Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Sechstes Kapitel

Der Prophet und die Dirne

Die Vertreibung aus Konstantinopel, die ihn in Besitz der unschätzbaren Urkunde des Jachini gebracht hat, ermutigt Sabbatai zu einem neuen Vorstoß. Er wagt trotz Bann und Feindschaft eine Rückkehr nach Ismir. Er ist überzeugt, daß man ihn nicht töten wird, denn er hat aus den Berichten der Freunde längst erfahren, daß der Kreis seiner Anhänger und derer, die an ihn als einen Messias glauben, sich beträchtlich erweitert hat. Sein Beginnen ist also ungefährlich. Es ist aber für ihn nötig, selbst einmal zu sondieren, wie weit die Dinge gediehen sind, und mit welchem Wirkungsgrad er rechnen kann.

Er hat in seinen Plan als mögliche Stätte der Wirkung oder des endgültigen Bekennens zwei Orte einbezogen: Jerusalem und seine Heimatstadt Ismir. Nach Jerusalem wagt er sich noch nicht, weil dort noch kein Boden vorbereitet ist. In Ismir muß er jetzt die Feststellung machen, daß er zwar einen erweiterten Kreis von Anhängern hat, daß aber um ihn und diesen Kreis eine hohe Mauer aus Schweigen und Ablehnung errichtet ist. Es zieht aber auch niemand aus der Tatsache, daß über ihn der Bann verhängt ist, eine Folgerung. Das ist schon ein sehr wichtiger Fortschritt, und dieser Umstand ermutigt ihn, einige Monate in Ismir zu bleiben. Er ist dort mit seinen Freunden zusammen, studiert mit ihnen, berichtet, was er gesehen und getan hat, zeigt ihnen die Urkunde des Jachini, vernimmt und verbreitet, was die Stadt auf dem Handelswege an neuen Nachrichten bekommen hat, und hält sich im übrigen abwartend zurück. Er muß aber dabei endlich erkennen, daß für ihn hier noch kein Feld für eine größere Manifestation ist. Hier bleiben, bedeutet für ihn verlorene Zeit. Es lockt wieder die 116 Unabhängigkeit und Beweglichkeit des Reisens. Hier in Ismir wird ihm ja nicht einmal etwas zuleide getan, woraus er neue Erregung und Bestätigung schöpfen könnte. So nimmt er Abschied, läßt sich vom Vater und den Brüdern mit Geld ausstatten und nimmt seine Wanderung wieder auf.

Eine Reihe von Stationen zeichnet sich durch besondere Ereignisse und besondere Ausführlichkeit der Berichterstattung aus. Sabbatai ist schon eine auffallende Erscheinung geworden. Was haben die Juden des Orients, durch ihre Lage abseits von den Wegen der großen Welt doppelt isoliert, sich anderes mitzuteilen, als das, was sie von ungewöhnlichen Menschen ihres Kreises sehen und hören? Und von diesem Sabbatai Zewi weiß man, daß er ein großer Chacham ist, ein bedeutender Ausleger und Kenner der Kabbala. Er hat einmal den Schem ha'mforasch ausgesprochen. Der große Cherem ist gegen ihn verhängt worden. In Saloniki hat er Hochzeit mit der Tochter Gottes, der Thora gefeiert. In Konstantinopel ist eine wichtige, geheimnisvolle Urkunde aufgefunden worden, die er im Besitz hat, aber über deren Inhalt er vorsichtiges Schweigen bewahrt. Und wenn er in die einzelnen Orte zu den jüdischen Gemeinden kommt, wirkt zu diesen Berichten noch seine Erscheinung, die einer seiner Historiker, Abraham Cuenqui, wie folgt schildert: »Er war ein gleich einer Libanonzeder hoch aufgeschossener Mann, dessen frisches, bräunliches, von einem schwarzen Vollbart umrahmtes Gesicht in Schönheit erstrahlte, und der in seinem fürstlichen Gewande sowie durch sein kraftstrotzendes Aussehen einen großartigen Anblick bot.« So taucht er in Hebron auf, lehrt, erläutert, sammelt für ein späteres Ziel Anhänger und erschüttert die Menschen durch 117 die fanatische Hingebung, mit der er des Abends seine Andacht an den historischen Stätten der Erzvätergräber, den Höhlen von Machpelah, verrichtet. Die Empfindung, er sei ein außergewöhnlicher Mensch, begleitet ihn, wie er sich zu neuen Fahrten auf den Weg macht.

Dann taucht Sabbatai gegen das Jahr 1660 in Kairo auf. Hier findet – oder wahrscheinlicher: sucht er einen Mann, der in der orientalischen Judenheit ungewöhnliches Ansehen genießt, und der in seiner ganzen Haltung einen Prototyp der Zeit darstellt: Raphael Joseph Chelebi. Der ist der offizielle Vertreter der ägyptischen Judenschaft und in seinem Beruf Zaraf baschi, Münzmeister und Zollpächter am Hofe des türkischen Statthalters. Er ist unermeßlich reich und führt eine wahrhaft orientalische Haushaltung. Wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigt, trägt er Prachtgewänder, wie sie für seine hohe und wichtige Stellung angemessen und vorgeschrieben sind. Aber das ist alles nur Außenfläche und Schein. Nur seine engeren Freunde wissen, daß er unter dem Staatsgewand einen groben, härenen Anzug trägt, die Kleidung des Büßers. Sie wissen auch, daß er selbst von der üppigen Haltung seines Hauses keinen Gebrauch macht. Er führt ein völlig asketisches Dasein. Er fastet, kasteit sich, nimmt Bußübungen vor, wie die strengsten Vorschriften der praktischen Kabbala es erfordern. Er hat sich eigens einen bedeutenden Kabbalisten angestellt, der seine Bußübungen überwacht und leitet, Samuel Vital, den Sohn des bekannten Chaim Vital Calabrese aus Safed. Seine Wohltätigkeit gegenüber anderen Juden kennt keine Grenzen, und damit er nie ohne Wohltaten vor Gott steht, auch wenn keine besonderen Forderungen an 118 ihn herantreten, hat er ständig 50 Talmudisten und Kabbalisten in seinem Hause und an seiner Tafel. Dieser Chelebi büßt nicht etwa ein persönliches Verschulden ab, will auch nicht für sich selbst zu einem Erlösungsziel gelangen. Sondern er gehört zu den vielen in der Zeit, die aus dem Leid des Volkes und der Volksseele den Weg zum Mystizismus gefunden haben, die ihr Bußwerk in das Ringen mit Gott um die Erlösung der Gesamtheit einbeziehen, und denen Macht, Einfluß und Reichtum persönlich nichts mehr geben können. Sie leben außerhalb ihres Amtes – wie Chelebi – in einem Kreise von Gleichgesinnten und sehnen das »Ende der Zeiten« herbei, jüdische Tolstois ohne Problematik und Zerrissenheit.

