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Vorwort zur zweiten Auflage

Die zweite Ausgabe dieses Buches erscheint in verändertem Gewande. Es bildet nicht mehr den ersten Teil eines Sammelwerkes, sondern eine selbständige Schrift. Das gab mir nicht Veranlassung, irgend etwas am Inhalt zu ändern, der im wesentlichen der gleiche geblieben ist. Nur den Titel gestaltete ich um. Statt » Die Vorläufer des neueren Sozialismus« heißt es nur noch »Vorläufer usw.«.

So geringfügig diese Änderung aussieht, sie erscheint mir angezeigt, da Titel und Inhalt sich in der ersten Auflage nicht völlig deckten. Dies wurde dadurch hervorgerufen, daß das Buch, als ich sein Thema ins Auge faßte und es ausarbeitete, keineswegs für den Platz bestimmt war, in dem es dann erschien, die Gesamtgeschichte des Sozialismus, deren Einleitung es bildete.

Lange, bevor der Plan zur Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen gefaßt worden war, hatte ich an dem vorliegenden Buche gearbeitet und seine Hauptpartien fertiggestellt. Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, daß ich mit den Studien zu dem Buche begann. Ich war damals dahin gelangt, die große Leistung des Marxismus für den Klassenkampf des Proletariats in der Vereinigung des utopischen Sozialismus mit der Arbeiterbewegung zu erkennen, die Engels schon 1845 in seiner »Lage der arbeitenden Klasse in England« gefordert hatte. Diesen Gedanken führte ich in meiner Artikelserie über »Das Elend der Philosophie und das Kapital« in der »Neuen Zeit« 1886 aus. Der Gegensatz des utopischen Sozialismus von Owen bis Weitling und der Arbeiterbewegung lag damals klar zutage. Es lockte mich, zu sehen, ob dieser Gegensatz sich nicht in frühere Jahrhunderte zurück verfolgen lasse und welche Formen er da angenommen habe. Namentlich das Zeitalter der Reformation schien mir dafür günstig, in dem schon viele Gegensätze in voller Naivität und Frische zur Geltung kamen, die der spätere Absolutismus niederdrückte und die in England erst wieder in der Mitte des siebzehnten, in Frankreich gar erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert, in großen politischen Kämpfen zutage traten. Thomas Münzer und Thomas More schienen mir in der Zeit der Reformation jenen Gegensatz in vollkommenster Weise zu repräsentieren.

Darin hatte ich mich auch nicht getäuscht, wohl aber irrte ich sehr, wenn ich erwartete, ich könne die Eigenart dieser beiden Männer und ihre Stellung in der Geschichte des Sozialismus in wenigen Bogen ausreichend zur Darstellung bringen. Die Arbeit wuchs mir rasch unter den Händen.

Am einfachsten gestaltete sich die Sache noch bei Thomas More, über den ich 1887 meine Monographie veröffentlichte. More war ein literarisch hochgebildeter Mann gewesen, der zahlreiche Schriften hinterlassen hatte, die sein Wesen vortrefflich kennzeichnen. Er genoß großes Ansehen unter den literarisch tätigen Männern seiner Zeit, die gern und oft über ihn und seine Arbeiten schrieben. Er wirkte als hervorragender Staatsmann und starb als Blutzeuge der katholischen Kirche. Dem dankt er es, daß auch seine politische Tätigkeit vielfach und mit Liebe dargestellt wurde. Endlich gehörten die literarischen Bestrebungen wie die politischen Aktionen, an denen er teilnahm, jenen erhöhten Regionen an, die von sich reden machen und über die wir wohl unterrichtet sind.

Auf weit größere Schwierigkeiten stieß ich, als ich Münzer behandeln wollte. Nicht humanistisch, sondern theologisch gebildet, hinterließ er nur ein paar Flugschriften, in denen der reale Kern nur schwer aus einer dicken Schale von Mystizismus herauszuschälen ist. Seine Anhänger und Freunde waren zumeist unwissende Proletarier; die Literaturkundigen seiner Zeit, die über ihn schrieben, standen ihm als seine erbittertsten Feinde gegenüber. Die Bewegung, mit der er fiel, war darauf angewiesen, sich verborgen zu halten. Dem ist es zuzuschreiben, daß die über sein Tun und Wollen überlieferten Nachrichten nicht nur gehässig, sondern oft auch sehr unbestimmt sind.

