gleichheit sollte in der Gemeinschaft herrschen, es sollte keine Armen und keine Reichen geben; das Betreiben jeder Art von Ausbeutung war untersagt. Jeder Reiche oder einem privilegierten Stande Angehörige mußte, ehe er zugelassen wurde, seinem Vermögen und seinen Privilegien entsagen. Handel, Verleihen von Kapitalien auf Zinsen und Gastwirtschaft durfte ein »Bruder« nicht betreiben. Andererseits war jeder einzelne sowie die Gemeinschaft verpflichtet, jedem Bruder, der in Not geraten war, zu helfen.
Das Privateigentum und die Einzelfamilie waren nicht verpönt, der Kommunismus äußerte sich den Familien gegenüber vornehmlich in der Betonung der Brüderlichkeit, des freudigen Teilens mit dem Genossen und in dem Bestreben nach Erhaltung der Gleichheit, daß keiner sich über die anderen erhebe, keiner unter sie sinke. Das war aber unter Beibehaltung des Privateigentums nur möglich, wenn die strengste Disziplin herrschte und wenn diese sich auf das gesamte gesellschaftliche Leben erstreckte. Selbst die intimsten Verhältnisse des Familienlebens blieben davon nicht verschont.
Die Priester und die Ältesten, beide von den Gemeinden gewählt, übten, im sonderbaren Gegensatz zu der anarchistischen Theorie Peters, die jeden Zwang als unchristlich und heidnisch verwarf, eine Disziplinargewalt aus, die einem modernen Menschen unerträglich erscheinen würde, um so unerträglicher, als bei den Böhmischen Brüdern jener finstere, muckerische Geist, den wir bereits als die Eigentümlichkeit des mittelalterlichen Kommunismus überhaupt bezeichnet haben, besonders scharf zutage trat, wohl eine Folge des Jammers und des unsäglichen Elends, welche die Hussitenkriege im Gefolge hatten.
Jedes Spiel, jeder Tanz war verpönt, als eine Falle, die der Teufel den Gläubigen stellt. Leben, arbeiten und still dulden war das einzige, was einem frommen Christen hienieden oblag. Den Sonntag feierten sie schon ganz puritanisch.
Waren auch Privateigentum und Einzelfamilie nicht verpönt, so galt doch der ehelose Stand als ein höherer, heiligerer. Dem Klerus waren Besitzlosigkeit und Zölibat vorgeschrieben. Die ehelosen Leute wohnten, nach den Geschlechtern getrennt, in Brüder- und Schwesterhäusern, wo sie gemeinsam arbeiteten und lebten. Wir dürfen uns diese wohl nach dem Beispiel der Beghardenhäuser vorstellen.
Gleich den Taboriten wollten auch die Böhmischen Brüder von den Gelehrten nichts wissen. Sie galten ihnen als einer der privilegierten Stände. Bis zu seinem Tode (1473) warnte der Bruder Gregor die Gemeinde vor den Gelehrten. Dagegen hielt sie ebenso wie die Taboriten viel auf eine gediegene Volksschule. Der demokratischen Kunst des Buchdrucks bemächtigten sie sieh sofort nach deren Aufkommen mit großem Eifer. »Wohl selten«, sagt Gindely, a. a. O., I, S. 39, »hat eine christliche Sekte so viele Schriften zu ihrer Verteidigung in die Welt gesandt, wie die Brüder.« Die Zahl ihrer Schriften, von ihrem Beginn bis zu ihrem fast völligen Untergang nach dem Tode des Comenius (1670), ist viel größer als die der Produkte der gesamten anderen böhmischen Literatur der gleichen Zeit. Sie rühmten sich auch, die ersten zu sein, welche die Bibel in der Muttersprache drucken ließen (in Venedig), so daß die Böhmen darin den anderen Nationen vorausgingen. Comenius, a. a. O., S. 57. Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts gab es fünf Buchdruckereien in Böhmen: eine katholische in Pilsen, eine utraquistische in Prag, und drei, die den Böhmischen Brüdern gehörten, in Jungbunzlau, Leitomischl und Weißwasser. Selbst diese drei genügten ihnen nicht immer, und sie ließen zeitweise noch in Nürnberg drucken.