Hier findet Sabbatai einen Empfang, wie er ihn sich herzlicher und ergebener nicht wünschen kann. Chelebi ordnet sich dem um vieles jüngeren Menschen so gläubig und bedingungslos unter, daß Sabbatai nicht zögert, sich ihm rückhaltslos zu bekennen. Und damit hat er einen treuen, blindgläubigen und reichen Anhänger gefunden, der in der Zukunft viel zur Ebnung seines Weges beiträgt. Fast zwei Jahre verbringt Sabbatai in seinem Hause, und während dieser Zeit gehen aus dem Kreise um Chelebi, der jetzt ein Kreis um Sabbatai wird, unablässig Berichte in die Welt hinaus. Sie sprechen noch nicht vom Messias, insbesondere nicht vom Messias Sabbatai Zewi, aber es sind Vorbereitungsakte von starker Eindringlichkeit, die nach und nach Sabbatai zum Mittelpunkt eines Interesses machen, das eines Tages jede Ausweitung vertragen wird. Es fehlt nur noch, um das letzte wagen zu können, jener tragfähige Boden der Popularität, ohne die nie ein Führer oder Messias von den Massen aufgenommen worden ist. Und um 119 solche Popularität zu gewinnen, beschließt Sabbatai endlich, den Ort seiner Tätigkeit in das bisher gemiedene Zentrum Jerusalem zu verlegen. Diese Stadt steht im Mittelpunkt der Blicke einer Welt, der Welt, auf die es Sabbatai ankommt. Er darf jetzt schon wagen, sich in diesen Mittelpunkt zu stellen.

Auf dem Wege dorthin kommt er durch die Stadt Gaza, und hier wirft ihm das Schicksal eine Gabe von phantastischer Einmaligkeit in die Hände, eine Gabe, die seinem Leben und Wirken die entscheidende Wendung gibt: den Propheten, der das Kommen des Messias verkündet.

Es lebt dort Nathan Benjamin Levi, nach der deutschen Abstammung seines Vaters auch Nathan Aschkenasi genannt, und später, wie sein Name schon über die Welt hin bekannt ist, nach seinem Geburtsort Nathan Ghazati. Der Vater sammelt für die Gemeinde Jerusalem Spenden in Europa, und das einzige, was er für die Ausbildung seines Sohnes tun kann, ist, daß er ihn zum Studium, das heißt: zum Erlernen von Talmud und Kabbala nach Jerusalem schickt. Dort lebt er von Almosen, wie die meisten übrigen Juden auch. Aber da er ein heller Kopf ist, und besonders im Ausdruck sowohl des gesprochenen wie des geschriebenen Wortes über eine besondere Eindringlichkeit verfügt, verweist sein berühmter Lehrer, der Rabbi Jakob Chagis, ihn an den reichen Samuel Lisbona in Gaza. Der tut, was man in der Zeit für einen zukunftsreichen Kopf zu tun pflegte, auch wenn er bettelarm war: er gibt ihm seine Tochter zur Frau, von der man sagt, sie sei trotz ihrer Einäugigkeit sehr schön gewesen. Er stattet den Schwiegersohn so reichlich mit Mitteln aus, daß er hinfort sorgenlos seinen Studien obliegen kann. 120

Nathan Ghazati ist ein fast weltlicher Gelehrter, ein lebensfreudiger und zufriedener junger Mensch, den auch das eingehende Studium der praktischen Kabbala nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Aber noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr ändert sich plötzlich diese Haltung. Er beginnt, mit den Vorschriften, die er bisher theoretisch gelernt und gelehrt hat, Ernst zu machen und sie in die Praxis umzusetzen. Er wird ernst, verschlossen, zurückgezogen, wortkarg. Er beginnt mit Bußübungen und Kasteiungen und äußert hie und da, im Kreise von Schülern und anderen Gelehrten, Behauptungen über Dinge, von denen er ihrer Meinung nach unmöglich etwas wissen kann, die sich aber bei Nachprüfung als richtig herausstellen. Es kann also nicht fehlen, daß man ihm besondere und geheime Begabungen zuspricht und dementsprechend besondere Achtung zollt. Es genügt bald, daß man ihm den Namen eines Menschen auf ein Blatt Papier schreibt, damit er von ihm das Schicksal und alle seine Handlungen, die guten und die bösen, berichten kann.

In dieser Eigenschaft als Hellseher findet er viel Zuspruch von weit her. Es gehen ihm die Listen von Namen zu, hinter denen er vermerken soll, welche Sünde einer begangen habe und welche Buße der gelehrte Nathan ihm dafür anrate. Einmal schreibt man, um ihn auf die Probe zu stellen, den Namen eines Gestorbenen und den eines jüngst geborenen Kindes mit auf die Liste. Er vermerkt neben dem Toten: Seine Erlösung ist durch den Tod gekommen; und neben dem Säugling: Er ist ohne Sünde.

Das sind übernatürliche Fähigkeiten, die bei dem Volke Glauben erwecken und bei den Gelehrten Mißtrauen. Darum erscheint eines Tages eine 121 Kommission von fünf Rabbinern aus Jerusalem, um diesen Fähigkeiten auf den Grund zu gehen. Es ist nichts über den Ausgang dieser Prüfung übermittelt, aber der Kranz von Legenden, der um ihn wächst, beweist, daß die Prüfung nicht ungünstig ausfiel. Eine Volkserzählung scheint auf diesen Vorgang anzuspielen: es kommt ein großer Gelehrter aus Jerusalem zu ihm, neugierig, was es mit seinen Fähigkeiten auf sich habe. Zu ihm sagt Nathan Ghazati: Geh' auf den Friedhof. Dort wirst Du einen alten Mann finden, der ein Fell um die Hüften trägt und eine Schale Wasser in der Hand. Nimm das Wasser, gieße es über seine Hände aus und sage dabei: verzeihe es dem Volke Israel! – Der Gelehrte geht zum Friedhof, findet niemanden dort, kommt zurück und sagt: Es ist niemand da. – Geh' noch einmal, sagt ihm Nathan, und diesmal findet der Gelehrte einen Alten, wie er ihm beschrieben worden ist. Er tut, wie Nathan ihm anbefohlen hat. Da öffnet der Alte den Mund und sagt: Das Blut sei Dir verziehen. – Heimgekehrt erfährt der Gelehrte, der Alte sei der Prophet Sacharjah gewesen, den die Juden erschlagen haben. Durch diesen symbolischen Akt auf dem Grabe sei das Blut abgewaschen und die Sünde verziehen.

