Adam Karrillon
O Domina mea
Adam Karrillon

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Einundzwanzigstes Kapitel

Auf weichen Gummisohlen schlich der Zug langsam aus der Hamburger Bahnhofshalle hinaus. Bald aber beschleunigte er das Tempo seiner Fortbewegung, und nun raste er, zitternd wie ein Lämmerschwänzchen, in eine aus Nacht und Nebel gemischte Dunkelheit hinein. Rechts und links der Fahrtrichtung war in den Scheiben nichts anderes zu sehen als das trostlose Spiegelbild der Kupeeausstattung. Innocenz schloß die gequälten Augen vor dieser langweiligen Erscheinung und legte das Haupt in die Kissen. Da wurde es in seinem Innern rege über die Frage des Wohin, und er suchte nach einem Stern, der auf den Nebel seines Pfades einen freundlichen Schein werfen sollte. Was war denn jetzt eigentlich sein Reiseziel? Sein Billett und seine Überlegung sagten ihm gleichlautend: Nach der kleinen Universitätsstadt, die ihn mühsam genug zum Manne herangebildet hatte. Aber was er dort beginnen wollte, das wußte keines von beiden.

Doch da war ein alter Grabstein mit einer Doppelinschrift, versteckt in den schwanken Gerten einer Traueresche. Der war's, der den verschlagenen Wanderer mit Polypenarmen wie eine süße, einzige Heimat anzog. Dorthin wollte er, wo Vater und Mutter schliefen. Mit den Gebeinen dort unter dem Hügel wollte er Zwiesprache halten. Ihm war's, als ob er von dort eine Fackel wegtragen könne, die seines Fußes Leuchte sei. Innocenz sah das Grab leibhaftig vor sich stehen. Sah die Mauer, die efeubeladen das Feld des Friedens hütet und hinter dieser die Stadt mit ihren bauchigen Kuppeln, ihren spitzen Türmen und steilen Giebeln auf der blauen Folie eines reingefegten Sommerhimmels. Aber da hinten, weit hinter Zinnen und Dächern, war ein seltsam winkendes Leuchten über dem Horizont. Wo kam das her, und was hatte es dem Jüngling zu sagen, daß es wie ein verliebtes Auge so verlockend zu reden verstand? Sagen wir's nur, da hinterm Berge mit seinem Föhrenbestand lag Birkenried. Also war es das Grab der Eltern doch nicht allein, was den Meerbestürmten in die Heimat zog. Innocenz mochte sich das nicht recht eingestehen, und doch, scharf umrissen, von Sekunde zu Sekunde klarer und heller werdend, trat das liebe Bild von Käthchen Sommertag vor seine Seele. Die Zeiten hatten es nicht verändert, nur über der ehedem so blanken Stirn lag ein Schatten beleidigten Mädchenstolzes, den Innocenz wegküssen wollte, denn zur Stunde schämte er sich vieler Gedanken, die ihn vordem erregt hatten. Sein Mut war gewachsen, seine Eifersucht niedergebrannt. Käthchen stand unbefleckt auf einem neuen Altar, und noch konnte alles gut werden. Das war in diesem Augenblick für ihn ein Glaubenssatz, dem an Wahrscheinlichkeit kein Dogma irgendeines Religionsbekenntnisses gleichkam. Eine weiche, wohlige Wärme durchrieselte den Körper des Mannes und streckte ihn so, daß die Beine länger wurden und eine Stütze brauchten. Innocenz legte die Absätze auf das Polster gegenüber und schob die fröstelnden Hände übers Kreuz in die Rockärmel, damit sie von der inneren Wärme profitieren möchten. So schwelgte sein Körper in träger Bequemlichkeit, während seine Phantasie im Halbschlummer mit tausend zarten Farbentönen an dem Bilde des geliebten Mädchens zeichnete und retouchierte.

Es flohen die Stunden, und die Nacht wich dem Zwielicht, das die Morgensonne vor sich hersendet. Da ratterte der Zug über eine Brücke. Der Schläfer wurde wach, erhob sich und schaute durchs Fenster. Ach, da war ja schon unter ihm der Strom mit seinen träge treibenden Flößen und seinen groben Holzknechten, die mit der Tabakspfeife zwischen den Zähnen auf die Welt kommen. Da hatte sich nichts geändert. Wenn nur auch in Birkenried alles beim alten geblieben war, dann brauchte nur Innocenz sich ein wenig zu ändern und sich etwas in die Menschen zu schicken, und man konnte trotz der Bibel von den Disteln die Feigen pflücken.

