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Um die Wende des 17. Jahrhunderts lebt in Ismir, dem heutigen Smyrna, ein kleiner jüdischer Händler, Mardochai Zewi. Er ist ein romaniotischer Jude, stammt aus Morea und ernährt durch einen Handel mit Geflügel schlecht und recht eine Frau und drei Söhne: Elias, Josef und Sabbatai. Von dem letzteren, Sabbatai Zewi, handelt dieses Buch. Um ihn zu begreifen und zu verstehen, daß ein über die ganze Erde verstreutes Volk ihn als Mittelpunkt und Erlöser seiner Hoffnungen annahm, ist es nötig, sich ihre Situation in der Welt und der Zeit gegenwärtig zu machen. Damals hatte das Galuth, die Zerstreuung der Juden, einen Höhepunkt erreicht. In die große Wanderungsbewegung, die schon mit der Zerstörung des zweiten Tempels eingesetzt hatte, war ein Stillstand gekommen. Die letzte große Sprengung eines jüdischen Zentrums, die Austreibung der Juden aus Spanien, lag um hundert Jahre zurück. Schon hatte der Osten sich zu einem neuen Sammelbecken aufgetan. Polen und die Ukraine hatten den rückflutenden Wanderstrom aufgefangen, der einmal auf der Suche nach Nahrung, nach Lebensmöglichkeit bis nach Sibirien vorgestoßen war.
Das Gesetz dieser Wanderung wurde ihnen von der nackten Lebensnot diktiert. Den Raum, den sie zum Leben brauchten, mußten sie der Umgebung abringen und ablisten. Darum lagen ihre Möglichkeiten immer da, wo ein Wirtschaftsleben ihnen den geringsten Widerstand entgegensetzte. Gedeihen konnten sie nur, wo sie Gelegenheit hatten, eine Lücke in einem Wirtschaftssystem auszufüllen. Sie trieben aus ökonomischen Ursachen. Der geistige Status der Umgebung ging sie unmittelbar nichts an. 10
Es war ein unsicheres Leben, aber es war ein Leben. Zuweilen wurden sie reich dabei. Aber es blieb ein schwebender Reichtum. Sie hatten keinen Ort, keinen Winkel, in den sie sich zum Genuß ihrer Güter friedlich und ungefährdet zurückziehen konnten. Sie waren und blieben in der Fremde. Es konnten dabei keine reichen Geschlechter entstehen, kein Adel des Besitzes. Sie gaben Geld für die Armen, die das Wandern nicht aufgegeben hatten; sie schickten Geld nach Jerusalem, weil dort arme Beter saßen; sie zahlten der Obrigkeit und den Behörden für ihr Recht auf Siedlung, auf Arbeit, für ihr Recht, in den Formen ihres Glaubens zu leben, für die Reisen, die sie machten, und für den Bart, den sie trugen. Während sie mit allen freien Dingen der Welt handelten, handelte die Welt mit ihnen. Kaiser verkauften sie und die Einnahmen, die sie boten, an Fürsten. Fürsten traten sie an Städte ab. Sie waren Wertgegenstand geworden.
Oft mußten sie ihren Ort wechseln, wie Gegenstände ihn wechseln. Es brauchte etwa ein Regent oder ein Land oder eine Stadt Geld. Dann wurden sie unter Konfiszierung ihrer Güter vertrieben und gegen hohe Zahlungen wieder zugelassen. Wer nicht weiß, ob er morgen noch besitzen wird, rafft leicht vom heute mehr und mit minder abgewägten Mitteln zusammen als er braucht, was ihm aber morgen als Lösegeld dienen kann. Das erzeugt in der Umwelt Feindschaften, die wieder zu neuen Angriffen und Vertreibungen, wieder zu übermäßiger Vorsorge für den nächsten Tag führen. So war die Kette von Druck und Gegenwirkung geschlossen.
Aber zuweilen ging es ihnen ihres Besitzes willen gut, weil sie, wie in Deutschland während des 11 Dreißigjährigen Krieges, als Finanziers für die Kriegskassen dringend benötigt und daher unter besonderen Schutz gestellt wurden. Aber eines lernten sie bei diesem wechselvollen Schicksal: Besitz ist alles und nichts zugleich. Er ist zum Leben nötig, aber er garantiert es nicht. Es ist alles auf Zeit und für Zeit gegeben. Ihr Besitz hatte keinen Ort, keine Heimat. Über diese soziologische Fremdheit hinaus brachte ihre Wanderung sie – mit der einen Ausnahme Spanien – in Welten, in denen es keine geistigen Treffpunkte für sie gab. Da wurden Dinge gedacht, Lieder gesungen, Märchen erzählt, Feste gefeiert und Zufriedenheiten empfunden, die nicht die ihren waren. Sie kamen nicht mehr aus dem geistigen Wachstum, sondern aus der geistigen Überreife. Die geistigen Kontroversen der Zeit betrafen nicht ihre Probleme. In den blutigen Kriegen wurde nicht um ihre Güter gekämpft. Sie hatten für das, was sie als lebendige Menschen zu den Dingen jenseits von Tag und Werken zu sagen hatten, keine Zuhörer und folglich auch kein Echo. Weder für das Gute noch für das Böse, das aus einem ungesicherten Alltag erwächst, hatten sie außerhalb ihrer vier Wände einen Lebensraum. Ihre Geistigkeit hatte keinen Ort.
Es schied sie von allen Welten, die sie betraten, mehr noch als Wirtschaft und Denkform die Art ihres Glaubens. Da waren sie selbst es, die sich in die Absonderung begaben. Aber die Welt trat an sie mit dem seltsamen Anspruch heran, daß sie diesen Glauben aufgeben sollten. Und da, wo die Duldung einmal am größten war, wurde die Nötigung am grausamsten: in Spanien. Die Welt machte die Freundschaft oder Feindschaft ihres Verhaltens den Juden gegenüber von dem Verzicht auf einen alten, viel 12 älteren Glauben abhängig. Und als gar die Glaubensformen der Umgebung sich spalteten, standen sie vier Ansprüchen von vier unter sich verfeindeten Bekenntnissen gegenüber: mohammedanisch, römisch-katholisch, griechisch-katholisch und protestantisch. Völker, die einmal Religion aus sich geschaffen und sie lebendig gelebt haben, haben jedem Bekehrungsversuch gegenüber die verständliche Selbstsicherheit des Besitzes. Nur war es jetzt und hier ein Besitz, der für seine Formen und Wirkungen, für seine Widerstände und Anregungen keinen Boden im nackten Sinne des Wortes hatte. Religion wächst als höhere Lebensform über Boden und Gemeinschaft. Jenseits davon wächst nur die quellgetrennte Tradition. Ihr Glaube hatte keinen Ort.
In einer Welt, die räumlich sehr groß war, weil kein Mittel der Technik die natürlichen Entfernungen verminderte, war alle Weite mit dem Stigma der Fremdheit versehen. Der Mohr aus dem Morgenland und der Jude aus aller Welt her waren Gegenstand des Staunens. Wenn Staunen mit Unkenntnis von Sitten und Gebräuchen zusammentrifft, entsteht daraus der ablehnende Hochmut, der Dünkel der eigenen Überlegenheit. Aber wenn solche Fremdgestalt nicht nur sich auf Jahrmärkten gelegentlich zur Schau stellt, sondern sich in aller Nähe für die Dauer niederläßt, wachsen aus der Fremdartigkeit die Feindseligkeiten, gemischt mit einem geheimen Grauen. Man zeichnete die Fremden, wie man Aussätzige zeichnet. Sie trugen das Merkmal ihrer Absonderung bei jedem Schritt. Ihr Volkstum hatte keinen Ort.
