Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Der Renegat

In Adrianopel sitzt der Sultan Mehmed IV. und fürchtet sich. Es ist nicht die Furcht, wie ein Monarch seiner Art sie zu kennen pflegt: die vor einem äußeren Feinde, oder die vor der kleinen Hinterhältigkeit, die durch die eigenen Räume schleicht. Das sind Befürchtungen, die man beseitigen kann, indem man sich gegen sie wehrt. Ein Heer gegen die Feinde von außen und ein krummer Säbel oder ein Strick gegen die Feinde von innen geben der Seele den Gleichmut wieder. Und über das Leben der Menschen, die er beseitigt, schuldet er niemandem Rechenschaft.

Aber die Furcht, die er jetzt empfindet, bekommt ihr Gewicht, weil er nicht weiß, was er tun soll, um sie zu beseitigen. Gewaltlose Dinge haben ihre böse Hartnäckigkeit. Sie weichen aus, und der Schlag, der gegen sie geführt wird, trifft sie nicht. Ein Volk in Revolte und offenem Aufruhr ist zu fassen. Man wirft es mit Gewalt nieder. Aber ein Volk im Zustand des Entbrennens wird aus unterirdischen Quellen genährt. Es ist auch nicht abzusehen, ob diese Masse, die jetzt noch klein und übersehbar ist, nicht in das Maßlose wächst. Schon jetzt ist sie bedrohlich, wenn man bedenkt, welche und wie viele Gegenden der ihm bekannten Welt ihre Vertreter schon nach Gallipoli in Bewegung gesetzt haben. Er hat sich Bericht erstatten lassen und hört die Namen von Orten: Lemberg, Krakau, Warschau, Hamburg, Frankfurt, Amsterdam, Livorno, Venedig, Kairo, Jerusalem, Ismir, Saloniki, Aleppo, Ispahan, Teheran.

Da ist eine Welt am Vorabend ihrer Wanderschaft. Die Spitzenreiter sind schon eingetroffen. In den Heimaten ihrer Zwischenzeit rüsten sie sich. Es ist 314 ein Kreuzzug ohne Waffen, der sich in Bewegung setzen will. Damals wie jetzt geht es um ein Land, das seiner Herrschaft untersteht. Er soll es abgeben. Damals drohte das nackte Schwert, und es ging nur um ein Stück Boden. Heute droht die Gewaltlosigkeit, und es geht gleichwohl um das Ganze: das ganze Land seiner Herrschaft, die ganze Autorität seines Thrones. Und als Ausdruck ihres Willens, ihn vom Thron zu stürzen, residiert dicht neben ihm ihr Messias Sabbatai Zewi.

Es ist zu begreifen, daß Mehmed IV. an seinem Thron hängt. Er ist 23 Jahre alt. Mit 9 Jahren ist er zur Regierung gekommen, nachdem sein Vater Ibrahim auf Veranlassung der eigenen Mutter von den Janitscharen ermordet worden war. Und auch ihm trachtete die Großmutter nach dem Leben. Es steht noch die Nacht vor ihm, in der er, ein hilfloses Kind, sich dem Anführer der Leibwache laut schreiend vor Angst und Entsetzen in die Arme wirft, während man auf den kostbaren Teppichen Menschen mit der Axt den Schädel spaltet, draußen im Garten eine wilde Soldateska die Intrigantin zu Tode würgt und die grüne Fahne von den Mauern des Serails zum heiligen Krieg gegen seine eigenen Soldaten aufruft. Es ist nicht sein Verdienst, daß alles zum Guten ausgegangen ist. Und viel Freude hat er nicht an seinem Amt gehabt.