Eine nervöse Ungeduld quälte den Reisenden und dehnte die letzte Strecke seiner Fahrt schier ins Unendliche. Schon lag die Hand auf dem Schloß der Kupeetür, da verriet ein dumpfes Grollen die Einfahrtshalle des Bahnhofes und ein gereiztes Zittern des Bodens das Eingreifen der Radbremsen. Der Zug kam zur Ruhe, und Innocenz stieg aus. Als er vor den Bahnhof kam, war außer einem zerrissenen Bäckerjungen und zwei Fleischerhunden, die den Rasen um ein Kriegerdenkmal feucht hielten, niemand da, um den ehemaligen civis academicus zu empfangen. Einige kahle Neubauten glotzten ihn aus großen Fensteröffnungen verwundert an und hielten ihm auf schreienden Firmenschildern Namen entgegen, die zu seiner Zeit im Städtchen noch unbekannt waren.

›Da hat sich vieles geändert,‹ dachte Innocenz und erschrak vor dem Echo, das gleich seine ersten Schritte über das Pflaster in den hohen Lauben ungeheurer Warenhäuser weckten. Das war ein hartes Gellen und Lachen, das allem Vergangenen Hohn sprach. Doch er schritt wacker voran, denn er wollte dem Neuen entfliehen und Altbekanntes suchen, das vordem mit ihm gelebt hatte und liebeswarm war, als er es war. Nun mußten sie doch kommen, die verräucherten Kneipen mit den ausgetretenen Vortreppen und den langen Schildarmen über der Tür, und sie kamen auch. Aber wie sahen sie aus? Dem Hofe zu, ja, da waren sie noch die alten mit ihren krummen Dächern, aber nach der Straße waren sie anders geworden. Wie alternde Grisetten hatten sie Farbe aufgetragen und angelten mit schillernden Fenstern nach den Passanten. Innocenz gewahrte mit Schrecken, daß hier andere profitwütige Geister herrschten, die den alten Stammgast vertrieben hatten und sein spießbürgerliches Glück im Winkel des Kachelofens. Der Kleinstädter hatte sich über Nacht gestreckt und war Großstädter geworden. Die Volkstrachten waren verschwunden. Der Milchbauer vom Lande lief in den abgelegten Kleidern des Großkaufmanns herum. Eine öde Verflachung schien wie ein Wirbelsturm mit Wüstensand geladen übers Land gegangen zu sein.

Das war keine erfreuliche Beobachtung für den Neuzugereisten, aber er tröstete sich mit dem Gedanken: Der Dorfbewohner ist schwerfälliger als der Städter, und wozu der letztere ein Jahrzehnt braucht, dazu bedarf der erstere ein Jahrhundert. Und nun erschien vor seiner Seele die Taubhausmühle mit ihren Riegelwänden, ihrem Schindeldach, ihrem sandbestreuten Fußboden und der warmen Anhänglichkeit ihrer Bewohner. Dort mußten doch bei dem großen Reinemachen der modernen Zeit noch einige Spinnwebfetzen der alten Gemütlichkeit hängen geblieben sein. Dort mußte doch noch jemand sein, der Lust und Zeit hatte, mit dem Heimgekehrten einen Gruß zu wechseln und beim Schoppenglas eine Stunde zu verplaudern.

Mitten in diese Reflexionen hinein klang das lockende »Pink, Pink« eines Hämmerchens, das wie ein Sperling wider eine Scheibe zu picken schien. »Also ist wenigstens noch der Scherenschleifer aus der guten alten Zeit übriggeblieben,« murmelte Innocenz vor sich hin und suchte die Straße auf und ab nach dem schnurrenden Rad und dem hurtigen Steine mit seinem Funkenkranz rings um die Achse.

