Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Siebentes Kapitel

Posaunen

Nathan Ghazati hat den Zusammenhang mit Sabbatai Zewi nicht verloren, weder den inneren noch den äußeren. Er hat das Schweigegebot jener ersten Begegnung richtig verstanden, aber befolgen kann er es nur so lange, wie das Glühende in ihm nicht übermächtig wird und einen Ausdruck sich erzwingt. Unleugbar tragen die äußeren Geschehnisse der letzten Zeit dazu bei, seine übergroße Bereitschaft in Visionen und Verkündigungen ausbrechen zu lassen. Seine Umgebung ahnt schon, daß es zu einem Ausbruch kommen werde, denn er hat seit einiger Zeit das Lernen in den Schriften eingestellt.

Am 25. Elul 5425, an einem Sabbath im Spätsommer des Jahres 1665, kommt endlich eine große Vision über Nathan Ghazati. Er sieht das Licht, das zur Stunde der Erschaffung der Welt geleuchtet hat. Wie in den Gesichten des Jecheskel brennen feurige Schriften am Himmelsgewölbe auf. Er kann sie Wort für Wort lesen. »So sprach Gott: Euer Erlöser kommt, Sabbatai Zewi!« Und dann sieht er den Messias selbst, über den Himmel schreitend, angezogen wie ein Engel. Endlich und zu allem dröhnt aus den unfaßbaren Höhen herunter eine Stimme, die nicht von dieser Welt ist: »Von nun an in einem Jahre und einigen Monden wird offenbar werden und werdet Ihr erschauen das Reich des Messias, der aus dem Hause David kommt.«

Nach diesem Vorgang finden die Freunde ihn wie einen Rasenden, Schaum vor dem Munde. Wie er die Fassung wieder erlangt hat, steht das Gesehene und Gehörte mit unverminderter Deutlichkeit vor ihm. Er wiederholt es ihnen. Er predigt es eindringlich, Er schwört ihnen bei der lebendigen Welt, 144 daß jedes Wort lautere Wahrheit sei. Er verrät ihnen, indem er wieder auf die Handschrift des Jachini anspielt, daß er die gleiche Verkündigung in einem alten Dokument aus dem Jahre 5386, also eben dem Geburtsjahre Sabbatais, gelesen habe. Er tritt aus der unverpflichtenden Sphäre des hellsichtigen Menschen heraus in die helle Öffentlichkeit und in das verpflichtende Amt dessen, der aufgerufen ist: des Propheten.

Und in diesem Amt ist er beharrlicher und treuer als der, den er ankündigt.

Sogleich beginnt er seine Tätigkeit. Er verfaßt ein Sendschreiben, an keinen bestimmten Empfänger gerichtet, schlechthin für die »Brüder in Israel« bestimmt, eines, das mit zauberhafter Schnelligkeit und in einer Unzahl von Abschriften seinen Weg durch die ganze jüdische Welt findet und nach wenigen Wochen schon in Saloniki, in Konstantinopel, in Venedig, Livorno, Amsterdam, Hamburg, Frankfurt, Paris, London, Posen und Lemberg gelesen wird und wie ein Posaunenstoß in den Schlummer der Erwartung dringt:

»Kund sei euch, Brüder in Israel, daß unser Messias in der Stadt Ismir zur Welt gekommen ist und den Namen Sabbatai Zewi führt. Bald wird er sein Reich allen offenbaren. Er wird die Königskrone dem türkischen Sultan vom Haupt nehmen und sie sich auf sein eigenes Haupt setzen. Gleich einem kanaanitischen Sklaven wird der Türkenkönig hinter ihm her schreiten müssen, denn sein, des Sabbatai, ist die Macht. Dann aber, nach neun Monaten, wird unser Messias den Augen Israels entschwinden, und niemand wird sagen können, ob er noch am Leben oder tot sei. Aber er wird jenseits des Stromes 145 Sabbation ziehen, den, wie man weiß, noch kein Sterblicher überschritten hat. Dort wird er sich mit der Tochter Mosis vermählen, und von dort aus wird unser Messias mit Meister Moses und allen verschollenen Juden hoch zu Roß nach Jerusalem ziehen. Er reitet auf einem Drachen und zügelt ihn mit einem Zaum, der aus einer siebenköpfigen Schlange besteht. Auf diesem Zuge werden ihn die Feinde Israels, Gog und Magog, mit einem mächtigen Heere überfallen. Aber nicht mit gewöhnlichen Waffen wird der Messias seine Feinde besiegen. Seines Mundes Hauch wird hinreichen, sie niederzustürzen, und sein Wort allein wird sie vollends vernichten. Nach seinem Einzug in Jerusalem wird Gott vom Himmel einen Tempel von Gold und Edelsteinen herabgleiten lassen, in deren Glanz die ganze Stadt erstrahlen wird. In ihm wird der Messias als Hoher Priester opfern. Alsdann werden die Toten der ganzen Welt aus ihren Gräbern aufstehen. Ich eile, dieses alles euch bekannt zu machen.«