Ein Volk ohne Ort.
Aber einen Ort muß der Mensch haben. Es kann kein Mensch ohne einen Ort und ohne eine Heimat 13 leben. Wenn die Welt ihm den Ort versagt, verlegt er die Heimat in sich selbst. Wenn die Wirklichkeit sich verschließt, greift er zur Fiktion. Solange der Wille zum Leben noch nicht gebrochen ist, kann der Mensch an etwas Einmaligem bauen: an dem inneren Ort.
In den Juden verwirklichte sich diese einmalige Erscheinung. Darum wurde ihre Situation einzigartig. Sie kann nur aus sich selbst und aus keinem Vergleich begriffen werden.
An diesem inneren Ort häuften sie alles auf, was ihnen in der Gegenwart versagt war, also das, was sie von früher her schon besaßen: ihre Kenntnis von den vorhergehenden Geschlechtern, von ihren Schicksalen, ihren Ideen und Hoffnungen; weiter zurück bis zu ihrem Ursprung, bis zu dem geistigen Umkreis, in dem sie geworden und gescheitert waren. Ihr innerer Ort war angefüllt mit Geschichte, mit Erinnerungen. Sie lebten die Gegenwart mit den Mitteln der Vergangenheit.
Das hatte zwei Folgen, die für das Geschehen, von dem hier berichtet werden soll, von größter Bedeutung sind. Das, was ihnen als Erinnerung dienen konnte, war keiner zufälligen Wandlung und Veränderung mehr überlassen. Es war in einer unverlierbaren und durch ihre Heiligkeit unverletzlichen Form aufgezeichnet in den Büchern der Bibel, in Thora, Propheten und Schriften. Es war erweitert und bereichert durch den Talmud, den großen Versuch, die ständig wechselnde Gegenwart mit Sinn und Inhalt der Bibel in Einklang zu bringen. Hier waren ihre philosophischen Werke, ihre juristischen Kompendien, ihre Märchenbücher, ihre Lesefibeln, ihre Legenden, Mythen, Anekdoten, ihre 14 Liebeslieder und ihre historischen Berichte. Die Kinder wuchsen auf mit dem, was vor Jahrtausenden geschehen war. Von dem Stadtwächter am Tor kannten sie bestenfalls das Gesicht, das bunte Gewand und die schreckliche Hellebarde. Aber vom Erzvater Abraham kannten sie jede, auch die intimste Einzelheit seines Lebens. An der Politik der Zeit hatten sie nur als Objekte Anteil und ein Interesse nur, soweit es ihre Existenz für den nächsten Tag betraf. Aber die Frage, ob Israel gut daran getan habe, auf die Institution der Richter zu verzichten und statt ihrer Könige zu wählen, war von einer leidenschaftlichen Aktualität. Ob der Grundherr ein Tyrann sein dürfe und der Bauer ein Sklave sein müsse, ging sie nichts an. Wichtig war für diese Menschen ohne Boden allein die Frage, wieviel der Jude auf dem Acker als Nachlese für die Armen stehen lassen müsse. Ihre Aktualität war zweitausend Jahre alt und spielte sich im vorgestellten Raum der Heimat ab, aus der sie vertrieben worden waren. Da sie mit solcher Tradition lebten, lebten sie auch mit dem Milieu, in dem sie entstanden war. Sie hatten nicht aufgehört, im Orient zu leben.
Ihre Geschichte war aber nicht nur eine Aufeinanderfolge von Tatsachen, etwa von Kriegen, Königen und Ortswechseln, sondern eine Verflechtung innerer und äußerer Vorgänge. Da war eine Volkswerdung und zugleich eine Religionswerdung. Es war die erste Gemeinschaft der Welt, die nicht aus klimatischen und soziologischen Ursachen allein wuchs, sondern zugleich zum Träger einer religiösen Idee berufen wurde. Lange vor ihrer Seßhaftigkeit wurde ihnen um solcher Berufung willen schon ein Land verheißen. Schon vor der Bildung eines festen, 15 entwicklungsfähigen Volkskörpers wurde ihnen die Ewigkeit ihrer Dauer verheißen. Ehe sie sich noch des religiösen Auftrags würdig gezeigt hatten, wurde ihnen verheißen, daß sie ihren Glauben einmal über alle Welt ausbreiten würden. So wuchs das Volk mit einer Reihe von Verheißungen auf, lebte . . . und versagte immer wieder. Es versagte im Laufe seiner Geschichte vor dem Auftrag, den es bekommen hatte, so oft, daß es endlich mit der Strafe der Zerstreuung belegt wurde. Aber da es nur Strafe und nicht Vernichtung sein sollte, wurde ihnen eine neue, die letzte Verheißung gegeben: die der Erlösung durch einen Messias.
Solche Idee scheint dem heutigen Menschen nur als etwas sehr Hohes und Fernes, als etwas Mystisches und Jenseitiges, als das unverständlich Wunderbare begreiflich. Dem Juden von damals war der Begriff Messias nicht fremder und ferner als jede Gestalt aus der Bibel. Auch der Messias, als der wesentliche Bestandteil ihrer gegenwärtigen Vergangenheit, gehörte zu ihrem Alltag. Alle Wunder, die mit seinem Erscheinen verknüpft waren, waren Dinge, die sie mit aller Selbstverständlichkeit erwarteten. Es war seelischer Hausrat. Sie begriffen das Wunder als einen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens.
So lebten sie ihre Zeit und ihre Erinnerungen . . . und es erfüllte sich an ihnen das Gesetz der Überdehnung von Zeit. Zu lange, zu weit waren sie von ihrem Ursprung getrennt. Sie vergaßen den Ursprung nicht, aber sie trugen ihn doch wie eine Pflanze in sich, die keinen Mutterboden mehr hat, und die in einem fremden Klima gedeihen soll. Da wollte etwas in ihnen alt werden und sterben. Aber sie durften es nicht sterben lassen, da sie doch nichts anderes 16 hatten, um den Hunger ihres inneren Lebens zu stillen. Aber auf der anderen Seite hatten sie auch keine Möglichkeit, aus ihren Erinnerungen eine Wirklichkeit zu machen, heim zu wandern und ein neues Leben aufzubauen. Wohin mit dem gefährdeten Gut?
Die als geistige Hüter des Volkes bestellt waren, die Rabbiner, fanden einen Weg. Sie verlangten das Leben vom Herzen in das Gehirn. Sie häuften auf die Erinnerungen eine endlose Summe von Auslegungen, Erwägungen, Spekulationen, Theorien. Sie wußten: ein Herz kann in seinem Schlag müde werden, aber ein Gehirn kann unerschöpflich arbeiten. Sie sahen mit Recht die Existenz des Judentums vom Herzen her bedroht. Darum drängten sie es von der Quelle ab, von der es sich ständig nährte: von der Bibel. Sie schufen die Halacha, das Gesetz. Bis zum zwanzigsten Lebensjahre war es den jungen Menschen verboten, die Bibel zu lesen. Sie hatten ja den Talmud. Wenn sie erst reif waren, durften sie das gefährliche, die Existenz des Judentums in der Zerstreuung bedrohende heilige Werk lesen.
Dagegen stand das Volk mit seinem Bedürfnis nach Ursprünglichkeit, nach lebendiger Nahrung für den inneren Ort. Gegen die Halacha stellten sie die Haggada, die Legende. In dem stillen Kampf zwischen Halacha und Haggada, zwischen bewehrtem Hirn und gefährdetem Herzen, verläuft die innere Krise des damaligen Judentums. Eine Gefahrensituation in Permanenz. Dort drohte die endgültige Erstarrung, hier der Untergang in Mystizismus. Das Zünglein an der Wage hieß: Heimatlosigkeit.