Eigentümlich, aber ihrer strengen Disziplin völlig entsprechend war die Bestimmung, daß kein Mitglied der Gemeinschaft ein Buch ohne deren Zustimmung schreiben und herausgeben durfte. »Niemand«, heißt es in ihrer Kirchenordnung, »hat bei uns Erlaubnis, Bücher herauszugeben, sie seien denn von den anderen untersucht und durch den allgemeinen Beifall bestätigt.« Ebenda, S. 296.
Der Pole Johannes Lasitski, der die Böhmischen Brüder 1571 besuchte, schreibt in seinem Werke: »De origine et rebus gestis fratrum Bohemorum« über ihre Bücherproduktion: »Es erschien nichts, das nicht vorher von mehreren Ältesten und Kirchendienern, die dazu erwählt und bestellt waren, untersucht worden ... Es pflegte auch nichts von einem allein zu erscheinen (es geschähe denn aus besonderen Ursachen), sondern jegliches erschien im Namen der ganzen Brüderschaft, damit ein Glied an dem geistlichen Leibe ebensoviel Ehre davon hätte als das andere, und dadurch der eitlen Ehrsucht, welche die Gemüter der Bücherschreiber in der Regel kitzelt, alle Gelegenheit abgeschnitten würde, die Schriften selbst aber ein desto größeres Gewicht und Ansehen hätten.« Zitiert bei Comenius, a. a. O., S. 328, Note.
Und trotzdem die kolossale literarische Produktivität!
Daß die neue Gemeinschaft, die so viel Taboritisches an sich hatte und ehemalige taboritische Elemente in sich schloß, trotz ihres friedfertigen, unterwürfigen Charakters den Machthabern vielfach verdächtig und gefährlich erschien, wird nicht wundernehmen. Schon 1461 brach eine heftige Verfolgung über sie herein, unter Georg von Podiebrad, den wir bereits als den Vernichter der Selbständigkeit Tabors kennen. 1452 noch Landesverweser, war er 1458, nach des Königs Ladislav Tode, zum König von Böhmen gewählt worden. Eine seiner ersten Regierungshandlungen war die Verfolgung der Böhmischen Brüder, deren Führer, so Bruder Gregor und andere, eingekerkert wurden. Die Gemeinde in Kunwald wurde zersprengt, ihre Mitglieder vertrieben, jede Versammlung ihnen untersagt.
»Durch diese heftige Inquisition nun«, schreibt Comenius, »die allenthalben wider die Brüder angeordnet wurde, ist es geschehen, daß die meisten von ihnen, insonderheit die Ersten unter ihnen, durch Berge und Wälder zerstreut wurden und sich in Höhlen aufhielten; wiewohl sie auch da nicht einmal sicher waren. Sie durften das Feuer, um dabei das Nötigste zu kochen, zu keiner anderen Zeit als bei Nacht ungefährdet anzünden, damit sie durch den aufsteigenden Rauch nicht verraten würden, und da saßen sie in der großen Kälte um das Feuer herum und brachten ihre Zeit mit dem Lesen der Heiligen Schrift und gottseligen Gesprächen zu. Wenn sie dann bei tiefem Schnee, um sich mit Lebensmitteln zu versehen, hervorgehen mußten, so traten sie alle in die von einem gemachten Fußtapfen, und der letzte schleifte einen Tannenast hinter sich nach, der diese Fußtapfen wieder mit Schnee zufüllte, daß sie daran nicht erkannt wurden, und es aussah wie die Fußtritte eines Bäuerleins, das ein Bündel Holz nachgeschleift. Nach diesem Wohnen in Höhlen wurden sie von ihren Feinden zum Spott Jamnici, Höhlenbewohner, genannt.« Comenius, a. a. O., S. 45, 46.