In dieser Prophetie sind weltlicher und religiöser Messianismus eine Synthese eingegangen. Das entsprach völlig der Einstellung der Zeit. Es ist aber auch kennzeichnend, daß das an Leiden gewöhnte Bewußtsein der Juden automatisch eine Verzögerung der Erlösung einschaltet. Ohne einen letzten Hieb, ohne ein letztes und nochmaliges und endgültiges Unheil scheint ihnen ihre Befreiung nicht mehr denkbar. Das zu betonen, kann Nathan sich nicht genug tun. Es ist noch ein ausführliches Schreiben übermittelt, das der Prophet an Chelebi in Kairo gerichtet hat. Auch ihm teilt er in den gleichen Ausdrücken wie in dem ersten Sendschreiben mit, daß und wie die Erlösung der Welt sich vollziehen werde. Bei 146 Sabbatais nochmaliger Vermählung jenseits des Sabbation verweilt er etwas ausführlicher. Moses, der von den Toten auferstanden ist, hat eine Tochter, Rebekka, ein Mädchen von vierzehn Jahren. Die hat Gott dem Messias als die wahre Braut zugewiesen. Er wird sie heiraten, und Sarah, die man jetzt Königin nennt, wird die Sklavin der Tochter Mosis sein. Das ist das einzige Mal, daß er Sarah in seinen Manifesten und Mitteilungen je erwähnt, und es hat den Anschein, als habe er einen Widerstand gegen sie nie überwinden können.

Dann stellt er Chelebi vor, wie unendlich viel der Messias schon gelitten habe. ». . . und darum sind alle Juden in seine Hand gegeben, damit er mit ihnen nach seinem Willen tue. Die er verurteilen will, verurteilt er, und die er erheben will, erhebt er. In einem Jahre und einigen Monaten wird er dem türkischen Kaiser das Reich nehmen, ohne irgend welchen Krieg, allein durch das Singen von Liedern und Lobgesängen. Er wird den Türken überall mit hin über die Erde nehmen, wo er gewinnt oder erobert. Diese Könige sollen alle Sklaven des Sultans werden, aber der Sultan allein sein Sklave. Da soll auch kein Blutvergießen unter den Christen stattfinden, ausgenommen in Deutschland.« Aber auch damit ist die Erlösung noch nicht geschehen. Sondern es werden noch vier bis fünf Jahre darüber vergehen. Dann erst geht Sabbatai über den mystischen Fluß. Die Herrschaft der nunmehr gebesserten Welt übergibt er dem Großtürken und befiehlt ihm, die Juden in ihrem Besitz zu belassen. Aber nach drei Monaten steht der Sultan gegen die Juden auf, von seinen Ratgebern angestiftet. Da wird die Not groß. In der ganzen Welt gibt es dann viel Unglück. Nur die Stadt Gaza 147 wird eine Ausnahme machen. Die ist der Beginn seines Königreiches. Diese Stadt liebt Sabbatai so, wie David die Stadt Hebron geliebt hat. Gegen das Ende dieser Zeit geschehen dann die Wunder, von denen im Sohar geschrieben steht. Dann werden alle erlöst, die noch unter dem Joch sind. Dann werden auch diejenigen wieder auferstehen, die sich um das heilige Land besondere Verdienste erworben haben. Aber vierzig Jahre darauf erfolgt dann die allgemeine Auferstehung der Toten.