Jetzt soll ihm dieses Amt genommen werden. Das würde er gelten lassen, wenn der, vor dem er sich in das Nichts, in die Bedeutungslosigkeit zurückziehen soll, wenigstens ein Türke gewesen wäre. Er weiß doch, daß eines Tages ein Messias kommt und daß er die Kronen der Welt einsammeln wird. Aber daß der Messias ein Jude ist, will ihm nicht behagen. 315

Er läßt sich den Kaimakam Mustapha Pascha kommen und tobt den Zorn seiner Unruhe an ihm aus. Warum läßt man überhaupt solche Sorge an ihn herankommen? Warum wird dieses tolle Treiben in seiner Nähe noch geduldet? Gerade jetzt ist der 9. Ab gewesen, und statt der Klagen aus den kerzenstarrenden Synagogen tobte eine zügellose Festfreude, mit Gesang, Musik, Betrunkenheit und bunten Aufzügen durch die Stadt, als gäbe es nichts anderes mehr zu bedenken.

Mustapha Pascha ist bereit, dem Treiben ein Ende zu machen, wenn der Sultan es wünscht, und wenn er ihm den ausdrücklichen Befehl dazu erteilt. Aus eigenem Entschluß kann und will er hier nicht eingreifen. Dieser Befehl wird ihm nicht erteilt. Dieser Herrscher, dessen absolute Gewalt unbeschränkt ist und der den Beinamen des Monarchen führt, der alle Kronen der Welt verteilt, versagt und schweigt vor der ständig wiederkehrenden Erwägung: es könnte doch sein, daß jener als Messias berufen ist. Und man legt nicht die Hand an einen Messias. Die Furcht bleibt und dauert.

Aber Allah liebt seinen Gläubigen und schickt ihm eine Waffe gegen die Furcht, schickt ihm den polnischen Juden Nehemia ha'Kohen, nein: nicht den Juden, sondern den neuen Mohammedaner, diesen starren Mann mit der klaren Sprache und dem Turban über den Schläfenlocken; diesen Mann, der mit allem aufräumt, was dem Sultan durch Monate die Hände gebunden hat. Ein Aufzucken der erlösenden Freude ist in ihm, eine befreiende Erkenntnis; kein Messias! Nur ein Mensch.

Er entläßt Nehemia ha'Kohen mit ungewöhnlich reichen Geschenken. Er belohnt damit den Bringer 316 einer guten Botschaft und den Träger eines neuen Glaubens zugleich. Dann läßt er in aller Eile einen Kronrat einberufen. Er wagt sich nicht alleine an die Entscheidung dessen, was zu tun ist. Gewiß: es ist erwiesen, daß in Abydos kein Messias residiert. Aber das ist nicht alles. Es kommt nicht nur auf den Führer dieser Bewegung an, sondern fast mehr noch auf die Geführten. Es gibt ein Gesetz der Gläubigkeit, das auch Sultan Mehmed versteht: in jeder religiösen Bewegung, sei sie eine Neuschöpfung oder ein neuer Anstoß, liegen Größe, Wucht und Wirkung nicht im Führer, sondern in der erschütternden Gläubigkeit der Massen, die sich dem Führer, das heißt: der Idee hingeben. Von da her bekommt ihr Glaube ihre Eigenlebigkeit. Er ist, um weiter zu wirken, nicht mehr von der Existenz des Führers abhängig. Zu dem Kronrat finden sich ein: die Mutter des Sultans, die in seinen Kinderjahren mit dem Vater des jetzigen Großvezirs zusammen die Regentschaft geführt hat und auch heute noch über die wichtigsten politischen Entschließungen wacht (und über eine solche wird jetzt beraten); der Mufti Wanni, Oberhaupt und letzte Autorität für alles im Reiche, was religiöse Dinge betrifft; der Kaimakam Mustapha Pascha; der Großvezir Achmed Köprili, der politische Kopf dieser Zeit, und der Leibarzt des Sultans, Guidon.