Diese tieferen Sichten erscheinen aber nur als Vorbereitung zu einer größeren, auf den letzten Kern der Zeit, eben den Messianismus gerichteten Sicht. Nathan Ghazati ist durch seinen Vater, der weit in der Welt umher kommt, sehr eingehend über alle Vorgänge da draußen unterrichtet. Auch von Sabbatai Zewi hat er genaue Kenntnisse, und er kann jede Station seines Weges und jedes Detail seiner Handlungen genau verfolgen. Auch von der Handschrift 122 des Jachini hat er Kenntnis gehabt, und es besteht sogar die Möglichkeit, daß er eine Abschrift davon besaß, denn in späteren Jahren gibt Sabbatai Zewi unter seinem Eide vor dem Rabbinat in Adrianopel an, daß Nathan ihn durch eine alte Schrift, in der sein, Sabbatais Name eingefügt gewesen sei, zum Bekenntnis seines Messiastums verführt habe. Bei richtiger Ausdeutung der Psyche Sabbatais kann mindestens der Besitz einer solchen Handschrift bei Nathan Wahrheit gewesen sein.

Es wird auch in Nathan das Zusammenwirken von Zeitströmungen, Zeitereignissen und eigener Disposition gewesen sein, was ihn unaufhaltsam dazu drängt, sich völlig auf den messianischen Gedanken umzustellen und zu beschränken. Eindringlich predigt er von der Notwendigkeit der Buße. Alle, die zu ihm kommen oder schriftlich Rat von ihm erbitten, weist er darauf hin, daß bald der Messias erscheinen werde. Er wiederholt so lange, so drängend, mit solcher Beredsamkeit, daß er um sich eine Atmosphäre gespanntester Erwartung schafft. Was er tut, was er sagt, wird sogleich geglaubt, vergrößert, verzerrt, rings verbreitet wie eine Wahrheit, überallhin weiter gegeben in den Ausmaßen des Wunderbaren und der Form von Legenden. Und wenn seine Worte und Verkündigungen den Orient durchlaufen haben und im Abendland gelandet sind, sind es zeitgenössische Berichte geworden, die wie der folgende, vom Pfarrer Buchenroeder übermittelte aussehen: »Die Juden aus Alexandrien berichten in Briefen, daß in Gaza ein Prophet aufgestanden sei, 26 Jahre alt, der viele Zeichen und Wunder tue. Er rufe die Juden wegen des Kommens des Messias zur Buße auf. Sie sollten sich vor Jerusalem versammeln. Das ist auch 123 geschehen, und nachdem sich etliche Tausend vor Jerusalem versammelt hatten, ist aus den Wolken ein Öl herabgeflossen, auf das Haupt ihres Messias. Dabei ließ sich eine Stimme hören: Das ist der Messias, der Israel von allen seinen Feinden erlösen, aus allen Ländern wieder versammeln und den Gottesdienst wieder aufrichten soll. Des Messias Name soll sein Benhadad, von vierzig Jahren ungefähr. Um dieselbe Zeit hat sich eine feurige Wolke auf dem Berge Zion in Jerusalem sehen lassen, worauf der Prophet an alle Juden in allen Ländern geschrieben hat, daß sie sich versammeln und nach Jerusalem kommen sollen. Dort und alsdann werde er ihnen sagen, wo die Lade des Bundes und alle anderen Sachen, die im Lande waren, und die Jeremias versteckt habe (wie aus dem 2. Buche, 2. Kapitel der Makkabäer zu lesen sei), gefunden werden können, und es werde darauf ein Altar vom Himmel kommen, darauf die Juden ein Opfer legen sollten, welches hernach mit Feuer vom Himmel werde angezündet und verbrannt werden, und also ihr alter Gottesdienst wieder beginnen und bis ans Ende der Welt fortdauern werde. Den Juden aber hat er geboten, unterdessen rechte Buße zu tun, und den Propheten Jeremias fleißig zu lesen. Die Türken und Heiden würden freiwillig kommen und dem neuen Messias das Reich abtreten. Sie sagen auch, daß zur selben Zeit der Prophet Nathan das Horn geblasen habe, welches sie für ein großes Glück halten. Das Weitere werde in zwei Monaten geschehen. Unterdessen stehen teils Juden noch im Zweifel, ob es wahr sei, weil noch keine Briefe aus Jerusalem und anderen umliegenden Plätzen kommen; teils aber glauben sie es fest. So wird für gewiß berichtet, daß die Juden in hellen 124 Haufen nach Aleppo gezogen, in der Absicht, den König im Mohrenland zu bekriegen. Seien aber von den Einwohnern Aleppos unter Zuziehung vieler Türken auf die einundfünfzigtausend stark ausgefallen, und die Juden geschlagen, eine große Niederlage bereitet. Nun hört man nur noch, daß die Juden ihre Häuser verkaufen und sich zum Aufbruch fertig machen . . .«

