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Wir haben bereits im Anfang dieses Abschnittes darauf hingewiesen, daß das städtische Wesen des Mittelalters sich zuerst in Italien und Südfrankreich entwickelte, daß wir dort die ersten Regungen des mittelalterlichen Kommunismus finden. Aber auch die ersten Regungen der Ketzerei, die ersten reformatorischen Bewegungen treten dort auf.
Deutsche Gelehrte haben die abgeschmackte Behauptung aufgestellt, nur die germanischen Völker besäßen jene Innigkeit, jene wahre Religiosität, die notwendig gewesen sei, um den Drang nach einer Reformierung der Kirche zu erzeugen. Aber wir finden in Italien Reformationsbewegungen lange, ehe man in Deutschland daran dachte.
Zuerst machten sie sich geltend in Rom selbst, der Hauptstadt, der Christenheit. Rom war im Mittelalter das »Herz Europas«, ähnlich, aber in noch weit höherem Grade, als es Paris in der Zeit von der großen Revolution bis zum Krieg von 1870/71 gewesen ist. Nicht nur alle kirchlichen Angelegenheiten – und die erfüllten im Mittelalter das ganze Leben – . wurden von Rom aus geleitet und in letzter Instanz entschieden, Rom war auch ein Sitz der Künste und Wissenschaften, der oberste Richter in allen, auch weltlichen Streitigkeiten und – last but not least – der Sitz der raffiniertesten Lüste und Vergnügungen. Nach Rom pilgerte, wer sich bedrückt fühlte und sein Recht daheim nicht finden konnte; wer höherer Weisheit, feineren künstlerischen Empfindens teilhaftig werden wollte; wer sich daheim langweilte und überflüssiges Geld hatte. Sie alle fanden sich in Rom zusammen, und wie verschieden ihre Beweggründe sein mochten und wie verschieden die Resultate, die sie erreichten, in einem stimmten ihre Schicksale überein: sie wurden alle ihr Geld los – und oft auch das Geld anderer.
Wie heute, war Rom bereits im Mittelalter, und damals noch mehr als jetzt, eine Fremdenstadt, die von den Fremden lebte, durch sie groß wurde. Die Hebung des Fremdenverkehrs in Rom war eine der wichtigsten Aufgaben, die sich die Päpste stellten.
Die Weltausstellungen als ein Mittel, die Fremden anzuziehen, waren im Mittelalter noch nicht erfunden. Die Päpste erfanden ein anderes, nicht weniger wirksames Mittel: den Jubiläumsablaß oder das heilige Jahr. Wer in einem gewissen Jahr eine Wallfahrt nach Rom unternahm, wurde eines vollständigen Ablasses teilhaftig. Das wirkte. So wie die Leute 1889 und 1900 zu Tausenden nach Paris zogen, unter dem Vorwand, etwas lernen zu wollen, und tatsächlich, um sich zu amüsieren, so zogen sie in den heiligen Jahren nach Rom, wo sie alle damals bekannten Sünden und Laster auskosten und obendrein sündloser, als sie gekommen waren, nach Hause zurückkehren konnten. Der erste Jubiläumsablaß wurde vom Papst Bonifaz VIII. für das Jahr 1300 proklamiert. Die Berechnung der Zahl der Fremden, die damals nach Rom strömten, »konnte weder leicht noch genau sein und ist wahrscheinlich von der gewandten Geistlichkeit, welche die Ansteckung des Beispiels wohl kannte, übertrieben worden; indessen versichert ein einsichtsvoller Geschichtschreiber, welcher der Feier beiwohnte, daß Rom nie mit weniger als zweihunderttausend Fremden angefüllt gewesen sei, und ein anderer Zeuge hat die Gesamtzuströmung des Jahres auf zwei Millionen angeschlagen. Eine geringe Gabe von jedem einzelnen mußte einen königlichen Schatz aufhäufen, und zwei Priester standen Tag und Nacht mit Rechen in den Händen, um, ohne zu zählen, die Haufen Goldes und Silbers, die auf den Altar des heiligen Petrus geschüttet wurden, einzustreichen. Es war zum Glück eine Zeit des Friedens und Überflusses, und wenn es auch Mangel an Lebensmitteln gab, und die Herbergen und Wohnungen außerordentlich teuer waren, hatte doch die Politik des Bonifazius und die gewinnsüchtige Gastfreiheit der Römer für einen unerschöpflichen Vorrat an Brot und Wein, an Fleisch und Fischen gesorgt.« (Gibbon, Geschichte des Verfalles und Untergang des römischen Weltreiches, deutsch von Sporschil, Leipzig 1837, S. 2573.)
Ursprünglich hätte nur jedes hundertste Jahr ein »heiliges« sein sollen, aber das Geschäft ging zu famos, als daß nicht die Päpste und die Römer das Verlangen gehabt hätten, es öfters zu wiederholen. Der Zwischenraum von einem Jubiläumsablaß verkürzte sich immer mehr, auf 50, 33, endlich 25 Jahre.
Dies nur ein Beispiel der Mittel, durch die Fremde und deren Geld angelockt wurden. Aber schon lange vor der Erfindung des Jubiläumsablasses war die ewige Stadt im Mittelalter aus ihrer Erniedrigung wieder emporgestiegen, und früher als eine andere Stadt des Mittelalters gelangte sie zu Macht und Bedeutung. Was von den anderen Städten galt, galt aber auch für Rom: mit seinem Wohlstand und seiner Macht wuchs das Selbstbewußtsein und der Unabhängigkeitsgeist seiner Bewohner. Und gleich den anderen Städtern suchten die Römer sich freizumachen von ihren Herren, einmal vom Papst, einmal vom Kaiser, mitunter gleichzeitig von beiden. Nicht nur als Herz Europas glich das Rom des Mittelalters, dem Paris aus der Zeit von 1789 bis 1871, es war auch wie dieses die Hauptstadt der Revolutionen.
»Wer kennt nicht«, rief im zwölften Jahrhundert der heilige Bernhard von Clairvaux, dem vor dem rebellischen Volke schauderte, »die Frechheit und Unfügsamkeit der Römer, eines Volkes, das Ruhe nicht kennt, im Aufruhr aufgewachsen ist, das, wild und unbezähmbar, den Gehorsam verachtet, außer es ist zu schwach zum Widerstand? Wenn sie zu dienen versprechen, streben sie au herrschen; wenn sie Treue schwören, warten sie auf die Gelegenheit zur Empörung, und doch machen sie ihrem Mißvergnügen durch lautes Geschrei Luft, wenn man ihnen seine Türen und seinen Rat verschließt. Geschickt zu Unheil, haben sie nie die Kunst erlernt, Gutes zu wirken. Der Erde und dem Himmel verhaßt, ruchlos gegen Gott, aufrührerisch unter sich selbst, eifersüchtig gegen ihre Nachbarn, werden sie von niemandem geliebt, und während sie Furcht einzuflößen wünschen, leben sie in niedriger und immerwährender Bangigkeit. Sie wollen sich nicht unterwerfen und verstehen doch nicht zu herrschen, sind treulos gegen ihre Oberen, unverträglich unter ihresgleichen, undankbar gegen ihre Wohltäter und gleich unverschämt in ihren Forderungen wie in ihren Weigerungen.« Zitiert bei Gibbon, a. a. O., S. 2551. »Diese schwarze Schilderung ist sicher nicht mit dem Pinsel christlicher Liebe gefärbt«, meint Gibbon.
Man glaubt einen Bourgeois von 1871 über die Pariser schimpfen zu hören!
In derselben Zeit, in der die Macht der Päpste über die Christenheit auf ihrem Gipfel stand, wurden diese selbst machtlos in Rom. »Jene Päpste, welche mit ihren Anathemen die Fürsten und Völker schreckten, welche die Herrschaft über die abendländische Kirche im Vollgefühl einer schrankenlosen Gewalt übten, haben selten in Rom einen umfriedeten Sitz gehabt; nirgends hat ihre Macht weniger gegolten, als in ihrer eigenen Stadt und ihrem eigenen Sprengel. Wie Flüchtlinge sind sie meist in der Welt umhergezogen, von den Verwünschungen ihres Volkes verfolgt.« Giesebrecht, Deutsche Kaiserzeit, III, S. 550.
Das auffallendste und bekannteste, aber nichts weniger als einzige Beispiel der Machtlosigkeit der Herren der Welt den Bewohnern ihrer Stadt gegenüber ist das Gregors VII., der den deutschen Kaiser Heinrich IV. zwang, in Kanossa Buße zu tun, der aber mit den Römern nicht fertig werden konnte. Er verließ Rom, weil er sich dort nicht sicher fühlte, und starb in freiwilliger Verbannung zu Salerno.
Erst im fünfzehnten Jahrhundert, das überall durch das Vordringen der absoluten Fürstenmacht ausgezeichnet ist, gelang es den Päpsten, ihrer rebellischen Untertanen Herr zu werden. Eugen IV. war der letzte Papst (bis auf Pius IX., 1848), der vor einem Aufstand der Römer flüchten mußte (1433).
Für eine so unbändige und so unkirchliche Bevölkerung lag der Wunsch nahe, die Geistlichkeit zur evangelischen Armut zurückzuführen, das heißt sich die Reichtümer anzueignen, welche die Kirche erbeutet hatte und welche in Rom aufgehäuft lagen. Aber ebenso leicht begreiflich ist es, daß einige Jahre der Papstlosigkeit genügten, um ihnen zu zeigen, wo die dauernde Quelle ihrer Existenz zu finden sei.
Kein Wunder, daß Rom es war, wo es zu dem ersten ernsthaften Versuch einer Kirchenreformation kam – schon in der Mitte des zwölften Jahrhunderts –, der sich an den Namen des Arnold von Brescia knüpft. Dieser, ein Schüler Abälards, trat auf das entschiedenste gegen den weltlichen Besitz des Klerus auf und berief sich auf das Urchristentum, wie auch alle späteren Reformatoren. Er war jedoch keineswegs Kommunist. Nicht unter das Volk sollten die Kirchengüter verteilt werden, sondern den weltlichen Machthabern zufallen.
Aus Frankreich, wo er in Paris Abälard gehört hatte, seiner »Ketzereien« wegen vertrieben, war er in die Schweiz geflüchtet. 1145 wandte er sich nach Rom und fand dort den Schutz der eben damals rebellischen Demokratie, in deren Dienste er trat.
Indes brach diese Bewegung nach kaum zehnjähriger Dauer wieder zusammen. Die Römer erkannten bald, daß sie dem Papsttum nicht allzu unsanft mitspielen dürften, sollten sie nicht das Huhn schlachten, das ihnen die goldenen Eier legte. Die Größe und der Reichtum Roms beruhten ja nicht auf seiner Industrie oder seinem Handel, sondern auf der Ausbeutung der Christenheit durch das Papsttum. Die Römer des Mittelalters lebten gleich denen der antiken Republik von der Ausbeutung der Welt. Bloß die Methoden waren andere geworden. 1154 machten die Römer ihren Frieden mit dem Papst und wiesen Arnold von Brescia aus. Der vielgerühmte Friedrich I. Barbarossa, in. dessen Hände er geriet, lieferte ihn den päpstlichen Schergen aus, die ihn als notorischen Ketzer ohne weiteres verbrannten.