Um so wichtiger wurde es, sich nicht auf die Quellen allein zu verlassen, sondern daneben zur Aufhellung seiner Bestrebungen auch die Erkenntnis des Gesetzmäßigen in der Bewegung, in der er wirkte, noch mehr heranzuziehen, als es die materialistische Methode, der ich folge, von vornherein erheischt.

Da die Methode meiner historischen Arbeiten vielfach verkannt wird und meine Kritiker es lieben, mir historisches »Konstruieren« ins Blaue hinein vorzuwerfen, sei diese Methode kurz gekennzeichnet.

Der Ausgangspunkt der Geschichte ist stets die Geschichte menschlicher Individuen. Was wir Gesellschaft nennen, ist ja nur die Gesamtheit der Verhältnisse von menschlichen Individuen, deren Lebensbedingungen, ihr Zusammenwirken, Füreinanderwirken oder auch Gegeneinanderwirken erheischen. Die Geschichte hört dort auf, wo die Zeugnisse über das Wirken einzelner Persönlichkeiten aufhören. Die materialistische Geschichtsauffassung unterscheidet sich von den herkömmlichen Geschichtsauffassungen nicht dadurch, daß sie von der Persönlichkeit in der Geschichte absieht, sondern dadurch, daß sie nicht bei den einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten stehen bleibt, die in der geschichtlichen Überlieferung allein fortleben und als die einzigen Träger des geschichtlichen Prozesses erscheinen. Dieser ist uns vielmehr das Produkt aller an ihm beteiligten Persönlichkeiten, und selbst das machtvollste einzelne Individuum kann nicht so gewaltigen Einfluß üben wie die Gesamtheit der Masse. Was diese bewegt, müssen wir vor allem erkennen, wollen wir die geschichtliche Entwicklung begreifen.

Aber unsere Quellenschriftsteller, die uns das historische Material liefern, kümmern sich wenig um die Masse. Was sie hervorheben, sind einzelne Individuen, die besondere Wirkungen auf die Masse geübt haben. Auch wir materialistischen Historiker müssen daher bei Untersuchungen der Vergangenheit oft von hervorragenden Individuen ausgehen, mögen wir nun Lessing behandeln und Friedrich II., die Männer der großen Revolution oder die Sozialisten der Reformationszeit. Doch ist uns in solchen Fällen das einzelne Individuum nur der Ausgangspunkt der Untersuchung. Wir können nicht die Masse als eine Menge von Nullen betrachten, die erst durch eine Ziffer an ihrer Spitze eine Zahl wird, wir suchen das Wirken der Masse nicht aus dem sie führenden Individuum zu begreifen. Der Führer ist nur einer und nicht der bedeutendste der Faktoren, die die Masse in Bewegung setzen und ihre Wirksamkeit bestimmen, und der Führer selbst erhält Kraft und Ziel in hohem Grade von der Masse, ist ohne sie nicht zu begreifen.

Haben wir also eine historische Persönlichkeit vor uns, die es darzustellen und zu begreifen gilt, dann heißt es vor allem untersuchen, welche ihrer Züge sie mit gesellschaftlichen Erscheinungen ihrer Zeit und ihres Volkes gemeinsam hat, und welche ihre persönliche Eigenart bilden. Ist das festgestellt, dann hat man wieder nachzuforschen, inwieweit die persönliche Eigenart in Besonderheiten der Umgebung und der Lebensschicksale begründet ist, die auf das Individuum einwirken. Ist man darüber klar geworden, dann wird im Individuum noch ein Rest übrigbleiben, der nur durch seine persönliche, angeborene Begabung zu erklären ist. Hier muß der Historiker haltmachen. Für den Künstler und den Naturforscher mag gerade dieser Rest besonders anziehende Probleme enthalten, aber es sind Probleme, die für die Erkenntnis der Gesetzlichkeit der geschichtlichen Entwicklung belanglos sind.