Solche Berichte sind Phantasien, die gleichwohl einen Teil der späteren Ereignisse ahnungsvoll vorausnehmen. Und sie übersteigern in nichts die Haltung eines Menschen, in dem die Ekstatik mit ganz besonderer Vehemenz zum Ausbruch kommt. Einmal, gegen das Wochenfest hin, ruft Nathan Ghazati die Gelehrten der Stadt zu sich und lernt mit ihnen den ganzen Abend und bis in die Nacht hinein aus den Schriften. Gegen Mitternacht kommt ein großes Schlafbedürfnis über Nathan, und um es zu verjagen, geht er im Zimmer auf und ab und spricht Gebete. Aber die Müdigkeit wird immer drückender und die Abwehr immer mühsamer. Da bittet er einen der Freunde, er möge ihm ein Lied vorsingen, und wie er es beendet hat, bittet er einen anderen, das gleiche zu tun. Aber die Müdigkeit will nicht weichen. Sie wandelt sich langsam in eine qualvolle Hinfälligkeit, in eine drückende, beängstigende Verstörtheit, daß er beginnt, im Zimmer umher zu taumeln und hilflos an seinen Kleidern zu zerren. Die andren stehen erschreckt und sehen plötzlich, daß er den Halt verliert und zu Boden fällt. Sie stürzen zu ihm hin, wollen ihm helfen, ihn aufrichten, und müssen entsetzt feststellen, daß er mit geschlossenen Augen, ganz lang und starr daliegt. Sie rufen einen Arzt, und auch der kann nach einer kurzen Untersuchung nur sagen: 125 tot. Da breiten sie ein Leinentuch über ihn und hocken fassungslos und erschüttert in den Winkeln. Nach geraumer Zeit hören sie eine tiefe, dunkle Stimme, die mühsam einzelne Worte formt. Sie reißen erschreckt das Tuch von Nathan und hören: Worte und Stimme kommen aus ihm, aber die Lippen bewegen sich nicht. Und was er sagt, qualvoll aus dem Unterbewußtsein in den bekennenden Laut gepreßt, sind Worte vom Nahen des Messias und seines Propheten. Die Seele lallt die Botschaft von der Erlösung. Dann, wie Worte und Laute sich erschöpft haben, geht ein tiefes, zitterndes Atmen durch den starren Körper. Die Brust hebt sich. Ein langer, befreiender Seufzer. Er öffnet die Augen. Sie helfen ihm, richten ihn auf, überfallen ihn mit Fragen: was war dir? – Aber er weiß nichts zu erinnern. Sie berichten ihm, was vorgegangen ist. Da schweigt er bedrückt und verschlossen.

Bald darauf kommt die Nachricht, daß Sabbatai Zewi auf der Reise von Kairo nach Jerusalem in Gaza Rast machen werde. Alle nehmen an einem solchen Besuch lebhaftes Interesse, aber Nathan empfindet mehr als Interesse. Für ihn ballen sich Ahnungen zusammen, die sich auf diesen Menschen konzentrieren. Und wie zur letzten Bestätigung erreicht ihn in diesen Tagen ein Schreiben des Isaac Levi aus Saloniki, in dem er ihm das Geheimnis anvertraut, daß Sabbatai Zewi sich ihm als der erwählte und berufene Messias zu erkennen gegeben habe.

Von diesem Augenblick an ist Nathan Ghazati nicht mehr erregt und unruhig. Alles Tasten, Erwarten, Ahnen, alles Drängen aus dem Unbewußten und alles Hoffen auf das Unfaßbare hat jetzt mit einem Schlage Richtung und Ziel bekommen. Es ist alles 126 eingefangen und einbezogen in die eine Aufgabe, für die er von heute bis zu seinem letzten Tage sein Leben mit jedem Wort, jeder Regung und jedem Gedanken einsetzt: diesem kommenden Menschen und Messias Sabbatai Zewi ein Wegbereiter und Verkünder zu sein. Ihm dienen, ihm helfen, für ihn Zeugnis ablegen, sein Prophet und seine Kreatur zu sein, für ihn leiden, wenn es sein muß, oder auf den Stufen seines Thrones sitzen, wenn es sein kann.

Er trifft alsbald Vorbereitungen zu einem großen Empfang. Ohne daß er seinen Freunden und Mitgelehrten den letzten Grund und seine eigene Kenntnis offenbart, weiß er sie leicht zu überreden daß man dem ankommenden Gaste ganz besondere Ehrungen darbringen müsse. Sie glauben ihm gerne und lassen ein üppiges Gastmahl richten, an einer Tafel, an deren Kopfende ein erhöhter, thronähnlicher Sitz für den Gast errichtet, und über dem Schmuckwerk nach Art königlicher Insignien angebracht ist. In allgemeiner Freude und glänzender Feierlichkeit verläuft das Mahl. Wie das eigentliche Essen beendet ist und, der Sitte gemäß, Gruß und Segensspruch an den Gast gerichtet werden müssen, reichen die Versammelten wie auf Verabredung dem Jüngsten, aber dem Würdigsten unter ihnen, Nathan Ghazati, den Becher mit Wein. Er erhebt ihn in zitternden Händen, streckt ihn gegen den Gast aus, und mit seinen Worten und seinem Segen reißt er das Tor der sabbatianischen Bewegung weit und unwiderruflich auf: »Baruch habah baschem adonai . . . Gelobt sei der, der im Namen des Herrn kommt. Der barmherzige Gott segne unseren König Sabbatai Zewi!«

Am Kopfende des Tisches ist eine heftige Bewegung. Sabbatai ist aufgesprungen, daß die Becher klirren. 127 Er streckt die Hand gegen Nathan Ghazati aus. »Schweig!« schreit er durch den Raum. Nathan stellt den Becher hin und schweigt. Sabbatai geht langsam aus dem Zimmer.

Was ist das? Wehrt sich hier letzte und große Schamhaftigkeit gegen das nackte Aussprechen und Angerufenwerden? Weicht hier eine echte Bescheidenheit vor der Pomphaftigkeit des verliehenen Titels zurück? Hindert etwa Furcht ihn daran, das angewiesene Amt mit seinem Unmaß der Verpflichtungen zu übernehmen? Oder ist das alles nur geschickte Regie, die Gebärde eines Menschen, der eines Tages sagen wird: ich habe es nicht gewollt, aber Ihr habt es mir zugerufen und auferlegt. Darum liegt die Verantwortung bei Euch und nicht bei mir. – Es hat im späteren Leben Sabbatais Situationen gegeben, in denen er eine solche Haltung eingenommen hat. Im Augenblick hindert ihn jedenfalls diese leidenschaftliche Gebärde des Widerstandes nicht daran, mit Nathan Ghazati in engster Fühlung zu bleiben und von allem, was Nathan später für ihn und für die Propagierung seiner Messianität unternimmt, bedenkenlos Gebrauch zu machen. Wie er nach Jerusalem weiterreist, scheiden die Beiden als durch die Idee eng verbundene Freunde.