Tiefere Wurzeln schlug die Ketzerei in den Städten Norditaliens, namentlich aber im südlichen Frankreich. Dort entfalteten sich zuerst während des Mittelalters im Abendland Handel und städtische Industrie. Von Süditalien sehen wir hier ab, da es im Mittelalter tatsächlich mehr zum Orient als zum europäischen Abendland gehörte. Seine Kultur war mehr byzantinisch und sarazenisch als christlich-germanisch. In Norditalien und Südfrankreich bildete sich auch zuerst ein Bürgertum, es entwickelte sich zuerst nicht bloß das Handwerk für den Lokalbedarf, sondern bald auch der Anfang von Massenindustrien, von Exportindustrien und damit die Keime eines kapitalistisch ausgebeuteten Proletariats.
Der Reichtum dieser Städte reizte frühzeitig die Habsucht des Papsttums. Aber gerade ihr Reichtum verlieh ihnen auch bald die Macht, nach Selbständigkeit zu streben, sehr oft auch sie zu erringen und das päpstliche Joch abzuwerfen.
In den norditalienischen Städten gab es jedoch eine Reihe von Umständen, die sie dem Papsttum günstig stimmten. Nach den Reichtümern der italienischen Städte waren nicht bloß die Päpste lüstern, sondern auch deren Konkurrenten in der Ausbeutung Italiens, die deutschen Kaiser. Je weniger für diese in dem ökonomisch rückständigen Deutschland zu holen war, desto mehr suchten sie aus den reichen italienischen Städten für sich herauszuschinden. Und wie ohnmächtig sie auch in Deutschland sein mochten, für ihre Raubzüge nach Italien, die sogenannten Römerzüge, die unsere nationale Geschichtschreibung mit allem Zauber des Idealismus verklärt hat, der ihr so reichlich zu Gebote steht, für diese Züge konnten sie in der Regel auf ein zahlreiches Gefolge rechnen.
Die norditalienischen Städte hatten also mit zwei Ausbeutern zu tun, die sich gegenseitig bekämpften. Solange diese Städte nicht stark genug waren, ihre Selbständigkeit beiden Teilen gegenüber behaupten zu können, sahen sie sich gezwungen, mit dem einen Ausbeuter ein Bündnis einzugehen, um sich den anderen vom Halse zu halten.
Die Frage war die, welcher Ausbeuter gefährlicher sei, der waffenarme, aber nahe Papst, der in jeder Stadt durch die von ihm abhängige Geistlichkeit einen starken Rückhalt hatte, oder der waffengewaltige, aber meist ferne Kaiser. Je nach den Umständen wechselte jede Stadt mit ihren Sympathien für den einen oder den anderen, verbündete sich heute mit dem Kaiser, um morgen über ihn oder seine Freunde herzufallen, und umgekehrt. Aber auch innerhalb jeder Stadt gab es eine kaiserliche Partei, seit dem dreizehnten Jahrhundert die gibellinische genannt, und eine päpstliche, guelfische Partei. Die Klassen- und Parteigegensätze in den Städten reduzierten sich anscheinend alle auf den Gegensatz zwischen kaiserlich und päpstlich; denn wenn eine Klasse oder Partei vom Kaiser gewonnen wurde oder bei ihm Schutz suchte, konnte man sicher sein, daß die ihr feindliche Partei zum Papsttum neigen werde.
Schon das allein bewirkte, daß in den norditalienischen Städten die Sympathien für das Papsttum oft sehr stark wurden, nie ganz ausstarben. Dazu kam ein zweites Moment. Die Pilgerstraße nach Rom führte über Norditalien. Aber auch die Pilger nach Jerusalem in der Zeit der Kreuzzüge wählten mit Vorliebe den Weg über Norditalien. Die einen wie die anderen dieser Pilgerzüge haben nicht wenig dazu beigetragen, die ökonomische Entwicklung der norditalienischen Städte zu fördern. Aber die einen wie die anderen beruhten auf der Beherrschung der gesamten Christenheit durch das Papsttum. Und bald entstand in den Städten Norditaliens noch ein weiteres Interesse an der Ausbeutung Europas durch das Papsttum. In jenen Städten bildeten sich die Anfänge des Wechsel- und Bankwesens. Die norditalienischen Kaufleute wurden auch die ersten Bankiers der Päpste. Ihnen strömten alle die Summen zu, welche die Päpste erpreßten, sie verwalteten sie für die Päpste und – im eigenen Interesse. Sie wurden in ihren Händen mächtige Kapitalien, Wucherkapitalien und Kaufmannskapitalien; sie verliehen sie an Könige und Städte, an Herren und Klöster, sie handelten und spekulierten damit.
So wurde die päpstliche Ausbeutung eine der Grundlagen der wirtschaftlichen Blüte Norditaliens.
Ebenso wie die Römer hatten also auch die Städte Norditaliens ein Interesse an der Herrschaftsstellung des Papstes; gleich den Römern zeigten sie sich oft rebellisch gegen das Papsttum, da sie es vorgezogen hätten, es auszubeuten, statt von ihm ausgebeutet zu werden; aber wie die Römer hüteten auch sie sich, die Rebellion so weit zu treiben, daß die päpstliche Ausbeutungsmaschinerie zerstört wurde, von der sie selbst Vorteil zogen.
Wie in Rom finden wir daher auch in Norditalien frühzeitig Reformationsbewegungen, ketzerische Kämpfe gegen die päpstliche Gewalt, aber nirgends eine durchgreifende Reformation. Die geistige Unabhängigkeit von den Lehren der katholischen Kirche ward dort bald erreicht – lange vor der deutschen Reformation –, aber die ökonomischen Vorbedingungen einer Lossagung vom Papsttum fehlten.
Die erste ernsthafte Empörung nicht bloß gegen einzelne Bedrückungen, sondern gegen die ganze päpstliche Herrschaft finden wir daher nicht in Norditalien, sondern in Südfrankreich, das ökonomisch ebenso hoch entwickelt wie jenes war, aber kein Interesse an der Machtstellung des Papsttums hatte.
»In dem schönen Lande zwischen den Alpen und Pyrenäen«, sagt Schlosser über »Südfrankreich vor dem Albigenserkriege«, »hatten sich viele Reste der römischen und besonders der griechischen Kultur erhalten, welche seit der Gründung von Marseille durch das ganze Altertum hindurch geblüht hatte. Dort entwickelten sich zuerst im Mittelalter die Wissenschaften, die schönen und nützlichen Künste sowie die Einrichtungen des bürgerlichen Lebens auf eine eigentümliche Weise, dort kam die romanische, die lateinische, die spanische Dichtkunst mit der arabischen in Berührung, und es ging daraus eine Mischung eigener Art hervor. Es ist bekannt, daß die sogenannte frohe Kunst und die Gerichtshöfe der Damen über Liebe, Gesang, Edelmut und Gewandtheit in jenem Lande ihren eigentlichen Sitz hatten, daß die Poesie dort ebenso wie zu Homers Zeit in Griechenland von Festen und Mahlen unzertrennlich war, daß die Sänger der Tapferkeit und der Liebe dort sich bildeten und ihre Muster suchten, daß endlich Dante und Petrarca aus diesen Quellen tranken, ehe sie sich über die mittlere Höhe ihrer Nation emporschwangen. Von den Wissenschaften war es besonders die Heilkunst, welche im südlichen Frankreich, und zwar, wenn man Salerno ausnimmt, nur hier blühte. Außerdem hatten die Juden dort eine große Anzahl gelehrter Anstalten errichtet ... Die Städte von Südfrankreich erfreuten sich schon früh einer Freiheit und Selbständigkeit, die man in anderen Ländern Europas noch nicht kannte. Selbst in Toulouse, dem Sitze eines mächtigen Grafen, leitete ein unabhängiger Magistrat und ein freier Bürgerausschuß die Verwaltung, und in Moissac mußte der Landesherr sogar die Rechte der Stadt feierlich beschwören, ehe er daran denken konnte, die Huldigung anzunehmen. Unter diesen Umständen kann es uns nicht wundern, daß in Südfrankreich sich zuerst ein allgemeiner Widerwille gegen die Entartung des Christentums kundgab, daß dort Reformen im Kultus sowie Übersetzungen der Evangelien in die Landessprache ein herrschendes Bedürfnis wurden, und daß daraus ein furchtbarer Krieg mit der Kirche entstand, welcher zuletzt nicht nur die Freiheit jener Gegend vernichtete, das blühendste Land von Europa auf eine lange Zeit in eine Wüste verwandelte und die Herrschaft des französischen Königs bis an das Mittelländische Meer ausdehnte, sondern auch die Einführung der Inquisition im Abendlande veranlaßte.« Weltgeschichte, Frankfurt a. M. 1847, VII, S. 251, 252.
Bereits zu Beginn des zwölften Jahrhunderts war die Ketzerei in Südfrankreich so bedeutend, daß der Papst Calixtus II. im Jahre 1119 es für nötig fand, auf einem Konzil zu Toulouse Maßregeln dagegen zu treffen. Aber die Ketzerei wuchs im Verlauf des ganzen Jahrhunderts immer mehr und wurzelte sich immer tiefer ein.
Wie an jeder großen Reformationsbewegung, beteiligten sich auch an dieser die verschiedensten Klassen mit den verschiedensten Interessen und Zielen, die nur eines verband: der Haß gegen die römische Ausbeutung. Aber sie alle suchten ihre verschiedenen Ziele auf dem gleichen Wege zu erreichen, dem der Rückkehr zum Urchristentum. Freilich verstand jede der ketzerischen Richtungen etwas anderes darunter, aber solange es galt, zusammenzuhalten gegen den gemeinsamen Feind, wurde natürlich das Gemeinsame hervorgehoben, nicht das Trennende, das den Kämpfenden oft gar nicht zum Bewußtsein kam. Rechnet man dazu, daß die Bezeichnungen der einzelnen Richtungen keineswegs feststehende, sondern nach Zeit und Ort wechselnde waren, sowie endlich, daß die historische Berichterstattung damals unvollkommener war als je – und sie ist bisher fast immer unvollkommen gewesen, da sie sich stets mehr mit den Illusionen und den Argumenten der jeweilig kämpfenden Parteien beschäftigt hat als mit den tatsächlichen Verhältnissen, denen sie entsprangen, und den tatsächlichen Bestrebungen, die sie verfolgten –, erwägen wir das alles, dann werden wir uns nicht wundern, daß die Ansichten über die Bestrebungen der südfranzösischen Ketzer weit auseinandergehen. Während die einen behaupten, diese – die Katharer, Die Abstammung des Wortes ist zweifelhaft. Vielleicht wurde es dem Griechischen entnommen. Katharos ist griechisch = rein, die Katharer wären also die Reinen, etwa wie die Puritaner. Aber freilich ist schwer anzunehmen, daß im zwölften Jahrhundert in Südfrankreich schon das Griechische so verbreitet gewesen sei. Am schlauesten sind jene Erklärer, die das Wort von dem deutschen »Katze« oder »Kater« ableiten. Zwei »gelehrte« Jesuiten, Jakob Grether und Gottfr. Henschen, meinten, man habe die Irrgläubigen Kater genannt, weil sie ihre Versammlungen bei Nacht, wie diese, abhielten Ein anderer Gelehrter meinte, sie hätten ihren Namen davon, weil sie den Teufel in Gestalt einer Katze anbeteten, der sie den Hinteren küßten. (»Catari dicuntur a Cato, quia osculantur posteriora cati, in cujus specie, ut dicunt, apparet eis Lucifer.« Alanus, Lib. I. contra Waldenses, p. 4.) Bei Mosheim, Versuch einer unparteiischen und gründlichen Ketzergeschichte, Helmstedt 1746, S. 363 ff. wie sie genannt wurden (daher der Name Ketzer) – hätten alle ohne Unterschied Kommunismus und Weibergemeinschaft gepredigt, gehen andere wieder zum entgegengesetzten Extrem über und erklären, daß kommunistische Tendenzen unter ihnen überhaupt nicht zu finden seien. Die erstere Anschauung ist entschieden falsch, aber auch die letztere erscheint uns nicht begründet. Namentlich bei den Waldensern sind deutliche Spuren von Kommunismus nachweisbar.