Er fand beides nicht. Es gab überhaupt nichts zu sehen. Aber als das Hämmerchen schwieg, setzte eine faßerige Männerstimme ein und sang in weinfrohem Tone in die Morgenstille hinaus:

Es schleift sich der Kiesel am Grunde des Main,
Es schleift sich den Schnabel der Adler am Stein,
Es schleift seine Sense der Mäher im Feld;
Drum hab' ich mein Hoffen aufs Schleifen gestellt.
                        Pinke, ping, ping!
                        Hämmerlein kling,
                        Fünkchen spring
                        Und Rädchen sing!

Ich schleife die Gabel, das Messer, die Scher',
Was krumm und verbogen, ich richt' es euch her.
Von Schenke zu Schenke geht's rund um die Welt,
Drum hab' ich mein Hoffen aufs Schleifen gestellt.
                        Pinke, ping, ping!
                        Hämmerlein kling,
                        Fünkchen spring
                        Und Rädchen sing!

Der Durst ist mein Mundschenk, der Hunger mein Koch,
Und sind's nur Kartoffeln, mir schmecken sie doch.
Nicht neid' ich dem Kaiser, dem Rothschild sein Geld,
Ich hab' mal mein Hoffen aufs Schleifen gestellt.
                        Pinke, ping, ping!
                        Hämmerlein kling,
                        Fünkchen spring
                        Und Rädchen sing!

Innocenz ging dem Liede nach, fand die Tür nach einem Höfchen angelehnt und stieß sie auf. Vor ihm stand einer, der seine Hände aus den Ärmeln zerren mußte, weil er sich den Morgentau aus dem Schnauzbart streichen wollte.

»Alle guten Geister!« rief der Eintretende. »Pankraz, muß ich dich als Mesner wiederfinden? Wer in aller Welt hat es vermocht, dich in ein geistliches Gewand zu stecken?«

Der Angeredete sah lächelnd an seinem Gehrock nieder und sagte schmunzelnd: »Ein bißchen völlig, nicht wahr? Aber guter Stoff und feiner Schnitt. Das Kunstprodukt eines Schneiders, der zu Frankfurt auf der Zeil wohnt. O, der Knochenfranzel, der wußte, was er wollte. Dieser Diplomatenfrack war bestimmt, ihn in die Ewigkeit zu begleiten. Das ist ihm vorbeigelungen. Man konnte ihn nicht mit einem unbezahlten Rock vor seinen Richter schicken. Also runter damit und mit dem Quacksalber in einen Leinenkittel hinein, der ihm leidlich ehrlich ins Gesicht stand.«

»Soll das heißen, daß der Franzel tot ist?« bemerkte Innocenz traurig.

»Mehr wie tot, maustot!« fuhr der Scherenschleifer in seiner Erzählung fort. »Des Himmels Gunst blieb bei ihm bis zum Ende. Er starb in einem guten Weinjahre und hatte auf dem Wege zum Himmel eine angenehme Reisegesellschaft.«

»Ist er vielleicht bei einer Sauhatz ausgeblieben und kam in Begleitung eines Wildschweines vorm Himmelstore an?«

»Doch nicht, die Sache kam anders, und ich muß weiter ausholen, um Euch den Hergang zu erklären. So merkt denn auf, schüttelt mit dem Kopf, wenn Ihr denkt, daß ich übertreibe, aber redet nicht. Also gerade heraus. Wißt Ihr, warum ich das katholische Vaterunser nicht leiden mag? Ihr könnt's nicht wissen, so will ich es Euch sagen: Weil keine Kraft und keine Herrlichkeit drin vorkommt, drum ist es wie ein Rollmops ohne Zwiebel und Lorbeerblätter. Das schmeckt nicht, das ist so fad wie die Suppe einer Wöchnerin, wie ein Liebhaber ohne Courage. Wer ein Käthchen Sommertag haben kann und nicht zubeißt, verdient unser Mitleid genau so wie der biblische Ochse, dem auf der Tenne das Maul zugebunden war.«