Die Ausführlichkeit dieses Schreibens, das ebenfalls in zahllosen Vervielfältigungen seinen Weg durch die Welt macht, ist aus einem doppelten Zweck gerechtfertigt. Nach der ersten, spontanen Äußerung ist für die Verbreitung und Verdeutlichung des Kommenden eine Erläuterung, gleichsam ein Kommentar notwendig. Dann aber auch ist dieser Brief eine Antwort Nathans auf eine Anfrage Chelebis, was es mit den Dingen auf sich habe, die man von Sabbatai und seinem Betragen in Jerusalem hört. Und das sind allerdings für einen Juden sonderbare und erschreckende Vorgänge.

Sabbatai ist mit seiner Königin in Jerusalem eingezogen, läßt sich als Erretter der heiligen Stadt bejubeln, nimmt die öffentliche Verkündigung Nathans mit gelassener Selbstverständlichkeit zur Kenntnis und sträubt sich nicht dagegen, wenn seine Anhänger und die Armen, die zu ihm als dem befreienden Menschen und Sendboten halten, ihn bei seinem öffentlichen Auftreten als König und Messias ausrufen. Er ist schon sehr selbstherrlich geworden. Chelebi hat ihm viertausend Taler für die Armen der Stadt mitgegeben, und die Rabbiner machen Anspruch darauf, sie selbst und nach dem gewohnten Schlüssel zu 148 verteilen. Sabbatai kümmert sich um diesen Anspruch nicht. Er verteilt die Gelder so, wie er es für richtig hält, und es versteht sich, daß er dabei in erster Linie seine Anhänger und Freunde bedenkt. Die Rabbiner geraten in einen Paroxismus der Wut und drohen ihm den Bann an. Sabbatai ist aber heute schon so weit, das solche Drohungen ihn nicht mehr berühren. Er tut, was er will, und seine Freunde, einschließlich Chelebi, weisen ihm das selbstverständliche Recht zu einem solchen Verhalten zu. Aber etwas anderes bedrückt und verstört sie: Sabbatai, dieses Vorbild an Frömmigkeit, beginnt das Gesetz zu verletzen, zu mißachten. Er tut so, als ständen die Regeln und Vorschriften nicht seit mehr als tausend Jahren heilig und unverrückbar fest. Für ihn gibt es keine Gebetszeiten mehr und keine Gebetsordnung. Er betet, was er will und wann er will. Für ihn gibt es keine Vorschriften über das Tragen von Kleidung und über Feiertage und keine Speisegesetze mehr. Und das ist ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß sie es nicht begreifen.

Sie sind geneigt, zu glauben, daß eine solche Blasphemie nicht in seinem Gehirn und in seinem Willen entstanden ist. Da ist plötzlich ein Mann neben Sabbatai Zewi aufgetaucht, einer, von dem man nicht weiß, woher er gekommen ist, und was er will: Samuel Primo. Der Messias bezeichnet ihn als seinen Sekretär, und er nennt sich ebenso. Aber das ist nur die Verkleidung einer auffälligen Beziehung von Herrschaft und Abhängigkeit. Sabbatai tut nichts mehr ohne seinen Sekretär Primo. Nicht, daß er ihn befragt und seinem Rat folgt; sondern so: Primo denkt etwas, Primo bringt etwas zum Ausdruck, und Sabbatai tut es in der Öffentlichkeit. Was Sabbatai denkt 149 und verkündet, verläßt den engen Umkreis und wird der Mitwelt zugänglich erst in dem Augenblick, in dem Primo solche Verkündigung nach seinem freien Willen und Entschluß in Worte gekleidet hat. Nur noch die ganz spontane Äußerung von Mensch zu Mensch ist Sabbatai freigegeben. Alles andere unterliegt der Redaktion und der Korrektur durch Primo. Dabei drängt er sich nie in den Vordergrund, und selbst wenn er den Messias wie eine Marionette an ihren Fäden bewegt und lenkt, bleibt er schweigsam im Dunkel der Kulissen verborgen.