Alle übersehen die Dinge so weit, daß über einen Punkt unbedingte Einigkeit herrscht: man darf Sabbatai Zewi unter keinen Umständen hinrichten lassen, selbst wenn er sich statt eines Messias schlechthin als Rebell, als ein dem Tode verfallener Verbrecher erwiesen hat. Man darf es nicht, weil zu befürchten steht, daß die Judenschaft zur offenen Revolte übergeht. Sie sind zahlreich und verfügen 317 über Geldmittel, daß sie sich kaufen können, was sie wollen. Sie werden für einen getöteten Messias nicht weniger Geld hinwerfen wie für einen lebendigen. Und weiter: man muß unter allen Umständen vermeiden, einen Märtyrer zu schaffen. Der Märtyrertod erzeugt jenes Gefühl, das von allen die größte Dauer und das härteste Leben hat: Treue; erzeugt auch die Legende, und aus ihr kommt einer Gemeinschaft oft mehr Nahrung, als aus der Wirklichkeit. Es muß hier ein doppelter Weg gefunden werden, der den Messias am Leben läßt und ihn doch unschädlich macht, und der im gleichen Lauf auch die Bewegung hinter dem Messias verbluten läßt.

Der Mufti Wanni, Kenner religiöser Dinge, Fachmann des Glaubens, findet die Formel: nicht Treue schaffen, sondern Untreue erzeugen. Versuchen, Sabbatai Zewi zum Islam zu bekehren. Das gibt einen vielfachen Ertrag. Man nimmt der Bewegung den Führer. Man lähmt und erschlägt ihre Glaubensseligkeit mit der vernichtenden Waffe, die man nicht einmal selbst in die Hand zu nehmen braucht, die der Führer von einst seinem Gefolge selbst entgegenschleudert. Und endlich tut man ein gutes Werk für den Glauben, der allein der rechte ist.

Es ist ein teuflischer Plan, und er gefällt allen über die Maßen. Seine Schwierigkeit besteht nur in der Ausführung. Der Mufti weiß, daß er ihn selbst nicht ausführen kann. Es ist auch nicht zweckmäßig. Ginge er selbst zu Sabbatai, dann würde es so aussehen, als ob der mächtige Sultan sein geistliches Oberhaupt entsendete, um zu verhandeln und zu markten. Das würde Sabbatai in seiner Sicherheit und seinem Hochmut nur bestärken und ihn sperrig machen. Diesen Plan muß einer ausführen, der sich Eingang zu den 318 letzten Trieben, den letzten Triebkräften des Messias verschaffen kann. Wer weiß, wie es in der Seele eines solchen Juden aussieht? Nur ein Jude. Oder einer, der Jude dem Blute nach ist, wenn er auch längst, wie beispielsweise der Leibarzt Guidon, den rechten Weg zum Islam gefunden hat. Vielleicht ist der Chekim Pascha Guidon bereit, aufs neue seine Anhänglichkeit an den neuen Glauben zu beweisen und diese Mission zu übernehmen?

Aller Augen sind auf den Renegaten Guidon gerichtet. Wie die Dinge liegen, kann er diesem Auftrag nicht ausweichen. Er will es auch nicht. Es ist eine Mission, um die er vielleicht gebeten haben würde, wenn man sie ihm nicht aus freien Stücken anvertraut hätte. In jedem Renegaten liegt ein unerledigter Rest von Beziehungen zu dem alten Glauben. Ein unerledigtes und unerlöstes Stück Liebe zu einem Ursprung, der nicht zu Ende gelebt ist, weil er sich versagt oder weil man sich ihm versagt hat. Aus solchen Rudimenten des Verstoßenseins kommt die Haltung des stillen Hasses, die Verneinung des Judas Ischariot, die Trotzhaltung des gestürzten Lichtengels Luciferos. Ein Renegat ist nur fortgegangen von seinem Glauben. Nie ist er endgültig entlassen. Aus dem Gedanken an solche schicksalhafte Bindung zuckt ihm ständig die Hand, um zu einem Schlage auszuholen: Haltung der Notwehr.

Hier bietet sich für Guidon die erregende Möglichkeit, an dem Einst Vergeltung zu üben, seinem Gott von gestern ein Schnippchen zu schlagen und dem Volke von ehemals die Hoffnung seines Messias zu nehmen. Ein Renegat hat Sabbatai Zewi angeklagt. Ein anderer vollzieht an ihm das Urteil.