Da Innocenz nachdenklich nickte, fuhr der Erzähler fort: »Als Ihr weg wart und verschollen, spann eine andere Spinne ihr Netz um die Fliege, und in der Tat, das liebe, dumme Tierchen blieb drin hängen. Sie hat den Baldachin geheiratet. Was hätte sie auch anderes tun sollen? Die Eltern waren tot, und Pferd und Ochsen brauchten eine starke Faust, die sie ins Joch zwang. Gern ist sie dem Windhund nicht zum Altar gefolgt. Ich stand, als sie im Zuge nahte, unterm Torbogen am Glockenseil und sah, daß ihr Gesicht naß war, obwohl es seit Wochen keinen Tropfen geregnet hatte. Und vorm Altar im Traustuhl, da hat sie ein Ja hingehaucht, das kaum imstande war, eine Flaumfeder von einem Spiegel zu blasen. Und wenn der Hochwürdige nicht einer wäre, der mit tauben Füßen und scheelen Ohren das Gras wachsen hört, so wäre aus der Ehe überhaupt nichts geworden. Der aber muß trotz des Baumwollballens vor seinem Trommelfell schon einen Ton verstanden haben. Denn mit einmal fing er an herunterzurasseln: ›Dein Weib soll sein wie ein fruchtbarer Rebstock vor deinem Hause,‹ und damit war ein Sakrament verwaltet und Käthchen gebunden. Die Schellen haben geklingelt, die Orgel hat gespielt, und Braut und Bräutigam, Vettern und Basen sind in einem Haufen, wie ihn der Hirt zum Tore hinaustreibt, aus der Kirche heimgeschäkt.

An diesem Tage und auch noch an manchen der folgenden ging es in der Taubhausmühle zu wie dazumal in Mesopotamien, als der verlorene Sohn heim kam. Denn der Baldachin hat, wie Ihr wißt, einen Stich ins Großartige. Hammel und Kälber mußten ans Messer, und mit dem, was bei Metzelsuppen alles draufging, hätte man die Sachsenhäuser Bürgerwehr für ein Jahrzehnt verproviantieren können. Käthchen Sommertag sah man mitten in diesem Getriebe schlicht und traurig, ihren erlauchten Herrn aber nie anders als im Schützenhut mit der Reiherfeder, einen giftgrünen Kragen unterm Hornfleisch und die Flinte quer übers Nierenstück. Wenn Käthchen dem Übel steuern wollte und ein vermahnend Wörtlein zu ihm redete, goß er einen Kümmel in sich hinein, schlug die Tür hinter sich zu, pfiff seinen Hunden und stolperte mit seinem Schießeisen über die Kartoffeläcker. Ich will die sechs Wochen der Fastenzeit hintereinander von Steuerzetteln leben, wenn er jemals etwas geschossen hat, abgesehen von einem Kapitalsbock, der ein Leineweber war und dem Schützen unvorsichtig den Spiegel zeigte.«

Innocenz horchte gespannt auf, während der Erzähler fortfuhr: »Ihr habt den Weberstoffel von Reiboldsgrün gekannt, bevor ihn der Herrgott zu sich in sein Reich nahm. Ob er sich jetzt im Himmel seinen Talenten entsprechend als Nachtwächter oder Kirchendiener nützlich macht, weiß ich nicht. Zu der Zeit aber, von der ich Euch erzähle, trieb er Landwirtschaft und stand in der Abenddämmerung vor einem Lupinenfelde und bearbeitete mit der Hacke das Vorende eines Ackers, dem mit dem Pfluge nicht beizukommen war. Notabene, da er gebückt dastand und mit der Kehrseite ins Land hineinsah, mag er immer einige Familienähnlichkeit mit dem Schmierbock einer Landkutsche gehabt haben, schwerlich aber mit einem Zwanzigender.

Nun geben's wohl acht, wie der Hase läuft oder vielmehr nicht läuft, denn weit und breit in den Krautfeldern war keiner. Also stelzt genau am selbigen Abend der Baldachin durch die Klettenwurzeln und betrachtet sich die Gemarkung durch eine Perspektierschachtel, die er an einem Riemen über die Schulter trägt. Auf fünfzig Jahre hab' ich mein Alter gebracht, aber nie noch hab' ich durch so ein Kästel geguckt. Ich weiß also nicht, was in der Vexierbüchse vorgegangen sein muß oder in dem Baldachin seinem Rindsschädel, daß er den dürren Pumpenstock von einem Weberstoffel für einen Hirsch ästimierte und auf ihn anlegte.