In dieser Rolle ist Primo geblieben, so lange Sabbatai selbst in seiner Rolle als Messias blieb. Er hat viel besser als sein Herr gewußt, was für die Begründung und die Existenz eines Messias nötig sei. Er hat die schwachen Punkte in seiner Begründung und Lebensführung gesehen und sie versteckt oder überdeckt. Er hat immer neue Manifestationen erfunden, die das Verhalten des Messias rechtfertigten. Er hat den richtigen Instinkt dafür, daß ein ungewöhnlicher Mensch ein Anrecht auf ungewöhnliches Verhalten habe, und daß die Massen, die ihm glauben sollen, selbst vom Befremdlichen stärker ergriffen werden als vom Herkömmlichen und Vulgären. Er glaubt an den Messias, aber er hält ihn für schwach. Er dient der Idee, indem er sich zum Diener des Ideenträgers macht. Und in dieser Eigenschaft muß er ihn notwendig unterjochen.

Primo hat als erster den Mut, die Folgerungen aus den Ereignissen zu ziehen. Während Sabbatai nur auf sich und seine eigene Wirkung bedacht ist, begreift Primo, daß jetzt das religiöse Judentum an einem entscheidenden Wendepunkte steht, und daß im religiösen Bezirk mit der Wirkung eingesetzt 150 werden muß. Er sieht ein, daß das gesamte rabbinische Judentum in seiner Entwicklung und in seiner jetzt gewordenen Gestalt nur ein Notprodukt ist, dessen wirksamste Bedingung Diaspora heißt. Alles, was geboten und verboten ist, hat nur darin seine zeitliche Bedeutung. Es stammt nicht von Gott. Die Menschen haben nur ein kompliziertes System von Verteidigungsstellungen um das göttliche Gesetz errichtet, damit es ihnen, fern von ihrem Lande, ihrem Tempel, ihrer Tradition im eigenen Volkstum und unter art- und glaubensfremde Völker versetzt, nicht völlig verloren gehe. Er begreift auch wohl, daß die Entwicklung an einem gefährlichen Punkt der Kompliziertheit und der ewig unfruchtbaren Haarspalterei angelangt ist. Um so mehr Grund, mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß jetzt, mit dem Einbrechen der messianischen Zeit, ein grundsätzlicher Wandel eintreten müsse. Es geht heimwärts! Das Gesetz der Diaspora ist für die Fremde geschaffen. Es muß eingerissen werden. Viele Tausende werden nicht sogleich begreifen, was es heißt: der Messias ist gekommen. Aber sie werden es verstehen, wenn man das religiöse, das kultische, das orthodoxe Gesetz niederreißt, mit dem sie von Sonnenaufgang bis in die Nacht hinein Zeit ihres Lebens verkettet waren.

Ein Messias muß es auf diese Belastungsprobe ankommen lassen. Primo kann sein Verhalten auch jederzeit decken durch die Anschauungen, die im Sohar verankert sind: wenn der Messias die Olam ha-Tikkun, die Welt der Ordnung heraufbringt, dann verliert in dieser neuen Welt alles an Bedeutung, was es bisher im Judentum an Gesetzen über Erlaubtes und Verbotenes gegeben hat. Dann wird auch der 151 große Ritualkodex der Juden, der Schulchan Aruch (der gedeckte Tisch), seine verbindliche Kraft einbüßen. Also sündigt der Messias nicht, wenn er die Gebote mißachtet. Er beweist eben gerade dadurch, daß er der Messias ist. Er beginnt mit der neuen Ordnung, die seines Amtes ist. Irgendwo im Unendlichen sitzt der »Heilige Alte«, der »Alte der Tage«, den man früher einmal unzureichend »Gott« genannt hat. Er, dessen Weltplan in seiner Intention vollkommen war, und der doch an der Unreinheit der Materie zur Unvollkommenheit herabgesunken ist, hat jetzt aus sich, aus seinem heiligen Schoße den Messias als neue göttliche Person entlassen, den Malka Kadischa, den »heiligen König«, den wahren und vollendeten Urmenschen der neuen Welt, Adam Kadmon. Ihm hat er Kraft und Auftrag gegeben, endlich die letzte Ordnung in die Welt zu bringen, alles Böse und alle Sünde aufzuheben, alle gefallenen Geister zu beschwören, den Weg wieder freizumachen für das Einströmen göttlicher Gnade auf die Erde. Das tut der Messias. Er sündigt nicht.