Ein gefährlicher, grandioser Versuch ist gemacht worden, aus diesem bedrohten Gleichgewicht die Entscheidung zu erzwingen: in den Werken der Kabbala. 17 Die Kabbala ist eine Denkform und ein Schrifttum zugleich; zur selben Zeit Theorie und Weltauffassung, ein Leben in der Zeit, mit dem Ziele, das Leben in der Ewigkeit zu begreifen. Die Kabbala ist der Versuch, das Leben eines Volkes, das einmal eine Religion geschaffen hat, fortzusetzen; es fortzusetzen durch das Hineinhorchen in die Zusammenhänge zwischen Weltschicksal und Weltschöpfung. Sie ist ein mystisches Erleben der Allwelt, beschwert um die Frage, warum eine göttliche Schöpfung unvollkommen sein könne, und tief durchzittert von der Sehnsucht, die Einheit zwischen der Vollkommenheit des Schöpfungsaktes und der Unvollkommenheit des gelebten Lebens herzustellen.
Die Kabbala ist der Niederschlag von Geistern, die das Welträtsel lösen wollen und damit zugleich die Einzigartigkeit des Geschickes, das ihnen als Juden zugewiesen ist. Gott und die Welt sind auseinander gefallen. Ein Land und ein Volk sind auseinander gefallen. Es gibt die Heimkehr der Welt zu Gott. Es gibt die Heimkehr des Juden zu seinem Heiligtum. Gottes reine Strahlen sind in der Unreinheit der Materie verfangen. Man muß die göttlichen Ausstrahlungen erlösen, sammeln und sie zu Gott hinauftragen. Gottes Volk ist in die vier Winde und unter fremde Völker zerstreut. Man muß es sammeln von den vier Enden der Welt her und es zum Dienst an Gott zurückbringen in die alte Heimat.
Die Welt soll erlöst werden. Ein Volk soll erlöst werden: Messianismus.
Nicht alle Juden folgen den immer mehr verschlungenen Irrwegen der Kabbala. Aber sie glauben alle an einen Messias. Der Kabbalismus hat heftige, leidenschaftliche Gegner. Da sind Parteien, die sich 18 bösartig und skrupellos bekämpfen. Aber das ist nur ein Streit über den Weg und über die Methode. Das Ziel ist das gleiche, die Hoffnung dieselbe: das Kommen des Messias.
Sie warten mit einer verhängnisvollen Ungeduld. Sie haben immer, wie blinde Tiere der Tiefsee, Fühler ausgestreckt. Vor der körperlichen Nähe dessen, was ihnen zur Nahrung dienen kann, beginnen sie zu zittern. Der Magnetismus der Dinge und Erscheinungen pflanzt sich bis zu ihnen hin fort. Es ist ein einzigartiges Organ, das den Juden in seiner Konstitution von allen anderen Völkern unterschied und heute noch, wenn auch verkümmert, unterscheidet. In solcher seelischen Situation begeben sich die Dinge, von denen jetzt zu berichten ist.
Sabbatai Zewi wurde geboren im Juli 1626, an dem Tage, der nach dem jüdischen Kalender dem 9. Ab entspricht; das heißt: dem Tage, an dem vor Zeiten der zweite Tempel zerstört wurde.
Sein Vater, Mardochai Zewi, der arme Geflügelhändler, ist etwas schwächlich in der Gesundheit und wird bis an sein Lebensende von allerhand Krankheiten geplagt. Aber daß er drei Söhne hat, empfindet er als einen Segen, der ihm das Leben leichter macht. Wie die Kinder heranwachsen, bestimmt er zwei von ihnen, Josef und Elias, gleichfalls für den Handel, den sie fortan gemeinsam betreiben. Den Ältesten, Sabbatai, bestimmt er für das Studium.
Was für ein Studium? Es handelt sich hier um keine der wissenschaftlichen Disziplinen, an die man denkt, wenn man sonst von Studium spricht. Studium heißt hier die ausschließliche und gründige Beschäftigung mit den Büchern der Bibel und dem Talmud. Das ist eine lebenverzehrende Beschäftigung und doch kein Beruf. Gelegentlich überträgt wohl einer dieses sein Wissen auf ein Amt und wird Rabbiner. Dann hat er ein Auskommen, um das er nicht immer zu beneiden ist, denn auch kleine Gemeinden leisten sich den Luxus eines geistigen Oberhauptes, und sie finden reichlich Anwärter auf einen Posten, der moralische Macht und eine gesicherte Armut in sich vereinigt.
Für die große Überzahl solcher Studierenden gibt es keine praktische Verwendung. Sozial gesehen ist es eine unverantwortliche Verschwendung, wenn ein armer Händler sich zeitlebens mit der Last eines Kindes beschwert, das aller Voraussicht nach nie im Leben einen Heller eigenen Geldes verdienen wird. Er 22 leistet sich da das, was das Vorrecht begüterter Bürger oder Adliger ist.
Es würde aber ein Mann wie Mardochai Zewi für eine solche Erwägung, wenn man sie ihm vorhielte, kein Verständnis haben. Sie trifft nicht die Ebene, auf der er denkt. Er ist ein kleiner, belangloser Jude um die Wende des 17. Jahrhunderts, und wir müssen die dreihundert Jahre zurückdenken, die uns von ihm und seinesgleichen trennen. Dann stoßen wir auf eine Geistigkeit, die wir als heroisch oder idealistisch bezeichnen könnten, und die doch für jene Zeit und jene Menschen nur eine schlichte, alltäglich-lebendige Haltung ist. Sie ist das einfache, primitive Bekenntnis: für den Tag tun, was für den Tag nötig ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der freie Rest an Kraft gehört der anderen Seite des Tages: Gott.
So wird also Sabbatai Zewi in das Lehrhaus, die Jeschibah, gebracht, die unter der Leitung des Rabbi Joseph Escapa steht. Joseph Escapa ist ein eifriger Lehrer und Sabbatai ein eifriger Schüler. Er ist ein stilles, etwas abseitiges Kind, ein ernsthafter kleiner orientalischer Jude, dem das Lernen nicht schwer fällt. Er begreift sogar auffällig schnell, und was er einmal gelernt hat, vergißt er nicht wieder. Dadurch sammelt sich bei ihm eine ungeheure Menge Wissensstoff an, den er beherrscht wie etwas, das man seit langem kennt. Und was man seit langem kennt, wird nicht gerade mit dem größten Respekt behandelt. Darum fängt er nicht nur frühzeitig an, sich seine eigenen Gedanken zu machen und kritisch zu werden, sondern er bemängelt auch hier und da die Form, in der ihm der Wissensstoff dargeboten wird, die hebräische Sprache nämlich. Er liebt diese Sprache, aber es scheint ihm, sie habe 23 auf dem Wege ihrer Entwicklung von einst bis heute ein unreines und fleckiges Gesicht bekommen. Er ist ein kleiner Pathetiker, auf die klare und gewaltige Sprache der Propheten versessen, und möchte, daß sie wieder zu Ehren und in Gebrauch komme. Er prahlt öffentlich damit, er werde dereinst das reine und klassische Hebräisch wieder herstellen.