Die Begründung dieser Sekte wird meist auf Peter Waldus zurückgeführt. Manche nehmen an, sie habe schon vor Waldus bestanden. Vergleiche darüber F. Bender, Geschichte der Waldenser, Ulm 1850. Die chronologische Frage ist für uns von keiner großen Wichtigkeit. Sicher ist, daß Waldus ein reicher Kaufmann in Lyon war, der sich seines Reichtums angesichts der großen Armut um ihn herum schämte, so daß er sein Hab und Gut an die Armen verteilte (um 1170) und Gefährten um sich sammelte, die, gleich ihm in freiwilliger Armut lebend, sich ganz dem Dienste der Armen und Elenden weihten. Hat er die Sekte, die seinen Namen trägt, nicht begründet, dann hat er wenigstens zu ihrer Organisation und Verbreitung ungemein viel beigetragen und sie zuerst an die Öffentlichkeit gebracht. Die Mitglieder dieser Sekte, die man die Humiliaten (die Niederen) oder die Armen von Lyon (Povres de Lyon) nannte, waren vorwiegend Handwerker, namentlich Weber.
Im Jahre 1145 sandte der Papst Eugen III. einen Legaten nach dem von der Ketzerei ergriffenen Südfrankreich, ihn begleitete der heilige Bernhard zur Bekämpfung der »Manichäer«, das heißt Ketzer. »Da diese Manichäer unter den Webern zu Toulouse und in der Umgebung, die in der dortigen Volkssprache Arriens hießen, ihren stärksten Anhang hatten, so gab man auch der Sekte selbst diesen Namen, wie es auch im nördlichen Frankreich geschah, wo die Katharer in diesem Jahrhundert gewöhnlich Tixerands (Weber) genannt wurden«. (J. Döllinger, Geschichte der gnostisch-manichäischen Sekten im frühen Mittelalter, S. 91, vgl. S. 131. München 1890.)
Ein römischer Inquisitor, »Pseudo-Reiner« (seine Schrift wurde ursprünglich dem Inquisitor Reinerius Sachoni, der 1259 starb, zugeschrieben, doch ist dessen Autorschaft zweifelhaft geworden), hat um das Jahr 1250 eine Schilderung der Waldenser gegeben in der Schrift »De Catharis et Leonistis«; um sie verächtlich zu machen, betont er, daß ihre Lehrer Handwerker seien, Schuster und Weber. Weber werden auch sonst häufig als Mitglieder der Sekte genannt. (Vergleiche L. Keller, Die Reformation und die älteren Reformparteien, S. 18, 33, 120.)
In ihren Anfängen zeigte die Sekte nicht die Absicht, sich von der Kirche zu trennen. Als der Erzbischof von Lyon ihnen das Predigen verbot, suchten, sie beim Papst Alexander III. um die Erlaubnis dazu nach. Aber ihre Lehre erwies sich als zu gefährlich, als daß das Papsttum sie hätte dulden können, um so mehr, da sie es verweigerten, sich in seine Dienste zu stellen, wie es später die Franziskaner und Dominikaner taten, und daher sprach Lucius III. 1184 den Bann über sie aus. Von da an war ihre Verbindung mit der päpstlichen Kirche für immer gelöst.
Ihr Kommunismus hat ursprünglich einen ganz mönchischen Charakter. Sie verlangen den Kommunismus, aber nicht jedermann ist es gegeben, sich zu dem heiligen Stande der Gütergemeinschaft emporzuschwingen, die auch bei ihnen mit der Abneigung gegen die Ehe verbunden ist. Für die »Vollkommenen« (perfecti) ist der Kommunismus und wahrscheinlich auch die Ehelosigkeit geboten, letztere zum mindesten gewünscht, die Ehe scheel angesehen; den »Schülern« (discipuli) sind dagegen Ehe und weltliche Besitztümer erlaubt. Dafür haben diese die Pflicht, die Vollkommenen zu erhalten, die sich um die Eitelkeiten dieser Welt nicht zu kümmern haben. Diese Art Kommunismus erinnert auf der einen Seite lebhaft an den platonischen, auf der anderen Seite aber auch an den der Bettelmönche. Mit dem platonischen Kommunismus haben sie auch die Gleichstellung der Frau mit den Männern gemein; es war eine ihrer häretischen Ansichten, welche der Papst verdammte, daß die Frauen ebenso gut predigen dürften wie die Männer. Männer und Frauen zogen gemeinsam herum und predigten, und fromme Seelen nahmen Anstoß daran, daß unter diesen Umständen die Ehelosigkeit nicht gleichbedeutend sei mit ewiger Keuschheit. »Hoc quoque probrosum in eis videbatur, quod viri et mulieres simul ambulabant in via, et plerumque simul manebant in una domo et de eis diceretur quod quandoque simul in lectulis accubabant.« (Chron. Ursperg. ad ann. 1212. Zitiert bei Gieseler, Kirchengeschichte, 2. Bd., 2. Abt., S. 325.)
Bemerkenswert ist außerdem bei ihnen die Verwerfung des Kriegsdienstes und des Schwörens, sowie ihr Eifer für eine gute Volksbildung. »Alle ohne Ausnahme«, sagt der schon zitierte Pseudo-Reiner, »Männer und Frauen, Große und Kleine lehren und lernen ununterbrochen. Der Arbeiter, der bei Tag arbeitet, lehrt oder lernt bei Nacht; weil sie so viel studieren, beten sie wenig. Sie lehren und unterrichten ohne Bücher ... Wer sieben Tage gelernt hat, sucht einen Schüler, den er seinerseits belehren könnte.« Zitiert bei A. Muston, Histoire des Vaudois, Paris 1834, S. 189, vgl. S. 449. Der letzte Satz des Zitates deutet darauf hin, daß sie eine eigene Lehrmethode erfunden hatten.
Hätten die Waldenser Frieden mit dem Papsttum gemacht, und wären sie ein privilegierter Orden geworden, dann hätte sich ihr aristokratischer Kommunismus ebenso wie der eines jeden Mönchordens zu einer Quelle der Ausbeutung entwickelt. Da sie aber eine verfolgte Sekte blieben, konnte sich das aristokratische, ausbeuterische Element dieses Kommunismus nicht recht entfalten. Es war unvereinbar mit den demokratischen Tendenzen der unteren Volksklassen, aus denen er seine Kraft zog. Früher oder später mußte es bei den Waldensern dahin kommen, daß ihr Kommunismus entweder ein demokratischer wurde oder gänzlich verschwand. Je nach den Zeitumständen und wohl auch nach den Klassen, die zu den Trägern der Lehre wurden, ist das eine oder andere eingetreten. Wo der Einfluß der Bauern und Bürger überwog, wurden die Waldenser eine bürgerlich-protestantische Sekte; wo die proletarischen Elemente dominierten, da wurden die Waldenser zu kommunistischen »Schwarmgeistern«.
Sie blieben nicht auf Südfrankreich beschränkt. Wir finden Waldensergemeinden in den verschiedensten Gegenden Norditaliens und Frankreichs, schließlich auch in Deutschland und Böhmen. Alle diese Gemeinden standen in engem Verkehr miteinander, denn den Geistlichen der Waldenser (den sogenannten Barben) war ununterbrochenes Reisen zur Pflicht gemacht. Jene enge interlokale Verbindung der mittelalterlichen Kommunisten, auf die wir im vorigen Kapitel schon hinwiesen, finden wir bereits bei den Waldensern entwickelt. »Wie die Apostel zogen die alten waldensischen Geistlichen fast beständig umher, besuchten die entferntesten Gemeinden und Amtsbrüder (die Wohnungen der Glaubensbrüder erkannten sie an gewissen Zeichen, die an den Türen und Dächern angebracht waren). Oft erstreckten sich diese Reisen selbst in entferntere Länder, wie nach Deutschland und nach Böhmen ... Die Waldenser in Böhmen unterhielten mit ihren Glaubensgenossen in Frankreich und Piemont einen fortwährenden innigen Verkehr, der auf brüderlicher Gemeinschaft des Glaubens beruhte. Sie unterstützten sich mit Geld; besonders von den Tälern Piemonts kamen Prediger zu den Brüdern nach Böhmen, und diese schickten ihre Jünglinge in die Täler, damit sie dort im heiligen Amt unterrichtet wurden.« Bender, Geschichte der Waldenser, S. 46, 116.
Als die südfranzösische Ketzerei so stark wurde, daß sie die Herrschaft des Papsttums bedrohte, rief dieses das nordfranzösische Raubrittertum und anderes Raubgesindel zu Hilfe, organisierte es zu sogenannten Kreuzzügen und hetzte es auf die reichen ketzerischen Städte und Landschaften, die nun aufs grausamste verwüstet und geplündert wurden. Jahrzehntelang dauerte der Widerstand Südfrankreichs. Die Albigenserkriege, genannt nach der Stadt Albi, einer der Hauptstädte der Ketzer, währten von 1208 bis in die dreißiger Jahre des Jahrhunderts. Den Profit aus der schließlichen Niederwerfung der »Rebellen« zog nicht das Papsttum, sondern die französische Krone, die sich des erschöpften Landes bemächtigte und damit den Grund zu ihrer Größe legte. Die Provence fiel 1245 an Karl v. Anjou, die Grafschaft Toulouse annektierte 1249 der »heilige« Ludwig. Dante läßt in seinem »Fegefeuer«, 20. Gesang, Hugo Capet, den Gründer des französischen Königsgeschlechts der Capetinger, sagen:
»Solang die große provençalsche Mitgift
Noch meinem Blute nicht die Scham genommen,
Galt es zwar wenig, doch es tat nichts Böses.