Der Aufenthalt in Jerusalem ist von beträchtlicher Dauer. Er währt etwa drei Jahre, und man sollte meinen, daß die Länge der hier verbrachten Zeit in keinem angemessenen Verhältnis stehe zum Ertrag. Denn welche Wirkungsmöglichkeiten bestehen hier, und was tut Sabbatai hier? Jerusalem ist zwar für die religiöse Vorstellung ein sehr wichtiger Ort, aber er ist doch ein sehr armer und einflußloser Ort geworden. Die Aufwendungen der Judenheit für die Opfer 128 der polnischen Katastrophe sind so erheblich gewesen, daß dagegen die Spenden nach Jerusalem völlig zurückgetreten sind. Es reicht nicht mehr aus, um die Armen dort zu ernähren. Hungersnot bricht aus, die viele Einwohner dazu zwingt, auszuwandern und anderswo Unterschlupf zu finden. Dabei sind die Anforderungen, die die türkische Behörde an die Gemeinde stellt, ungewöhnlich hohe, und bei jeder Zahlungsstockung werden Repressalien angedroht. Das dient weiter zur Entvölkerung der Stadt. Zurück bleiben im wesentlichen nur diejenigen Armen, deren Mittel nicht einmal zu einer Ortsveränderung ausreichen, sowie diejenigen, deren Lebensführung nach den Vorschriften der praktischen Kabbala sie an sich schon höchst bedürfnislos macht. Die Gelehrten und Rabbiner des Ortes genießen im übrigen nicht einmal im jüdischen Orient eine besondere Autorität.

Und in einem solchen Milieu verbringt Sabbatai geruhig drei kostbare Jahre seiner Existenz. Er muß es und tut es, indem er das Nützliche mit dem Notwendigen verbindet. Das hat gute Gründe. Das vom Sohar als das Jahr der Erlösung verkündete 1648. Jahr ist ergebnislos verlaufen. Sabbatais Bemühen hat keine Entscheidung herbeiführen können. Mit einer grandiosen Gebärde hat er daraus die Konsequenz gezogen. Was die jüdische Prophezeiung nicht gehalten hat, muß die christliche erfüllen. Wenn das Jahr 1648 sich als Irrtum oder Fehlschlag erwies, so kann immerhin das von den Christen errechnete apokalyptische Jahr 1666 noch die Erfüllung bringen. Sabbatais denkwürdige Leistung besteht darin, dieses Jahr der jüdischen Mystik und dem allgemeinen Volksglauben als Zeitpunkt der jüdischen Erlösung 129 aufoktroyiert zu haben, mit einer suggestiven Kraft, die nicht einmal die Fragestellung zuließ, warum denn nun ein Jahr durch das andere abgelöst und ergänzt werden müsse oder könne. Sabbatai will, daß es das 1666 sei, und er setzt es durch. Alles was er tut, dient der Vorbereitung, und es enthüllt sich bald, wie glänzend und durchdacht sie war.

Also wartet er seine Zeit in Jerusalem ab und begründet inzwischen seine Popularität unter den Armen. Von neuem haben seine Brüder ihn reichlich mit Geldmitteln ausgestattet. Er lebt einen seltsamen Gegensatz zwischen der Pracht seines Auftretens und einer fast pietistisch anmutenden Frömmigkeit, die er gerne und hemmungslos in aller Öffentlichkeit betätigt. Er begibt sich zu stundenlangen Andachten an die geheiligten Gräber der Vorfahren und betet und singt und vergießt heiße Tränen. Es ist in diesem seelischen Exhibitionismus nichts Verwerfliches, denn er ist ehrlich und kommt aus dem tiefsten Gefüge seines Wesens. Er lebt die Dinge, die er tut. Seine Schaustellungen sind Bekundungen seiner Persönlichkeit. Zu dem Ruf des frommen, ja fast heiligen Menschen, den ihm das einträgt, kommt eine besondere Form der Popularität, die er sich dadurch erwirbt, daß er sich überall auf seinen Wegen mit den Kindern beschäftigt und Geld und Zuckerwerk an sie verteilt. Darum lieben ihn die Mütter. Und die Frauen lieben ihn, weil er nicht nur fromme Psalmen singt, sondern auch Lieder, die mit verhaltener erotischer Erregung geladen sind und denen er, wenn man nach ihrer Bedeutung fragt, einen besonderen mystischen Sinn unterstellt. Besonders ist darunter ein spanisches Liebeslied, das uns von Pfarrer Coenen in einer holländischen Übertragung aufgezeichnet 130 und übermittelt ist: Opklimmende op een bergh, en nederdalende in een valeye, ontmoette ick Melisselde, de Dochter van den Kayser, dewelcke quam uyt de banye, van haer te wasschen. Haer aengesichte was blinckende als een deegen, haer ooghleden als een stalen boge, haer lippen als coraelen, haer vleesch als melck etc. (Dieses etc., mit dem Coenen abschließt, ist sehr bedauerlich.) Die Frauen glauben ihm jedenfalls, daß dieses Lied auf den Talmud und das Hohe Lied Bezug habe.

In der Vorbereitung seiner Umgebung auf die kommenden Ereignisse leistet ihm ein offensichtlicher Phantast, Baruch Gad, durch eine Mystifikation wirksame Hilfe. Gad war Spendensammler für Jerusalem und bereiste in dieser Eigenschaft Persien. Von dort kommt er jetzt zurück und berichtet von großen Abenteuern, die er bestanden hat, und aus denen ihn ein Jude aus dem verschwundenen Stamme Naphtali errettet hat. Dieser Jude hat ihm ein Schreiben ausgehändigt, das von den Juden jenseits des Stromes Sabbation geschrieben worden ist, und in dem in kabbalistischer Terminologie davon berichtet wird, daß die zehn Stämme auf das Erscheinen des Messias warten, um dann in hellen Haufen hervorzubrechen. Dieses Schreiben wird geglaubt. Man stellt Abschriften davon her und schickt sie den Sendboten nach, um ihnen die Arbeit zu erleichtern.