Haben wir aber das alles erreicht, dann sind wir noch lange nicht mit unserer Aufgabe zu Ende. Ihr schwierigster Teil beginnt erst.

Nachdem wir in der betreffenden Persönlichkeit das Individuelle und das Gesellschaftliche geschieden, müssen wir nun trachten, über die letztere Seite zur Klarheit zu kommen. Wir müssen suchen, in der gesellschaftlichen Bewegung, als deren Vertreter und Vorkämpfer jene Persönlichkeit geschichtliche Bedeutung erlangte, ebenfalls das Besondere vom Allgemeinen zu trennen. Wir müssen also die fragliche Bewegung mit zahlreichen anderen verwandten Bewegungen in Vergleich setzen, um dadurch herauszufinden, was die erstere von den anderen unterscheidet und was sie alle miteinander gemein haben.

Und nachdem dies geschehen, bleibt uns noch das Größte und Schwerste zu tun übrig. Wir müssen jede einzelne dieser Bewegungen mit dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß ihrer Zeit und Nation in Verbindung bringen, der seinerseits wieder in letzter Linie durch den ökonomischen Prozeß bedingt wird. Wir müssen untersuchen, einerseits, inwieweit die historische Eigenart der einzelnen Bewegung erklärbar wird durch die Eigenart der Gesellschaft und der Ökonomie ihrer Zeit; andererseits, inwieweit das Gemeinsame der verschiedenen Bewegungen durch die Faktoren bedingt wird, welche die verschiedenen gesellschaftlichen Formen und die verschiedenen Produktionsweisen miteinander gemein haben.

Ist uns dies gelungen, dann können wir sagen, daß wir imstande waren, ausgehend von einer historischen Persönlichkeit, vorzudringen zur Aufhellung von Gesetzen der historischen Entwicklung. Im Besitz solcher Gesetze können wir dann aber wieder manches in der Geschichte der einzelnen Persönlichkeiten und Bewegungen aufhellen, das noch dunkel ist.

Unsere historischen Quellen reichen ja nicht aus, alle Vorkommnisse erkennen zu lassen, die für das Verständnis der Vergangenheit wichtig sind. Viele Zeugnisse sind verloren gegangen, andere berichten vom bloßen Hörensagen, irrtümlich oder doch unzureichend. Vieles teilen die Quellen nicht mit, weil sie es nicht beachten, da erst eine spätere Zeit erkennen ließ, wie das Unbedeutende der Keim zu Gewaltigem war. Anderes berichten sie nicht, weil es zu ihrer Zeit selbstverständlich erschien. Heute aber ist es uns fremd und unverständlich geworden.

Auch die sorgfältigste und scharfsinnigste Quellenkritik kann nur das klarstellen, was die Quellen ausreichend berichten; über die Lücken im Quellenmaterial vermag sie uns nicht das mindeste mitzuteilen. Solche Lücken findet jeder Historiker vor, er muß sie nach bestem Ermessen auszufüllen trachten. Einen soliden Boden wird er dabei aber nur dann unter den Füßen haben, wenn er ausgeht von der Erkenntnis historischer Gesetze. So wie die Paläontologie es vermag, aus einzelnen erhaltenen Knochen ganze Körper ausgestorbener Tiere zu rekonstruieren, so muß die Geschichte dahin gelangen, aus einzelnen Andeutungen ganze gesellschaftliche Einrichtungen zu rekonstruieren. Das sind freilich nur Konstruktionen, aber nicht Konstruktionen ins Blaue hinein. Sicher kann man dabei irren, doch ist es der einzige Weg, die Gesamtheit des historischen Prozesses wiederherzustellen, von dem uns die Quellen nur Bruchstücke erkennen lassen.