Da nun begann es seine Räubereien
Mit Lügen und Gewalt« usw.
Das französische Königtum sollte den Päpsten bald unangenehmer werden als die albigensische Ketzerei, denn es erstarkte so, daß es die Päpste zu seinen Werkzeugen und Gefangenen machte.
Aber wie wenig auch die Päpste durch die Albigenserkriege gewinnen mochten, so raubten diese doch der Ketzerei des beginnenden dreizehnten Jahrhunderts ihre sichere Operationsbasis. Die Waldenser mußten ebenfalls davon getroffen werden. In den großen Städten konnten sie sich nur noch als Geheimbündler hier und da behaupten. Der Schwerpunkt der Bewegung wurde in abgelegene Alpentäler verlegt, wo sie naturgemäß verbauerte. Die Sekte erhielt dort einen rein kleinbäuerlich-demokratischen Charakter und hat sich in dieser Form bis heute in einigen Tälern Savoyens und Piemonts erhalten.
Mit der Ketzerei im allgemeinen war auch der ketzerische Kommunismus niedergeworfen worden. Es schien, als sollten die proletarisch-kommunistischen Neigungen sich nur noch in mönchisch-papstfreundlicher Form betätigen können. Aber wir haben oben bei der Besprechung des Franziskanerordens gesehen, daß der Kommunismus der Bettelorden Elemente barg und großzog, die leicht dazu kamen, gegen die reiche und ausbeutende Kirche zu rebellieren. Das Mißtrauen des Papsttums und dessen Verfolgungen trieben proletarierfreundliche Elemente unter den Schwärmern gar leicht zur Alternative: Verzicht auf jegliches Wirken oder Empörung. Waren die Umstände günstig, konnte letztere bedeutende Dimensionen annehmen.
Auf diese Weise entstand in Norditalien eine sehr starke ketzerische kommunistische Sekte, die der Apostelbrüder oder Patarener.
Der Name der Pataria für eine Bewegung niederer Volksklassen war damals in Italien sehr häufig. Bereits im elften Jahrhundert finden wir in Mailand, in Brescia, Cremona und Piacenza Patarien. Der Name stammt von dem Dialektwort pates, alte Leinwand, Lumpen. Patari waren Lumpensammler. Noch im achtzehnten Jahrhundert gab es in Mailand eine pataria oder contrada de' patari, ein Quartier der Lumpensammler.
Die wichtigste unter jenen früheren patarenischen Bewegungen war die zu Mailand, die 1058 begann. Sie ging von den unteren Volksklassen aus und richtete sich gegen den reichen Klerus und den städtischen Adel. Neben der Frühzeitigkeit dieser städtisch-demokratischen Bewegung ist an ihr bemerkenswert, daß sie die Unterstützung des Papsttums sucht und findet. Der Klerus von Mailand, der an Reichtum mit der römischen Kirche wetteifern konnte, wollte deren Oberhoheit nicht anerkennen. Er war also der gemeinsame Feind der Mailänder Demokratie und des Papsttums. Beide erreichten ihr Ziel. Der Mailänder Klerus mußte sich Rom unterwerfen, und an Stelle des adlig-klerikalen Regiments trat ein bürgerliches.
Die Geschichtschreiber nennen die Bewegung der Mailänder Pataria gern eine proletarische. Man kann aber unmöglich annehmen, daß das Proletariat Mailands um die Mitte des elften Jahrhunderts schon so stark gewesen sei, um eine so hervorragende Rolle zu spielen. Jene Bewegung der Patarener war jedenfalls eine bürgerliche Bewegung, gegen das Geschlechterregiment gerichtet.
Im zwölften Jahrhundert nannte man die Waldenser, mitunter auch andere Ketzer, in Italien Patarener. Im dreizehnten Jahrhundert ging der Name auf die Apostelbrüder über.
Der Gründer dieser Sekte war Gerardo Segarelli aus Alzano, einem Dorf bei Parma. Er meldete sich zur Aufnahme in den Franziskanerorden, wurde aber abgewiesen. Nun verteilte er sein Eigentum unter die Armen und gründete auf eigene Faust eine Sekte, um 1260. Bald hatte er großen Anhang, namentlich in der Lombardei, unter dem niederen Volke gefunden.
»Sie hießen sich alle untereinander, nach der Weise der ersten Christen, Schwestern und Brüder. Sie lebten in einer strengen Armut und durften weder eigene Häuser, noch Vorrat auf den anderen Morgen, noch etwas, das zur Bequemlichkeit und Gemächlichkeit gehörte, haben. Wenn der Hunger sich bei ihnen regte, sprachen sie den ersten um Speise an, ohne etwas Gewisses zu begehren, und aßen ohne Unterschied das, was man ihnen reichen wollte. Die Begüterten, die zu ihnen traten, mußten dem Besitz ihrer Güter entsagen und dieselben dem gemeinschaftlichen Gebrauch der Brüderschaft überlassen.« Mosheim, Ketzergeschichte, S. 224. Mosheim hat die Apostelbrüder gewissermaßen für die Geschichte neu entdeckt und in drei Büchern seiner »Ketzergeschichte« ausführlich und liebevoll behandelt. »Vielleicht mißgönnet mir niemand den kleinen Ruhm«, sagt er, »daß ich diese sonderbare Bande (hier nicht in verächtlichem Sinne, sondern gleich ›Sekte‹ gebraucht), so zu reden, von den Toten erweckt und an das Licht gezogen habe.« S. 196. Die Ehe war ihnen verboten. »Die Brüder, die in die Welt gingen, die Buße zu predigen, hatten Macht, eine Schwester mit sich herumzuführen, wie die Apostel. Allein nicht zum Weibe, sondern nur zur Gehilfin. Sie nannten ihre Freundinnen, von denen sie sich begleiten ließen, bloß ihre Schwestern in Christo und leugneten beständig, daß sie in einer ehelichen oder unreinen Gemeinschaft mit ihnen lebten, obgleich sie dieselben mit sich zu Bette nahmen.« Mosheim, a. a. O., S. 226. Vgl. S. 321 ff. Ähnliches wird, wie wir bereits wissen, von den Waldensern erzählt und auch von frommen Seelen während der ersten Jahrhunderte des Christentums: »Eine feige Flucht verschmähend, kämpften die Jungfrauen des heißen Himmelsstriches von Afrika im engsten Gefecht mit dem Feinde. Sie gestatteten Priestern und Diakonen, ihr Bett zu teilen, und inmitten der Flammen rühmten sie sich ihrer unbefleckten Reinheit. Aber die beleidigte Natur rächte zuweilen ihre Rechte, und diese neue Art von Märtyrertum diente nur zur Einführung eines neuen Ärgernisses in die Kirche.« (Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Weltreichs, S. 381.)
Mosheim nimmt an, allerdings auf bloße Wahrscheinlichkeiten, nicht auf bestimmte Nachrichten gestützt, daß dies Verbot der Ehe und des Güterbesitzes bloß für die Apostel, für die »Agitatoren«, nicht für die Brüder der Gemeinden gegolten habe. Dies würde sie den Waldensern sehr nahe bringen. Gewiß ist es, daß sie den Kommunismus für eine unerläßliche Vorbedingung der Vollkommenheit erklärten.
Die neuen Apostel traten anfangs sehr behutsam auf. Sie hüteten sich, öffentlich der Kirche den Krieg zu erklären. In geheimen Zusammenkünften, die bei Nacht stattfanden, lehrten sie die neue Heilsbotschaft. Nach allen Ländern wurden Apostel gesandt, nach Spanien, Frankreich, Deutschland. Dort wurden sie so zahlreich, daß 1287 eine geistliche Versammlung zu Würzburg, die in Gegenwart des Kaisers Rudolf gehalten wurde, ein besonderes Gesetz wider sie erließ, welches jedermann verbot, sie aufzunehmen, ihnen Speise und Trank zu reichen.
Aber früher schon war man in Italien auf die kommunistischen Schwärmer aufmerksam geworden. Im Jahre 1280 hatte der Bischof von Parma Nachrichten über sie erhalten, die ihn bewogen, Segarelli zu verhaften. Der Papst Honorius IV. ließ eine Untersuchung anstellen, die den Apostelorden als nicht allzu gefährlich erscheinen ließ, als einen bloßen Konkurrenten der beiden privilegierten Bettelorden, der Franziskaner und Dominikaner. 1286 wurde der Apostelorden vom Papst verboten, Segarelli aber freigelassen, gleichzeitig freilich auch aus Parma ausgewiesen.
Wie manche andere Ausweisung, diente auch diese dazu, das Übel zu vermehren, das sie bekämpfen sollte. Segarelli schwärmte jetzt in ganz Norditalien umher und verbreitete seine Lehre. Die Apostelbrüder unterwarfen sich nicht dem Papsttum, der Bund löste sich nicht auf. Die Verfolgungen, die jetzt energischer wurden, gossen Öl in die Flammen und machten den Bruch der Apostelbrüder mit der Kirche unheilbar.
Segarelli wurde 1294 wieder ergriffen und nach den einen 1296, nach anderen um 1300 verbrannt. Aber damit war die Bewegung nicht getötet. An die Stelle Segarellis trat ein weit kühnerer, entschlossener Agitator, ein Mann der Tat, Dolcino. Dieser wurde in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts in Prato bei Vercelli geboren. Sein Vater, der Priester Julius, wahrscheinlich aus der edlen Familie der Tornielli von Novara, war ein Eremit, aber kein Einsiedler, denn er siedelte zusammen mit der Mutter Dolcinos und lebte mit ihr in ehelicher Gemeinschaft. Er schämte sich auch nicht seines Sohnes, gab ihm eine gute Erziehung und ließ ihn in Vercelli zum geistlichen Stande vorbereiten. Ein unbesonnener Schritt, die Entwendung einiger Geldstücke aus dem Besitze seines Lehrers, veranlaßte den jungen Mann, zu fliehen, obwohl die Sache keine Folgen hatte. Er begab sich nach Trient, wo er in ein Franziskanerkloster als Novize eintrat.
Wie lange er dort blieb, ist unbekannt, wie denn die Chronologie seiner Schicksale überhaupt eine höchst unsichere ist. Fest steht, daß er noch während seines Aufenthaltes im Kloster die Lehre der Apostelbrüder kennenlernte, die ja viele Ähnlichkeit mit der der Fraticellen, der rebellischen Franziskaner, aufwies und in deren Klöstern zahlreiche Anhänger gefunden hatte. Er erfaßte sie mit der ganzen Begeisterung seiner glühenden Seele und wurde bald einer ihrer vornehmsten Vertreter. Sein Anschluß an die Sekte fällt wahrscheinlich in das Jahr 1291.