Es ist auch für Sabbatais Anhänger nicht schwer, das zu begreifen, und es ist doch qualvoll und mühsam, von einem Tage zum anderen die Dinge aus dem Alltag zu verbannen, mit denen sie in übermäßiger Verbundenheit gelebt haben. Darum ist es Primos und auch Nathans Aufgabe, immer tiefer die Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes, eben den Anbruch der messianischen Zeit, zu beweisen. Dieses gelingt ihnen weit besser in der Nähe als in der Ferne. In Jerusalem ist die Meinung über Sabbatai und sein Auftreten durchaus geteilt. Verargt man ihm von seiten der Rabbiner schon sehr die eigenmächtige Verteilung der Spenden, so erregt 152 Nathans Sendschreiben vollends Verärgerung und unliebsames Aufsehen. Die Gemeinde Jerusalem befindet sich da, wie man erkennen muß, in einer peinlichen Lage. Es herrscht dort ein türkischer Gouverneur, der es sich scheinbar zur Aufgabe gesetzt hat, zwar die Juden nicht zu lieben, aber doch von den Spenden, die aus der ganzen Judenheit hier zusammenströmen, seinen gerüttelten Anteil in Form von Steuern, Kontributionen und willkürlichen Strafen in Anspruch zu nehmen. Die Bekanntgabe von Nathans Sendschreiben und die tumultartigen Szenen, die daraufhin im jüdischen Viertel entstehen, vielleicht auch die Nachricht, daß Sabbatai viel Geld aus Kairo mitgebracht hat, sind ihm ein willkommener Anlaß zum Einschreiten. Daß Sabbatai den Sultan entthronen will, veranlaßt ihn nicht etwa, sich mit diesem Rebellen zu befassen, oder auch nur nach Konstantinopel zu berichten, sondern lediglich zu einer erheblichen Anforderung von Strafgeldern von den Juden.

Mit einigem Recht sehen sie in Sabbatai den Urheber dieser neuen Bedrückung, und sie fordern ihn unter Androhung des Bannes auf, die Stadt sofort zu verlassen. An der Spitze seiner Gegner steht der Rabbi Jakob Chagis, und seine Gegnerschaft mag noch dadurch verschärft worden sein, daß er in seiner nächsten Verwandtschaft eine glühende Begeisterung für Sabbatai feststellen muß.

Ob der Bann wirklich ausgesprochen worden ist, steht nicht fest. So oder so hatte Sabbatai ihn auch nicht mehr zu fürchten. Er ist jetzt zum ersten Male völlig frei in seinen Entschlüssen. Wenigstens scheint es nach außen so, während im Innenverhältnis immer mit Primos Einfluß gerechnet werden muß. Nicht die 153 Furcht vor dem Bann, sondern der Wille, jetzt die Entscheidung herbeizuführen, sind für die Abreise von Jerusalem entscheidend. Sie erfolgt auch nicht, wie früher jeder Ortswechsel erfolgt ist: als Flucht. Es werden vielmehr große Vorbereitungen getroffen. Vor allem werden zwei Sendboten auserwählt, die in die Welt ziehen und die Kunde von Sabbatais Messianität verbreiten sollen: Sabbatai Raphael und Matthatia Bloch. Der eine wird nach Europa beordert, der andere nach Ägypten. Bloch bekommt später zum Lohn für seine Dienste eine Krone.

Sodann wird ein pompöser Reisezug zusammengestellt. Das Rabbinat Jerusalem versucht noch einmal, erregt durch diese gelassenen und weitschweifigen Vorbereitungen, seinem Gegner einen Hieb zu versetzen. Es erstattet gegen Sabbatai wegen Gesetzesverletzung und Gotteslästerung Anzeige bei dem Rabbinat in Konstantinopel, und muß es wohl in so eindringlicher Form getan haben, daß Konstantinopel sich veranlaßt sah, in einer Urkunde, die 25 Unterschriften trägt, den Chacham Baschi Jomtof ben Jaser an der Spitze, an die Gemeinde in Ismir Anweisung zu geben, Sabbatai auf irgendeine Weise unschädlich zu machen, falls er dorthin kommen sollte.