Achmed Köprili gibt Anordnung, daß Sabbatai nach 319 Adrianopel überführt werde. Am 14. September, dem 13. Elul des Jahres 1666, nach einer überreichen und doch tatenlosen Fürstenzeit von sechs Monaten brechen die Soldaten des Großvezirs in die Prunkräume von Abydos ein. Sie haben jetzt keinen Respekt und keine Furcht mehr. Man hat ihnen gesagt: der Mann ist kein Messias. Wenn er kein Messias ist, ist dieser Ort auch keine Burg, sondern eine Festung, in der Besucher nichts zu schaffen haben. Darum verjagen sie die Sabbatianer, und da einige darunter sind, die sich nicht verjagen lassen, wie Primo, Sarah und die Freunde der nächsten Umgebung, werden sie kurzerhand mit verhaftet und nach Adrianopel geschafft. Am 15. Elul kommen sie in Adrianopel an.

Die Aufregung unter den Juden ist gewaltig. Die einen sind entsetzt. Sie ahnen eine entscheidende Gefahr. Die andern sind ruhig. Sie sehen darin nur die notwendige Vollendung. Am ruhigsten von allen ist Sabbatai Zewi. Obgleich er erst vor wenigen Tagen die entscheidende Niederlage durch Nehemia ha'Kohen erlitten hat, ist er längst zum Ich und zur Selbstsicherheit zurückgekehrt. Er versteht nicht, was hier gespielt wird. Er will es nicht verstehen. Wahrscheinlich kann er es auch nicht mehr verstehen, denn er lebt nicht auf die Wirklichkeit zu, sondern läßt sie zu sich herankommen, und da muß sie, ehe sie ihn erreichen kann, sich am Medium seines übersteigerten Ichbewußtseins brechen. Also ist diese Verbringung nach Adrianopel nur die Vorbereitung einer Audienz mit dem Sultan. Was er da sagen und tun muß, wird ihm schon eingegeben werden. Ihn beschäftigt viel mehr die Frage, in welchen Formen und mit welchen Zeremonien er dem Sultan begegnen muß, denn schließlich ist er ein Mächtiger 320 der Erde, dem man Respekt schuldet, selbst wenn Gott ihn in seine, Sabbatais Hand, gegeben hat.

Darum, sobald er in Adrianopel angekommen und in abseitigen Gemächern des Serails untergebracht ist, wünscht er diese Frage des Zeremoniells zu klären. Er weiß, wie er als Fürst empfängt, aber nicht, wie jener als Sultan. Aber es kommt nicht zur Klärung dieser überaus wichtigen Frage. Als erster Besucher erscheint vor ihm der Chekim Pascha Guidon. Der hört sich Sabbatais Sorge um das Zeremoniell ernst und höflich an. Aber seine Erwiderung ist verhängnisvoll ausweichend. Gewiß ist die Frage des Zeremoniells sehr wichtig, aber es ist vorab zu klären, wer sich darüber Gedanken machen muß: Sabbatai Zewi oder der Sultan. Darnach erst bestimmt sich, welche Formen der Anrede und der Unterhaltung anzuwenden sind. Das heißt: es ist ja möglich, daß der Sultan als schlichter Monarch zu ihm, Sabbatai, dem über alle Monarchen eingesetzten Messias kommen muß, um ihm seine Ehrerbietung zu bezeugen. Es geziemt sich, daß der Geringere zu dem Größeren kommt. Für diesen Fall erbittet Guidon Anweisungen, wie Sabbatai das Verhalten des Sultans wünscht.

Für diesen Fall. Das heißt: wenn Sabbatai der Messias ist, und man von einem Sultan füglich verlangen kann, daß er zuerst seine Aufwartung macht. Aber da ist noch nicht alles klargestellt. Es ist eine unwiderlegliche Tatsache, daß Mehmed IV. ein Sultan ist. Aber es steht noch nicht fest, ob Sabbatai Zewi ein Messias ist. Für den Sultan sprechen Augenschein und historisch gewordene Tatsachen. Für den Messias spricht nur eine Selbstbehauptung, die noch des Beweises bedarf. Man spreche also nicht eher über das Zeremoniell, als bis Sabbatai den schlüssigen, 321 bündigen, handgreiflichen Beweis geliefert habe, daß er wirklich der Messias ist! Beweise!