Man lächelt nicht einmal über diese Wichtigkeit, die er sich gibt. Jüdische Kinder mit klugem Kopf genießen in seinen Kreisen viel Nachsicht und Respekt, und Sabbatai hat immerhin die ungewöhnliche Leistung aufzuweisen, daß er mit fünfzehn Jahren das gesamte talmudische und rabbinische Schrifttum bearbeitet und bewältigt hat. Dazu brauchen andere ein ganzes Leben. Er schafft es, während er noch an der Grenze der Kindheit steht. Er müßte jetzt, wenn er in den Spuren des Herkömmlichen bleiben wollte, diesen Wissensstoff noch einmal und immer wieder von neuem durcharbeiten, immer neue Feinheiten, Möglichkeiten und Auslegungen entdecken, Entscheidungen über sehr subtile Fragen des religiösen Rechts fällen und sich damit den Posten einer Autorität auf dem Gebiete der jüdischen Gelehrsamkeit erringen.
Aber das kann er nicht. Dazu hat er nicht die innere Ruhe und den inneren Gleichmut. Schon die Schnelligkeit, mit der er den traditionellen Lehrstoff bewältigt hat, beweist, daß hier eine Unruhe am Werke ist, eine Hast, ein Getriebenwerden von dem Bedürfnis, andere und neue Dinge zu erfahren. Da ist eine innere Bewegung im Fluß, die etwas sucht und das Ziel noch nicht kennt. Darum kann er nicht repetieren. Repetieren ist etwas für die Menschen, die nur fleißig sind. Sabbatai Zewi ist nicht fleißig. Er 24 ist hungrig und neugierig. Er ist an dem obligaten Wissensstoff weder satt noch zufrieden geworden. Er steht vor einem leeren Raume.
Es ist nicht sein Verstand, der hier revoltiert, denn wo gäbe es für das Gehirn mehr Nahrung als in den Labyrinthen des Talmud, in denen ein Volk das ablagerte, was ihm in der schöpferischen Wirklichkeit einer Gemeinschaft auf eigenem Boden versagt war? Mehr ist es schon das Herz, das hier nicht zu seiner Befriedigung kommt. Aber auch nicht eigentlich das Herz allein, sondern jenes Zwischenreich zwischen Gehirn und Gefühl, zwischen Geist und Trieb, zwischen geistiger Reizbarkeit und Empfänglichkeit für Affekte, jene Ebene der Phantasie im Gestalten und der Suggestion im Erdulden, die darnach verlangt, belebt zu werden.
Das kann der Talmud diesem frühreifen Kinde nicht geben. Im Talmud gibt es nur eine gedankliche Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist etwas, was Sabbatai nicht kennt. Wirklichkeit erlernen und erdulden Kinder, wenn sie spielen, oder Jünglinge, wenn man sie mit einem Beruf vor das Leben stellt. Man hat Sabbatai nicht spielen, geschweige denn sich im Alltag bemühen lassen. Aber da der Mensch doch auf der Erde lebt und die Welt in tausend Erscheinungsformen auf ihn eindringt, muß er eine Wirklichkeit haben, sei es auch nur diejenige, die einer sich selbst erfindet.
Nun lebt ganz in seiner Nähe eine Wirklichkeit, die sich zwar mit den Händen nicht greifen läßt, die aber auch von den Realitäten des Daseins nicht angetastet und erschüttert werden kann, und die gerade darum besonders stark ist: die Welt der Kabbala. Das ist eine Wunderwelt. Die Geschichte des Volkes, alle 25 Verheißungen, aller Sinn von Schöpfung und Welt sind darin eingefangen. Alle Geheimnisse von Sünde und Erlösung sind da aufgedeckt, freilich nur für den, der den Sinn zu deuten und das Wort richtig zu lesen versteht. Da wird die starre Folgerichtigkeit talmudischen Denkens aufgelöst zu stoßweisen, zuckenden, mit Ekstase behangenen Erkenntnissen oder Ergebnissen.
Also Neuland, in dem man sich verlieren kann, Land auch, das noch nicht so schwer von Tradition durchsetzt und so zwangsläufig und unbeweglich gemacht worden ist. Dafür ist die Entwicklung noch zu jung. Zwar gibt es auch hier rein gedankliche Arbeit zu verrichten, in dem theosophischen, dem theoretischen System der Kabbala, der Kabbala Jjunit; aber dann gibt es das theurgische, das praktische System, die Kabbala Maassit. Aber in einem wie im anderen liegt eine völlig andere Welt als im Talmudischen und im Rabbinischen. Man muß hier nicht mit Einbruchswerkzeugen vor einem Gewölbe von einzelnen Dingen, Theorien, Erkenntnissen, Auslegungen und Entscheidungen stehen, sondern man ist an dem, was die Kabbala enthält, notwendig als Mensch und Persönlichkeit beteiligt, wenn überhaupt man sich zu ihr bekennt.
In der Kabbala kreist alles Denken und Erwägen um die Erwartung, daß einmal ein Mensch komme, der die innere Ordnung der gestörten Welt wieder herstelle: ein Messias. Er ist nötig, denn die urselischen Elemente, die Nizuzoth, sind gefallen, zerfallen, in die Fesseln des Urbösen geraten, weil die Geister, die göttlichen Elemente, die Schebirath Hakelim, gefallen sind. Sie müssen wieder von einander getrennt oder das Böse muß vernichtet werden. Dann wird 26 die Welt wieder gut. Die Gnade kann dann auf den vielfachen Ausstrahlungen Gottes, den Sefiroth, wieder die Erde berieseln. Dann beginnt die geordnete Welt, die Olam ha-Tikkun. Jeder, der gerecht ist und eine reine Seele hat, kann dazu beitragen, wenn er nur begreift, welche Zusammenhänge zwischen der Welt von oben und der Welt von unten bestehen, und wenn er die Kawanot, die Bußübungen erfüllt, die in der praktischen Kabbala vorgeschrieben sind. Jeder kann es, aber mit letzter Kraft und Sicherheit wird es der Messias können, der verkörperte Urmensch, der Adam Kadmon, der selbst ein Teil der Gottheit ist.
Man sieht also: hier wird dem einzelnen eine Möglichkeit gegeben und eine Aufgabe gestellt. Hier wird jeder angerufen. Jeder, der sich mit dieser Lehre befaßt, ist persönlich gemeint. Es wird ihm anheimgegeben, den Schlüssel zu suchen und sich zu bemühen. In diese Welt wächst jetzt der junge Sabbatai Zewi hinein, und man begreift, daß er das System nur durchfliegt, um schnellstens dort zu landen, wo das Bewegte, das Greifbare ist, wo er selber gemeint ist, und wo er tun darf, was die geheimnisvolle Idee von ihm erwartet. Kein Gefühl für Jugend und Kindheit hindert ihn daran, sich in solcher Welt zu verlieren. Die Welt, die da eröffnet wird, ist hart und sehr lebensfeindlich. Da gibt es Kasteiungen aller Arten und Grade, da gibt es Gebete, Fasten, Bußübungen und Tauchbäder, Dinge, die eine mönchische Enthaltsamkeit fordern und den Körper abtöten sollen. Aber dafür verleihen sie eine unerhörte Klarheit des Geistes und eine gesteigerte Aufnahmefähigkeit des Gemütes für die überirdischen und übersinnlichen Dinge. Dadurch wird einer in den Stand gesetzt, zu 27 Gott und den Engeln in nahe, vernehmbare und wahrnehmbare Beziehung zu treten, den Gang der Weltereignisse vorauszuschauen und Dinge zu bewirken, von denen die schlichteren Menschen bekennen müssen, daß sie Wunder seien.