Was aber die Popularität Sabbatais entscheidend und mit gutem Recht begründet, ist folgender Vorgang: Wieder einmal hat der Gouverneur von Jerusalem an die völlig verarmte Gemeinde beträchtliche Geldforderungen gestellt. Da sie nicht zahlen kann, droht er mit Ausweisung aller Juden. In dieser Not wenden sie sich an Sabbatai Zewi, ob er ihnen durch seine 131 vielen Beziehungen nicht helfen kann. Und Sabbatai verspricht Hilfe. Er weiß, wo sie zu bekommen ist. Er unternimmt sofort eine Reise nach Kairo und trägt seinem Freunde Chelebi sein Anliegen vor. Der zögert nicht einen Augenblick, die gesamte, nicht gerade geringe Summe zur Verfügung zu stellen. Den Erfolg erntet Sabbatai. Wie er zurückkommt, jubelt ihm das Volk als seinem Retter zu. Das Wort »Erlöser« taucht zum erstenmale spontan auf. Es wird auf ihn der Satz geprägt: halach schaliach u'ba maschiach, er zog hinaus als ein Gesandter und kam zurück als ein Erlöser.

Diese Reise ist noch in einem weiteren Sinne mit seinem Schicksal verknüpft: er kommt von Kairo als zum dritten Male verheiratet zurück. Ein solcher Vorgang ist in dem damaligen Judentum nur dem Faktum nach belangvoll, insofern die Eingehung eine Ehe zu den selbstverständlichen religiösen Verpflichtungen gehört. Aber die Frau, die Person, spielt durchweg keine Rolle. Es gibt gute und schlechte Hausfrauen. Das ist alles. Die Innigkeit des Familienlebens, die Beobachtung der Ritualvorschriften und das Gebären von Kindern umreißen ihre Wirkung und Bedeutung. Aber dem ungewöhnlichen Menschen Sabbatai Zewi, dessen Ehe zweimal gescheitert ist, muß auch eine ungewöhnliche Frau beschieden sein. Das Schicksal versagt sie ihm nicht und führt sie ihm auf phantastische Weise zu.

Sarah, Sabbatais dritte Frau, stammt aus Polen. Wer ihre Eltern sind, weiß man nicht. Es steht nur fest, daß sie gestorben sind, als Sarah etwa sechs Jahre alt war. Von der Zeit an befindet Sarah sich in einem Kloster. Es ist wahrscheinlich, daß man sie als Findelkind aufgelesen hat, weil die Eltern in den 132 Pogromen umgekommen sind. Eine andere Fassung, die wohl auf Zweck abgestellt ist, sagt, man habe sie in das Kloster entführt, und die Eltern seien aus Gram über die vergeblichen Versuche, ihr Kind wieder zu bekommen, gestorben. So oder so: immer für das Leben eines Kindes ein gewaltsamer, eindrucksvoller und nachhaltiger Beginn; für ein jüdisches Kind aus dem Osten ganz besonders, weil es vom zartesten Alter an mit den lebendigen Eindrücken des Milieus und einer von allem Anfang an auf praktische Religiosität abgestimmten Erziehung förmlich imprägniert wird. Ein solches Kind wird plötzlich in ein polnisches Kloster gebracht und einer Atmosphäre ausgeliefert, die in Anziehung und Abstoßung gleich stark auf ein solches Gemüt wirken muß. Zehn Jahre, also bis in die Zeit ihrer vollen Reife hinein, bleibt Sarah unter Heiligenbildern, Kerzen, Weihrauch, Gesängen, Gebeten in der Zelle isoliert, oder in der verhängnisvollen Gemeinschaft mit andren Nonnen. Nach zehn Jahren ist ihr Wesen gestanzt, geprägt, für das ganze Leben mit einer seltenen Geradheit in Tugend und Laster festgelegt.

Eines Tages, wie die Juden des dem Kloster benachbarten Dorfes auf ihren Friedhof kommen, um einen Toten beizusetzen, finden sie auf den Gräbern ein sehr schönes junges Mädchen mit zerrissenen Kleidern, dem Aussehen nach eine Jüdin. Sie fragen erstaunt nach dem Woher und Wohin. Da erzählt Sarah von der Geschichte ihres Lebens, was sie davon bekennen will, oder so viel sie selbst davon begreifen kann. Vielleicht lügt sie. Vielleicht ist sie das Opfer des doppelten Angriffes der jüdischen so gut wie der katholischen Mystik. Es ist ihr, berichtet sie, vor zwei Nächten der Geist ihres Vaters erschienen. 133 Er konnte im Tode keine Ruhe finden, weil er seine Tochter mitten im Herzen eines anderen Glaubens wußte. Nun ist er da und weint und klagt. Was soll ich tun? hat das Mädchen ihn gefragt. Die Antwort: Fliehe aus dem Kloster. Geh' auf den nächsten jüdischen Friedhof und setzte Dich auf die Gräber. Nach zwei Tagen werden die Juden kommen, um einen Toten zu begraben. Die werden Dir weiter helfen, bis Du an Dein Ziel gekommen bist. – Welches Ziel? fragen die erstaunten Juden. Sarah schweigt darüber. Weiß vielleicht noch nichts von einem Ziel, oder will es als Geheimnis für sich behalten. Sie berichtet weiter: da ist sie noch in der gleichen Nacht aus den hochgelegenen Klosterfenstern in die Tiefe gesprungen. Ihr Vater hat ihr dabei geholfen, indem er ihren Leib hielt. Sie zeigt den Frauen Nägelspuren an ihrem Körper, die von den Händen ihres Vaters herrühren sollen. Die Frauen sehen und glauben. Und sie nehmen Sarah mit in das Dorf.

Das ist eine ängstliche und gefährliche Entdeckung, die sie da gemacht haben, denn dieses Mädchen, obgleich Jüdin von Geburt, steht doch im Eigentum eines anderen Glaubens, und das Kloster wird eines Tages sein Eigentum von ihnen zurückfordern können, wenn die Sache ruchbar wird. Darum wird ihre Anwesenheit mit dem größten Geheimnis umgeben. Man versteckt sie hier und dort. Inmitten all dieser Heimlichkeit hockt Sarah ruhig, nachdenklich und schön.