Wie ein Albdruck rückt da die Wiederholung des Geschehens und der Frage gegen Sabbatai heran. So zweifelte und so forderte vor Tagen sein eigener Prophet. Aber der zweifelte aus der Bereitschaft des Glaubens, dieser da aus der Unwilligkeit des Abtrünnigen. Darum ist das, was in diesem Augenblick geschieht, eine andersartige, brutalere Drohung. Beide Male ist Gefahr. Aber während es vor Tagen nur um Amt und Berufensein ging, ist hier und heute zu ahnen, daß es um das nackte Leben geht. So unvermittelt, so durch nichts vorbereitet ist diese Erkenntnis, daß Sabbatai fast darunter zusammenbricht. Er kann nur stammeln: wie soll man beweisen . . .?

Guidon zuckt kalt die Achseln. Das ist nicht seine Sache. Aber er hat im Serail davon sprechen hören, daß ein Messias, insbesondere ein Messias der Juden, in Gottes Hand stehe und daher unverletzlich sei. Es habe zum Beispiel der Sultan gemeint, man könne ihn in den Garten hinausführen und ihn dort nackt an einen Galgen hängen. Dann müsse man einige geschickte Bogenschützen aufstellen und drei vergiftete Pfeile auf ihn abschießen lassen. Am Messias würden sie bestimmt abprallen. Dann wolle sogar der Sultan selbst ein Jude werden und Sabbatai als Messias anerkennen. Falls aber die Probe mißlingt . . . Nun, darüber ist nichts zu sagen.

Nehemia verlangte vom Geiste her den Beweis, und er war nicht zu führen. Um wieviel weniger wird hier der plumpe Beweis aus der Ebene des Materiellen her zu führen sein. Die Pfeile oder eine andere Technik des Tötens werden für seine Gegner den Beweis führen. Es ist zu Ende. – 322

Da regt sich etwas im Hintergrund des Raumes. Samuel Primo kommt aus dem Halbdunkel. Er sieht, wie der Messias schwach und hilflos, von Todesangst angeweht, in sich zusammensinkt. Er fühlt mit tödlichem Entsetzen, daß da keine Kraft mehr ist, die sich entscheiden kann. Da war ja nie Kraft, nie gerader und verantwortungsfreudiger Wille zu entscheidenden Handlungen. So viel man auch an verpflichtenden Wirklichkeiten hinter Sabbatai aufbaute, er sah sie im entscheidenden Augenblick einfach nicht. Und er wird sie jetzt völlig leugnen, um nur das nackte Leben zu retten.

Das darf nicht sein. Es geht hier nicht mehr um Sabbatai Zewi. Es geht um die Idee des Messias. Auch Nehemia ha'Kohen sollte geopfert werden um der Idee willen, nicht um dieses einen Trägers willen. So muß auch in diesem Augenblick abgewogen werden zwischen dem Einzelnen und dem Gedanken, zwischen Sabbatai Zewi und der messianischen Bewegung. Das Ewige des Gedankens muß dem Zeitlichen des Geschehens vorangestellt werden. Wenn Sabbatai nicht der Führer der Bewegung mehr sein kann, so muß er wenigstens ihr Märtyrer werden. Da er nicht beweisen kann, darf er auch nicht beweisen. In diesem Stadium der Dinge ist der Idee mehr mit seinem Sterben gedient, als mit seinem Leben.