Auf diesem Wege ist also eine ungewöhnliche Steigerung der Persönlichkeit möglich. Sabbatai erfährt sie in dem Maße, in dem er in dieses neue Reich eindringt. Er, der junge, unausgereifte Mensch, kommt sehr bald in den Ruf, ein großer und kenntnisreicher Kabbalist zu sein. Es nähern sich ihm Menschen, die von seinen Kenntnissen profitieren möchten, und die darum bereit sind, sich von ihm belehren zu lassen. Das bedeutet etwas für einen Menschen in so jungen Jahren. Das gibt ihm ein besonderes Gefühl des Wertes und der Bedeutsamkeit. Er erfährt und begreift daraus, daß er etwas gilt und daß er abseits und über dem Durchschnitt der Gleichaltrigen steht. Er ist gerade achtzehn Jahre alt, da erteilen ihm die Rabbiner seiner Stadt schon den Ehrentitel eines Chacham, eines Weisen.
Es ist ein alter Brauch, daß um einen Gelehrten sich Menschen scharen, die von ihm lernen wollen, die sich ihm geistig unterordnen und die Gedanken ihres Meisters zu ihren eigenen machen. Da Sabbatai nun ein Chacham geworden ist, darf es nicht fehlen, daß auch er einen Kreis von Menschen um sich hat, die sich in geistige Abhängigkeit von ihm begeben. Aber dazu taugen ihm nicht die Älteren, Erwachsenen, die da kommen, um sich eine Frage beantworten oder ein Geheimnis erklären zu lassen, und dann mit Dank und respektvollem Kopfschütteln fortgehen. Er will nicht die um sich haben, die wieder fortlaufen; er will die haben, die bei ihm bleiben, die ihm durch 28 ihre ständige Anwesenheit bestätigen, daß er der junge Chacham, der ungewöhnliche und auffallende Mensch ist. Er braucht jugendliche Menschen, in denen wie bei ihm die Neugierde und der Hunger sind, die Gläubigen, die Pathetiker, die Enthusiasten. Es gibt ihrer genug. Man muß sie nur auswählen, sie an sich heranziehen, sie in Andeutungen ahnen lassen, daß er, der Chacham Sabbatai Zewi, es sein wird, der ihnen auf erregenden und geheimnisvollen und wunderbaren Wegen vorangeht. Er weiß: er hat so Vieles und so Tiefes in sich, daß er Hunderten von ihnen abgeben kann.
So wählt er aus dem Kreise derer, die mit ihm arbeiten, und die mit Fragen zu ihm kommen, eine besondere Schar aus, zu deren Führer und Lehrer er sich macht. Was er da sucht, sind nicht Freundschaften, obgleich nichts mehr als Wissen und Jugend dazu befähigen. Er ist nie der Freund irgend eines Menschen gewesen. Zeit seines Lebens haben sich für ihn die Menschen aufgeteilt in Gegner und Anhänger. Der Grund dazu wächst in diesen Jahren, in denen er von seinem Übermaß geben will, und in denen er verlangt, daß man vor ihm stehe und annehme. Er sucht nicht Menschen, er sucht Jünger. Indem er sie in geistige Abhängigkeit von sich bringt, befriedigt er sein frühes Bedürfnis nach persönlicher Anhängerschaft. Sie müssen ihm das ersetzen, woran Kinder sonst ihr Bewußtsein vom Ich üben: Spiele, in denen sie Führer sind. Jetzt macht er ein Amt daraus.
Er ist in diesem Amt sehr selbstherrlich, aber auch sehr ernst. Er verlangt von seinen Jüngern ungewöhnlich schwere Bußübungen und Kasteiungen. Er geht ihnen darin als großes Beispiel voran. Zuweilen fastet er über eine ganze Woche hin. Den Ritus des 29 Tauchbades vollzieht er in jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter im Meere an der Küste. Oft ist er lange in Gebeten zurückgezogen, und man kann hören, wie er mit seiner sehr klangschönen Stimme die messianischen Hymnen des Israel Nadschara singt. Seine Stimme ist eines der Zaubermittel, über die er für seine persönliche Wirkung verfügt, und er macht oft und gerne von dem sinnlichen Reiz Gebrauch, der darin liegt. Es ist nicht seine Klugheit alleine, die seine Wirkung auf andere Menschen ausmacht. Es geht ein Fluidum von seiner ganzen Erscheinung aus, das mit den Jahren wächst. Es ist kein Zweifel, daß er, als Mensch, den es immer zu Wirkungen und zur Beherrschung anderer Menschen gedrängt, überhaupt ausreichend um den Eindruck seiner äußeren Erscheinung gewußt habe. Darin sind Freund und Feind sich einig, daß er ein sehr schöner Mensch sei. Er war schlank und ebenmäßig gewachsen, hatte tiefe, dunkle Augen, einen vollen, sinnlich betonten Mund und viel Grazie in Haltung und Bewegung. Alle Berichte stimmen in der seltsamen Bemerkung überein, daß von seinem Körper ein überaus angenehmer Geruch ausgegangen sei. Kam er von seinen Bußübungen, »so glänzte sein Angesicht wie das Antlitz eines überirdischen Wesens«. Noch in den hilflosen Stichen und Drucken seiner Zeit sind Mund und Augen von betonter Größe und Lebendigkeit.
Man belegt seinen Ausdruck und sein Wesen vielfach mit dem Begriff »schwärmerisch«. Aber solches Wort verschleiert nur den Unwillen, das Tun eines Menschen und den Richtungssinn seiner Handlungen genau zu umschreiben. Mag sein, daß Sabbatai ein schwärmerischer junger Mensch ist, aber was er tut, ist greifbar und verständlich und hat 30 seinen Sinn. Wenn er nicht für sich und mit seinen Bußübungen beschäftigt ist, geht er im Kreise seiner Jünger nächtlich vor die Tore der Stadt. Er ahmt da ein fremdes Vorbild nach: den großen Kabbalisten Chaim Vital Calabrese aus Safed. Draußen, unter dem Sternenhimmel, wird Wort um Wort, Gedanke um Gedanke und Gefühl um Gefühl der Inhalt der großen Geheimnisse abgetastet und abgewogen. Das ist nicht Schwärmerei. Das ist Betätigung einer Neigung, die Erbteil aus seinem Volke her ist. Schon als sie noch Nomaden waren, haben die Juden diese Abseitigkeit vom Tage vor den Zelten und auf freier Ebene kennen gelernt, diese Einsamkeit, aus der die Umwandlung aller Begegnungen in Erlebnisse des Geistes kommt. Es ist nur die besondere Form, in der ein Volk seine Beziehung zur Natur ausdrückt und auslebt: das Hinnehmen des Seienden in der ehrfürchtigen Anerkennung des Geistes. So wie der Jude der Erde oder dem Baum keine Frucht entnimmt, ohne seine Demut vor dem geschaffenen Stück Natur durch einen Segensspruch zu bekennen. Was Sabbatai da treibt, ist Gottesdienst in der Natur, schlichter Vorgang, in dem er sich nicht einmal vom Spott der Türken, die das nicht verstehen, stören läßt. Er weiß, wie wichtig das ist, was er da tut. Wüßte er es nicht selbst, so müßte es ihm die Anerkennung seiner Umgebung beweisen. Besonders sein Vater kann sich nicht genug darin tun, zu erzählen und zu beweisen, wie sehr das Verhalten dieses Sohnes gottgefällig sei, und wie sichtbar Gott ihn, Mardochai Zewi, für seinen Entschluß belohnt habe, eines seiner Kinder dem Studium göttlicher Dinge zu überlassen.