Wenn der Teufel spielt, macht der Schippensiebener einen Stich. Kurzum, wie der Hebenstreit den Finger hinten am Gewehr krumm macht, geht wie's Gewitter vorn der Schuß zum Rohr hinaus. Nun hätt' aber ein Mensch sehen sollen, was geschieht. Mit einem Schrei fährt der Weberstoffel wie ein Sodawasserstöpsel in die Luft und macht mit den Händen allerlei Zeichen in den Abendhimmel – schöne Zeichen, wie er sie machte, wenn er vor seinem Webstuhl das Schiffchen zum letzten Male vor der Abendsuppe durch den Zettel warf. Dann fällt er runter und liegt in der Furch' wie ein durchgefaulter Wegweiser.«

»Und der Balduin?« warf der Doktor dazwischen.

»Auch der war mit der Nas' am Boden. Nicht einmal seine Reiherfeder hat über das Kartoffelstroh hinausgeguckt. Und so kriecht nun der Kornwurm auf seinem Schmerbauch den Acker lang bis hinter die erste Erdwelle. Da stellt er seine Flint' in den nächsten besten hohlen Stamm wie daheim in seinen Uhrkasten und geht ins Dorf hinein mit einem frommen Gesicht, als ob er bei einer Judenbeschneidung Pate gestanden hätte. Nur den Schandarm hat er nit angucken können, wie der in der Dämmerung an ihm vorüber ist. Zu Haus' ist er eine Weil' von einem Bein aufs andere gefallen wie ein Entenerpel, hat die Nähmaschine in den Stall getragen und den Melkeimer in die gute Stube, hat Salz geleckt und Pfeffer geschnupft, weil ihm halt sein Gewissen keine Ruh' gelassen hat. Als es aber ganz dunkel war, ist er übern Gartenzaun gestiegen und lief den Katzenlauf entlang, um den Knochenfranzel aufzusuchen. Gefunden hat er ihn auch, aber nicht mehr ganz nüchtern. Er gab ihm Geld und schickte ihn, ein wenig rumzuhorchen, nach Reiboldsgrün. Dort kam der Ehrenwerte beduselt an. Bis er aber in den Spelunken herumgeforscht hatte, ob niemand einen Schein- oder Halbtoten aufgelesen hätte, notabene, da war er ganz voll. Es war ein Wagnis, daß ihn zwei Männer nach dem Hause des Verwundeten hinführten. Er blieb mit den Hacken an der Türschwelle hängen und stürzte wie ein Stoßtrog ins Zimmer hinein.

›Jesses, die Wildsau!‹ stöhnte der Wundgeschossene in seinem Bette, ›nun könnt Ihr auch gleich nach dem Schreinervelten schicken, daß er mir die Lad' anmißt, und könnt dem Schullehrer sagen, daß er einstweilen mit den Kindern das »Sieh mein Elend« einübt‹!«

»Und haben sie denn nun wirklich den Franzel in seiner Trunkenheit an den Kranken herangelassen?« fragte Innocenz.

»Was wollten sie machen? Heute, wo die Leute vornehm sind, will doch keiner ohne ärztliche Hilfe sterben. Auch wußte der Halunke sich mit schönen Worten 'ranzupirschen.«

›Nicht so eilig, Stoffel!‹ stotterte er, ›in die Hölle kommst sein immer noch früh genug. Vielleicht darfst aber auch noch eine Weile dableiben bei deiner Geiß und deinen Stallhasen. Ein bissel Glück und eine Lichtputzscher' soll jeder haben, und wenn beides hast, da wirst mit Gottes Hilf schon wieder auf die Bein' komme.‹ Und nun macht sich der Franzel mit ein paar Brocken Latein und mit der Lichtputzscher' über den Stoffel her und stochert in dem Schußkanal herum, als wenn der Verwundete eine verschleimte Pfuhlpumpe wäre, die ausgeputzt werden müßte. Geschrieen hat der Kranke, daß man hätte denken sollen, es wär' ein Sauschlachten im Haus. Aber der Franzel hat ihn lateinisch getröstet und hat ihm weisgemacht, daß die Schmerzen nachließen, sobald die Dolores vorbei wären. Es war aber nichts mit dem Franzel seinem Gegackel. Am nächsten Morgen hat der Stoffel auf seinem Strohsack gelegen, hat ein bissel zwischen den Augendeckeln herausgeblinzelt und nach seiner Pfeife geschielt, die am Fensterkreuz aufgehängt war. ›Wie rührend!‹ hat die Totenfrau gesagt. ›Ich glaub', er möcht' sein' Globe mit in Himmel nehme. Wie soll er auch ohne Pfeif die Ewigkeit überleben?‹ Und so haben sie ihm den Wassersack mitsamt dem Sterbekreuz in seine steifen Finger geklemmt und haben ihn den Tag darauf begraben.