Sollte die Bezeichnung der »Jamnici« erst aus der Zeit dieser Verfolgung stammen? Im westlichen Deutschland führten bereits im vierzehnten Jahrhundert die beghardischen Sektierer wegen der Heimlichkeit ihrer Zusammenkünfte den Spottnamen » Winkler«, im östlichen Deutschland den Namen » Grubenheimer«; das Wort »Jamnici« (vom tschechischen Jama, die Grube, Höhle) ist eine Übersetzung desselben und deutet vielleicht darauf hin, daß die beghardische Überlieferung unter den Böhmischen Brüdern wirksam war. Das Volk nannte sie nicht bloß Jamnici, sondern auch »Pikarden«.
Die erste Verfolgung nahm erst mit Podiebrads Tod, 1471, ein Ende.
Auch später hatten die Brüder noch zeitweilige Verfolgungen zu leiden, aber im allgemeinen schädigten sie diese nur mehr wenig. Die Staatsgewalt war damals in Böhmen noch schwach, in einzelnen Herren und Städten fanden aber die Brüder kraftvolle Schützer; denn intelligente Leute erkannten früh, wie harmlos die Staatsfeindlichkeit und die Gleichheitsbestrebungen dieser Sekte seien, welch vortreffliches Ausbeutungsmaterial sie aber durch ihre Predigt des Fleißes, der Entsagung, des Duldens lieferten.
Nicht zum wenigsten diesem Schutze hatte die Gemeinschaft es zu danken, daß sie selbst während der ersten schweren Verfolgung rasch anwuchs. Die Gewinnung von Proselyten wurde aber auch dadurch erleichtert, daß sie, ganz im Sinne der Taboriten, jedoch im Widerspruch zum Geiste der übrigen kirchlichen Organisationen ihrer Zeit, die größte Toleranz in Glaubenssachen verkündeten. Die Brüdergemeinschaft konnte das tun, denn sie war nicht wie die anderen kirchlichen Organisationen eine Herrschaftsorganisation. Bereits der erste Brüderkongreß, der 1464 in den Bergen von Reichenau stattfand und den Delegierte nicht bloß aus Böhmen, sondern auch schon aus Mähren besuchten, erklärte, die Fragen der sozialen Organisation seien die Hauptsache, die Fragen des Glaubens ständen in zweiter Linie. Und diesen Grundsatz haben sie stets festgehalten. Sie standen darin in schärfstem Gegensatz zur späteren lutherischen Lehre, daß der Glaube selig mache, nicht die Werke.
Dank dieser Toleranz gelang es ihnen, zahlreiche verwandte Genossenschaften und Gemeinden an sich zu ziehen. Um so strenger Waren sie dort, wo praktische Unterschiede bestanden. Auf dem zweiten Kongreß, zu Lhota 1467, der der Gemeinschaft eine endgültige Organisation gab, nachdem der von Reichenau ihr Programm festgestellt – um modern zu reden –, trafen auch Abgeordnete der Reste der Adamiten ein, um Vereinigungsvorschläge zu machen. Aber sie wurden abgewiesen. Der adamitische Kommunismus war den Brüdern zu weitgehend. Nur vereinzelt, nach Abschwörung ihrer »Irrtümer«, wurden die Adamiten zugelassen.