Nachforschungen ergeben, daß bei der Sprengung der Gemeinde, in der Sarahs Eltern wohnten, ein Bruder von ihr, Samuel, entflohen und nach Amsterdam verschlagen ist. Er lebt dort als Händler mit Tabak. Man beschließt Sarah dorthin zu bringen. Man ist 134 froh, den gefährlichen Besuch los zu werden. Unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln wird sie von Gemeinde zu Gemeinde geschafft, bis sie die deutsche Grenze passiert hat, immer Mittelpunkt von Interesse und Geheimnis. Es ist nicht zu ermitteln, wie lange diese Reise in unendlichen Etappen gedauert hat. Gerade über diese erste Zeit nach ihrer Freiheit schweigen die Berichte auffällig. Was von ihr in legendärer Form berichtet wird, bezieht sich alles auf ihre Vorgeschichte und auf die Umstände ihrer Auffindung. Bald ist sie von einem polnischen Edelmann geraubt worden, der sie zur Taufe bewegen wollte. Bald wächst sie in einer christlichen Familie auf, die sie zur Frau für ihren Sohn bestimmt. Beide Male erscheint nächtlich der Geist des Vaters und errettet sie. Eine religiöse Variante läßt bei ihrer Entdeckung auf dem Friedhof einen Zettel auf ihrer Kleidung sich vorfinden, auf dem die Worte stehen: Dieses wird die Frau des Messias sein.

An die spätere Zeit, wie gesagt, geht der dichtende Wille des Volkes nicht heran. Es scheint, als ob eine letzte Scham und ein letztes Zurückweichen vor dem Ungewöhnlichen dieser exzentrischen, erotisch eindeutigen, aber ungewöhnlich lebendigen Erscheinung den Drang, sich mit ihr zu beschäftigen, lahm gelegt habe. Sie müssen hier das Feld den Chronisten überlassen, insbesondere dem der sabbatianischen Bewegung feindlichen, der dieser an sich schon ungewöhnlichen und für ihre jüdischen Begriffe erschreckenden Erscheinung voll Argwohn nachspürt. Sie stellen fest, daß Sarah in der Tat bei ihrem Bruder in Amsterdam gewesen ist. Hier, am Ziel ihrer abenteuerlichen Fahrt, nach der sie nun bei normalem Verlauf der Dinge in die Ruhe und Ordnung hätte 135 einkehren müssen, um vielleicht eines Tages von ihrem Bruder ausgestattet und an einen braven Juden verheiratet zu werden, entreißt sie sich endgültig einem solchen herkömmlichen Ablauf der Dinge. Mit ungewöhnlichen Ereignissen aufgewachsen, setzt sie ihr Leben jetzt mit ungewöhnlicher Begründung und ungewöhnlichen Mitteln fort. Sie erklärt: es wird in der Welt ein Messias erscheinen, diesem Messias bin ich zur Braut bestimmt. – Und durch nichts zu halten und zu bereden, macht sie sich auf zur Wanderung in die Welt, diesen Messias zu suchen.

Wir wissen nicht, nach welchem Plan sie gewandert ist. Man muß wohl verneinen, daß sie Nachrichten über Sabbatai Zewi und seinen Aufenthalt gehabt hat. Denn dann hätte sie sich vermutlich direkt nach dem Orient gewandt, um mit ihm zusammen zu treffen. Aber sie zieht von Amsterdam aus durch Holland, durch Deutschland, durch die Schweiz und bis nach Italien. Überall wirkt ihre Schönheit erregend, macht ihr Geschick und die Bestimmung, zu der sie sich berufen fühlt, die Menschen teilnehmend. Aber als habe sie schon jetzt Königliches zu verschenken, weicht sie vor der Erregung der Männer, die sie auslöst, um keinen Schritt zurück; nimmt auf, wer sie begehrt; gibt sich besinnungslos jedem hin, der darum bittet, kommt zu jedem Mann, der ihr ein Brieflein mit solcher Aufforderung in das Haus sendet. Zur Frau eines Heiligen bestimmt, lebt sie das Dasein einer Dirne, dabei in ihrer Sicherheit und der Beharrlichkeit, mit der sie das große Ziel verfolgt, völlig ungestört. Sie bleibt bei keinem Manne haften, geht mit nachtwandlerischem Instinkt von Ort zu Ort weiter, verachtet die, die sie beschimpfen, und erklärt denen, die sie um den sonderbaren Zwiespalt 136 zwischen Bestimmung und Lebensführung befragen: weil ich nicht heiraten darf, bis der Messias mich eines Tages nimmt, hat Gott mir die Befugnis gegeben, mein Blut zu beruhigen, wo ich kann und will. So wirkt sich in ihr und an ihr aus, was Eros und Religiosität in der Tiefe der Psyche an Gemeinsamkeit des Ursprungs haben. Von Amsterdam, Frankfurt, Mantua und Livorno liegen Berichte vor, die ihren Anspruch als Messiasbraut und ihren Lebenswandel darstellen. Gelehrte und Rabbiner begeben sich zu ihr, um diese seltsame Erscheinung zu prüfen, und es mutet wie Anklänge aus den Hexenprozessen des Mittelalters an, zu sehen, wie ihre Schönheit und sinnliche Eindringlichkeit ihnen Angst macht, und sie doch, in Zeit und Glauben befangen, ihr übernatürliche Fähigkeiten zuschreiben. Aber ungleich ihren mittelalterlichen Glaubensgegnern nehmen sie das Untergründige und Unfaßbare nicht zum Anlaß, einen Menschen auf die Folter zu spannen und aufs Rad zu legen. Jene fürchteten und haßten Eros und befreiten sich von der Beklemmung durch Totschlag. Diese scheuen Eros und weichen ihm aus, in dem sie seine Wirkungen zu sublimieren trachten. Jene hatten ein Dogma und hackten jedem die Beine ab, der sich in dieses Prokrustesbett nicht fügen wollten. Diese sind dogmenfrei und sind jedem religiösen Anruf verhängnisvoll geöffnet. So begreifen sie von diesem schillernden Wesen endlich nur, daß sie die Braut eines Messias sein will. Aber sie können ihr nicht helfen, da es noch keinen Messias gibt.