Scheinshalber haben manche Leut' geweint an seinem Grab, aber schon auf dem Gang zur Kirche haben sie wieder gelacht und haben gesagt: ›Notabene, der Baldachin hat ihm eins naufbrennt, aber der Franzel hat ihm doch den Abfuhrschein ins Himmelreich geschrieben.‹

Durch das Hin- und Hergerede ist zuletzt der Schandarm aufmerksam geworden und hat den Balduin Hebenstreit eingelocht. So sitzt er nun und kriegt vom Staat ein paar Winter lang die Kohlen gestellt. Den Franzel haben's fein auch holen wollen, weil er, wie sie sagen, nicht antonseptisch operiert hätte. Der aber hat gesagt: ›An mir soll kein Advokat reich werden! Und da er gerade einen guten Herbst eingetan hatte, so ist er in seinem Sonntagsrock, eine Kanne unterm Arm, in den Keller gegangen. Heraufgekommen ist er wieder, aber nicht auf den eigenen Füßen. Andere Leute haben ihn getragen. Ich war auch dabei, und weil ich mich für meine Fahrt nach Niederwies bezahlt machen wollte, habe ich ihm den neuen Flaus ausgezogen. Er ist gut gefüttert und wäre ihm in der Hitze des Fegefeuers doch nur lästig gefallen. Ihr seht, nun ist Platz für einen tüchtigen Arzt in Birkenried. Die Praxis bestreitet Euch nun keiner mehr, und auf Eure Rechte an Käthchen Sommertag habt Ihr ja wohl definitiv Verzicht geleistet?«

Pankraz schwieg und gab sich Mühe, durch sanftes Streicheln eine warme Annäherung seines weiten Rockes an seine mageren Rippen zustande zu bringen.

Innocenz saß sinnend und innerlich zerrissen auf einem Haufen Schnittholz im Hofe. Also auch da, da hinten, wo ein lichter, freundlicher Schimmer seither den Himmel vergoldet hatte, war alles anders geworden. Beschmutzt und wirr lagen die Menschenlose neben- und übereinander, und es war keine Aussicht, daß irgendeine Menschenhand ordnend oder versöhnend eingreifen könne. Innocenz hatte genug von den Erzählungen des Scherenschleifers, legte ein Geldstück auf den Schleifstein und verließ den Hof. Im Fortgehen hörte er noch den Ruf hinter sich: »Doktor, wenn Ihr am Ende doch hingeht und einen Kutscher braucht, der Notabeneoja ist mit seinem Schleifstein nicht verheiratet.«

Jetzt nach der großen Enttäuschung begriff Innocenz, daß uns nur das ewig Verlorene unentreißbar zu eigen gehört, und er wandte seine Schritte nach dem Kirchhof, dem Grabe der Eltern zu. Hier war noch alles, wie es vor Jahren gewesen war. Die Toten sind konservativ und ändern selber nichts mehr an ihrer Lage, auch wenn sie unbequem wäre. Im Innern ihres Hauses vollzieht sich kein Wechsel, und außen nur der, den die Folge der Jahreszeiten bringt. Es war Herbst und die Knollen der Astern hatten auf dem Grabe der Eltern frische Stengel getrieben und sie mit wallenden Federbüschen bekrönt. Das war lieb von ihnen. Wer auch sonst hätte sich um das verlassene Grab kümmern und es schmücken sollen? Innocenz saß vor dem Grabstein auf der Randeinfassung, und eine große Sehnsucht nach irgend etwas Liebem füllte seine Seele. Hinter manchem Idol, das irrlichtelierend vor ihm schwebte, war er wie ein Verrückter hergerannt, und wenn er es greifen wollte, war es unfaßbar wie die Abendröte, wie Wolken, die über uns hinziehen, in blaue ahnungsvolle Fernen entschwunden. Dem Jüngling war diese wilde Jagd nach Nebelbildern verleidet, und am liebsten wäre er, das Haupt auf die teure Erde gelegt, eingeschlafen, um nie mehr zu erwachen. Warum und für wen hätte er denn noch leben sollen, und auf welche Wimper hätte sich der Gnadenzoll einer Träne gelegt, wenn er gestorben wäre? Wer hatte Ansprüche an seine Person und konnte sagen: Hier bleib' und zahle deine Schuld an mich, eh' du dich wie ein Dieb aus dem Hause des Lebens schleichst?