Sabbatai erfährt es, aber er kümmert sich nicht darum. Dagegen tritt Nathan, ein erzürnter Prophet, auf den Plan. Er richtet ein empörtes Schreiben an die Gemeinde Jerusalem und verkündet ihr, daß zur Strafe für dieses Verhalten gegen den Messias fortan nicht mehr Jerusalem, sondern Gaza die dem Messias wichtige Stadt sein werde. Der weitere Verlauf der Dinge hat dieser Drohung immerhin eine solche Eindringlichkeit gegeben, daß die Gemeinde Jerusalem bald darauf eine Abordnung zu Sabbatai nach Ismir 154 schickte, um sich wegen ihres Verhaltens zu entschuldigen.

Sabbatai gibt jetzt das Ziel seiner Reise bekannt: Ismir! Es zieht ihn immer wieder nach der Stadt seiner Geburt und seines ersten Werdens. Es ist, als müßte sein Wirkungswille sich gerade dort durchsetzen, wo er den ersten leidenschaftlichen Anlauf genommen hat und gescheitert ist. Dabei kann diese Stadt politisch für ihn nichts bedeuten. Da sein Auftreten nun einmal im Orient erfolgt, müßte es in das historische Zentrum von Jerusalem oder das faktische von Konstantinopel verlegt werden. Aber in beiden Orten ist er mißliebig. Ismir hat ihn zwar gebannt, aber er darf dort mit der alten Anhängerschaft rechnen. Er kann damit rechnen, daß ein besonderer Stolz die Menschen erfüllen wird, daß gerade ein Sohn ihrer Stadt zum Messias ausersehen ist. Auch ist Ismir als neuer Mittelpunkt der Handelswege der Verbreitung von Nachrichten besonders günstig. Und wie belanglos und vergessen der gegen ihn verhängte Bann geworden ist, hat er vor Jahren schon bei seiner stillschweigenden ersten Rückkehr feststellen können. Nathan tut das seinige, ihm den Weg dorthin leicht zu machen und den Einwohnern von Ismir durch das Verhalten andrer Orte ein gutes Beispiel zu geben. Die Reise Sabbatais führt über Aleppo. Dorthin schreibt der Prophet einen warnenden Brief und ermahnt die Einwohner, den Messias gut aufzunehmen und nicht dem Vorbild Jerusalems zu folgen, damit sie nicht das Schicksal von Jerusalem teilen müßten. Nathan betrachtet nämlich die Strafe, die der Gouverneur der Gemeinde auferlegt hat, als Folge der schlechten Behandlung, die sie Sabbatai zugefügt hat. »Denkt daran, daß die Zeit nahe ist!« 155 beschwört er die Menschen. Und er hat Erfolg. Er spricht nicht nur zu glaubensbereiten Juden, sondern auch zu Orientalen. Es darf bei allen diesen Vorgängen nicht vergessen werden, daß zwei Umstände die Glaubwürdigkeit aller Nachrichten erheblich vermehren: im Orient die leichte, phantasiebegabte Empfänglichkeit der Menschen, im Abendland der Reiz der Entfernung und der Respekt vor dem geschriebenen Wort.

Sabbatai findet in Aleppo einen begeisterten Empfang. Er ist, obgleich er sich noch nicht offenbart hat, für sie schlechthin der Messias. Sie taumeln vor Freude. Es berauscht sie die Ehre, daß der Messias bei ihnen Rast macht. Sie schreiben an die Gemeinde Konstantinopel einen überschwenglichen Brief: der Messias sei bei ihnen. Jetzt werde Gott erfüllen, was er durch seine Propheten verheißen habe. Sie hätten sich nicht nur auf das verlassen, was Nathan ihnen berichtet habe, sondern mit eigenen Augen gesehen, daß täglich um diesen Menschen Zeichen und Wunder geschähen. Schon begibt sich bei ihnen das, was für die ganze Folgezeit eine erregende Begleiterscheinung von Sabbatais Auftreten wird: daß Menschen in Krämpfen und Zuckungen zu Boden fallen und von dem Erscheinen des Messias und seiner Erwähltheit stammelnde Kunde geben.