Sein Aufenthalt im Kloster wurde ihm immer unerträglicher. Er trat aus, ehe er noch Profeß abgelegt. Bald darauf lernte er Margherita von Trenk kennen, die in einem Kloster der heiligen Katharina war. Alle Berichterstatter preisen die kraftvolle Schönheit Margheritas wie Dolcinos, eine Schönheit, die sich bei beiden mit hohem Verstand, mit selbstlosem Enthusiasmus, mit Kühnheit und Entschlossenheit paarte. Kein Wunder, daß beide sich auf das lebhafteste voneinander angezogen fühlten. Um Margherita näher sein zu können, trat Dolcino als Knecht in ihr Kloster ein, gewann sie für seine Ideen und bestimmte sie schließlich, mit ihm zu entfliehen. Bis zu ihrem Tode haben sie von da an gemeinsam für ihre Sache gekämpft, wie ihre Gegner behaupten, ehelich, wenn auch nicht gesetzlich verbunden, wie Dolcino selbst erklärte, stets nur als Bruder und Schwester miteinander verkehrend. Letzteres entspräche allerdings mehr der Lehre der Apostelbrüder, ersteres dagegen mehr der menschlichen Natur.
Das Paar entfloh nach der Lombardei, wo Dolcino bald an die erste Stelle nach Segarelli trat und nach dessen Tode an die Spitze der Bewegung gelangte. Aber die Verfolgung wurde so stark, daß er sich in Italien nicht behaupten konnte. Von einer Stadt zur anderen gehetzt, sucht er endlich eine Zuflucht in Dalmatien, von wo er mehrere Briefe an die in Italien zurückgebliebenen Brüder richtete, die sie gleich Flugschriften verbreiteten.
Neben den Lehren Segarellis beeinflußten ihn besonders die des Abtes Joachim von Fiore, den wir schon erwähnt haben (S. 183 ff.). Aber wenn dieser drei Gesellschaftszustände unterschied und als den dritten, den höchsten, den des allgemeinen Mönchtums betrachtete, so ging Dolcino darüber hinaus. Zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts hatte man bereits genug Erfahrungen mit den Bettelorden gemacht, um zu wissen, daß diese nicht das Mittel seien, die Gütergemeinschaft zu verwirklichen. Dolcino pries die Verdienste der Heiligen Franziskus und Dominikus um die Sache der Armen, indem sie ihren Anhängern die Liebe zur Armut und Niedrigkeit, die Verachtung des Geldes und der Macht einzuflößen suchten, aber er wies auch darauf hin, daß ihr Streben sich auf die Dauer als eitel erwiesen habe. Franziskaner und Dominikaner hätten Häuser gebaut und in diesen das Erbettelte aufgehäuft. Sie seien dadurch von der Verderbnis der ganzen Kirche ergriffen worden. Wolle man diese reinigen, müsse man die ganze Mönchsverfassung aufheben und die Art und Weise der ersten Apostelgemeinden wieder allgemein einführen.
Aber wer sollte das durchsetzen? Die Kommunisten allein? Bei aller mystischen Schwärmerei und Wundergläubigkeit mußten sie sich doch gestehen, daß ihre Kräfte dazu nicht ausreichten.
Gleich den Jüngern des Abtes Joachim hoffte auch Dolcino anfangs auf einen Messias aus königlichem Stande. Hatten jene auf den Hohenstaufen, den zweiten Friedrich gerechnet, so rechnete Dolcino auf einen anderen Friedrich, den Sohn des Königs Peter III. von Aragonien. Dieser werde den päpstlichen Thron erobern, den Papst und seine Kardinäle, die Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen töten. Nur die werden am Leben bleiben, die sich der Apostelgemeinde zugesellen, nur sie werden der Herrlichkeiten teilhaftig werden, welche die Welt dann erwarten.
Dolcino berief sich auf die jüdischen Propheten und die Apokalypse. Aber er war kein so hirnloser Fanatiker, sich auf diese Argumente allein zu verlassen. Er beobachtete scharf den Lauf der Welt.
Das Südfrankreich benachbarte Königreich Aragonien gehörte gleich diesem und aus ähnlichen Ursachen zu den Ländern, die gegen das Papsttum rebellierten. Im Albigenserkrieg stand Aragonien auf Seite der Ketzer. Peter II. von Aragonien suchte anfangs zu vermitteln, schließlich aber unterstützte er offen die Albigenser mit den Waffen, zog mit ihnen gegen die Kreuzfahrer und fand im Kampf gegen diese den Tod (1213 in der Schlacht bei Muret). Auch Peters Sohn, Jakob I., sandte den Albigensern Hilfstruppen. Dessen Sohn, Peter III., geriet ebenfalls in Streit mit dem Papsttum, das zum Werkzeug Frankreichs geworden war. Nach der Sizilianischen Vesper, die zur Vertreibung der Franzosen aus Sizilien führte, eroberte Peter Sizilien. Der Papst Martin erklärte den König Peter seines Reiches verlustig und verlieh es dem Bruder des Königs von Frankreich, Karl von Valois. Doch Peter widerstand dem Papst und Frankreich.
Auf Peter folgte 1285 in Sizilien dessen zweiter Sohn Jakob II., und als dieser den Thron Aragoniens infolge des Todes seines ältesten Bruders Alfons III. erlangte, fiel Sizilien seinem jüngeren Bruder Friedrich II. zu (1294).
Gleichzeitig mit Friedrich gelangte aber auch einer der niederträchtigsten, habgierigsten und energischsten Päpste auf den Thron, Bonifazius VIII. Und nun entspann sich zwischen beiden ein wütender Kampf, der fast ein Jahrzehnt lang währte. Dolcinos Hoffnung auf Friedrich war also keineswegs ein phantastischer Traum. Sie war in den Traditionen des aragonesischen Königshauses wie in der augenblicklichen Lage des Beherrschers von Sizilien sehr wohl begründet. Sein Irrtum war nur der, daß er die großen Worte, die in diesem Streit fielen, für bare Münze nahm und glaubte, der Kampf um Augenblicksinteressen sei ein prinzipieller Kampf, der Kampf um die Beute ein Kampf gegen die Ausbeutung. Dies ist indes eine Illusion, die Dolcino mit vielen, oft sehr aufgeklärten Denkern nach ihm geteilt hat.
In seinem ersten Brief, der 1300 geschrieben wurde, prophezeite Dolcino den Sieg Friedrichs über Bonifazius VIII. für das Jahr 1303. Bonifazius starb wirklich in diesem Jahre, aber nicht von Friedrich getötet, sondern infolge eines Konfliktes mit der großen römischen Adelsfamilie der Colonnas und mit Philipp IV. von Frankreich, der mit Bonifaz an Habgier, Tücke und Energie wetteiferte.
Das Ende Bonifazius' VIII. ist ein drastisches Beispiel davon, um wieviel weniger sicher die Päpste in Rom im frommen Mittelalter waren als im materialistischen neunzehnten Jahrhundert. Philipp sandte Wilhelm Nogaret mit großen Summen nach Italien. Dieser verschwor sich mit den Colonnas. In Anagni überfielen sie Bonifazius und nahmen ihn gefangen unter den Rufen: »Nieder mit dem Papst!« Unbändiger Zorn befiel diesen, und die harte Behandlung, die er zu erdulden hatte, steigerte den Zorn zur Raserei. Ein Aufstand befreite Bonifazius, aber um vor den Colonnas sicher zu sein, mußte er sich den Orsinis ausliefern, die ihn auch gefangen hielten. Darüber fiel er in Tobsucht, die seinem Leben ein Ende machte. Mit Recht sagte Voltaire: »In der Weise hat man in Italien fast alle Päpste behandelt, die zu mächtig werden wollten: sie verteilen Königreiche und werden im eigenen Reiche verfolgt.« (Essay sur l'histoire générale, ch. LXI.)
Die Verehrer des Papsttums im zwanzigsten Jahrhundert haben gar keine Ursache; mittelalterliche Zustände zurückzuwünschen, und die Pfaffenfresser von heutzutage haben keine Ursache, mit ihrer Kühnheit besonders wichtig zu tun.
Die Folge davon war aber nicht der Sturz des Papsttums, sondern nur die Wahl eines versöhnlichen Papstes, Benedikt XI., der seinen Frieden mit Philipp machte.
Als nun der erwartete Umschwung ausblieb, erließ Dolcino zwei weitere Briefe, von denen der zweite verloren gegangen ist. In dem vorhergehenden erklärte er (Dezember 1303): Im Jahre 1303 sei, wie er prophezeit, die »Verwüstung über den König von Mittag«, Bonifazius, ergangen. In dem neuen Jahre werde der neue Papst nebst seinen Kardinälen von Friedrich II. erschlagen werden, das Jahr 1305 werde das Todesjahr der niederen Geistlichkeit sein.
Diese Prophezeiung sollte noch weniger in Erfüllung gehen als die erste. Vielmehr schloß 1304 Benedikt XI., nachdem er sich mit Frankreich ausgesöhnt, auch mit dem König von Sizilien Frieden. Dieser konnte also als Alliierter Dolcinos nicht mehr in Betracht kommen.
Bald nach diesem Brief – oder vielleicht schon vor ihm – finden wir Dolcino in Italien. Mosheim gibt an, Dolcino habe zu Beginn des Jahres 1304 Dalmatien verlassen, nach Abfassung seines Briefes; Krone, Dolcinos Biograph (Fra Dolcino usw., S. 39), setzt den Einbruch in Piemont in das Ende des Jahres 1303. Daß Dolcino freiwillig seine Insurrektion in den Anfang des Winters verlegt hätte, wo er mit einem Winterfeldzug hätte beginnen müssen – der piemontesische Winter ist oft sehr streng –, erscheint uns nicht sehr wahrscheinlich. Doch mögen äußere Umstände ihn dazu gedrängt haben. Der Zeitpunkt des Losschlagens einer Verschwörung liegt nicht immer im Belieben der Verschworenen. Die Gefahr des Bekanntwerdens seines Planes oder das Drängen seiner Kameraden, denen er in Aussicht gestellt hatte, daß es 1303 losgehen werde, können ihn gezwungen haben, in einem nicht ganz geeigneten Zeitpunkt zu beginnen. Die ganze Chronologie der mit Dolcino in Verbindung stehenden Ereignisse ist furchtbar verworren. Er hatte sein sicheres Versteck verlassen und war an der Spitze einer bewaffneten Schar in Piemont eingebrochen, um den offenen Kampf gegen Kirche, Staat und Gesellschaft zu beginnen – der erste Versuch einer bewaffneten kommunistischen Erhebung im Abendland.
Die Hoffnung auf Friedrich erwies sich als trügerisch. Aber ein anderer Helfer von ganz anderer revolutionärer Gewalt als ein Monarch, der sich mit dem Papst zankt, erstand den kommunistischen Schwärmern in dem Bauernvolk. Ihm ist es zu danken, daß die Insurrektion sich bis 1307 behaupten konnte. Die Erhebung für eine Wiedergeburt der Gesellschaft im Sinne des Urchristentums wurde zu einem Bauernkrieg.
Bauernkriege sind in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters nichts Seltenes. Überall war Zündstoff genug angehäuft, und es bedurfte bloß eines Funkens, ihn zu entzünden.
Um das verständlich zu machen, müssen wir einen Blick auf die Veränderung werfen, welche die Entwicklung des Städtewesens in der Lage der Bauernschaft hervorgebracht hat.