Und dabei liefert jene Methode Ergebnisse, die viel sicherer sind als die der herkömmlichen Geschichtschreibung. Auch diese muß rekonstruieren, aber nicht gesellschaftliche Einrichtungen sucht sie zu rekonstruieren, sondern das Seelenleben einzelner Personen – ein Beginnen, das unter keinen Umständen sichere Resultate ergeben kann. Nichts ist unsteter, flüchtiger, unfaßbarer, komplizierter, als das Seelenleben des Menschen. Kein Mensch kennt sich völlig selbst; noch weniger kennen ihn andere. Und nun will jemand das Seelenleben eines Individuums schildern, das er nie gekannt, das aus fernen Zeiten mit ganz anderem Seelenleben stammt, über das nur dürftige Aufzeichnungen existieren, von der Parteien Haß und Gunst verzerrt! Wenn man von phantastischen Konstruktionen sprechen kann, sind es derartige Schilderungen großer Männer. Wohl sind wir gezwungen, von hervorragenden Individuen bei der geschichtlichen Darstellung auszugehen. Aber eine Geschichtschreibung, die sich darauf beschränkt und nicht trachtet, die schwankenden Charakterbilder der Überlieferung auf den soliden Boden der gesellschaftlichen Grundlagen zu stellen, wird nicht nur nichts zur Aufhellung der historischen Gesetzlichkeit beitragen, sondern auch stets nur Produkte fragwürdiger Richtigkeit liefern.

Freilich gilt das alles nur für Historiker, die von der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Tuns ausgehen. Wer auf die Willensfreiheit schwört, der muß eine derartige Geschichtsmethode von vornherein ablehnen, der darf aber von einer Wissenschaft der Geschichte überhaupt nicht reden. Sie kann ihm nur eine mehr oder weniger erhebende Kunst sein, bei der es dann freilich auf die Richtigkeit weniger ankommt als auf die moralische Wirkung, die Erbauung.

Von der hier angedeuteten materialistischen Methode geleitet, kam ich bei der Untersuchung des Münzerschen Wirkens bald immer weiter; ich wurde getrieben, einerseits zu den Wiedertäufern voranzuschreiten, und andererseits zu den kommunistischen Sekten des Mittelalters, ja bis zum urchristlichen Kommunismus zurückzugehen, um Klarheit zu erhalten über das, was spezifisch Münzerisch war und was Münzer mit der ganzen kommunistischen Bewegung seiner Zeit gemein hatte, sowie über das, was deren Eigenart bildete und worin sie mit verwandten Bewegungen übereinstimmte; endlich Klarheit über die ökonomischen und politischen Situationen, in denen diese verschiedenen Bewegungen entstanden. Münzer blieb der Mittelpunkt der Arbeit, aber diese wuchs weit über ihn hinaus.

Ich war eben im Begriff, sie zu einem Abschluß zu bringen, als mein Verleger, Freund Dietz, den Plan einer Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen faßte und mir den Vorschlag machte, meine Arbeit als ersten Band des Sammelwerkes erscheinen zu lassen. Gern ging ich darauf ein, denn ich hielt es für notwendig, dies Unternehmen zu fördern, das einem dringenden Bedürfnis entsprechen wollte. Als Einleitung zu den folgenden Bänden, die den neueren Sozialismus behandeln sollten, betitelte ich den Band: »Die Vorläufer des neueren Sozialismus«.

Aber diesem Titel entsprach nicht ganz der Inhalt. Mit Recht hoben manche Kritiker hervor, daß mein Buch nicht alle Erscheinungen umfasse, die als Vorläufer des neueren Sozialismus in Betracht kämen, und daß es die in Betracht gezogenen Erscheinungen nicht alle gleichmäßig behandle; die Anfänge seien nur skizzenhaft entworfen, dagegen Münzer und die Wiedertäufer aufs ausführlichste dargestellt.

Leider ist es nicht gelungen, den Plan einer allumfassenden Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen zur völligen Durchführung zu bringen. Er mußte aufgegeben werden. Daher erscheint die zweite Auflage meines Buches als selbständige Arbeit, und dies benütze ich, den Titel in dem schon erwähnten Sinne zu ändern und damit mehr dem Inhalt anzupassen. Allzusehr wollte ich vom Titel der ersten Auflage nicht abweichen, sonst hätte ich das Buch genannt: »Die Kommunisten der deutschen Reformation und ihre Vorläufer«.

Dem Buch jenen Titel zu geben, den es ursprünglich tragen sollte: Thomas Münzer als Gegensatz zum Thomas More, das ging nicht mehr an, dazu ist Münzer im Fortgang meiner Untersuchungen zu sehr zurückgetreten und bloße Episode geworden. Aber auch von den anderen Teilerscheinungen tritt keine so sehr hervor, daß sie den Charakter des Buches bestimmte.