Zu dieser Zeit hält Pinheiro, Sabbatais getreuer Anhänger, sich in Livorno auf. Er versteht sofort die Zusammenhänge, die hier obwalten. Sabbatai befindet sich gerade in Kairo, um von Chelebi Geld für 137 Jerusalem zu erbitten. Er gibt ihm Nachricht mit allen Einzelheiten, die er erfahren kann. Und nun begibt sich etwas Seltsames: Sabbatai erklärt sogleich, daß dieses Mädchen ihm zur Frau vorbestimmt sei. Zwei Ehen hat er lösen müssen, weil es an der himmlischen Bestätigung mangelte. Aber dieses Mal ist kein Zweifel. Sarah ist ihm, und zwar ausdrücklich in seiner Eigenschaft als Messias, zur Frau bestimmt. Er verkündet das unter dem Jubel seiner Anhänger und der freudigen Zustimmung Chelebis, der sofort Boten und Begleiter nach Livorno entsendet, um Sarah nach Kairo zu holen.

Sie empfängt die Boten mit einem königlichen Gleichmut und folgt ihnen ohne weiteres. Erst an diesem verhältnismäßig ungefährlichen und romantischen Punkt setzen die Volkserzählungen wieder ein. Da lautet eine Variante: sie ist, ohne von der Existenz Sabbatais eine Ahnung zu haben, auf ihren Wanderungen bis nach Kairo gekommen und zu Chelebi. Sie hat ihm ihr Lebensschicksal berichtet, und seine Tafelrunde, der er davon Mitteilung macht, rät ihm, das Mädchen auszustatten und zu verheiraten. Er ist dazu bereit, aber Sarah sträubt sich. Sie erklärt: Der, den sie heiraten werde, befinde sich zur Stunde auf dem Meere in großer Lebensgefahr. Aber der Geist ihres Vaters werde ihm helfen. – Elf Tage später trifft Sabbatai Zewi ein, und seine Begleiter wissen wirklich von großen Gefahren der Fahrt zu berichten. Seeräuber haben das Schiff verfolgt, aber auf Sabbatais Gebet hin habe Gott sie über das Meer gestreut. – Eine andere Version: Sie erklärt Chelebi, sie müsse nach Jerusalem gehen, weil ihr Gatte sich dort befinde. Chelebi schickt sie mit einem zuverlässigen Führer dorthin. Wie sie kaum die Stadt 138 betreten haben, kommt Sabbatai im Kreise von Anhängern daher. Sarah ruft: Dieser Weise ist mein Gatte. Sabbatai sieht sie an und antwortet: Dieses Mädchen ist meine Braut. –

In Kairo rüstet inzwischen Chelebi eine Hochzeit von einem wahrhaft orientalischen Pomp. Es wird schon kein Hehl mehr daraus gemacht, daß diese königlichen Zurüstungen dem Messias gelten. Seine Vermählung ist für den Kreis in Kairo der Augenblick, in dem sie seine Messianität offen vor der Welt bekennen wollen. Und Sabbatai sträubt sich nicht dagegen. Das Jahr 1665 ist angebrochen. Der Weg zum letzten Bekenntnis ist sehr kurz geworden. Wieder bietet ihm das Schicksal ein ungewöhnliches Zusammentreffen, und wieder nimmt er es in einer Art auf, die nach außen hin die Wirkung göttlicher Fügungen hat.

Sabbatai hat niemals eine Frau erwartet. Frauen spielen für sein Gefühls- und Vorstellungsleben keine Rolle. Seine seelischen und sinnlichen Bedürfnisse werden im Bezirk seiner Religiosität genügend befriedigt. Sein zweimaliges Ausweichen ist eindeutig. Er hat auch zu Sarah keinerlei erotische Beziehungen, weder vor noch in der Ehe. Eine Darstellung der späteren Ereignisse wird es beweisen. Ihn bewegt zu der spontanen Erklärung, dieses Mädchen sei ihm zur Braut bestimmt, weder ihre Schönheit noch ihr Schicksal noch ihr sinnliches Fluidum, sondern einzig ihre Erklärung, sie sei dem Messias zur Frau ausersehen. Also kalte Berechnung? Nein, sondern die Unfähigkeit, die Dinge noch anders zu sehen als in ihrer möglichen Beziehung zu sich selbst. Er ist längst der Sklave seiner Idee geworden. Was geschieht, geschieht für ihn, ohne daß es einer Nachprüfung 139 bedarf. Er trägt die Idee nicht: sie hat ihn unterjocht, und darum bleibt das Menschliche in ihm völlig brach und unberührt. Nicht eine Spur von Liebe ist in ihm zu dieser Frau. Sie ist die Königin, die ein Messias, ein königlicher Mensch, haben muß. Damit ist ihr Zweck und ihre Bedeutung für ihn erschöpft. Nicht einmal das berührt ihn, daß Sarah in der Folgezeit ganz offensichtlich zu einem Anziehungspunkt für junge Menschen wird, und daß sie, unter religiöser Verbrämung und mit antik anmutenden königlichen Gesten, insgeheim ihr früheres Leben mit den jungen Männern seines Kreises fortsetzt. Es besteht eben zwischen den Beiden, die sich da treffen, nicht der Schatten menschlicher Beziehungen. Beide sind die gläubigen Lügner ihres eigenen Geschickes. In der Besonderheit ihres äußeren und inneren Schicksals treffen sie sich und gehen sie für den Rest ihres Lebens nebeneinander her.

So ist die Hochzeit, die in Kairo gefeiert wird, nicht eine Vereinigung des Sabbatai und der Sarah, sondern des Messias mit seiner Königin. Bescheidene Versuche wagen sich an ihn heran, die ihm die Bedeutung ihres Vorlebens erkenntlich machen wollen. Wäre er als Mensch beteiligt gewesen, hätte er sagen müssen, daß für ihn die Frau seiner Wahl rein und ohne Vergangenheit sei. Da er nur als Träger einer Idee beteiligt ist, antwortet er: »Auch dem Propheten Hosea hat Gott befohlen, eine Dirne zur Frau zu nehmen.« Er will hier ein großartiges, prophetisches Symbol materialisieren. Aber da er es in der Wirklichkeit nicht leben und gestalten kann, degradiert diese Antwort diese Frau nur zum anderen Male. Aber er spürt nichts davon. Ihm genügt das Bewußtsein, daß die vorbestimmten Ereignisse ihn ein 140 entscheidendes Stück weiter dem Ziele zu getragen haben. So kehrt er nach Jerusalem zurück. Sein Weg führt wieder über Gaza. Dort wartet Nathan, der Auslöser seines Schicksals.

 


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