Das Aufkommen der Städte schuf einen Markt nicht bloß für Produkte der Industrie, sondern auch für solche der Landwirtschaft. Die Städtebürger – Kaufleute und Handwerker – waren immer weniger imstande, je mehr die Stadt wuchs, selbst alle die Lebensmittel und Rohstoffe zu produzieren, deren sie bedurften. Sie kauften den kleinen und großen Landwirten der Umgebung den Überschuß ab, den diese über den eigenen Bedarf hinaus produzierten, wofür sie ihnen selbstproduzierte oder importierte Industrieprodukte verkauften oder – Geld gaben. Die Bauern bekamen Geld in die Hand. Die natürliche Folge davon war das Streben nach Umwandlung ihrer Naturalabgaben und Fronden in Geldzinse. Die Grundherren selbst mußten diese Veränderung oft wünschen, denn sie fingen jetzt auch an Geld zu brauchen. Aber das Streben der Bauern mußte oft in gleicher Richtung gehen, denn diese Umwandlung machte sie zu freien Männern, die frei über ihr Hab und Gut verfügen konnten.
Man sollte meinen, daß dies Streben der beiden Klassen in einer und derselben Richtung eitel Harmonie und Zufriedenheit erzeugt hätte. Nichts weniger als das. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß unter dem System der Naturalleistungen der Drang nach Erhöhung derselben kein großer war: er wurde beschränkt durch die leiblichen Bedürfnisse des Herrn und seines Gefolges. Die Gier nach Geld dagegen ist maßlos, denn zuviel Geld kann man nie haben. Wir finden daher von nun an ein viel stärkeres Drängen der Gutsherren nach Erhöhung der Lasten der Bauern. Gleichzeitig wächst aber auch der Gegendruck. Ihren Überschuß an Naturalien abzugeben, kostete den Bauern kein allzu schweres Opfer, solange sie ihn nicht verkaufen konnten. Aber als sich ein Markt dafür fand, bedeutete das Abgeben des Überschusses oder des Erlöses daraus an den Herrn einen Verzicht auf Genüsse, die bald zu Bedürfnissen wurden.
Zu diesem Gegensatz gesellte sich noch ein anderer. Vor der Entwicklung der Städte hatte der Bauer keine Freistatt gehabt, in die er sich hätte vor einem Unterdrücker flüchten können. Die Stadt bot ihm nun einen Zufluchtsort, und gar mancher nützte die Gelegenheit. Andere, wohlhabende Bauern, wußten finanzielle Verlegenheiten ihrer Herren zu benutzen, um ihre Lasten völlig abzulösen. So minderte sich die Zahl der Frondenden gar sehr, und der Wirtschaftsbetrieb des Fronhofs litt oft darunter. Zu derselben Zeit also, in der bei den Bauern unter dem Einfluß des Städtewesens, das Bestreben wuchs, die bestehenden Lasten abzuwerfen oder abzulösen, wuchs bei den Grundherren das Bestreben, sie womöglich noch enger an den Hof zu fesseln und ihre Fronden zu vermehren.
Und dazu kam noch ein dritter Gegensatz. Dadurch, daß die Produkte der Landwirtschaft; einen Wert bekamen, erhielt auch der Boden, dem sie entstammten, einen Wert. Und nicht nur der bereits in Anbau genommene Boden. Als die Städte zu Macht und Ansehen gelangten, da waren die Zeiten vorbei, wo die Bevölkerung so dünn gesät gewesen, daß der Grund und Boden als unerschöpflich galt, daß jedem, der Land roden wollte, mochte es ein Bauer sein oder ein mächtiger Grundherr mit seinen Kolonen oder eine Assoziation von Mönchen – daß jedem gern so viel Land, als er brauchte, von der Markgenossenschaft oder dem Landesherrn zugewiesen wurde. War man auch noch lange nicht so weit, daß sämtlicher bebaubare Boden bereits in Anbau genommen worden wäre, so war doch die Bevölkerung schon so dicht, daß der Grund und Boden nicht mehr unerschöpflich erschien. Der Besitz von Grund und Boden begann ein Privilegium zu werden, und zwar ein so kostbares, daß bald die heftigsten Kämpfe darum entbrannten. Auf der einen Seite schlössen sich die Markgenossenschaften ab und erklärten ihren gesamten Grund und Boden als – gemeinsames – Privateigentum der Familien, die damals die Genossenschaft bildeten. Nach dem Vorgang der Stadt beginnt sich nun auch auf dem Lande eine Schichte minderberechtigter Gemeindemitglieder neben der Markgenossenschaft zu bilden.
Auf der anderen Seite aber suchten die Grundherren, deren Macht ja in der Mark überwiegend war, das Eigentum an ihr an sich zu reißen und es in ihr Privateigentum zu verwandeln, indem sie den Markgenossen gnädigst einige Nutznießungsrechte gestatteten.
Je mehr die ökonomische Entwicklung vorwärtsschritt, desto schärfer wurden all diese Gegensätze, desto größer die Erbitterung zwischen Grundherrn und Bauern, desto leichter kam es zu Zusammenstößen zwischen beiden, die meist nur lokaler Natur waren, aber unter Umständen sich gleichzeitig über ganze Provinzen, ganze Länder ausdehnten, zu förmlichen Kriegen – Bauernkriegen – wurden.
Das Kriegsglück, in diesen Kämpfen war ein wechselndes. Im allgemeinen aber kann man sagen, daß im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert – in Italien früher – die Lage der Bauern trotz vereinzelter Niederlagen in steter Besserung begriffen ist.
Es ist dies ein deutlicher Beweis dafür, daß die Lage einer ausgebeuteten Klasse sich bessern und doch ihr Gegensatz zu der ausbeutenden Klasse sich verschärfen kann. Nichts lächerlicher als die Versuche der Apologeten – auf deutsch Schönfärber – der heutigen bürgerlichen Nationalökonomie, den Arbeitern darzulegen, daß ihre Lage sich gebessert habe, daß also die ganze sozialistische Arbeiterbewegung ganz unberechtigt sei und bloß auf einem Mißverständnis beruhe. Selbst wenn alle ihre Darlegungen der »aufsteigenden Klassenbewegung des Proletariats« wahr wären, so würden sie nichts beweisen. Die Herren könnten jetzt doch schon wissen, was vor mehr als einem halben Jahrhundert Marx und Engels gefunden hatten, daß die sozialdemokratische (kommunistische) Bewegung nicht ein Produkt des Elends ist, sondern des Klassengegensatzes, des Klassenkampfes. Und daß die Klassenkämpfe abnehmen, daß die Klassengegensätze sich mildern, dürfte auch der rosigst färbende Wolf oder Brentano nicht behaupten wollen.
Die Gründe für die Verbesserung der Lage der Bauern sind zum Teil schon aus dem Gesagten zu entnehmen. Die Städte boten den Bauern einen Rückhalt, den diese wohl ausnutzten. Juristische Knechtung und selbst physischer Zwang nutzten nicht viel, wenn die Stadt den flüchtigen Bauern Schutz und Schirm bot. Um sich seine Arbeitskräfte zu erhalten, mußte der Grundherr sich dazu verstehen, sie besser zu behandeln, ihnen ihr Dasein erträglicher zu machen.
Dazu gesellte sich oft eine finanzielle Bedrängnis des Grundherrn. Im zwölften Jahrhundert war die Christenheit stark genug geworden, sich nicht nur der Feinde zu erwehren, die sie bedrohten, sondern zur Offensive gegen diejenigen unter ihnen überzugehen, deren Reichtum und hohe Kultur die Raubgier der christlichen Krieger- und Priesterkasten erregten: der Orientalen. Die Kreuzzüge begannen unter lebhaftester Teilnahme abenteuer- und beutelustiger Feudalherren aus allen Ländern. Aber die Kreuzzüge hatten einige Ähnlichkeit mit der heutigen Kolonialpolitik: mit großen Illusionen begonnen, endeten sie kläglich, ihre Resultate standen in keinem Verhältnis zu den Opfern, die sie kosteten. In einem Punkte unterschieden sie sich jedoch sehr vorteilhaft von der heutigen Kolonialpolitik. Dank der Entwicklung der »Staatsidee« ist es heute der Staat, der die Opfer dieser Politik zu tragen hat, das heißt die Steuerzahler, die Masse der Bevölkerung. Den Profit davon haben einige Abenteurer und Kaufleute.
Das war im »finsteren« Mittelalter anders. Eine Staatsgewalt in unserem Sinne gab es nicht. Die Herren, die nach dem Orient zogen, um reich zu werden, taten dies nicht auf Staatskosten, sondern auf eigene Kosten; und wenn die Expedition scheiterte, trugen sie das Risiko, nicht der Staat. Die Kreuzzüge haben viele Städte bereichert, namentlich in Italien, worauf wir schon hinwiesen, aber einen großen Teil des europäischen Adels ruiniert. Den Rest des Adels aber infizierten sie mit Bedürfnissen nach den Erzeugnissen einer höheren Kultur, die in Europa nur um schweres Geld zu haben waren. Kein Wunder, daß das Geldbedürfnis des Adels rasch wuchs. Führte das zu dem Bestreben, den Bauer stärker auszupressen, so führte es oft auch dazu, daß der Grundherr in Schulden versank und, um Geld zu bekommen, gern darauf einging, daß der Bauer seine Lasten mit einer Geldsumme ablöste. Der große Adel litt verhältnismäßig wenig unter diesen Verhältnissen, der kleine verkam in jener Zeit rasch und büßte seine Selbständigkeit so gut wie völlig ein.
Endlich ist noch ein Umstand zu bemerken. Während die Bevölkerung wuchs, führte die Schließung der Markgenossenschaften ebenso wie deren Annexion durch die Grundherren dazu, die Neuansiedelung von Bauern sehr zu erschweren. Der Überschuß der Bevölkerung wurde dadurch gedrängt, außerhalb der Landwirtschaft sein Unterkommen zu suchen, namentlich im städtischen Handwerk oder im Kriegsdienst. Neben den finanziell ruinierten niederen Adligen widmet sich immer mehr auch die kraftvolle ländliche Jugend, deren Dienste zu Hause nicht benötigt werden, dem Söldnertum und zieht Herren zu, die sie gut bezahlen und ihr reiche Beute in Aussicht stellen, den wohlhabenden Städten, den Fürsten oder auch einzelnen glücklichen Heerführern, die anfangen, aus dem Kriegsdienst ein Geschäft zu machen und sich mit ihren Banden zu verdingen.
In Italien finden wir Söldnerarmeen schon im dreizehnten Jahrhundert. Nach Sismondi waren die Exilierten und Verbannten, welche die damaligen städtischen Parteikämpfe massenhaft lieferten, wahrscheinlich die ersten Söldner. (Simonde de Sismondi, Histoire des républiques italiennes du moyen âge, Paris 1826, III, S. 260.)
Neben dem Heer der feudalen Kriegerkaste, dem Heer der Berittenen, dem Ritterheer, bildet sich jetzt ein Heer geworbener Bauern – das Fußvolk kommt wieder zu militärischer Bedeutung.