Wohl aber hat es einen Kulminationspunkt: den Kampf der Wiedertäufer in Münster. Hier gebe ich mehr als im übrigen. Abgesehen von der Rolle der Bergarbeiter im Bauernkrieg sind die Einzelheiten, die ich in den früheren Teilen des Buches vorbringe, fast alle anerkannt und meist auch weiter bekannt. Neu ist, daß sie nicht isoliert vorgebracht, sondern als Teile des Gesamtprozesses des proletarischen Aufstrebens betrachtet werden.

Den Kampf der Wiedertäufer in Münster mußte ich dagegen erst ganz neu aus den Quellen erforschen; die bisherigen Darstellungen dieses Kampfes sind entweder sinnlos oder direkt bösartige Fälschungen. Die friedlichen Wiedertäufer haben in der bürgerlichen Geschichtschreibung schon ihre Anwälte gefunden, nicht aber die kriegerischen, kämpfenden Wiedertäufer. Die bürgerliche Geschichtschreibung, der es so sehr am Herzen lag, einen Tiberius und eine Lucrezia Borgia reinzuwaschen, sie fährt fort, die albernsten Lügen über die Münsterschen Wiedertäufer nicht nur unbesehen hinzunehmen, sondern sie auch mit dem größten sittlichen Pathos immer wieder von neuem in die Welt zu schleudern. Ein Tun, das unbegreiflich bliebe, wenn man nicht annähme, daß die Herren wähnen, mit jedem Schlag, den sie den unverzagten Helden von 1534 und 1535 versetzen, auch die Vorkämpfer des proletarischen Klassenkampfes von heute zu treffen!

Auch ein Beitrag zur Redensart von der voraussetzungslosen Wissenschaft!

Eine Widerlegung meiner Ausführungen über die Wiedertäufer ist mir nicht zu Gesicht gekommen. Weder hier noch an früheren Stellen habe ich Veranlassung gehabt, etwas von Belang zu ändern.

Dagegen hätte ich allerdings sehr gewünscht, die Arbeit erweitern zu können. Dazu fehlte mir jedoch die Zeit, ich mußte mich mit der Erweiterung meiner einleitenden Bemerkungen über den urchristlichen Kommunismus zu einer eigenen Schrift über den Ursprung des Christentums begnügen. Diese liegt als selbständige Arbeit vor, steht jedoch in engstem Zusammenhang mit der vorliegenden; die gesetzmäßigen Zusammenhänge, die ich in dieser entdeckte, haben mir auch als Leitstern in jener gedient. Beide Arbeiten stützen einander. Wer die eine kritisieren will, muß auch die andere in Betracht ziehen.

Auf andere Erweiterungen der hier vorliegenden Gedankengänge mußte ich verzichten, Die neue Auflage wird schon lange gewünscht, und es hätte geheißen, sie ins Endlose hinausschieben, wollte ich warten, bis ich die Zeit fand, einzelne Partien ausführlicher zu behandeln und noch weiteres vergleichendes Material heranziehen zu können.

So nützlich, ja notwendig es ist, den Wurzeln des proletarischen Klassenkampfes in der Vergangenheit nachzuspüren, die Teilnahme am Klassenkampf der Gegenwart darf darunter nicht leiden. Die Theorie soll uns nicht totes Wissen bleiben, sondern unsere Praxis befruchten. Die Wissenschaft ist uns nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, allerdings nicht Mittel zu Zwecken der Partei, aber auch nicht der Nation, sondern Mittel zur Entwicklung der gesamten Menschheit. Diesem großen, praktischen Zweck hat alle Wissenschaft zu dienen. Sie hat, wie schon Marx sagt, die Welt nicht bloß »zu interpretieren, sondern auch zu verändern«, und zwar im Sinne »der neuen, menschlichen Gesellschaft oder vergesellschafteten Menschheit«. In diesem Sinne kann man die Marxisten auch Humanisten nennen.

Berlin, April 1909
Karl Kautsky


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