Und das kam so: Zu jener Zeit fand ein wiederholter und von heftigen 31 inneren Erschütterungen begleiteter Macht- und Thronwechsel in der Türkei statt. Gerade war Sultan Ibrahim zur Regierung gekommen, und eine seiner ersten außenpolitischen Taten bestand in der Kriegsführung mit der mächtigen Republik Venedig. Bis dahin waren Konstantinopel und Saloniki die Handelszentren der Türkei gewesen. Der Krieg unterbricht die Handelswege, und die Mehrheit der Kaufmannschaft, Engländer, Franzosen, Holländer und Italiener, die nicht gewillt sind, sich durch die Fehde zwischen dem Sultan und Venedig in ihren Geschäften stören zu lassen, verlegen kurzerhand den Sitz ihrer Firmen und ihres Handels nach Ismir.
Das verändert fast über Nacht das Aussehen und die Bedeutung dieser Stadt. Insbesondere für die Juden bricht eine neue Zeit an. Bisher haben dort nur sehr wenige gelebt, und sie waren kaum wohlhabender als der armselige Händler Mardochai Zewi. Jetzt strömt der ganze Handel der Levante in Ismir zusammen und verlangt Arbeitskräfte. Drei-, viermal im Jahre kommen die großen Karawanenzüge aus Indien, Persien, Armenien, Medien und Anatolien. Sie bringen ihre Landesprodukte, Gewürze, Stoffe, Seidengewebe, Häute, Felle, Schmucksachen, und empfangen dafür Metalle, Werkzeuge, Waffen und Gerätschaften. Es entstehen Karawansereien und Kontore. Es werden Menschen gesucht, die die Sprachen der Eingeborenen verstehen und als Vermittler und Verwalter tauglich sind. Auch an Mardochai Zewi tritt ein großes englisches Handelshaus heran und nimmt ihn als ihren Bevollmächtigten und Vertreter in ihre Dienste. Aus dem armen Geflügelhändler wird auf diese Weise in kurzer Zeit ein sehr angesehener und wohlhabender Kaufmann. 32
Es bringt ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Sein Verhalten ist ein Beweis dafür, daß nicht nur Armut gläubig macht. In seinem Reichtum sieht er nur den Lohn seiner Gläubigkeit. Gewiß: politische und wirtschaftliche Umlagerungen haben ihn und die überschnell wachsende Judengemeinde von Ismir reich gemacht. Aber was sind Politik und Wirtschaft? Nichts, wenn Gott sie nicht zum Strafen oder zum Lohnen so gefügt hat. Und hier ist ein offensichtlicher Zusammenhang gegeben: die fromme Lebensführung des Chacham Sabbatai Zewi hat ihren Segen über seinen Vater und über die ganze Gemeinde gebracht. Man muß das verkünden und bekennen. Man kann es nicht oft und nicht laut genug tun, und da er sich an Menschen wendet, die wie er über Nacht von dem Hereinbrechen des äußeren Glückes überrascht worden sind, fehlt es nicht an Glauben und Zustimmung.
So wird Sabbatai Zewi von neuem in das Zentrum der Aufmerksamkeit und einer, wenn auch beschränkten Anerkennung gerückt. Seine Bedeutsamkeit vor sich selbst bekommt Nahrung. Sein bisheriges Tun bekommt Gewicht. Er kann schon etwas bewirken. Schon hat seine geistige Kraft das Glück einer ganzen Gemeinde begründet. Man versichert es ihm täglich, und er hat keinen Grund, es nicht zu glauben. Wenn er der Ursache dieser wachsenden Bedeutung nachgeht, kann er nur immer wieder zu der Überzeugung kommen, daß die Dinge, die er treibt, eben dieses Wachstum des Menschen an Wert und Bedeutung in sich tragen. Es ist die Kabbala, ihre Lehre von der Ordnung der Welt, von der Erlösung des Bösen, von der Beglückung der Welt, die in ihm zu wirken und zu wachsen beginnt. Und wer weiß, 33 wohin einer kommt, wenn er tiefer, viel tiefer noch in dieses Wissen und diese Zusammenhänge hineinwächst. Vielleicht ist es ein Bemühen, das ungeahnte Früchte trägt.
Er beginnt, sich noch mehr als bislang abzusondern. Nahm er früher noch seine Gefährten zu den Tauchübungen im Meer mit sich, so verwehrt er ihnen das jetzt. Er will, wenn er den symbolischen Akt der Reinigung immer erneut vollzieht, ganz alleine sein, alleine mit sich und vielleicht auch mit seinem Gott. Es kann ja nicht ausbleiben, daß in ihm eine gesteigerte Erwartung ist. Junger Gelehrter, Chacham, Führer von Jüngern, Glückbringer für Tausende, Mensch starker und bewußter persönlicher Wirkung: das können nicht Erfüllungen sein, das sind Verheißungen. Es sind nur die ersten Proben einer reifenden Kraft. Er sucht jetzt in der Einsamkeit nach der Erleuchtung oder der Eingebung oder dem Phantasiebild, das ihm neue Wege der Wirksamkeit erschließen kann.
Es gibt da nicht viele Wege, denn es darf nicht vergessen werden, aus welchem geistigen Bezirk er kommt. Mensch und Gott, Volk und Land: das sind Ausgang und Ziel, und zwischen beiden steht . . . der Messias.
Eine tollkühne, sinnlose, größenwahnsinnige Folgerung. Aber doch ein Schluß, der Sinn hat, und dem man nicht ausweichen kann. Welche andere Möglichkeit gibt es denn, als die, daß zwischen den getrennten Heiligkeiten von Welt und Gott und den getrennten Wirklichkeiten von Volk und Land als Vermittler der Messias stände? Nur noch die eine Möglichkeit, daß dort der demütige, bußfertige und dienende Mensch steht. So stehen gewiß viele Tausende 34 zwischen Ausgang und Ziel. Aber immer ist einer in der Zeit berufen, mehr zu sein als Diener. Es ist derjenige, dem das Führeramt anvertraut und durch Zeichen angewiesen wird. Und wenn Sabbatai die Summe dessen zieht, was er bisher bewirkt hat, dann regt sich in ihm nichts an Bescheidenheit und Verzagtheit. Dann ist es nur das Warten auf mehr und auf andere Bestätigung. Er braucht Nahrung für seine Erwartungen.
Diese Erwartung macht ihn blind und taub für alles, was in seiner Umgebung vor sich geht. In der Haltung, mit der er sich von den Menschen abschließt, liegt ein stiller Hochmut, das wortlose Pochen auf den besonderen Grad seiner Heiligkeit. Seine Umgebung versagt ihm dafür nicht die Anerkennung, aber da sie nicht den geheimen Gang seiner Gedanken kennen, rücken sie ihn auch nicht aus der Sphäre ihres Alltags heraus und stellen ihn nicht außerhalb der Sitten und Gebräuche ihrer Zeit und ihres Glaubens. Der Vater beschließt vielmehr, da doch der Junge heranwächst und vor dem Gesetze schon ein Mann geworden ist, ihn zu verheiraten. Früh heiraten ist ein religiöses Gebot, und von der Kabbala her strömt diesem Vorgang ein besonderer mystischer Gedanke zu: vor der Erlösung, und damit sie vollkommen sein kann, müssen alle Seelen, die noch nicht geboren worden sind, in die Welt eingehen. Der Messias kann jeden Tag kommen; morgen schon. Und darum soll man die Kinder verheiraten, sobald sie mannbar geworden sind.
Bei dem Ruf, den Sabbatai Zewi genießt, und bei der geachteten sozialen Stellung, die sein Vater inzwischen erworben hat, kann es nicht fehlen, daß als Braut eines der schönsten und reichsten 35 Mädchen der Stadt gefunden wird. Die Hochzeit wird mit allem Pomp gefeiert. Das Glück der Familien ist groß.