Primo redet eindringlich auf ihn ein, um ihm das zu beweisen. Er deutet auf die großen Vorgänger hin, die für die »Heiligung des Namens« gestorben sind. Er zitiert ihm die Megillath Amrafel, das erschütternde Werk des Rabbi Abraham ben Elieser Halewi über den Tod der Märtyrer. Er tröstet ihn: wenn einer im Augenblick des Todes den Namen ausspricht, den er im Leben heiligen, aber nicht 323 aussprechen soll, kehrt er unbefleckt in den Mutterschoß der Seelen zurück und ist, im mystischen »Osten« wohnend, dem Gesetz der Wiedergeburt entrückt. Sabbatai ist sehr bereit, an diese neue Rolle, an diese neue Form seiner Bedeutsamkeit zu glauben. Aber es ist doch bedrückend, aus der lebendigen Nutznießung gestrichen zu werden, das Fortwirkende seiner Macht und seiner Machthandlungen eintauschen zu müssen gegen den einmaligen heroischen Akt des Leidens: den Märtyrertod. Dennoch bleibt es verlockend, weiterhin das Schicksal eines ganzen Volkes auf die Schultern zu nehmen und sich im Sterben ein lebendiges Angedenken für alle Zeiten zu sichern.

Gegen eine solche Entwicklung muß Guidon sich wehren. Seine Mission will den Renegaten, nicht den Märtyrer. Darum greift er härter zu. Er beharrt dabei: es muß ein Beweis geliefert werden. Schon zu lange ist da eine Rolle mit einem ungewöhnlichen Anspruch gespielt worden, als daß sie fernerhin unbewiesen bleiben dürfte. Es muß nicht gerade der Beweis durch die drei vergifteten Pfeile sein. Sabbatai mag sich auswählen, in welcher Form er den Beweis führen will. Das aber muß klar gesagt werden: gelingt der Beweis nicht, und – kalte, höhnische, selbstsichere Drohung – er wird nicht gelingen, dann wird die Strafe, die der Sultan über ihn verhängt, so groß sein wie die Anmaßung, mit der Sabbatai seine Berufung vorgetäuscht hat. Man wird ihn durch die Straßen der Stadt führen, da er doch öffentliche Umzüge so sehr liebt. Und da er behauptet, der Erleuchtete Gottes zu sein, wird man solche Erleuchtung greifbarer, sinnfälliger darstellen. Man wird eine brennende Fackel an jedes Glied seines Körpers binden. Man wird ihn in der Glut dieser Leuchten langsam 324 schmoren und rösten lassen. Wenn er den Hunden schmeckt, mögen sie sich mit dem Rest vergnügen.

Gegen diese brutale Drohung ist Sabbatai ganz ohne Wehr und Waffe. So flach vor ein grauenhaftes Sterben gestellt, versinken alle Wünsche, Triebe, jeder Wille und jeder Ehrgeiz vor dem nackten, übermächtigen Gefühl der Selbsterhaltung. Er, der Asket, der dem Himmel Zugewandte, liebt doch das Leben über alle Maßen. Denn das ist ja die letzte Sehnsucht all seiner Bemühungen gewesen, auch wenn sie himmelwärts gingen, daß sie ihm im Diesseits, in seinem Leben Ertrag bringen möchten. Und da das Leben immer noch etwas geben kann, auch wenn man nicht mehr Messias sein darf; da das Nichts so grauenhaft und nicht vorzustellen ist; und weil endlich Folter und Schmerzen schon im Gedanken ihn in den Wahnsinn der Furcht hineintreiben, klammert er sich verzweifelt an das Leben, verwirft er jeden Gedanken an Märtyrertum, kann er nur noch betteln: gibt es keine Rettung? Er ist ja bereit, seinem Messiastum abzusagen, auf jede Wirkung zu verzichten, alles zu widerrufen, was er je gesagt, gelehrt und verheißen hat. Nur soll man ihn am Leben lassen.

Er, zu Ekstasen von je geneigt, erlebt in diesem Augenblick eine einzigartig neue: die Ekstase der Todesfurcht. Er sucht vor diesem Ausgeliefertsein Trost und Rettung bei seinem Bedränger. Der entthronte Messias wirft sich vor dem Abtrünnigen nieder und beschwört ihn um einen Ausweg. »So klammert sich der Schiffer endlich noch am Felsen fest, an dem er scheitern sollte . . .«

Guidon neigt sich zu ihm und gibt ihm einen Rat: alles wird gut, nichts Böses wird geschehen, wenn Sabbatai seinen Verzicht auf das hohe Amt durch 325 eine schlichte Handlung nach außen hin bekundet, wenn er zwischen sich und die Vergangenheit den sichtbaren Trennungsstrich zieht: wenn er in aller Form zum Islam übertritt.