Sie bitten ihn eindringlich, doch einige Zeit, wenn auch nur zwei Monate, bei ihnen zu bleiben. Er kann sich nicht dazu entschließen. Gerade dieser Empfang hat ihm die Möglichkeiten des Augenblicks gezeigt. Er muß sie ausnutzen. Zu allem drängt die Zeit. Es ist Spätherbst des Jahres 1665. Bis zum neuen Jahre sind es nur noch wenige Wochen. Da darf nichts versäumt werden. Er muß sie abschlägig 156 bescheiden. Daß sie ihm aber eine Ehreneskorte bis Ismir stellen wollen, nimmt er dankbar entgegen. Während der ganzen Reise geht Sabbatai in einen großen weißen Gebetsmantel eingehüllt. Seine Begleiter aus Aleppo, die Gegend und Sitten kennen, wollen ihn bereden, den Mantel abzulegen, da man an ihm den Reisezug schon von weitem als einen jüdischen erkennen und damit Räuber anlocken könne. Denn hier in der Gegend gelten die Juden als reich und werden mit Vorliebe ausgeplündert. Aber Sabbatai erklärt, er müsse so gehen. Das sei göttlicher Befehl. Wie die Leute der Eskorte nach Aleppo zurückkommen, sind sie von den Aufregungen der Fahrt und der Pracht des ganzen Aufzuges völlig überwältigt. Sie haben es alle gesehen und berichten es übereinstimmend, daß nachts eine Legion von Menschen den Zug von beiden Seiten begleitet hat, die dann, wenn es Morgen wurde, nicht mehr zu sehen waren. Sie berichten das auch getreulich nach Konstantinopel. Sie ziehen außerdem aus der Tatsache, daß nunmehr die erlösende Zeit angebrochen ist, die selbstverständliche Folgerung. Sie lassen Handel und Handwerk ruhen. Die Wohlhabenden bilden einen Fonds für die Armen, damit sie nicht mehr zu arbeiten brauchen und sich in frommer Zurückgezogenheit auf die heilige Zeit innerlich vorbereiten können.

Die widersprechenden Berichte, die von Jerusalem und Aleppo nach Konstantinopel gelangen, erzeugen dort eine unbeschreibliche Aufregung. Das schlechte Gewissen regt sich. Sabbatai, das ist doch der junge Gelehrte aus Ismir, den die Rabbiner hier einmal durch einen Schulmeister haben verprügeln lassen. Und der zieht jetzt als Messias durch das Land? Jachini rührt sich und schafft durch seine Predigten 157 bald eine kompakte Anhängerschaft. Zwischen ihnen und ihren Gegnern erheben sich wilde Dispute, genährt von Berichten, deren Herkunft nicht feststellbar ist. Freunde und Feinde vernachlässigen ihre Geschäfte und disputieren, reden aufeinander ein, beschimpfen sich, schlagen sich. Es wird so unruhig im Judenquartier, daß die Rabbiner die Angst überfällt. Sie haben keine Neigung, das Schicksal von Jerusalem zu teilen.

Sie befürchten, daß, wenn Jerusalem nur mit Geld gestraft worden ist, ihnen, so nahe der Residenz des Sultans in Adrianopel, die Strafe an Leib und Leben gehen könnte. Darum verbieten sie mit schweren Androhungen jeden Disput über Sabbatai und den Messianismus.