Wenige Wochen nach der Eheschließung erscheint die junge Frau mit einer seltsamen Klage vor dem Rabbinatsgericht. Sie klagt, sie sei Frau und doch nicht Frau, denn Sabbatai Zewi habe sie nie zu sich genommen. Sie sei mit ihm verheiratet, aber er halte sich von ihr fern.
Die Rabbiner sind bestürzt. Wann ist ein solcher Fall je vorgekommen? Sie schicken zu Sabbatai Zewi und fordern ihn auf, vor Gericht zu erscheinen und sich zu rechtfertigen. Sabbatai erscheint. Er gibt den Sachverhalt zu, aber er kann nichts zu seiner Rechtfertigung angeben. Da es nicht Sache der Rabbiner ist, zu erforschen, warum der Beklagte sich von seiner Frau fernhält, da aber das Recht der Frau feststeht, müssen sie zu einem Urteil kommen. Sie entscheiden: Sabbatai Zewi hat die Pflichten zu erfüllen, die ihm seiner Frau gegenüber begründet sind, oder er muß den Get, den Scheidebrief geben, da man nicht von ihr verlangen darf, nur neben einem Manne zu leben.
Sabbatai nimmt das Urteil entgegen und erfüllt es, indem er seiner Frau den Scheidebrief ausstellt. Er setzt das einsame Leben, das er nie unterbrochen hat, im Kreise seiner neun Jünger fort. Die Familie und seine Umgebung begreifen nichts von diesem Verlauf der Dinge. Sie sind ehrlich betrübt darüber. Sie können als Grund nur verstehen, daß er an gerade diesem Mädchen keinen Gefallen gefunden hat. Man wird folglich auf die Suche nach einem anderen Mädchen gehen müssen, das alle Eigenschaften hat, die man von einer guten Frau erwarten kann. 36
Eine solche Braut wird gefunden, und zum anderen Male wird Hochzeit gefeiert. Und wieder steht nach kurzen Wochen auch diese Frau vor dem Rabbinatsgerichte und klagt, was ihre Vorgängerin geklagt hat: sie blieb unberührt!
Zum anderen Male steht Sabbatai geständig und doch ohne Erklärung vor dem Richter. Auch dieser Frau muß er den Scheidebrief ausstellen. Aber um ihn her sammeln sich Mißwollen und Argwohn. Es ist zu begreifen, daß ein Mann eine Frau verstößt, wenn er mit ihr zusammen gelebt und sie kennen gelernt hat, und wenn er dann einsieht, daß er sie nicht lieben kann, oder sie Eigenschaften hat, die ihn abstoßen. Aber zweimal eine Frau heiraten, und sich vom ersten Augenblick an weigern, sich ihr zu nähern, führt zu dunklen, unreinen Vermutungen. Sabbatai spürt das, und er weiß, daß er sein seltsames Verhalten rechtfertigen muß. Er rechtfertigt sich mit einer Begründung, für die er Verständnis erwarten kann: der heilige Geist, Ruach Ha'kodesch, habe ihm verkündet, daß ihm keine dieser beiden Frauen vom Himmel bestimmt sei.
Man glaubt ihm. Nichts liegt diesen Menschen näher, als hinzunehmen, daß göttliche Stimmen zu einem so frommen Menschen sprechen können, und nichts liegt ihnen ferner, als Erwägungen darüber anzustellen, ob etwa hier ein überaus asketisches Leben die gerade und normale Kraft des Trieblebens verdrängt und verkümmert, oder ob dieser Trieb gar in der engen Gemeinschaft mit Jüngern einen Weg eingeschlagen habe, der Sünde ist . . .
Aber in dieser Erklärung liegt eine viel größere Bedeutung eingeschlossen als nur die der Rechtfertigung. Zum ersten Male in seinem Leben hat er das 37 klare Bekenntnis abgelegt, daß er in seinem abgesonderten Tun die Verbindung mit einer überirdischen Welt hergestellt habe. Er stellt erstmalig hier die Behauptung auf, daß sein Geschick, aus Wahrheit oder Dichtung, einbezogen sei in einen engen realen Zusammenhang mit dem göttlichen Willen. Der Bogen, den er bislang um sich gezogen hat, beginnt ein Kreis zu werden. Daß dieser Kreis auch noch in der letzten Lücke der unbestimmten Erwartung, der planlosen Hoffnung und der steigenden Selbsteinschätzung geschlossen werde, bewirken jetzt die Dinge, die er von außen her erfährt, aus einer Welt, die ihm bislang verschlossen war.
An die kleine, abgesonderte, in ihrem engen Rahmen lebende Gemeinschaft der Juden von Ismir ist über Nacht durch die einfache Tatsache, daß ein Wirtschaftszentrum sich verlagert hat, eine andere Welt herangetreten, von deren Existenz sie bisher nur eine geringe Vorstellung hatte. Durch das tägliche enge Zusammensein mit Vertretern dieser neuen Welt erfahren sie Zusammenhänge, die ihnen bisher fremd waren. Zusammenhänge, nicht Dinge. Das Innere, nicht das Äußere dieser neuen Welt. Das Äußere sehen sie ja jetzt im alltäglichen Verkehr sich abspielen. Es berührt den Juden nicht. Er kennt seine Lebensform als etwas so Angewachsenes, daß er sie lebt, ohne sie zu betrachten, und daß er folglich nicht vergleicht. Er fragt nicht: was tut Ihr? Er fragt: was denkt Ihr? Die Neugierde des Juden ist unsachlich.
Mardochai Zewi ist durch seinen neuen Beruf in ständiger Fühlung mit den Vertretern dieser neuen Außenwelt, insbesondere mit dem Engländer, dessen Interessen er wahrnimmt. Dabei ergibt sich, daß 38 dieser Engländer zugleich Puritaner ist, daß also für ihn außer Handel und Geldverdienen noch ein geistiges Problem, eine Frage des Glaubens und der Lebenshaltung aus dem Glauben her besteht. Das sind für einen Mann wie Mardochai vertraute Töne und Gedanken. Er muß zudem die Feststellung machen, daß dieser Stockengländer über allen nationalen Hochmut hinaus eine erhebliche Kenntnis der Bibel, der religiösen Grundlage des Judentums besitzt. Also ist es möglich, sich zu verständigen.
Wenn beide dem Endziel ihres Glaubens und ihrer Hoffnungen nachgehen, kommen sie auf getrennten Wegen und von völlig verschiedenen Vorstellungen her zu dem gleichen überraschenden Ergebnis: zu der Erwartung eines Messias, eines Erlösers der Welt. Der Puritaner hat dabei vor dem Juden sogar noch voraus, daß er sich in einer aktiven, letztlich auf das Ziel schon hinweisenden Haltung befindet. In seiner Heimat spielen sich gerade die Kämpfe ab, in denen die »Rundköpfe« unter Cromwells Führung gegen die Unduldsamkeit der Bischöfe und autokratisches Königtum unter Waffen stehen, um sich die Freiheit ihres Glaubens und ihrer Lebensgestaltung in Staat und Umwelt zu erkämpfen. Sie sind dabei von einer ungewöhnlichen Freiheit in Haltung und Auffassung. Sie erstreben die Freiheit des Geistes und des Glaubens nicht nur für sich, sondern schlechthin für jeden Menschen und jede Gemeinschaft, denen die religiöse Existenz wichtig ist. Sie halten das um so mehr für nötig, weil auch ihnen, gleich dem Juden, der Alltag real und wirksam durchsetzt ist mit Elementen des Glaubens. Die Bibel, insbesondere das alte Testament, ist für sie kein Buch, in dem man nur liest, sondern eine göttliche Satzung, um 39 deren Erfüllung man sich zu bemühen hat. Sie leben in der erregenden Nähe einer Heilserwartung. Die ganze puritanische Bewegung, Cromwell an der Spitze, wurzelt in ihrer Struktur, in der Unmittelbarkeit ihres Handelns, der Innigkeit ihres Glaubens, sehr tief und ursprünglich im Lebensraum des alten Testamentes. Sie fühlen sich selber als Gestalten aus dem Buche »Richter«, mit der Aufgabe belehnt, ein unterdrücktes Volk zu befreien. Sie befanden sich in einer dem damaligen historischen Geschehen völlig analogen Position. Es war auch aus diesem Grunde ihre Beziehung zu den Juden eine sehr nahe und teilnehmende, und es blieb nur das Bedauern, daß jedes Volk einen anderen Messias erwartete. Cromwell sagt: »Groß ist mein Mitleiden mit diesem armen Volke, welches Gott erwählt und dem er sein Gesetz gegeben hat. Jesus verwerfen sie, weil sie ihn nicht als Messias anerkennen.« Es bleibt ihm die Hoffnung und der Wunsch, daß altes und neues Testament sich einmal versöhnen und Juden und Puritaner zusammengehen werden.