Eine Sekunde weicht Sabbatai vor dieser unvorstellbaren Entschließung zurück. Er ist ja schon innerlich entschlossen, seine Mission und seine Anhänger zu verraten. Aber diese Form, in der es geschehen soll, ist zu grob, zu gemein und niedrig. Ein Renegat ist schlechthin etwas Verabscheuungswertes. Wenn aber einer sich das Ziel setzt, den Glauben eines ganzen Volkes zu seiner Befriedung zu führen, und am Ende dieses Weges zu den Gegnern übertritt, wird die Gemeinheit, deren ein Mensch fähig ist, fratzenhaft übersteigert. Davor zögert er noch.

Und wieder aus dem Hintergrunde Primo: alles, nur das nicht! Nicht abtrünnig werden! Das erträgt das Volk nicht!

Und Guidon, wohlwollend, vermittelnd, ein wenig aus der vertraulichen Geste des Mitverschwörers: besser der Übertritt als die Folter. Es ist ja nur eine Erklärung, eine Form. Niemand wird prüfen können, was Sabbatai sich dabei denkt, was er sich dabei vorbehält, ob er wirklich aus Überzeugung handelt oder . . . oder ob er eben nur zum Schein übertritt, um sein Leben zu retten.

Damit hat er das Spiel gewonnen. Sabbatai springt auf und ist mit einem Male wieder lebendig. Er bittet den Chekim Pascha Guidon, er möge dem Sultan seine, Sabbatais, Bereitwilligkeit mitteilen, zum Islam überzutreten. Der Renegat entfernt sich mit einer Verbeugung und einem tief zufriedenen Lächeln. Wie er fort ist, stürmen die Freunde auf Sabbatai ein mit Vorwürfen und Klagen und Überredungen. Aber 326 er ist keiner Vorstellung zugänglich. In der Sekunde, in der er weiß, er wird leben bleiben, wächst die immer triebhafte Gestaltung des Lebens schon wieder über ihn hinaus, spielt mit ihm, wirft ihm Möglichkeiten zu, Bedeutsamkeiten, läßt seine Fähigkeit zu Anpassung und Verknüpfung aufwuchern. Und das ist nicht einmal verlogen und unehrlich. Was er den Freunden sagt, glaubt er wirklich zutiefst, da nichts ihn beirrt und kontrolliert: hier ist eine neue Prüfung über ihn verhängt, die er hinnehmen muß. Der Zorn des Sultans könnte sich gegen die gesamte Judenheit richten. Das muß er von seinem Volke abwenden. Und sich selbst muß er am Leben erhalten, um sein Werk fortsetzen zu können. Er ist ja doch zum Messias berufen. War er eben noch bereit, diese Berufung zu verraten? Nein, das war nur ein Augenblick der Verwirrung. Dämonisches hat da aus ihm gesprochen, und er hat keinen Anteil daran. So, wie das Schicksal sich jetzt gestalten wird, ist es richtig und gut und in der Vorsehung beschlossen. Was ist auch daran Ungewöhnliches? Auch Moses mußte, ehe er sein Volk aus der Knechtschaft führen konnte, einen Teil seines Lebens am Hofe des Pharaonen und in einem fremden Glauben verbringen. Und da hier die Erinnerung an Moses phantastische Möglichkeiten zu Vergleichen eröffnet, verkündet Sabbatai plötzlich: in dieser Unterdrückung des neuen Glaubens muß ich verharren, bis der Prophet Nathan kommt und mir den Stab bringt, den Moses getragen hat. Dann werde ich dieselben Wunder vollbringen wie er.