Andererseits zerschlugen sich auch die Vereinigungsverhandlungen mit den Waldensern, die bereits zu opportunistisch, zu bürgerlich geworden waren. »Wir sprachen viel mit den Priestern der Waldenser«, berichtet Bruder Gregor in seinem Traktat (»Wie sich die Menschen gegen die römische Kirche verhalten sollen«), »besonders mit dem Priester Stephan, der sich niemals dazu hergab, die gottesdienstlichen Handlungen nach römischer Weise zu verrichten (wie es waldensische Priester pflegten, um sich vor Verfolgungen zu schützen. K. K.). Er fungierte bei den Waldensern geheim unter den Deutschen, und deshalb wurde er später verbrannt. Er bot sich uns an, alles zu verbessern, was an ihnen als dem Glauben Christi und einem christlichen Leben zuwiderlaufend erkannt werden würde, und es der apostolischen Schrift gemäß so einzurichten, wie es einst in der ersten Kirche war. Wir waren bereit und wollten es in der Tat durchführen, allein da sie mit den Priestern römischer Weihe befreundet waren, vertrauten sie sich ihnen und diese verhinderten es.« So kam es zu keiner Vereinigung. »Einige Waldenser«, erzählt Gregor weiter, »gaben zu, daß sie sich von dem Wege ihrer ersten Vorfahren entfernt hatten; auch fand man bei ihnen dies Schädliche, daß sie von den Leuten Geld nehmen, Reichtümer sammeln und sich um die Armen nicht kümmern, da es doch dem christlichen Glauben zuwider ist, daß ein Priester Schätze anhäufe, indem er weltliche Güter und selbst das eigene, von den Eltern ererbte Vermögen auf Almosen verwenden und die Armen in ihrer Not nicht verlassen soll« usw. Ein Auszug aus dem tschechischen Original mit deutscher Übersetzung findet sich bei Goll, Quellen und Untersuchungen usw., 1, Der Verkehr der Brüder mir den Waldensern, Prag 1878, S. 98 ff.
Aber das Schicksal der Waldenser sollte bald auch das der Böhmischen Brüder werden.
Der Puritanismus, durch den diese gegen die bestehende Gesellschaft protestierten und durch den sie sich von ihr absonderten, war gerade ein treffliches Mittel, in der Gesellschaft der Warenproduktion vorwärtszukommen. Wir haben bereits darauf hingewiesen (S. 184), wie sehr dieser Puritanismus sich trotz mancher äußerlicher Ähnlichkeiten von der Askese des Urchristentums unterschied. Predigten beide die Eitelkeit, ja Verwerflichkeit der Lebensfreude und jeglichen Genusses, so war doch die urchristliche Askese mit stumpfsinniger Trägheit, der Puritanismus der Reformationszeiten dagegen mit unermüdlicher und umsichtiger Arbeitsamkeit seiner Bekenner verbunden. Dieser arbeitsame Puritanismus, das Evangelium der »Spar-Agnes«, vermöchte es heute, im Zeitalter des hochentwickelten großindustriellen Kapitalismus, freilich nicht, Lohnarbeiter, Bauern und Kleinbürger in Masse in eine sie befriedigende Lage zu erheben. Damals, im Beginn der Umwandlung der Naturalwirtschaft mit eingesprengter einfacher Warenproduktion in allgemeine, zum Teil schon kapitalistische Warenproduktion war er jedoch ein höchst wirksames Mittel, Kleinbürger in Kapitalisten zu verwandeln, um so wirksamer, je mehr noch die Masse der Bevölkerung jener naiven Lebensfreudigkeit huldigte, die im allgemeinen mit der Naturalwirtschaft verknüpft ist, in der nicht für den Verkauf, sondern für den Selbstgebrauch, nicht für das Ansammeln, sondern für das Genießen produziert wird. Neben dem Puritanismus muß die gute allgemeine Schulbildung der Brüder sie geschäftlich sehr gefördert haben.
Hatte unter den Taboriten die Kriegsbeute eine Wohlhabenheit erzeugt, die ihrem Kommunismus ein Ende machte, so stellte sich unter den Böhmischen Brüdern bald Wohlhabenheit ein infolge ihres Fleißes, ihrer Genügsamkeit und Sparsamkeit und ihrer Intelligenz.
Ihre Wohlhabenheit warb ihnen aus den verschiedensten Kreisen zahlreiche neue Anhänger, die aus sehr weltlichen Gründen zu ihnen kamen. Mit dem Steigen der Wohlhabenheit empfanden aber auch viele der älteren Mitglieder die strenge Disziplin immer mehr als eine Fessel. Diese Disziplin gestattete im Interesse der Gleichheit nicht, daß die einen reicher wurden als die anderen, sie verpönte auch jede Anlegung des gewonnenen Vermögens in gewinnbringender Weise – im Handel oder im Wucher. Mit dem Wohlstand erwuchsen ferner Konflikte in Vermögenssachen, Prozesse wurden notwendig, man brauchte die Staatsgewalt zum Schutze des Erworbenen.