So heben zwischen dem Talmudjuden und dem Puritaner die Diskussionen an über die kommenden Dinge. Wenn der Jude geheimnisvoll darauf hinweisen kann, wie sehr in seinem eigenen Kreise, ja in seinem eigenen Hause mit den Mitteln der religiösen Übungen an der Vollendung der Zeit gearbeitet wird, kann der Puritaner, Gläubiger und Praktiker zugleich, zufrieden darauf hinweisen, daß in seinem Lande längst die Nutzanwendung diskutiert und propagiert werde. Da ist zum Beispiel die verpflichtende Heiligkeit des Sabbath nachgewiesen und die Forderung erhoben worden, ihn an die Stelle des Sonntages zu setzen. Da laufen Vorschläge, das englische Parlament in 40 seiner bisherigen Struktur aufzulösen, und es so zusammentreten zu lassen, wie früher das jüdische Synhedrin tagte. Da ist insbesondere von der ultrarepublikanischen Gruppe der Levelers Bibel und Bibelgläubigkeit so in den Vordergrund gedrängt und die Einsetzung der Thora als allgemeines Staatsgesetz so dringend befürwortet worden, daß Cromwell als vorsichtiger Mann in einer Parlamentsrede zu der Äußerung genötigt war: »When they tell us, not that we are to regulate Law, but that Law is to be abrogated and subverted and perhaps wish to bring in Judaical Law. . .«
So liegen die Dinge in England, und so weit sind sie schon gediehen. Aber was das Gedeihen anbelangt, braucht sich der Jude vom Puritaner nicht übertreffen zu lassen. Er lächelt. Er kann zwar nicht solche parlamentarischen Demarchen aufweisen, aber er kann seinem englischen Freunde eine viel größere und viel bedeutendere Wirklichkeit verraten: eine Prophezeiung aus dem Sohar, dem großen Grundwerk der kabbalistischen Welt. Der Sohar verkündet: im nächsten Jahrtausend, nach Ablauf von 408 Jahren, werden alle Bewohner der Unterwelt zu neuem Leben erweckt werden. Das Jahrtausend, das hier gemeint ist, ist das fünfte der jüdischen Zeitrechnung. Es geht also um das Jahr 5408, und das entspricht dem Jahre 1648 der christlichen Zeitrechnung. In diesem Jahre werden sich entscheidende Dinge begeben. Die Schrift sagt: in diesem Halljahre wird ein jeder zu seinem Erbbesitz zurückkehren.
Das Jahr ist erwähnt und aufgeschrieben? fragt der Engländer. Mardochai muß ihn sanft belehren: in der hebräischen Sprache hat jeder Buchstabe 41 zugleich seinen Zahlenwert. Und da es doch bei der Kabbala um die Geheimnisse der Verheißung geht, die nur dem Schauenden und Eindringenden sich offenbaren sollen, ist alles, Buchstabe und Zahl, Wort und verborgener Sinn, innig miteinander verknüpft. Wenn der Sohar sagt: in diesem Jahre, so legt er auf das Wort »dieses« besonderes Gewicht. Man muß nachspüren. »Dieses« heißt im Hebräischen ha'soth. Der Zahlwert beträgt 5408. Das eben bedeutet das Jahr 1648 der gegenwärtigen Zeit. Es geht um die Tage der allernächsten Zukunft. Nach der Auslegung der Weisen wird im Jahre 5408 der Messias selbst erscheinen.
Weder das Faktum noch die Art, in der der Jude es ermittelt, entlocken dem Engländer ein Lächeln der Überlegenheit. Er ist vollkommen mit dem Juden einig, insbesondere was die nahe Zukunft der Ereignisse angeht. Dagegen weicht er mit Hartnäckigkeit von ihm ab in der Bestimmung des Jahres. Es wird nicht das Jahr 1648 sein, sondern das Jahr 1666. Wenn der Jude den Sohar hat, so hat der christliche Sektirer die Offenbarung Johannis. Aus dieser ist zu berechnen und ist von vielen Theologen berechnet worden, daß in dieses Jahr die Wiederkehr Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches fallen werde. Allerdings ist das nicht die letzte und endgültige Erlösung. Es ist nur ein Zwischenreich, es ist die chiliastische Idee der »Fünften Monarchie« im Sinne der Apokalypse. Es beginnt dann, aus der Sprache des Buches Daniel gefaßt, die Herrschaft der Heiligen. Uralte Sektirer-Ideen feiern hier Auferstehung. Eine breite, unterströmige Schicht von Menschen erwartet auch in der christlichen Welt dieses messianische Ereignis, das sich in dem alten 42 heiligen Lande vollziehen wird und zu dessen Durchführung die Mitwirkung der Juden unbedingt notwendig ist. Zwei Welten, die sich aus dem Glauben her nicht verstehen können, wollen sich im Glauben treffen. Hüben und drüben bezwingen Herzen für eine Sekunde ihren Schlag und horchen in das All hinein.
Wenn Mardochai Zewi von solchem Gedankenaustausch heimkommt, muß es für den Sohn eine seltsame Erregung sein, aus anderen Winkeln der Welt her von Dingen zu hören, die seit langem Inhalt seines Tuns und Denkens sind. Bestätigungen dringen auf ihn ein, die eine unerhörte Gewalt haben. Träume, Erwartungen, Gebilde aus dem Herzen und der Phantasie haben da draußen längst ihre eigenlebige Gestalt angenommen. Es gibt also alle diese Dinge in der wirklichsten Wirklichkeit. Man braucht sich mit seinen Ideen, die zuweilen doch zum Erschrecken nötigen, nicht mehr in die Einsamkeit zu flüchten. Man darf schon an ihre faßbare Gestalt glauben, darf davon reden, darf sich dazu bekennen, wenn auch erst in tastenden Andeutungen. Die entscheidende Erkenntnis ist diese: er treibt Dinge, die in einer erschreckenden Nähe und Endlichkeit liegen. Er treibt nicht Fernes und Zukünftiges. Er ist mit seinem Tun in die Gegenwart gesetzt. Was er heute tut, denkt, erdichtet, ersehnt, kann morgen Gestalt werden. Die Welterlösung ist angesagt. Es ist das Amt dessen zu vergeben, der die Führung dazu in die Hand nimmt: das Amt des Messias. Die Welt wartet auf einen Messias . . .