Und doch, wie aus einer versunkenen Welt sah er auf zerbrochenen Gesetzestafeln die mahnenden Worte: Du darfst es nicht! und aus dem Nebel frommer Kindererinnerungen hob sich die Gestalt eines Richters ab, der mit drohendem Finger sprach: In meiner Hand liegt des Rätsels Lösung, und du hast in Geduld zu harren, bis ich rufe, um dich aufzuklären. Und als Innocenz erst den Weltenkönig wieder hatte, da kamen auch all die holden Gestalten wieder, mit denen fromme Einfalt den Himmel bevölkert, und mild und tröstend nahte sich ihm die Sternenkönigin mit den frommen Zügen ihres Bildes aus der Nikolauskapelle. Innocenz hatte das Verlangen, etwas zu lieben, was feststand im verwirrenden Wechsel der Erscheinungen. Er wurde aus Selbstsucht gläubig. Was ihm noch vor Monaten so unwahrscheinlich erschien, dem wünschte er jetzt Wesenheit und Existenz. Den Gott, der nicht da war und ihm helfen wollte, schuf er sich, damit er sich in der Frage des Woher und Wohin wenigstens hinter dessen unerforschlichen Ratschluß verstecken könne. Aber warum war er, der Allsehende, auch so rätselhaft und unbegreiflich, daß er sich nur denen zeigte, deren Auge im Moder versunken war, und warum hüllten auch diese sich in Schweigen? Da unten lagen doch zwei, die das dunkle Tor des Todes hinter sich gebracht hatten und nun hineinsahen in das helle Leuchten der Schöpfungswerkstätte. Warum erbarmten sie sich ihres Kindes nicht und warfen, ach, nur einen Schimmer von Licht in das Labyrinth seiner Zweifel? Wehe, wieviel Grausamkeiten muß der übersehen können, der an das Walten einer gütigen Gottheit glaubt, und doch, wie schwer entbehrlich ist dieser Glaube!

Aus weltverlorenen Grüblerträumen wurde der Arzt durch etwas Negatives in die Wirklichkeit zurückgerufen, durch eine quälende Leere seines Magens nämlich, die vermittelst einer sehr realistischen Ideenassoziation ihm neben das Bild der Himmelskönigin das der Mutter Gutbrot zauberte.

So nahm er, vom Hunger getrieben, Abschied vom Grabe der Eltern und wanderte dem Stadttor zu. Seine Schritte trugen ihn an der Nikolauskapelle vorüber, und er trat ein in das weihrauchduftende Halbdunkel unter dem gotischen Kreuzgewölbe. Da stand sie, die Gottgebenedeite, unter dem zierlichen Spitzbogen und sah auf leere Bänke herunter. Ihr himmlisches Antlitz schien Anbetung zu fordern, und Innocenz flüsterte leise sein »O domina mea«, hielt aber plötzlich seine Zunge zurück, die auf einen Meineid lossteuerte. War nicht das, was er eben sagte, eine Lüge gewesen? War sie denn wirklich seine Herrin, und hatten nicht zwei andere auf dem Throne gesessen, den er einstens ihr »Aus Liebe nur, von keiner Macht gezwungen« eingeräumt hatte! Ach, wie sind wir Menschen doch dem Lügen ergeben, und nirgends treiben wir's toller als in unseren Gebeten. Innocenz schämte sich ein wenig vor dem Bilde, zumal da es ihm fast vorwurfsvoll die Züge der Frau van der Klingen zeigte, die außerdem noch ein Kind mitgebracht hatte, das mit hilfeflehenden Blicken seinen Vater suchte.