So bildete sich nach und nach eine mildere Richtung unter den Brüdern aus, die noch nicht wagte, die ursprünglichen Vorschriften zu leugnen, die aber dahin strebte, daß sie nur als Ideale einer höheren, ausnahmsweisen Heiligkeit, nicht als allgemein verbindliche rechtliche Satzungen aufgefaßt werden sollten.
Der Zwiespalt zwischen beiden Richtungen trat zuerst zutage (Ende der siebziger Jahre), als zwei Herren und mehrere Ritter sich zur Aufnahme in die Brüderschaft meldeten. Die strengere Richtung wollte sie nur aufnehmen, wenn sie ihrem Vermögen und ihrem Stande entsagten. Die mildere Richtung wünschte ihnen das zu erlassen. Aber noch siegte die erstere, und nur jene unter den Bewerbern wurden zugelassen, die sich den Anforderungen der Gemeinschaft in allem fügten.
Aber 1840 finden wir bereits einen Erfolg der gemäßigten Richtung: ein Gelehrter, Lukas, wurde aufgenommen, andere folgten. War deren Eintritt ein Erfolg der Gemäßigten, so trugen die gelehrten Elemente wieder dazu bei, diese zu stärken. Umsonst kämpften die Strengen in Wort und Schrift, an ihrer Spitze der Weber Gregor aus Wotic, gegen, die überhandnehmende Lauheit. Auf dem Kongreß, der Synode, zu Brandeis an der Adler (1491) siegte die gemäßigte Richtung. Es wurde beschlossen, daß Reiche und Hochgestellte fortan ohne Verzicht auf Vermögen und Rang aufgenommen werden dürften. Man sollte sie nur darauf aufmerksam machen, wie leicht sie ohne diesen Verzicht ihr Seelenheil verlieren könnten. Die Forderung der Gleichheit war damit, wenn nicht völlig beseitigt, so doch in das Gebiet der frommen Wünsche verwiesen.
In ähnlicher Weise wußten sich die frommen Brüder den Weg zur Teilnahme an der Staatsgewalt zu eröffnen. Sie erklärten auf demselben Kongreß: »Wenn durch die weltliche Gewalt einem Bruder der Befehl zukäme, Richter, Geschworener oder Zunftmeister zu sein oder in den Krieg zu gehen, oder wenn er im Verein mit anderen seine Zustimmung zur Folterung oder Hinrichtung eines Verbrechers zu geben hätte: so erklären wir, daß dies Dinge sind, zu denen sich ein reuiger Mensch nicht aus gutem und freiem Willen drängen, sondern die er lieber fliehen und meiden soll. Kann er sich ihnen aber weder durch inständige Bitten noch auf andere Weise entziehen, so soll er der Macht nachgeben.« Aber es wurde den Brüdern nicht nur erlaubt, an der staatlichen Zwangsgewalt teilzunehmen, ein Amt zu akzeptieren oder in den Krieg zu ziehen, wenn sie dazu gezwungen würden, nein, sie durften fortan auch selbst diese Zwangsgewalt, den Richter, anrufen, ja sie durften auch Ausbeutung, Gastgewerbe und Handel treiben – natürlich nur im Notfall.
Die strengere Richtung war wütend über diese Beschlüsse, welche die bisherige Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit völlig über den Haufen warfen. In energischer Gegenagitation gewannen sie ihren Bischof, Matthias von Kunwald, für sich, schüchterten die Unschlüssigen ein oder rissen sie mit sich fort; Matthias berief auf ihr Drängen eine neue Synode ein, welche die Brandeiser Beschlüsse umstieß und die unbedingte Rückkehr zu den alten Grundsätzen verkündete.
Aber die Freude war kurz. Nicht innere Kraft, sondern Überrumpelung hatte den Strengen zum Siege verholfen. 1494, auf der Synode zu Reichenau, waren sie wieder in der Minorität, und wie sie jetzt erkannten, hatten sie jede Aussicht verloren, in der Gemeinschaft noch einmal ihre Grundsätze zur Geltung zu bringen. So kam es zur Spaltung. Ein Einigungsversuch, der 1496 gemacht wurde, führte bloß zu gegenseitigen Vorwürfen und zur Verschärfung des Gegensatzes.