Aber diese angeworbenen Bauern sind in der Regel noch keine Proletarier, sondern Bauernsöhne, die nach vollendetem Kriegsdienst, wenn sie genügend Geld und Gut erbeutet, heimziehen, um an den Arbeiten der Familie teilzunehmen oder einen eigenen Herd zu gründen. Und mit sich bringen sie Wehr und Waffen und die Wehrhaftigkeit des gedienten Kriegers. Die Gefährlichkeit der genuesischen und englischen Bogen, der schweizerischen Spieße, der böhmischen Morgensterne und Dreschflegel haben die Ritter des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts oft genug zu kosten bekommen. Über die Taktik der Schweizer in jenen Jahrhunderten vergleiche K. Bürkli, Der wahre Winkelried, Zürich 1886. Sie hat sicher zur Hebung der Lage der Bauernschaft in jener Zeit mit beigetragen.
In Italien entwickelte sich zuerst, wie wir wissen, das Städtewesen im Mittelalter. Dort bildeten sich auch zuerst die Gegensätze zwischen Grundherren und Bauern, die wir eben auseinandergesetzt.
Aber in Italien bildete sich auch eine eigentümliche Erscheinung, die geeignet war, diese Gegensätze besonders zu verschärfen; der Absentismus.
Im Altertum hatten die Großgrundbesitzer Italiens (ebenso wie die Griechenlands) vorwiegend in den Städten gelebt. Die italienischen Städte des Mittelalters, deren Verbindung mit den antiken Überlieferungen ja nie aufgehört hatte, neigten von vornherein dazu, den Landadel in ihre Mauern aufzunehmen. Als sie so mächtig wurden, daß sie das flache Land beherrschten, zwangen sie ihn, seine ländliche Residenz mit einer städtischen zu vertauschen. Manche Stadt zwang die Adligen, die sie sich botmäßig machte, sogar dazu, irgendein städtisches Gewerbe zu ergreifen. Die Politik, die den Adel in Italien in die Städte trieb, entsprang wohl den gleichen Beweggründen, aus denen die französischen Könige des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts die Adligen ihres Landes drängten, ihre Schlösser zu verlassen und ihr Leben an dem fürstlichen Hofe zu verbringen. Die Selbständigkeit des Adels wurde gebrochen, und gleichzeitig trug er zum Glanze und Ansehen – hier des Hofes, dort der Stadt – bei. Aber für die italienische Landbevölkerung wurden dadurch vielfach ähnliche Zustände hervorgerufen, wie sie in Frankreich vor der Revolution herrschten.
Wo Ausbeuter und Ausgebeutete zusammenleben, wird die Ausbeutung in der Regel unter sonst gleichen Umständen nicht so scheußliche Formen annehmen wie dort, wo beide räumlich voneinander getrennt sind. Das Zusammenleben erzeugt nicht nur eine gewisse gemütliche Gemeinschaft, sondern auch eine Interessengemeinschaft, die manchen Gegensatz überbrückt. Dem Grundherrn, der auf dem Lande bei seinen Bauern lebt, ist es nicht gleichgültig, in welchem Zustand seine Umgebung sich befindet, ob sie seine Sinne erfreut oder beleidigt, ob sie eine Stätte von Fiebern ist, die auch ihn und seine Familie bedrohen, oder eine Stätte blühender Gesundheit.
Der Grundherr, der in der Stadt lebt, hat weder Interesse noch Verständnis für seine Bauern; für ihn kommt bei seinem Besitz nur eines in Betracht, dessen Reinerträgnis. Mag sein Land unbewohnbar und eine Wüste werden, das ist ihm gleich, wenn es nur nicht aufhört, ebensoviel Reinertrag zu liefern wie früher. Die römische Campagna ist der beredteste Zeuge dafür, was bei einer derartigen Wirtschaft schließlich herauskommt.
Noch im fünfzehnten Jahrhundert war die Campagna wohl angebaut, mit zahlreichen Dörfern besetzt. Heute ist sie eine sumpfige Einöde, in der nur Büffel gedeihen und – die Malaria.
Zu dem Absentismus kam im mittelalterlichen Italien noch, daß das städtische Leben den Adel bald mit kapitalistischem Fühlen und Denken infizierte. Kein Wunder, daß der Landbau in Italien früher als anderswo ein kapitalistisches Unternehmen wurde. Wo es den Bauern nicht gelang, den völlig freien Besitz ihres Gutes zu erkämpfen, und das kam nur selten vor, da wurden sie Pächter oder Taglöhner ohne jedes Anrecht auf den Boden, den sie bebauten.
Als Dolcino in Italien einbrach, hatte die Entwicklung der eben geschilderten Zustände schon begonnen, die geschilderten Gegensätze waren schon vorhanden. Da ist es leicht begreiflich, daß er zahlreichen Zulauf fand, als er das Banner der Empörung entfaltete.
Wir wissen nicht, ob Dolcino und seine Genossen von vornherein die Absicht hatten, in den Bauern ihre Stütze zu suchen, oder ob sie ohne bestimmte Absicht durch die Verhältnisse dazu getrieben wurden. Auf jeden Fall, ob ihnen bewußt oder nicht, drängte sie die Logik der Tatsachen dazu, sobald sie sich einmal entschlossen hatten, den Weg der mönchischen Propaganda zu verlassen und den der bewaffneten Empörung zu betreten. Auf die kommunistischen Schwärmer allein konnte man damals noch nicht den Versuch einer gewaltsamen Revolution begründen. Neben ihnen waren die Bauern die unzufriedenste, rebellischste Bevölkerungsschicht.
Aber die Apostelbrüder verloren, sobald sie sich auf die Bauern stützten, jeden Halt unter ihren Füßen. Es liegt eine ungeheure Tragik in ihrem Schicksal: durch die Zeitumstände, jenes Fatum, wurden sie zu einem Schritte gedrängt, der, indem er die einzige Möglichkeit eines militärischen Gelingens bot, zugleich jeden möglichen Erfolg von vornherein zur Unfruchtbarkeit verurteilte und das schließliche Scheitern unvermeidlich machte.
Das klingt für den ersten Moment mystisch. Aber einige Worte genügen, die Sache klarzumachen.
Die Apostelbrüder waren Kommunisten und wollten über den beschränkten Kreis einiger Gemeinden hinaus wirken. Sie träumten von der Eroberung Roms und von der Umgestaltung der ganzen Gesellschaft nach ihren Idealen. Die Bauern waren keine Kommunisten, zum mindesten nicht im Sinne der Apostelbrüder. In gewissem Sinne hielten sie allerdings am Gemeineigentum fest, an dem für Weiden und Wälder; aber der Kommunismus der Genußmittel, die gänzliche Hingabe von Hab und Gut an die Gemeinschaft, lockte sie nicht. Und während die Kommunisten nicht Halt machen konnten, ehe sie die ganze Gesellschaft umgewälzt, waren die Bauern schon mit einigen kleinen Konzessionen der Grundherren – Verzicht auf manche Lasten, Herausgabe mancher umstrittenen Landstriche – zufriedenzustellen.
Noch wichtiger aber wurde es, daß der Gesichtskreis der Bauern auf die engsten Kirchturmsinteressen beschränkt war. Dies ist bei allen Bauernaufständen der damaligen Zeit zutage getreten, soweit nicht der interlokale Zusammenhang der Kommunisten stark genug war, diese Kirchturmspolitik zu überwinden, und hat so viele ihrer Niederlagen verschuldet. Jeder Gau erhob sich für sich allein und machte für sich allein Frieden, ohne sich um die anderen zu kümmern. So wurden sie in ihrer Vereinzelung von der zentralisierten Macht ihrer Gegner leicht niedergeworfen.
Die Geschichte der Empörung Dolcinos ist nicht ganz klar; aber wenn man von dem Rechte des Analogieschlusses Gebrauch macht, wenn man sie mit ähnlichen Erhebungen vergleicht, wird manches anscheinend Unbegreifliche begreiflich.
Zuerst zeigte sich Dolcino in den Alpen Piemonts. Von dort drang er in die Ebene vor und überrumpelte das Fort Gattinara bei Vercelli. Neben den Bundesbrüdern sowie Abenteurern und entlassenen Söldnern waren es namentlich die Bauern, die ihm in Massen zuströmten. Bald hatte er 5000 Kämpfer um sich, damals schon eine stattliche Armee; nicht bloß Männer, sondern auch Frauen, die unter Margheritas Führung wie Löwinnen kämpften.
»Die Schwestern oder Weiber waren weder ungeeigneter noch ungeschickter zu diesen Heldentaten als die Männer. Sie steckten sich in Männerkleider, ließen sich in der Reihe der Soldaten mit anführen und fochten ebenso mutig und verzweifelt wie die Männer.« (Mosheim, a. a. O., S. 283.)
Die Ausbeuter der Gegend vergaßen ihre Zwistigkeiten; die Bischöfe von Vercelli und Novara sowie die dortigen Adligen und Städte rüsteten ein Heer gegen die Empörer aus; aber der Feldzug endete mit völliger Niederlage der Armee der Ausbeuter, die kaum hinter den Mauern der Städte sicher waren.
Nun schwoll Dolcinos Macht noch gewaltiger an – aber Dolcino, dieser so energische, glänzende Feldherr, nutzt nicht den Moment, wo seine Gegner nicht mehr wagen, ihm im offenen Felde entgegenzutreten, um weiter zu marschieren und die Empörung allgemein zu machen, sondern er bleibt in dem Tale der Sesia, in dem die Empörung begonnen, und begnügt sich, Klöster, Landsitze und Städtchen zu plündern und zu zerstören.
Diese Erscheinung ist damals nichts Ungewöhnliches, sie kehrt in allen Bauernkriegen wieder. Die Bauern des Valsesia hatten nicht das mindeste Interesse daran, die Rebellion in andere Gebiete zu tragen. Und sie sowie die Bauern der umliegenden Gebiete waren leicht zu beruhigen, sobald man ihnen einige kleine Konzessionen machte. Das dürfte aber wohl geschehen sein, denn das Ausbeutertum der Gegend war schon durch seine militärische Niederlage so erschreckt, daß es Dolcino zu ködern suchte, indem es ihm nicht bloß völlige Amnestie, sondern auch die Stellung eines Kondottiere (Befehlshaber der Soldtruppen) von Vercelli bot, welches Angebot jedoch verächtlich zurückgewiesen wurde.
Die Bauern dürften demnach jene Konzession erlangt haben, welche sie durch ihre Erhebung hatten erringen wollen. Das ist nicht bezeugt, aber nur unter dieser Annahme wird es erklärlich, daß Dolcino untätig bleibt und die Bauern anfangen, sich von ihm abzuwenden, indes seine Feinde sich sammeln.