Die Freunde schweigen und glauben. Auch Primo glaubt. Glaubt er wirklich oder will er glauben? Überredet er sich? Nein. Er ist der kalte Dämon, der andere überredet und der wieder das Wort lebendig 327 macht, das den ständig nach allen Seiten ausbrechenden Messias fesseln soll. Sofort verfaßt er ein Sendschreiben: Sabbatai Zewi ist zum Islam übergetreten. Das ist göttliche Vorsehung. Es hat einen tiefen und heiligen Sinn. Wer als Messias die Sünden der Welt erlösen will, muß auch die Sünden jedes Glaubens auf sich nehmen und darum in jede Form des Glaubens eintauchen. Alles ist nötig. Alles wird sich enthüllen. Verliert Euren Glauben nicht.

Inzwischen erstattet Guidon dem Sultan Bericht. Der ist mit dem Ausgang des Unternehmens sehr zufrieden und läßt gleich für den nächsten Tag, für den 16. des Monats Elul, eine feierliche Zeremonie vorbereiten, zu der alle Würdenträger des Hofes befohlen werden. Denn es bleibt ein wichtiger Vorgang. Messias oder Betrüger: immer doch ein Mann, von dem weitreichende und gefährliche Wirkung ausging. Ein triftiger Grund, ihm den Übertritt leicht zu machen und ihn mit allen Ehren zu behandeln.

Am nächsten Morgen wird Sabbatai in den Thronsaal des Sultans gebracht. Er trägt einen Anzug aus schwarzer Seide und eine hohe Judenmütze. Mit seinen fahrigen Bewegungen, denen die Endgültigkeit seines Entschlusses Zielstrebigkeit gibt, durchbricht er das feierlich gedachte Zeremoniell. Schon an der Schwelle des Saales nimmt er seine Mütze ab und wirft sie zu Boden. Das ist der Verzicht. In der Nähe sieht er einen Pagen stehen, der auf einem Kissen einen Turban hält. Sabbatai geht auf ihn zu, nimmt ihm den Turban ab und setzt ihn sich auf. Der Übertritt ist aus seiner eigenen Entschließung und mit seinen eigenen freien, überstürzten Gebärden vollzogen. Der Sultan strahlt vor Zufriedenheit. Er begrüßt den neuen Gläubigen, von dessen geheimem Vorbehalt er 328 nicht weiß. Er belegt ihn mit einem neuen Namen und steht selber Pate dabei. Sabbatai Zewi wird fortan Mehmed Effendi heißen. Darüber hinaus will er ihn auch ehren und belohnen und überträgt ihm feierlich das bedeutsame Amt eines Capigi Otorak, eines Türhüters des Serail. Mit diesem Amt ist nicht nur ein bedeutendes Einkommen verbunden, sondern auch eine besondere Art der Kleidung. Auch dieses Gewand, aus weißer Seide, läßt der Sultan dem Mehmed Effendi überreichen. Wie Sabbatai hinter einem Wandschirm seine Kleider wechselt, findet man in den Beinkleidern seines schwarzen Anzuges einige Pfund Zwieback, vielleicht von einer Fastenzeit her oder zu neuem Fasten bestimmt. Eine peinliche Entdeckung.

Um sein Bekenntnis zum neuen Glauben noch sichtbarer und glaubhafter zu machen, wird ihm nahegelegt, sich noch eine zweite Frau zu nehmen, eine mohammedanische Sklavin. Sabbatai gehorcht. Er tut ein übriges, läßt Sarah holen und bewirkt, daß auch sie zum Islam übertritt. Es wird ihr der Name Fatima Radini beigelegt.

Dann kehrt Mehmed Effendi in die Räume zurück, die ihm im Serail angewiesen sind und die ihm jetzt in seinem Amt als Türhüter gebühren. Einige Tage herrscht da doch ein gedrücktes und banges Schweigen. Dann geht als erste Äußerung des Konvertiten ein Brief an seine Brüder in Ismir ab, trotzig und doch mit einem Unterton von Schmerz und Resignation: »Jetzt laßt ab von mir, denn der Höchste hat mich zu einem Ismaeliten gemacht . . . Er sprach und es wurde; er gebot und es geschah. Den 24. Elul, am neunten Tage meiner Erneuerung nach göttlichem Ratschluß.«

 


 << zurück weiter >>