Das nützt nichts. Solche Leidenschaften lassen sich nicht einfach verbieten. Es geht hier ja nicht um theoretische Konflikte, etwa um die Frage, ob man sich für den Sabbath die Nägel erst am Freitag oder schon am Donnerstag schneiden soll, sondern es geht tatsächlich um den Kern ihrer inneren und äußeren Existenz. Da bestreiten die Gegner heftig, daß die Vorzeichen, die für das Kommen des Messias in dem Schrifttum angegeben sind, schon eingetroffen seien. Da muß zunächst einmal der Messias aus dem Stamme Benjamin gekommen sein. Wo ist er? Es muß, wie Maleachi prophezeit hat, der Tempel wiederhergestellt sein. Der Tempel ist Schutt, soweit er nicht türkische Moschee ist. Auch die äußeren Voraussetzungen in der Person des Messias stimmen nicht, von den inneren ganz zu schweigen. Er muß aus dem Stamme David sein. Dafür liegt bis jetzt kein Beweis vor. Er muß, wie aus dem Propheten Micha abzuleiten ist, in Bethlehem geboren sein. Auch Kimchi 158 und Raschi bestätigen das. Unwiderlegbar ist er in Ismir geboren. In keiner Schrift ist gesagt, daß der Messias Sabbatai Zewi heißen solle. Hundert andere Namen trägt er: Fürst der Welt, Fürst des Angesichts, Hüter Israels und so fort. Er soll auch der Schönste unter den Menschen sein in Ansehung seiner Gerechtigkeit. Aber er hat in Jerusalem nicht einmal den Armen gerecht ausgeteilt. Er soll, wie Jesaja sagt, klüger als Salomo und größer als Moses sein. Nicht mit einer einzigen Schrift kann er seine Klugheit belegen. Hat er – gewichtiges Argument – überhaupt je eine Zeile geschrieben? Und welche Taten kann er aufweisen, die ihn größer als Moses machen? Die Massenhaftigkeit und Gewichtigkeit dieser Argumente verfängt nicht gegenüber Menschen, die das stärkste und unwiderlegbarste Argument besitzen: die Bereitwilligkeit zum Glauben. Was Jeremias und was Jesaja über den Messias sagen, gilt schlechthin von diesem Messias Sabbatai. Sie begreifen, was Ezechiel sagt, als jetzt und für diesen Messias gültig: »Ich werde sein wie ein guter Hirte. Ich werde meine Lämmer in allen Ländern sammeln, wo sie zerstreut sind. Ich werde sie wieder in ihr Land bringen, und ich werde ihnen einen Hirten geben, der mein Knecht David sein wird.« Und was sie mit dem Gehirn nicht beweisen können, beweisen sie mit Dingen und Erscheinungen aus der Zeit. Ein Komet ist am Himmel aufgetaucht. Was kann er anders bedeuten als den Beginn der Zeit? Unter ihnen sind Menschen, die Erscheinungen gehabt haben. Sie haben Sabbatai erblickt, mit der dreifachen Krone als Messias, als König und als Besieger aller Völker der Welt. Will einer behaupten, das wäre Lüge und nicht innere Wahrheit? Und wenn es noch eines Beweises bedarf, 159 so diese Nachricht aus Aleppo: in der Synagoge zu Aleppo ist der Prophet Elias erschienen, in einem weißen Gewande und mit einem Gürtel aus schwarzem Leder. Das bedeutet, daß der Messias erschienen ist. – Nein, sagen die Gegner. Die Nachricht aus Aleppo mag richtig sein, aber sie bedeutet nur, daß »der große und schreckliche Tag des Herrn« kommen wird.

Diese Dispute werden genährt durch unablässig neue Briefe, die in Konstantinopel ankommen und von Hand zu Hand gehen. Es sind endlich deren so viele, und sie sind in ihrem Inhalt teils von so skrupelloser Absurdität, daß die Rabbiner auf den Gedanken kommen, es möchten irgendwo Menschen sitzen, die solche Briefe aus ideellen oder gar gewinnsüchtigen Absichten herstellen. Sie forschen nach und stoßen tatsächlich auf eine ganze Fälscherwerkstatt, die sich die Industrialisierung des Wunderglaubens zur Aufgabe gemacht hat. Sie belegen die Fälscher mit empfindlichen Strafen. Aber Wirkung erzielen sie damit nicht. Was die Dispute für einen Augenblick verstummen und selbst die Gegner beklommen den Atem anhalten läßt, ist vielmehr die Nachricht: Sabbatai Zewi ist in Ismir eingetroffen, und die Stadt bebt vor dem Übermaß an Freude!

 


 


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