Die strengere Richtung hieß die kleinere Partei. Sie war geringer an Zahl, nur ungebildete Leute, Bauern und Handwerker, gehörten ihr an, und sie stand im Widerspruch zu den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung. So siechte sie dahin. Als 1527 mehrere Mitglieder der Sekte in Prag verbrannt wurden, verschwand sie aus der Öffentlichkeit.
Die gemäßigte Richtung dagegen, verstärkt durch reiche und mächtige Leute, mit der Freiheit, einzugreifen in die Staatsverwaltung und diese zu ihren Zwecken auszunutzen, mit einer Organisation, die den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Entwicklung entsprach, gedieh rasch; 1500 besaß sie schon 200 Kirchen; während des sechzehnten Jahrhunderts wurde sie ein wichtiger politischer und ökonomischer Faktor in Böhmen. Wie stark der Adel in ihr vertreten war, ersieht man unter anderem aus einer Bittschrift, die von adligen Mitgliedern der Brüdergemeinschaft 1575 an den Kaiser abgesandt wurde; sie ist von 17 Baronen und 141 Rittern unterzeichnet.
Jede Einrichtung schwand, die an den kommunistischen Ursprung erinnern konnte, auch in ihrer Literatur wurden, wie schon bemerkt, die kommunistischen Überlieferungen sorgfältig ausgemerzt. Hatten sie den Reichen den Zutritt gestattet, so kam es andererseits auch so weit, daß sich Bettler unter den Brüdern fanden. » Soweit als möglich«, sagt ihre Kirchenordnung von 1609, »bewahren wir unsere Leute vor dem Betteln.« Eine unbedingte Verpflichtung, dem Bruder zu helfen, bestand nicht mehr.
»Aus den böhmischen Puritanern«, sagt Gindely (a. a. O., II, S. 312), »ja aus den böhmischen Fanatikern, die zu Peter von Chelèic mehr wie zu Hus hielten, die nach Paulinischer Lehre die Ehelosigkeit vorzogen, keinen Eid schworen, kein Amt verwalteten, keinen Luxus sich gestatteten, keinen Reichtum duldeten, nicht auf Zinsen liehen, den Krieg verabscheuten, waren ganz wohlhabende Kapitalisten geworden, ganz ehrbare Ehemänner, ganz geschickte Gewerbsmänner, ganz anständige Bürgermeister und Geschworene, ganz tüchtige Generäle und Staatsmänner.«
Bis zum Dreißigjährigen Krieg, zur Schlacht am Weißen Berge, 1620, währte ihr Gedeihen. Diese Schlacht brachte die letzte Entscheidung in dem langen Kampfe zwischen dem böhmischen Adel und dem Absolutismus der Habsburger, die den böhmischen Thron seit 1526 einnahmen, sie führte zur völligen Ausrottung des ersteren, zur Konfiskation seiner Güter und deren Verteilung an die Jesuiten und höfische Kreaturen, sie brachte auch den Böhmischen Brüdern den Untergang. Nur mühsam erhielten sich fortan hier und da noch spärliche Überreste, die schließlich durch den pietistischen Grafen Zinzendorf auf seinen sächsischen Besitzungen in Herrnhut ein Asyl erhielten, 1722.
Aber in den Herrnhutern lebte weder der kommunistische Enthusiasmus der strengeren, noch die Weltklugheit der gemäßigten Richtung fort. Arme, verkümmerte Bauern und Handwerker, die nur dadurch der Verfolgung entgangen waren, daß sie in den entlegensten, rückständigsten Winkeln gelebt, haben sie von dem Wesen der Brüdergemeinschaft wenig mehr zu bewahren gewußt.
Im sechzehnten Jahrhundert hörten die Böhmischen Brüder auf, eine Rolle in der Geschichte des Sozialismus zu spielen. Im siebzehnten Jahrhundert erlischt auch ihre Bedeutung für die allgemeine Geschichte.