Er wich den Vorwürfen seines Gewissens aus, indem er einige kunstkritische Gedanken zu seiner Seele sprechen ließ: ›Das Bild muß sich zu seinem Nachteil verändert haben! »Nachgedunkelt« heißt es in der Kunstsprache, und wie könnte dies auch ausbleiben? Jedes Ding, und wenn es selbst in einem Tabernakel wohnt, wird angeschwärzt von dem brenzligen Rauch des Reisigfeuers, auf dem die Menschheit schmort. Und wenn dem selbst nicht so wäre, unser alterndes Auge, an Flecken gewöhnt, legt sie gewohnheitsgemäß auch dorthin, wo sie nicht sind.‹

So kam's, daß der ehemalige Kongreganist im Bilde der Unbefleckten heute mehr die Mutter sah als die Jungfrau, ein Weib, das gleich ihren Schwestern der Artenerhaltung ihr schmerzenreiches Opfer gebracht hatte. Die Himmelsgekrönte rückte ihm mit einem Male menschlich näher. Er traute ihr zu, daß sie sein Fehlen verstehen könne, es wuchs sein Mut, und er betete sein »O domina mea« zu Ende, wenn auch mit einem quälenden Gefühl verschämter Reue.

Übrigens hatte Innocenz das Empfinden, daß auch dieses Wiedersehen nicht in jenes poetische Dämmergefühl getaucht sei, das er sich, als ihm Personen und Dinge noch in weiten Fernen lagen, so stimmungsvoll ausgemalt hatte. Reißt einen Stern vom Himmel los, er wird als lehmiger Klumpen vor eure Füße rollen. Hebt die farbenschillernde Meduse aus der azurblauen Meerflut, und ihr habt nichts vor euch als einen Eimer voll grauen Schusterkleisters. Innocenz war ernüchtert, und zwischen ehrwürdigen Heiligen von Stein und Holz hinwandelnd, dachte er doch zur Stunde kaum noch an etwas anderes, als an Mutter Gutbrot und das kleine Schiebefenster in der Füllung ihrer Küchentür, hinter dem aus der dümmsten Gans für den verknöchertsten Forscher ein Gegenstand des Interesses gemacht wurde.

Er trat in die niedere Stube mit der meerschaumbraunen Decke und freute sich über die buntfarbigen Studentenmützen. Da hingen sie noch immer in ihrer zugestaubten Pracht von den gleichen Nägeln und guckten nach den Korpshunden, mit denen sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verband. Auch Gesichter waren in der Stube zu sehen, hungrige hinter Suppenschüsseln und satte hinter seemeilenbreiten Zeitungen. Innocenz suchte vergebens hinter Brillen, Zwickern und im Dickicht der Vollbärte die Züge eines Jugendgenossen. Er fand nichts, was ihn an die frohen Tage sorgloser Eseleien erinnerte. In wenig Jahren schien ein Geschlecht ausgestorben und ein anderes an seine Stelle getreten zu sein. Und so ist es ja auch in der Tat, nur daß es in dem Vers vom Kommen und Gehen keine Zäsur gibt, und daß wir den Zeitpunkt nicht kennen, wo eine Generation wie ein alter Besen in die Rumpelkammer wandert, während der andere zu kehren beginnt.

Nach einigem Warten erschien Mutter Gutbrot auf der Bildfläche. Ihren Garküchenaugen war Innocenz kein Fremdling. Mit strahlender Stirn und überlautem Aufschrei begrüßte sie ihn, und da unter diesem Dache, wer als Bekannter der Patronin galt, Anspruch hatte, beachtet zu werden, so blickten bald bebrillte und unbebrillte Augen über Zeitungen und fleischbeladene Gabeln hinweg neugierig nach dem Zugereisten. Nicht lange, und er war in eine Unterhaltung hineingezogen. Man fragte, was er war und was er zu werden gedenke. Man war mit gutem Rat bei der Hand und nützlichen Winken. So war Innocenz bald nicht mehr einsam. Neue Perspektiven taten sich auf, und an mehr als einer Stelle schien für ihn ein Acker grünen zu wollen, den er nicht besät hatte. Doch war kein Plätzchen eigentlich so recht trocken für seinen Fuß, und es geschah, daß der Jüngling dem Beispiel der Taube Noahs folgte und nach dem Kasten zurückschwebte, von dem er ausgeflogen war, mit dem Ölzweig des Friedens in der Hand statt im Schnabel.


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