Die kommunistische Erhebung blieb eine lokale; aber ihre Gegner wußten wohl, daß sie mehr als lokale Bedeutung habe. Die große internationale Macht der damaligen Zeit, das Papsttum, griff ein und organisierte einen Kreuzzug gegen die Rebellen. Und nun war deren Schicksal besiegelt. Da sie sich in der Ebene nicht mehr halten konnten, zogen sie sich ins Gebirge zurück, von wo aus sie einen Guerillakrieg mit den Kreuzzüglern unterhielten. Dolcinos glänzendes Feldherrntalent und das Heldentum seiner Genossen leisteten Bewunderungswürdiges in diesem Kampfe. Nur ein Beispiel: Einmal wollten 200 Bürger von Trivero eine plündernde Schar der Dolcinisten angreifen, wurden aber von 30 Weibern derselben in die Flucht geschlagen. (Krone, a. a. O., S. 80.) Mehrmals gelang es den Bedrängten noch, ihre Gegner in offener Feldschlacht zu schlagen, öfter fügten sie ihnen großen Schaden durch Hinterhalte und Überrumpelungen zu. Aber trotzdem schloß sich der eiserne Ring der Bedränger immer fester um die kommunistischen Schwärmer, die gleichzeitig immer mehr jeden Halt unter dem Landvolk verloren, das anfing, sie zu hassen wegen der Verwüstungen und Leiden, die der Krieg über das Land verhängte.
Trotzdem wußten die Paratener (wie die Apostelbrüder auch genannt wurden) die Entscheidung bis in das Jahr 1307 hinauszuschieben, und da erlagen sie nur der Not und den Entbehrungen. Das Kreuzheer verzichtete darauf, sie mit den Waffen zu besiegen, und beschränkte sich darauf, sie auszuhungern (im Winter 1306 bis 1307).
»Zu diesem Zwecke mußten zuerst alle Bürger und Einwohner in den Städten und Orten, die dem Berge am nächsten lagen (auf dem die Patarener sich verschanzt hatten, nach den einen Monte Zebello, nach den anderen Monte Rubello genannt), ihre Wohnungen räumen, damit die Ketzer weder Gefangene noch Lebensmittel aus denselben weiter, nehmen konnten. Darauf ließ der Bischof (Raineri von Vercelli, der Leiter der Kriegsoperationen) durch diejenigen, die in großer Menge von allen Seiten herzuliefen, ihm beizustehen, fünf Schanzen oder Festungen an denjenigen Orten aufbauen, durch welche die Apostel am ersten und leichtesten brechen konnten. Alle diese Festungen wurden mit starken Besatzungen versehen. Alles, was noch sonst an Pässen und Wegen und kleinen Zugängen konnte erfragt und ausgespürt werden, das war so genau bewacht und verwahrt, daß kein Loch unverstopft blieb, wodurch Gewehr, Proviant oder sonst etwas auf den Berg konnte gebracht werden.« (Mosheim, a. a. O., S. 287.)
Auf diese Weise kam man endlich dazu, die Kraft der Empörer zu brechen.
Daß nur Hunger und Entbehrungen jeder Art dem Kreuzheer den Sieg ermöglichten, deutet auch Dante in seiner Göttlichen Komödie an. Er verlegte seinen Besuch in der Hölle in das Jahr 1300, konnte also in seinem Gedichte nicht von der Erhebung der Patarener als einer vergangenen reden. In einem der tiefsten Abgründe der Hölle, in dem diejenigen büßen, die auf Erden Unruhen und Spaltungen hervorgerufen, begegnet der Dichter dem Mohammed, der ihm zuruft:
»So sag dem Fra Dolcino denn, du, der wohl
Die Sonne bald aufs neu erblickst, daß, will er
Mir nicht in kurzem folgen, er sich also
Mit Nahrungsmitteln rüste, daß die Schneenot
Den Novaresern nicht den Sieg verleihe,
Der außerdem nicht leicht wär zu erringen.«
(XXVIII, 55-60. Übers, v. Philalethes.)
Die Schneenot war es in der Tat, die den Belagerern, den »Novaresern«, den Sieg verlieh, »der außerdem nicht leicht war zu erringen«. Frost und Hunger rieben die Belagerten auf, so hoch stieg die Not, daß sie sich von dem Fleisch der den Entbehrungen und Seuchen Erlegenen nährten, »Die Apostel wurden zuletzt so ausgezehrt, daß sie mehr halb verwesten Leichen als lebendigen Menschen ähnlich sahen.« (Mosheim.)
Ihre Sache war verloren, aber ihr Widerstand dauerte fort. Und so groß war die Furcht vor diesen kühnen Streitern, daß die belagernde Soldateska, trotz ihrer Übermacht, erst dann den Mut zum Sturme auf die belagerte Stellung fand, als einige Überläufer verrieten, daß die Eingeschlossenen vor Schwäche unfähig geworden seien, ihre Waffen zu gebrauchen.
Am 23. März 1307 erfolgte der Sturm. »Ein Schlachten war's und keine Schlacht zu nennen.« Die Belagerten weigerten sich, Pardon zu nehmen, sie rafften ihre letzten Kräfte zu einem Kampfe der Verzweiflung zusammen, aber die meisten von ihnen waren so schwach, daß sie nicht einmal mehr stehen konnten, und so bildete ihr Widerstand nur einen Vorwand für ein furchtbares Blutbad. Von den 1900, die bis zum Schlüsse ausgehalten hatten, wurden fast alle niedergemetzelt, wenige entkamen und nur einige wurden gefangengenommen, darunter Dolcino und Margherita, deren Schonung der Bischof ausdrücklich befohlen hatte, da ihm der schnelle Tod auf dem Schlachtfeld zu geringe Strafe für sie zu sein schien.
Der Jubel aller päpstlich Gesinnten über das endliche Ausstampfen des gefährlichen Feuerbrandes war groß. Äußerlich war die Erhebung eine rein lokale gewesen, aber das Papsttum begriff ihre internationale Bedeutung besser als die Bauern des Valsesia. Der Bischof Raineri sandte sogleich nach der Erstürmung der patarenischen Feste einige seiner Kriegsobersten mit der Freudenbotschaft an den Papst Klemens V., und diesem schien sie so wichtig, daß er von Poitiers aus, wo er damals residierte, die empfangenen Nachrichten schleunigst niederschreiben und dem König von Frankreich, Philipp dem Schönen, wahrscheinlich auch anderen Fürsten, übermitteln ließ.
Ein Triumph blieb jedoch der siegreichen Kirche versagt. Was ihr so oft gelungen, hier versuchte sie es vergebens, die Ketzer durch Folterqualen zum Widerruf ihrer Irrlehren zu bewegen. »Standhaft trotzten Dolcino und Margherita den Martern, die der grausame Richter über sie verhängte; kein Laut des Schmerzes entfuhr dem gläubigen Weibe, kein Wort der Klage noch des Unwillens ihrem starkherzigen Leidensgenossen. Nicht das Schinden und Lockern von Teilen ihrer Körper, nicht das Zerquetschen und Stacheln mittels Torturpiken und Zangen konnten den gepreßten Lippen Widerruf oder Flehen abnötigen.« Krone, Fra Dolcino, S. 91. Derselben Stelle sind die folgenden Zitate entnommen.
Sie wurden zur gewöhnlichen Strafe der Ketzer, zum Flammentod verurteilt. Dolcinos Hinrichtung fand am 2. Juni 1307 zu Vercelli statt. Margherita war verurteilt, der Exekution zuzusehen. Auch in diesem entsetzlichen Moment blieb das heldenmütige Weib standhaft. »Noch einmal, aber ebenso vergeblich, wurden beide zum Widerruf ermahnt, worauf, des Unglücklichen Seelenqual zu steigern, die Knechte Margherita ergriffen und an ihr auf einem Gerüst, dem Lohfeuer des Scheiterhaufens von Dolcino gegenüber, während der Agonie desselben jeden Spott und Torturmechanismus übten.«
Margherita wurde später in Biella verbrannt. So eingeschüchtert das niedere Volk durch die blutige Ausrottung der Patarener war, die qualvolle Hinrichtung dieser ebenso kühnen wie selbstlosen Vorkämpferin seiner Interessen erweckte doch seinen lauten Protest. Es erhob sich und war »nur mit Waffengewalt von der Zerstörung des Gerichtes abzubringen, nicht ohne daß seinem menschlichen Zorn zur Sühne ein Frecher aus edlem Geschlecht, der die Ärmste zu höhnen und ihr einen Backenstreich zu geben gewagt, beinahe von der Rächerhand der Popolanen in Stücke zerrissen worden wäre«.
So endete die erste kommunistische Erhebung in der mittelalterlichen Gesellschaft. Sie war von vornherein dazu verurteilt gewesen, zu scheitern. Der Strom der gesellschaftlichen Entwicklung ging damals in einer ganz anderen Richtung.
Aber sie ist nicht ruhmlos gescheitert. So sehr auch die Sieger – die einzigen, deren Nachrichten über die Bewegung auf uns gekommen sind – sich bestrebt haben, die Besiegten durch Fälschungen und Verleumdungen in den Kot zu zerren, es war ihnen unmöglich, die Erinnerung an deren hingebendes Heldentum gänzlich auszulöschen. Es schimmerte selbst durch ihre trüben Darstellungen durch und zwang die neueren Geschichtschreiber jener Bewegung zu Anerkennung, ja zur Bewunderung, trotzdem sie mit Bedauern konstatieren mußten, man könne »nicht in Abrede bringen, daß Kommunismus, und auch der von Weibern, in Dolcinos Plane gelegen« gewesen sei. (Krone.)
In Volksliedern und Legenden lebte die Erinnerung an die Rebellion der Patarener und Bauern gegen kirchliche und adelige Ausbeutung, namentlich in den Tälern Piemonts, aber auch sonst in Italien, noch lange fort. Noch im Jahre 1372 erließ Gregor XL eine Bulle gegen die Verehrung, mit der man in Sizilien die Asche und die Gebeine von Fraticellen und Dolcinianern verehrte, als wären es Reliquien. Die Sekte selbst erlosch nicht völlig. In Südfrankreich behielt sie zahlreiche Anhänger, so daß im Jahre 1368 eine Kirchen Versammlung zu Latour ein eigenes Gesetz wider sie erließ und befahl, daß man sie allenthalben, wo man sie finde, greifen und den Bischöfen zur Züchtigung und Strafe überliefern solle.
Aber zu Bedeutung kam die Sekte nicht mehr. In Italien waren die Zeiten vorbei, wo eine ketzerische Bewegung hätte gedeihen können. Die Interessen der herrschenden Klassen waren vom vierzehnten Jahrhundert an bereits zu sehr mit der Erhaltung des Papsttums verknüpft, und die Staatsgewalt der herrschenden Klassen war damals in Italien schon zu sehr entwickelt, wobei sich bereits die Keime des absoluten Polizeistaats zeigten, als daß noch eine kommunistische, ketzerische Bewegung der untersten schwächsten Volksklassen hätte größere Bedeutung gewinnen können.
Außerhalb Italiens aber verschmolzen die Reste der Apostelbrüder bald mit ähnlichen, ihnen naheliegenden Sekten, namentlich den Waldensern und den Begharden.